Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss‘ Jahrhundertroman auf der Bühne

Immer häufiger bereichern Roman-Bearbeitungen die Spielpläne der Theater, auch die dicksten Wälzer finden ihren Weg auf die Bühnen. Denn freilich: Der Stoff lässt sich schon verdichten, wenn es nur gelingt, mit den Mitteln des Theaters eine eigene, vielleicht gar neue Sicht aufs Werk zu bekommen. Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tilman Neuffer formulieren noch einen anderen Anspruch: Sie wollen Peter Weiss’ in den 1980er Jahren viel diskutiertes Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“, den „deutschen Ulysses“, erst einmal schlicht vor dem Vergessen bewahren. Denn, so die These: Das dreibändige Werk, das die Strömungen, Entwicklungen und Widersprüche des antifaschistischen Widerstands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs reflektiert, hat uns noch etwas zu sagen. Die dreieinhalbstündige Uraufführung im Essener Grillo-Theater hinterließ ein nachdenkliches Publikum.

Im Roman wie im Stück führt ein junger Arbeiter als Erzähler durch die Erfahrungen und Gedankenwelt der Widerstandskämpfer; Stationen seiner Reise sind Berlin, Spanien, Paris und das schwedische Exil. Nicht nur der Umfang des Werkes erschwert eine Dramatisierung: Der Erzähler ist kein klassischer Held, er bekommt nicht einmal einen Namen und kaum eine Geschichte. Die Entwicklung fokussiert mehr auf die Zeitgeschichte denn auf einzelne Figuren. Charakteristisch für den Roman sind außerdem lange, essayistische Kunstbetrachtungen – Peter Weiss ließ seine Figuren große Hoffnung in die Wirkung der Kunst setzen und Kraft aus ihr schöpfen. Die Besprechung von Werken wie Picassos „Guernica“ oder Géricaults „Das Floß der Medusa“ nehmen im Roman viel Raum ein.

Gleich zu Beginn steht eine Schilderung des Pergamonaltars – im Roman ebenso wie im Stück. Auf der mit weißem Plastik verkleideten, wie ein Gefängnis-Innenhof anmutenden Bühne verrenken sich die Museumsbesucher, um den Altar zu betrachten; später diskutiert der Erzähler mit seinen kommunistischen Freunden. „Wir müssen solche Werke wie den Pergamonaltar immer wieder neu auslegen, bis wir eine Umkehrung gewinnen“, resümiert Heilmann (Jannik Nowak). Ein Schlüsselsatz, in dem sich auch der Wunsch des Autorenteams verbirgt: So wie die uralte, in Stein gemeißelte Darstellung des Götter-Sieges über die Giganten die Berliner Kommunisten inspirierte, so möge sich das Essener Publikum von der „Ästhetik des Widerstands“ gefangen nehmen lassen und herausholen, was es für brauchbar hält.

Doch das ist ein schwieriges Unterfangen. Auch nach dem vermutlich gigantischem Kraftakt des Kürzens und Verdichtens wird aus der Vorlage kein fesselndes Bühnenstück, dazu fehlen schlicht Spannungsbogen und Identifikationsfiguren. Krupa, Neuffer und das Bühnen-, Kostüm- und Videoteam (Jana Findeklee, Joki Tewes, Andreas Jander) haben gleichwohl einige starke, eindringliche Bilder geschaffen – etwa, wenn des Erzählers Mutter langsam zuschneit, während sie unbewegt von einem Alptraum berichtet, in dem sie traumatischen Erfahrungen auf der Flucht verarbeitet (bleibt in Erinnerung: Melanie Lünighöner). Oder wenn die Spannungen zwischen Arbeitern und Intellektuellen sichtbar werden, indem sich die Widerstandskämpfer bürgerlicher Herkunft unters Publikum mischen. In Tempo und Dynamik gibt es wohltuende Wechsel.

Dennoch: Es dominiert die Rede, nicht die Handlung oder Aktion; es gibt mehr zu hören als zu sehen; es gibt viel zu denken und wenig zu fühlen. Elf Darsteller spielen 22 Personen – eine enorme Herausforderung nicht nur für das Ensemble, sondern auch für den Geist der Zuschauer. Nicht umsonst beschreibt das Programmheft unter der Überschrift „Erste Hilfe“ in ungewohnter Direktheit und Ausführlichkeit Inhalt, Regieansatz, Personen und Schlüsselbegriffe. Wer unvorbereitet in das Stück ginge, zöge kaum Gewinn daraus.

Die Produktion leistet Großartiges, indem sie das Werk überhaupt neu zugänglich macht – wenn auch in der Art eines lebendigen Geschichtsbuchs. Peter Weiss erzählte in seinem Roman die Geschichte des Scheiterns und setzte den gescheiterten, teils ermordeten Widerstandskämpfern ein Denkmal. Das und nicht mehr gelingt der Bühnenfassung auch.

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Wer auf dem Pavianfelsen oben sitzt – Elmar Goerden besorgt in Bochum die Uraufführung von Schimmelpfennigs „Besuch bei dem Vater“

Von Bernd Berke

Bochum. Heimkehr des verlorenen Sohnes, anders als in der Bibel: Als 21-Jähriger taucht ein gewisser Peter bislang ungekannten Vater auf. Der Patriarch Heinrich lebt mit diversen Frauen in der 20-Zimmer-Villa seiner Gattin draußen am Walde. Nun legt sein Sohn die allzu bereiten Weibchen reihenweise flach. So weit die Nachricht.

„Besuch bei dem Vater“ – bewusst steif und unterkühlt gibt sich der Titel. Roland Schimmelpfennig hat für seinen neuen Theatertext die Gattungsbezeichnung „Szenen und Skizzen“ gewählt. Tatsächlich ist es kein Stück im herkömmlichen Sinne, sondern ein mäanderndes Gebilde mit recht schroffen Tempowechseln. Mal gleicht der Redefluss einem munteren Bach, mal einem gestauten Gewässer. Hie und da plätschert’s leise. Der Text (den der emsige Schimmelpfennig zur Trilogie ausbauen will) wirkt streckenweise fahrig und zerstreut.

Schreckliches Logo auf dem Handy

Allerdings birgt der Stoff enorm viel „Futter“ für Schauspieler. Beinahe sensationell: Bochums Intendant Elmar Goerden, sonst lieber den Klassikern hold, liefert hier die erste Uraufführung seiner Laufbahn. Wie zwei gute alte Kumpel nahmen er und Schimmelpfennig nebst Ensemble den herzlichen Beifall entgegen. Schön und gut. Wenn Freundschaft denn den Blick nicht trübt. Goerden ist kein Zertrümmerer, er lässt Stücke stets zum Tragen kommen. So zeigen sich ihre Stärken, aber auch Schwächen.

