Ruhrgebiet – Traumgebiet: „Urbane Künste Ruhr“ wollen ab Mai wieder Orte der Region verwandeln

Durch Schaum überfluteter und verwandelter Stadtraum: Stephanie Lüning „Island of Foam“ (Schauminsel), Version XIV, 2021, in Linz/Österreich. Ob es bei der Aktion in Essen-Steele ähnlich zugehen wird? (Foto: © Violetta Walkobinger)

Noch ist alles im Wachsen und Werden, doch es lässt sich schon im Ungefähren darüber reden: Bei einer Online-Pressekonferenz gab es jetzt einen ersten Überblick zu neuen Projekten von „Urbane Künste Ruhr“. Sie befassen sich vom 5. Mai bis zum 25. Juni mehr oder weniger direkt mit dem Generalthema „Schlaf“.

Damit wird die 2019