Schimmelpfennig jongliert leichthändig mit Versatzstücken und grast zwischen Tag und Traum so manches ab: Buchstäblich bei Adam, Eva und Noah beginnen seine Streifzüge. Die biblischen Urahnen kommen als längst verlorene Bezugsgrößen zur Sprache. Zwischendurch blitzen Signale der Gegenwart auf, die freilich auch mit Vergangenheit durchwoben sind. Heinrichs Teenie-Tochter Isabel (Louisa Stroux) hantiert unentwegt mit einem Handy, auf dessen Display ein Leuchtturm-Logo wie ein KZ-Wachturm aussieht.

Menschenleere Republik dämmert herauf

Auch sonst umspielt der Text das Jetzt aus Halbdistanz. Da geht’s etwa um kinderlose Frauen in den Dreißigern, die beruflich bereits abgehängt und auf Umschulung angewiesen sind. Eine menschenleere Republik dämmert schon am Horizont. Es gibt überdies Zeichen, dass Lesekultur (Zerreißen russischer Bücher von Tolstoi & Co.) und Esskultur (keiner weiß, wie man eine Ente herrichtet) vergehen.

Angesichts der unheilschwangeren Zukunft verliert auch Heinrichs Frau Edith (Susanne Barth) die Balance. Anfangs hat die distinguierte Dame das Geschehen im Griff – wie ein Conférencier, der die Zuschauer durch einen gediegenen Abend geleitet. Doch uralte Riten und Triebe zwischen den Geschlechtern ragen hinein – und sind stärker.

In den trostlosen Stillstand der lieblos möblierten winterlichen Villa schneit also dieser angebliche Sohn Peter (übermüdet, trotzdem jugendlich vital: Marc Oliver Schulze) hinein. Woher er kommt, weiß niemand. Auf solch ein unbeschriebenes Blatt können die Frauen ihre (sexuellen) Wünsche projizieren. Alsbald beherrscht er mit maskulinem Gehabe ohne sonderlichen Aufwand die Agenda im Haus.

Qual mit dem verlorenen Paradies

Der Vater (Wolfgang Hinze) muss es geahnt haben: Gleich bei der ersten Begegnung hat er sich Peter (wenn auch noch freundlich) vom Leibe gehalten. Er spielt diesen Zwiespalt mit exquisiter Choreographie. Wie denn überhaupt die wechselnde Haltung der Figuren zueinander mitunter einem Ballett gleicht. Doch zuweilen sind es auch bloße Stellproben mit rastlosen Auf- und Abtritten.

Der Nimbus des alten Heinrich wird jedenfalls demontiert. Er ist ja auch brüchig. Seit zehn Jahren quält sich der Anglist mit einer Übersetzung von Miltons „Paradise Lost“(„Verlorenes Paradies“ – aha, aha!). Und wenn Sonja (Katja Uffelmann) in seinem Beisein eine Wildente (Achtung, Ibsen-Anspielung!) schießt, hält er dies für einen Höhepunkt seines Lebens.

Schließlich landet man quasi wieder in der Urhorde, Die beiden Männer zücken Messer und Feuerwaffen, die Frauen quieken vor Angst. Wer darf ganz oben auf dem Pavianfelsen sitzen? Ach ja, die Tünche der Kultur und Zivilisation ist eben dünn.

18., 21 .,27. April, 9, 11., 30. Mai. Tel.: 0234/3333-5555.

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ZUR PERSON

Vom Journalismus zum Theater

  • Roland Schimmelpfennig wurde 1967 geboren.
  • Er arbeitete zunächst als freier Journalist und Autor in Istanbul – ein spezieller Umweg zum Theater.
  • 1990 begann er ein Regiestudium in München und gehörte später zur künstlerischen Leitung der dortigen Kammerspiele.
  • Zwischenzeitlich war er Hausautor an der Berliner Schaubühne und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
  • Neuere Stücke: „Fisch um Fisch“, „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3″, „Die Frau von früher“, „Angebot und Nachfrage“.



Spuk zwischen den Fischkonserven – Roberto Ciulli inszeniert die Uraufführung von Wilhelm Genazinos „Der Hausschrat“

Von Bernd Berke

Mülheim. Wenn ein Stück „Der Hausschrat“ heißt, so stellt man sich seelisch auf Verschrobenes ein – etwa auf ein Zottelwesen, das aus den Wäldern in die Wohnküche verschlagen wird. So konkret kommt’s dann zwar nicht. Aber Wilhelm Genazinos Theatertext, der jetzt in Mülheim uraufgeführt wurde, ruft tatsächlich merkwürdige Gespenster wach.

Überdruss zu zweit, trostloses Altern: „Schrat“ Karl und Sophie, seit 22 Jahren verheiratet, gründeln in ihrem erstarrten Alltag. Sie strickt, er guckt einen Boxkampf im Fernsehen. Banale Verfehlungen rund um Käsebrote, Hosen, männliche Pinkel-Gepflogenheiten (im Stehen!) und Zahnbürsten kommen zur Sprache. Eine Ehekomödie der kleinen, gemeinen Vorwürfe – wie von Loriot ersonnen. Das Publikum gluckst.

Doch mehr und mehr ahnt man, wie grundsätzlich verlassen die beiden sind. Tochter Marlene mit ihrem Verfolgungswahn (leider nervtötend überdreht: Simone Thoma) potenziert noch das familiäre Unglück. Eingepfercht ins Immergleiche, hocken sie auf ihren Gefühlstrümmern. Unterdessen horten sie Berge von Fischkonserven. Bizarre Frustkäufe.

Sehnsuchtsworte wie Sansibar oder Timbuktu

Das im Stück herbeizitierte, fast anheimelnd gestrig wirkende Vokabular der Psychoanalyse („anal fixiert“) erfasst derlei Verhältnisse kaum. Nostalgische Sehnsuchtsworte wie „Sansibar“ oder „Timbuktu“ scheinen dem Geheimnis näher zu kommen.

Die Bühne in Roberto Ciullis Inszenierung ist mit Koffern vollgestellt. Keine Zeichen des Aufbruchs, sondern der angehäuften Lebenslast, doch auch der Flüchtigkeit.

Das isolierte Paar bekommt seltsam geisterhaften Besuch. Zuerst erscheint Else (Christine Sohn), unbehauste Gefährtin von Karls jüngst verstorbenem Bruder. Flugs gibt’s einen Kleider- und Rollentausch mit Sophie (Petra von der Beek). Sofort bildet sich Karl (Albert Bork) ein, er könne künftig mit der Besucherin zusammenleben. Drum fragt er sie nach Gewohnheiten: Wie oft sie heult, wann und warum. Wie und wo sie schlafen will.

Nutzlose Weisheiten großer Geister

Später erscheint seine 1 Schwester Hilde (burschikos: Rosmarie Brücher) mit Ottmar (Klaus Herzog) der im Seniorenstudium Philosophie betreibt und nun die Sprüche großer Geister von Kant bis Adorno einstreut. Nutzlose Weisheiten – angesichts der existenziellen Kinderfrage, die hier beschworen wird: „Was ist hier eigentlich los?“ Tag für Tag und überhaupt.

Meist unauffällig gleiten all diese Figuren ins Irreale. Genazino erweist sich abermals als Spezialist für die Sensationen des Unscheinbaren. Am Ende des Kreislaufs ist fast alles wie zu Beginn. Jetzt aber scheint das Ehepaar sich sanftmütiger in Resignation und Todeserwartung einzuspinnen. Traurig und rührend. Um Genazino zu zitieren: „Traurig wie ein kleiner verstopfter Salzstreuer.“

Ciulli und sein Ensemble schaukeln die menschlichen Rätsel mit sohwankendem Geschick über die Bühne. Gewiss: Schwer ist’s, das Ungreifbare zu spielen. Theatralisch fest zupackend geht’s schon mal gar nicht. Mehr Gelassenheit wäre ratsam.

Trotzdem: Wenn man das Theater verlässt, ist man mit diesem Text lange nicht fertig. Er spukt im Kopf herum.

Termine im Mülheimer Theater an der Ruhr: 24. Feb., 8. 14., 24. März. 0208/599 01 88.

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ZUR PERSON

Satirische Anfänge

  • Wilhelm Genazino wurde 1943 in Mannheim geboren.
  • Bis 1971 war er Redakteur des legendären Satire-Blattes „Pardon“.
  • Buchtitel: „Abschaffel“ (Angestellten-Trilogie, 1977-79), „Fremde Kämpfe“ (1984), „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (1996), „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001),„Die Liebesblödigkeit“ (2005) und „Mittelmäßiges Heimweh“ (2007).
  • 2004 erhielt Genazino den Georg-Büchner-Preis.



Wo ist denn bloß der Bär geblieben? – Köln: Musical „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“ nach Walter Moers uraufgeführt

Von Bernd Berke

Köln. Es beginnt vielversprechend: Käpt’n Blaubär sitzt gemütlich im Sessel und schickt sich an, auf gut Hamburgisch sein Seemannsgarn zu spinnen. Ganz so, wie wir ihn kennen und ins Herz geschlossen haben. Strahlende Vorfreude bei 1400 Zuschauern im Musical-Zelt am Kölner Südstadion: Das wird bestimmt ein feiner Abend!

Dann jedoch nimmt die Sache musikalische Fahrt auf und verliert im Getümmel zusehends die Fährte des Bären. Anders als vorab auf Probenfotos zu sehen, legt Blaubär-Darsteller Björn Klein gleich die drollige Tiermaske ab und agiert fortan als ganz gewöhnlicher, etwas naiver junger Mann, der halt eine blaue Hose und einen roten Pullover trägt. Sein Bärendasein ist nur noch bloße Behauptung.

Der Regisseur mag nichts riskieren

Gewiss: Grundlinien aus Walters Moers‘ phantasiereichem Buch-Bestseller „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubar“ finden sich auch im gleichnamigen Musical wieder. Der Lügenbold erlebt schier unglaubliche Abenteuer mit Zwergpiraten, geschwätzigen Tratsch-Wellen, dem Rettungs-Saurier „Deus X. Machina“, dem bösartigen Stollentroll (bester Darsteller: Nik Breidenbach) und etlichen weiteren Fabelwesen. Hübsch groteske Figuren und Kostüme gibt es in dieser Menagerie zu sehen. Überhaupt sind die visuellen Effekte mitsamt computeranimierten Hintergründen bereits das Gipfelglück der Unternehmung. Immerhin ein wesentlicher Faktor.

Aber: Fast alles, was im umfänglichen Roman subtil und liebevoll ausgeschmückt war, erscheint in diesem Musical wie eingeebnet. Der herrlich skurrile Geist der Vorlage weht nur noch als Hauch, die parodierten Mythen (Atlantis & Co.) werden verscherbelt. Regisseur Zapo Schwalbe folgt meist ausgetretenen Pfaden des Genres, er riskiert nahezu nichts – und das bei diesem außergewöhnlichen Stoff!

Die Texte sind nicht immer unfallfrei

Die von Martin Lingnau mit professioneller Routine komponierte Musik (vom Band) bedient sich rundum, sie zitiert z. B. Shantys, Tango und Reggae, vor allem aber das globalisierte Rock-Idiom in den üblichen Ausprägungen. Die Skala reicht bis zur Schnulze („Blau muss mein Geliebter sein“). Manche Passagen hören sich halbwegs schmissig an, doch ein richtiger Hit, der sich sofort einprägen würde, ist nicht dabei. Das Reimschema der Liedtexte (Heiko Wohlgemuth) kommt auch nicht immer unfallfrei um die Satzkurven. Wenn man schon einmal ins Nörgeln geraten ist: Einige Szenen („Nachtschule“) kommen kopf- und gestaltlos daher, sie erschöpfen sich im wirren Gewusel. Zudem war der Ton zur Premiere phaserinweise noch unvollkommen ausgesteuert. Manches klingt seltsam gedämpft und mehlig. Bedauerlich für die Sänger. Sie geben sich alle Mühe.

Einige Nebensachen des Romans werden in den Vordergrund gezogen: So gerät der superkluge Prof. Abdul Nachtigaller, im Buch vorwiegend mit seinen Lexikon-Artikeln über das Wunderland Zamonien präsent, zum Moderator des Abends – als landläufig zerstreuter Professor. Nicht sonderlich originell.

Natürlich wird (im Bann der Musical-Konventionen) Blaubars Hang zum Blaubärenmädchen länglich und süßlich ausgespielt: „Für Dich koch‘ ich den Ozean ein / Nur mit den Flammen meiner Liebe“, trällern sie. Am Schluss regnet es Goldflitter auf die beiden herab. Ach, wie herzig!

Der genialische Blaubär-Schöpfer Walter Moers (siehe Info-Kasten) soll lange gezögert haben, ehe er die Musical-Rechte an seiner Figur vergab. Angesichts der Kölner Bescherung war seine Nachgiebigkeit wohl ein Fehler. Vielleicht hat er beim Kassieren entnervt gedacht: Lasst mich künftig in Ruhe und macht doch, was ihr wollt. Aber hätte er dann nicht ein Stückchen seiner Seele verkauft – und noch dazu das Fell des blauen Bären?

Bis 14. Januar 2007 Köln (Festplatz/Zelt am Südstadion, Vorgebirgsstraße). Tour-Stationen 2007: Frankfurt (ab 15. Februar), Hamburg (Mai), Berlin (August) und München (Nov.). Ticket-Hotline 01805 / 85 38 86.

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ZUR PERSON

Drastische Figuren

  • Walter Moers wurde 1957 geboren.
  • Er lebt und arbeitet sehr zurückgezogen, gibt praktisch keine Interviews und lässt sich nicht fotografieren.
  • Sein „Blaubär“ tauchte erstmals 1988 auf.
  • Der Roman „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Btaubar“ (1999) sollte die ursprünglich für Kinder gedachte Figur auch Erwachsenen nahe bringen. Mit Erfolg: Das Buch verkaufte sich 750 000 Mal.
  • Weitere, durchweg drastische Moers-Figuren: „Das kleine Arschloch“, „Der alte Sack“ und „Adolf (die Nazisau)“ – Hitler als lächerliche Comic-Gestalt, ganz gezielt an den Grenzen des Geschmacks angesiedelt.



Am Ende haben sich alle recht lieb: Klaus Pohls „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. Das Bühnenbild besteht aus Stapelware: Überall türmen sich Kästen einer in Bochum gebrauten Biermarke, die denn im Verlauf des Abends auch schon mal geordert wird. Wie ein bleicher Mond hängt über dieser Szenerie eine Echtzeit-Uhr, die anzeigt, wie die dreistündige Aufführung verrinnt.

Derweil geht es in Klaus Pohls Stück „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen uraufgeführt wurde, um Gott und die Welt, um Dichtung und Wahrheit, Theater und Revolte, um Macht, Ohnmacht und Beziehungskram. Sprich: Es geht vorderhand um alles und letztlich um nichts.

Der Bilderbogen rauscht ziemlich folgenlos vorüber

Ein schier unüberschaubares Vielerlei wird da vor uns ausgebreitet – ganz so, als ergötze sich das Theater selbstgenügsam am eigenen Vorhandensein, am puren Plappern und quirligen Treiben. Da lässt man eben den wortreichen, farcehaften, oft etwas naiven Bilderbogen halbwegs amüsiert an sich vorüberrauschen. Wenn’s vorbei ist, ist’s aber auch gut.

Der Stücktitel, den der erfahrene Dramatiker und Schauspieler Pohl („Das Alte Land“, „Karate-Billi kehrt zurück“) gewählt hat, soll angeblich bei Arthur Schnitzler entlehnt sein, doch das macht nichts. Bedeutsamer ist der Umstand, dass es sich um einen Auftragstext für die alljährliche Produktion mit Bochumer Schauspielschülern handelt. Die durften munter Ideen liefern, und Pohl hat offenbar den jungen Leuten nichts verwehren wollen. Also hat er wohl nur wenig aussortiert, hat dies und jenes verwertet, um etliches „Spielfutter“ zu liefern. Eigentlich ein sympathischer Zug. Doch dann hat er auch noch selbst Regle geführt, so dass es gar keine rechte Kontrollinstanz mehr gab.

Kapitalistischer Einpeitscher der Kistenstapler-Brigaden

In der ortlosen „Kistenstadt“ konkurrieren zwei seltsame Kulturschaffende um Konzepte und Weiber – der Baumeister Caspar Neuhauser (aha, aha – man soll an Kaspar Hauser denken!) und der dichtende Kistenstapler Alexander Polti. Zum Panoptikum zählen außerdem der versoffene Ex-Priester Volker (typischer Flachatmungs-Gag: „Wir sind das Volk“ – „Und ich bin Volker“), eine Spanischlehrerin, ein schüchterner Spielzeugverkäufer, ein Mann ohne Schottenrock, eine sangesfreudige Serviererin im „Seelen“-Lokal, eine Schauspielerin und vor allem zwei feindliche Brüder: Zunächst beherrscht der schmierige Claus Rotter als Megaphon-Einpeitscher die Kistenstapler-Brigaden. Merke: Unter seiner Kapitalisten-Knute welken alle Träume dahin. Mit einem absurd-listig herbeigeführten Börsencrash wird er entmachtet, es bricht gar eine groteske Revolution aus. Auch wird das orgienfeindliche Alkoholverbot aufgehoben. Hernach, unter dem aus der Verbannung zurückgekehrten Bruder Peter Rotter, der sich vom Melancholiker zum Theatergründer und Impresario mausert, läuft’s anders.

Die langwierige Szenenfolge soll wohl (oh, Frevel!) ein wenig an die Theaterproben der Handwerker aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ erinnern, doch hier heißt es: Spektakel an die Macht, circensisches Vergnügen, bis die Schwarte kracht. Ein wüstes Rap-Musical auf Mozart-Basis wird da ellenlang geprobt, bei dem ein weiblicher Don Giovanni die Männer reihenweise vergewaltigen soll. Peter Rotter stammelt immer wieder begeistert das Motto: „Raubvögeln! Schweinegut!“ Ziemlich frei flottieren da die Sinnbezüge, und am Ende haben sich alle irgendwie lieb.

Beachtliche Jung-Schauspieler retten Larifari-Text

Und die Darsteller? Nun, wenn sich die Profile mancher Figuren nie so recht schärfen wollen, liegt dies eher am Larifari-Text. Die Schauspieler agieren achtbar bis beachtlich. Besonders auffallend: Nora Jokosha als Claus Rotters schnippische, den lesbischen Lüsten zuneigende Gattin Lou und der schelmische Peter Luppa als Peter Rotter.

Auch die Anderen haben Beifall verdient, wenn auch nicht so frenetisch, wie ihn zur Premiere die Freundes-Fanclubs spendeten. Klaus Pohl bekam indes ein paar Buhs zu hören. Auch da in man kaum widersprechen. Schwer vorstellbar, dass weitere Bühnen sich zum Nachspielen drängen.

Termine: 15., 20. April, 7, 31.. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Gottsucher auf den finsteren Klippen – Späte Uraufführung des 1938 geschriebenen Stücks „Nacht“ von Gertrud Kolmar

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Regisseur Frank-Patrick Steckel war schon zu seiner Bochumer Intendantenzeit in einem Punkte der Schrecken der schreibenden Zunft: Meist war es bei ihm auf der Bühne so düster, dass sich kein Kritiker Notizen machen konnte, sofern er nicht über einen dieser albernen Leuchtstifte verfügte. Nun hat Steckel am Düsseldorfer Schauspiel ein Terrain tiefster Finsternis aufgetan. Das Stück heisst „Nacht“, und es bleibt in jeglichem Sinne dunkel.

Geschrieben hat es die als Lyrikerin äußerst sprachmächtige und formbewusste, einer Droste oder Lasker-Schüler ebenbürtige Gertrud Kolmar (geboren 1894). Die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin, der sich gänzlich assimilierte und deutscher Patriot war, blieb auch nach 1933 im Lande, als dies bedrohlich wurde. Aufopferungsvoll unterrichtete sie taubstumme Kinder und pflegte ihren Vater. Ab 1941 war sie Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie. Im März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert.

Das Stück „Nacht“ entstand 1938 und erfährt hier seine späte Uraufführung. Hauptperson ist Tiberius Claudius Nero, nachmals römischer Kaiser. Im Jahr 2 n. Chr. befindet er sich – mit einigen Gefährten – noch im selbstgewählten Exil auf Rhodos, derweil sein Stiefvater mitsamt Günstlingen in Rom herrscht.

Wir erleben diesen Tiberius als unerbittlichen Gottsucher. An der römischen Göttervielfait zweifelnd, befragt er mancherlei zweideutiges Orakel. Die Begegnung mit der jungen Ischta aus Judäa (die felsenfest an einen einzigen Gott glaubt) führt schließlich zu Szenen, die vollends fremd in unsere profanen Zeiten ragen.

Magische Sprache und ein Pathos der höchsten Werte

In einer erotisch getönten religiösen Aufwallung gibt sich Ischta dem Tiberius als Sklavin anheim, und er wird sie den höheren Mächten als Menschenopfer darbringen. Klar und einfach wie ein Quell sprechend, nimmt Ischta die vermeintliche Bestimmung auf sich. Eine unendlich zarte und doch überlebensgroße Figur, von Birgit Stöger mit bewegendem Ernst gespielt.

Dennoch ist das Ganze eine Gratwanderung am Rande des Unfassbaren, ein Opfergang bis zum Saum des Schwülstigen. Es ist jedoch auch ein erschütterndes Dokument der verzweifelten Suche nach jüdischer Identität in finstersten Zeiten. Dinge also, an die man gar nicht zu rühren wagt.

Somnambules Passionsspiel

Lange geriert sich Tiberius (Marcus Kiepe), der sich am Ende doch wieder in die Niederungen politischer Herrschaft begibt, weltenfern, abweisend und ziellos drangvoll zugleich. Ein Mann, an dessen Schicksal man keinen unmittelbaren Anteil nehmen kann, vielleicht gerade deshalb ein Faszinosum. Außerdem passen derlei Figuren wohl zur neuesten Unterströmung unseres Zeitgeistes, die sich von aller Ironie abwenden und ein neues Pathos der höchsten Werte aufrichten will.

Ein Botho Strauß fände vermutlich Gefallen daran; auch an einer immerzu ans Firmament greifenden Sprache, die mit kostbaren Wendungen wie „gunstbedeutender Traum“ und „tagverborgenes Geheimnis“ edelsten Tones einher wandelt. Die Magie der Worte fügt sich zum Klang-Ereignis jenseits eines sofort nachvollziehbaren Sinnes.

Das Bühnenbild (Johannes Schütz) zeigt düster zerklüftete Klippen, auf denen sich Menschen wie bleiche Geistwesen bewegen, stets auf die größten und letzten Dinge gefasst. Hier vollzieht sich ein somnambules Passionsspiel wie aus unvordenklichen Zeiten.

Steckel und sein Ensemble behandeln den immens schwierigen Text mit Noblesse. Zuweilen werden Worte nur behaucht, als könnten sie sonst klirrend zerbrechen. So umschifft man jede etwaige Peinlichkeit, und es kommt die Würde zum Vorschein, die dem Drama innewohnt.

Termine: 11., 22., 25. und 29. März. Karten: 0211/36 99 11.




Die große Langeweile mit den Außerirdischen – Anna Badora stemmt Vera Kissels „Die Apokalypse der Marita Kolomak“ auf die Düsseldorfer Bühne

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Es gibt Aufführungen, nach denen sich selbst der glühende Theaterfan fragt, ob er sich in diesen Stunden nicht lieber dem unmittelbaren Leben hätte zuwenden sollen. Einen solchen Abend bescherte jetzt das Düsseldorfer Schauspiel, wo Intendantin Anna Badora ein neues Stück zur Uraufführung brachte oder besser: schleppte.

„Die Apokalypse der Marita Kolomak“ stammt von Vera Kissel (40). Sie hat ein Journalistik-Studium in Dortmund absolviert und im Ruhrgebiet als Redakteurin gearbeitet. Irgendwann entdeckte sie ihre (halbwegs vorhandene) lyrische Begabung – und dann hat sie beschlossen, Dramatikerin werden zu wollen.

Das Handlungsschema der „Apokalypse“ ist rasch erzählt. In einer Dorfkneipe mit dem Namen „Wegsend“ (will heißen: Ende des Weges, will heißen: Verzweiflung am Schlusspunkt der Zeiten) erwartet man zu Silvester bebend die Ankunft eines Ufos (Teil 1), das aber nach der ersehnten Pause denn doch nicht gekommen ist (Teil 2). Vorhang zu und wenige Fragen offen.

Besagte Marita Kolomak (Heidi Ecks) ist die Frau des Wirtes „Jupp“ (Martin Schneider). Sie hat ihr Baby verloren, ist dem seherischen Irrsinn nahe. Nun hört sie „Stimmen“, welche die Ankunft von Außerirdischen ankündigen. Aussicht für alle Geplagten: Dann werde sich das Unterste nach oben kehren und umgekehrt, es werde eine neue Zeit anbrechen. Eine Handvoll anderer Enttäuschter zeichnet Maritas Gestammel („Und morgen und morgen und morgen…“) gläubig auf, fertigt Kopien und heftet selbige für den Tag X in Ordnern ab.

Eigentlich recht simpel: Die vom Leben Gebeutelten richten all ihr Warten und Hoffen auf ein Anderswo, sie projizieren munter drauflos und kompensieren ihre Defizite.

Eierlikör als Trost für Witwe Gisela

Die 17-jährige Juliane (Birgit Stöger) sieht ansonsten keine Zukunft für sich, Maritas Schwester Monika (Anke Schubert) wird ewig den „Mann fürs Leben“ suchen und nicht finden. Die Witwe Gisela (Anke Hartwig) trauert den Zeiten nach, da sie in der DDR noch solide Büstenhalter nähen durfte und wendet sich dem Damentrost Eierlikör zu. Der Student Tobias (Markus Danzeisen) verheddert sich in pseudo-wissenschaftlichem Gefasel. Nur Opa Schlott (Winfried Küppers) hat das Gröbste hinter sich und ist zufrieden, wenn Jupp „noch eine Lage“ Bier und Schnaps bringt. Er braucht keine Außerirdischen.

Die Bühne (Kathi Maurer, auch Kostüme) für dieses Panoptikum sieht aus, als solle Horváth oder Kroetz gespielt werden. Diese beiden, nebst Fleißer und Sperr, scheinen denn auch die Traditionslinie zu markieren, in der dieser Text sich sehen mag. Jene traurige Kneipe, über der der Pleitegeier schwebt, ist mit bunten Glühbirnen und Sternchen rundum dürftig dekoriert. Die farblich jeweils klar zugeordnete Kleidung (Marita in Gelb, Monika in Rot usw.) wirkt schräg, gestrig, ganz schön „daneben“ und lässt die Figuren debil aussehen.

In den besten Momenten klingen die Worte des Stückes nach lakonischen Volksweisheiten. Es ist viel Angelesenes und Angehörtes, hernach kaum verdautes und sprachlich nur zugerichtetes Zeugs drinnen. Knappe, oft lyrisch gedrechselte Sätze prägen den Stil: „Hab‘ sie weg“ heißt es statt „Ich habe sie weggegeben“. Es hört sich arg manieriert an.

Anna Badora lässt die Konfusion brav vom Blatt spielen. Treibende Konflikte gibt es im Grunde nicht, nur die beständige Erwartung einer Ankunft. Das Stück deshalb mit Samuel Beckett („Warten auf Godot“) verkuppeln zu wollen, wie es im Programmheft geschieht, ist sternenweit zu hoch gegriffen.




Der Idiot auf der Klippe – Edith Clever inszeniert die Uraufführung von Botho Strauß‘ „Jeffers – Akt I und II“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Botho Strauß, unser vielleicht empfindsamster, aber auch umstrittenster Theaterdichter. hat einen erlesenen Geistesverwandten gefunden – den amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers (1887-1962). Ihm huldigt Strauß in seinem neuen Stück „Jeffers – Akt l und II“. Ebenso leichtgläubig wie schwerblütig hat Edith Clever die Uraufführung für die Berliner Schaubühne inszeniert.

Jeffers war – ganz wie Strauß – ein Eremit der Literatur. Aus der Abgeschiedenheit von Carmel an Kaliforniens Küste verdammte er die moderne Zivilisation und allen Gegenwarts-Plunder im Namen einer gleichsam überirdischen Schönheit der Steine, des Meeres und der Falken. Der Naturfriede gedeihe am besten ohne Menschen, befand Jeffers in langen Poemen. Ökologie radikal, sozusagen. Nur: Für wen denn eigentlich noch?

Solch entschiedene Abkehr vom schnöden Menschenalltag hat es auch Strauß seit langem angetan. War es ihm in früheren Stücken gegeben, aus haarfeiner Beobachtung gängiger Bewußtseins- und Beziehungs-Formen unvermittelt ins Mythische abzuheben, so setzt er diesmal gleich ganz oben beim Mythos an.

Auf der Bühne kreisen die Steine

In „Akt I“ vernehmen wir zwei lange Monologe von Jeffers (Bruno Ganz) und seiner todkranken Frau Una (Edith Clever). Zwischen ihnen besteht keine mindere „Appartement-Liebe“, sondern eine unendliche Kraft der Sehnsucht. Wie zwei alte Rosensträuche wachsen diese beiden Menschen immer mehr zusammen, heißt es an einer Stelle.

Nach Unas Tod sinniert Jeffers über derlei Schönheit bewegungslosen Gleiçh-Bleibens auf einer „Insel hinter der Zeit“ – und schmäht alle Intellektuellen, denen er als reaktionärer „Idiot auf der Klippe“ gilt. Während er still dasitzt, kreisen auf der Bühne die Steine. Siehe, das finale „Heil“ einer menschenleeren Welt scheint nahe…

Mit Hilfe etlicher Jeffers-Originalzitate vermag es Strauß, aus den Lebensbilanzen des Paares einen hochpoetischen Gesang von einfachem Dasein und Dauer zu destillieren. Edith Clever und Bruno Ganz, die Größen der guten alten Schaubühnen-Zeit, sind – wie ihre Figuren – zwei, die nichts mehr forcieren oder beweisen müssen. Sie müssen nur reden, schon leuchtet etwas auf. Da schwebt, aus Jeffers und Strauß Elfenbeintürmen, tatsachlich ein hauchzarter Geist. Ein Mirakel des Theaters – und ein wundervoll milder Nachklang der vergehenden Schaubühnen-Ära.

Dem milden Nachklang folgen die Nachwehen

Doch dann heben die doppelt so langen Nachwehen an. Leider hat Strauß es nicht beim kostbaren Kleinod „Akt I“ bewenden lassen, es drängte ihn, Jeffers Gedicht „Mara“ in szenische Form zu pressen. Das Unglück beginnt mit dem Explosions-Blitz eines Zeppelinabsturzes, den einige Farmer und Töchter des Landes saufend begaffen. Nach diesem Menetekel der Zivilisation sehen wir sie später noch bei einem Hillbilly-Tanzvergnügen. Strauß hochmögende Worte in einer Saloon-Atmosphäre – das ist arg und sorgt des öfteren für unfreiwillige Komik.

Kern der Geschichte: Farmer Bruce (Bruno Ganz) muß argwöhnen, daß es seine jungeFrau Fawn (Karoline Eichhorn) mit seinem Bruder treibt; eine Leidenschaft, die sich in gurrenden Ausrufen wie „Oh, du Tier!“ artikuliert. Man schreibt zudem dasJahr 1939. Jenseits des Ozeans hat Hitler-Deutschland Polen überfallen. Schmutz also aus den Radio-Nachrichten, Lüge und Schmutz auch in den Seelen – dies treibt Bruce allmählich in einen Wahn, in dem „alle Zeit stillsteht“.

Hoher Ton und niederes Tun

Noch so einer an der Kante zur menschenleeren Welt, bis zu deren Grenze ihn die einstige Wasserleiche und jetzige Algenteppich-Hure „Mara“ (somnambul: Corinna Kirchhoff) geleitet. Hoher Ton und niederes Tun geraten wirr durcheinander. Mystisches Raunen, bedeutungsschwere Erstarrung und derber Mummenschanz ergeben ein unfrohes Gemenge, in dem selbst Bruno Ganz unterzugehen droht. Groteske1 Geisterstunden.

Großer Beifall für „Akt I“, Buhkonzert für Regie und Autor am Schluß von „Akt II“. Ein Abend, zwei Weiten.

Termine der Schaubühnen-Produktionen im Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29: am  23., 24., 25. April, 6., 7.. 8. Mai (20 Uhr).




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Ein deutscher Alptraum – Heiner Müllers „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. „Mach’s leicht!“ soll der Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) dem Regisseur Leander Haußmann geraten haben. Haußmann war schon zu Lebzeiten Müllers ausersehen, dessen Stück „Germania 3 – Gespenster am Toten Mann“ in Bochum zur ersten Bühnengeburt zu verhelfen. Nun hat der gewaltige, ungeheuerliche Text das Scheinwerferlicht erblickt. Und siehe da: Er birgt unverhoffte Spiellust, zugleich aber unaufhörlichen Schmerz.

Die alptraumartige Collage zur deutschen Historie erfaßt – einem reißenden Strom vergleichbar – Bruchstücke der germanischen Sagenwelt und schwemmt auf ihrem Weg in die Gegenwart z.B. auch Wagner, Nietzsche, Hitler und Ulbricht mit sich. Heerschau unter den Gespenstern und Untoten der Geschichte. Und so viel Mord, daß das Blut in Bochum gelegentlich mit der Schöpfkelle ausgeteilt wird. Absurde Menschenopfer allenthalben, ob in Stalingrad oder an der deutschen Mauer. „Gott ist ein Virus“, der die der Welt schon in den Griff bekommen werde, heißt es im zynischen Prolog.

Dreieinhalb Stunden Chaos

Ein bunter Harlekin (Steffen Schult) geleitet uns durch das dreieinhalbstündige Chaos. Mal mit verzweifeltem Witz, mal kleinlaut verzagend. Haußmann hat sich – Müllers Ratschlag folgend – nicht der Düsternis hingegeben, sondern den Text mit einer Unzahl von szenischen EinfäIIen geradezu übersät. Vielerlei Spielformen werden in diesem Unter-Welttheater erprobt. Manche Figuren bewegen sich wie mechanische Marionetten oder agieren in verfremdender Zeitlupe, dann wieder wird heftiger Theaterdonner oder auch unbändiger Unsinn entfesselt. Auch wenn es im Detail noch nicht durchweg „stimmt“: So muß man eine solche Collage anpacken, sie verträgt es durchaus.

Mit Nebelmaschine, Schneekanone und höllischem Krach werden wir – nach einer blutrünstigen Ansprache Josef Stalins (Gennadi Vengerov) – in den Zweiten Weltkrieg versetzt, die nahezu nackte Bühne ist alsbald ein Schlachtfeld mit rieselndem Schutt und raunenden Geistern. Bewegende Bilderfolgen hat Haußmann für die spukhaften Verwandlungen und das Gleiten geschichtlicher Zustände gefunden. Da mutiert der kroatische SS-Mann von 1945 zum kroatischen Gastarbeiter anno 1960, oder die drei hinterbliebenen Frauen Bertolt Brechts zum Hexentrio à la Shakespeares „Macbeth“.

Die Sequenz mit den resoluten Brecht-„Witwen“ (Margit Carstensen, Traute Hoess, Irene Christ) gehört, ebenso wie eine abstruse DDR-Party der 50er Jahre, zu den Glanzpunkten. Doch stets kann solche Komik in ihr brutales Gegenteil umschlagen. Wenn etwa zum Brecht-Gedicht von den „finsteren Zeiten“ plötzlich ein seltsames elektrisches Reptil über den Bühnenboden schnürt, so ist dies grausiger, als man sagen kann. Haußmann entkräftet das Vorurteil, er kaspere nur mit dem Theater herum. „Mach’s leicht!“ Das hat er getan. Aber er hat es sich nicht leicht gemacht.

Hitler säuselt eine jiddische Melodie

Gesungen wird viel. Auf der Ziehharmonika werden die Hymnen von BRD und DDR intoniert, der besiegte Hitler (Heiner Stadelmann) säuselt gar eine jiddische Melodie, später gibt es „Kein Bier auf Hawaii“. Gipfel ist ein realsozialistisches Traktoristenlied, das zum Putzen des eisernen „Schollenfressers“ ermuntert. An ihren Liedern sollt ihr sie erkennen. Es klingt oft zum Verrücktwerden komisch…

Tags darauf wurde Heiner Müllers 1969 uraufgeführter „Prometheus“ (Regie: Marold Langer-Philippsen)“ nachgereicht. Man mag in der Anverwandlung des antiken Mythos‘ dies mitlesen: Kultur- und Lichtbringer Prometheus wird letztlich von einer Staatsmacht (Göttervater Zeus) an den Felsen geschmiedet.

Prometheus (Steve Karier) steckt in einer kafkaesken Zwangs-Apparatur, die karge Bühne mit metallischem Gerüst wirkt wie eine apokalyptische Werkshalle. Durch die dauernde Gefangenschaft der Hauptperson hat das Stück einen engen Radius, man müßte also desto mehr auf die Sprache achtgeben. Hier aber werden die Worte der ersten halben Stunde mit diktatorischem Gleichschritt buchstäblich zerstampft. Da mögen sich – in wechselnden Rollen – Joana Schümer, Andreas Edelblut und Samuel Zach noch so stilwillig mühen, die Sache ist damit schon weitgehend hinüber.

Termine: „Germania 3″ am 30. Mai, 11., 16. und 26. Juni / „Prometheus“ am 30. Mai, 8., 14. und 15. Juni. Karten: (0234) 3333-111.




Triumph für die Muse des Theaters – „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß in Salzburg uraufgeführt

Von Bernd Berke

Salzburg. Selten dürfte ein neuerer Theatertext so sehr aufs Wort belauert worden sein. Botho Strauß, immer schon zuständig für die „neueste Stimmung im Westen“, hatte vor einigen Monaten im „Spiegel“ seinen „anschwellenden Bocksgesang“ angestimmt und dabei mit brandgefährlichen Begriffen zwischen Blut, Boden und Kampfesehre gespielt. Desto mißtrauischer lauschte man jetzt bei den Salzburger Festspielen der Uraufführung seines Stückes „Das Gleichgewicht“.

Strauß ist hier ganz auf seiner eigenen Höhe. Zwischen allerlei Phantom-Liebe und versickernden menschlichen Beziehungen entfaltet er ein weites Panorama der Verluste. Verschleiert und verspiegelt: der zauberische Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann. Ähnlich ätherisch wie das Doppel-Leben jener Lilly Groth (Jutta Lampe). Nach einem Jahr der Trennung auf Probe von ihrem Mann, der in Australien Ökonomie lehrte, hat sie sich offenbar in eine eingebildete Zweit-Beziehung zu dem Rockmusiker Jacques le Coeur hineingesteigert. Ein zweites Leben neben dem ersten – nur so findet sie Halt und inneres Gleichgewicht.

Diese empfindliche, jederzeit bedrohte Ökonomie des Glücks spiegelt Strauß nun auf den verschiedensten Ebenen der Gesellschaft. Das Spektrum reicht vom verwahrlosten Milieu einer S-Bahn-Unterwelt (mit Rolltreppen abwärts) über eine von Spekulanten zum Abriß freigegebene Berliner Ladenzeile bis in die Vorräume der Macht. Auch sprachlich wird das Höchste mit dem Niedersten kunstvoll verwoben und verworren. Von Slapstick und Kabarett bis zum goetheschen Tonfall reicht das Spektrum, vielfältig wie das unübersichtliche Leben selbst. Ein ungeheuer reiches Stück, Strauß‘ größte Tat seit „Groß und Klein“.

Wir werden es gewiß noch in vielen anderen Inszenierungen erleben, doch schwerlich in einer besseren als jener von Luc Bondy. Ganz gleich, ob der Text in seltenen Sekunden zu raunen, zu dröhnen oder sich allzu weit zu erheben droht  – die Regie hat ihn vor jedem Abgleiten bewahrt. Auch das ein wunderbares Gleichgewicht. Und überhaupt klingt Strauß ja im Drama, im abwägenden, gegeneinander austarierten Dialog, allemal humaner als im hochfahrenden Monolog seiner Essays.

„Der Aufstand der Reinheit“

Hier, im Theater, verzeiht man auch eine Vision wie die von der „Säuberung durch Engelsstimmen“ und vom „Aufstand der Reinheit“, der alle Drogensüchtigen aus unseren Städten vertreiben müsse. Denn solche Sätze sind eingebettet ins Geflecht von Gegenstimmen.

Und welch ein Ensemble kann Bondy aufbieten, wahrhaft festspielwürdig! Jutta Lampe als „Lilly“ in all ihrer zarten Durchsichtigkeit, Brüchigkeit, Bedrängnis – und doch stark wie eine Heldin. Der majestätisch beruhigte Christoph (Martin Benrath), ihr Ehemann mit seiner Gleichgewichts-Philosophie des buddhistisch inspirierten Bogenschießens, des rechten Moments losgelöster Anspannung von Pfeil und Sehne. Sodann die phantastische Kirsten Dene (oh, alte Bochumer Peymann-Zeit!) und Martin Schwab als benachbarte Lädcheninhaber mit ihrer seit 15 Jahren unentschiedenen Buffo-Liebe. Selbst Nebenrollen sind mit Spielmagiern wie Fritz Lichtenhahn und Hans-Peter Hallwachs besetzt.

Man möchte schwelgen. Und es befällt einen der innige Wunsch, das Theater möge aus solcher Höhe nie mehr in den faden Alltag zurückfallen. Dann hätte sich alle Diskussion um seine Bedeutung erledigt. Die Muse Thalia würde triumphieren.

Brausenden, rauschenden Beifall gab es nach annähernd vier Stunden. Im Publikum saßen, neben zahlreicher Kultur-Prominenz, auch Leute wie der Chef der Deutschen Bundesbahn. Vielleicht ist auch er, für seinen Job, auf der Suche nach dem „Gleichgewicht“…




Rätselhafte Appelle an die dunkelsten Schichten der Seele – Augusto Boal inszeniert die Uraufführung von Garcia Lorcas „Das Publikum“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Roms Kaiser grunzt und kotzt aus vollem Halse. „Julia“ vergeht nicht vor Liebe, sondern hebt kurzerhand den Rock, windet sich dann in Sturzbächen von Pferde-Urin. Auch „Helena“ ist alles andere als klassisch, sie kommt als verruchte Salondame daher. Irgendwann leiert dann noch der Gekreuzigte seine bekanntesten Bibelsprüche herunter, und zwei elfenhafte Schwuchteln, die auf einem griechischen Säulenstumpf herumturnen, kommen – klar doch! – auch vor.

Befremdliche Dinge begeben sich im „Theater unter dem Sand“, in dem man alle Masken ablegen will, um die Untiefen der Existenz direkt auf der Bühne auszuleben. „Herr Direktor, das Publikum ist da!“ So vermeldet es der „Diener“, schon halb resignierend. Es folgt circensischer Klamauk: Vier Menschenpferdchen tänzeln trompetend herein. Hernach wird jenes „Theater unter dem Sand“ (es ist wohl dem Strand benachbart, der „unter dem Pflaster“ liegt, aber auch nah an Gräbern) entfesselt – in Federico Garcia Lorcas 1930 bis 1936 geschriebenem Stück „Das Publikum“, das jetzt uraufgeführt (!) wurde. Und zwar nicht, wie zu vermuten stünde, beim „Theaterpathologischen Institut“ Roland Rebers in Lünen, sondern bei den Städtischen Bühnen Wuppertal.

Regie (und dies kommt einer Sensation gleich) führt Augusto Boal, brasilianischer Theatermacher im Pariser Exil, bekannt durch sein „Theater der Unterdrückten“ (nicht nur) in den Slums von Sao Paulo, wegen dessen subversiver Wirkung ihn frühere Regimes verfolgten und foltern ließen.

Boal bringt in sieben rätselvollen Bildern ein surrealistisches Kaleidoskop des 1936 im spanischen Bürgerkrieg von den Falangisten erschossenen Lorca auf die Bühne, das an dunkle Tiefenschichten der Seele appellieren will, nicht an den Verstand. Es stelle nur niemand die Bedeutungsfrage, das ist zwecklos, soll zwecklos sein!

Es ist, als taumele man durch ein labyrinthisches Bild von Salvador Dalí. Verwandlungen und Metamorphosen zuhauf. Was ist Wirklichkeit, wieviel davon darf oder muß, zumal in umstürzlerischer Zeit, auf die Bretter des Theaters? Solche Fragen schälen sich immerhin schemenhaft heraus.

Lorcas Wort- und Spielarsenal des Surrealismus wirkt hie und da noch „irgendwie“ poetisch, aber doch auch angestaubt, historisch, zitathaft. Das reicht von der weidlichen Zurschaustellung jeglicher menschlicher Körperausscheidung bis zur Verknüpfung entferntester Gegenstände nach dem surrealistischen Muster jenes notorischen Regenschirms, der einer Nähmaschine auf dem Operationstisch begegnet.

Lorca meinte 1936, Zeit und Publikum seien noch nicht reif für dies Stück. Es sei ein Stück zum Auspfeifen, nicht zum Aufführen. Womöglich ist es so, vielleicht aber auch umgekehrt: Das Stück kommt um Jahrzehnte zu spät. In Wuppertal jedenfalls verließen einige Zuschauer während der Premiere fluchtartig den Raum.

Doch der Uraufführungsehrgeiz hat die Wuppertaler nun einmal geritten: Das Stück fällt ganz aus dem Rahmen des sonst eher gefälligen Schauspielplans, es paßt überhaupt nicht zur bisher erarbeiteten Spielpraxis des Ensembles, das sich denn auch mehrfach in Gefilde platter Komik retten muß. Der Exodus beim „normalen“ Abo-Publikum wird vermutlich noch weit deftiger ausfallen als bei der Premiere. Neben stellenweise aufblitzender Schauspielkunst positiv hervorzuheben: Helio Eichbauers Bühnenbild; einfach, klar, hellsichtig-zeichenhaft.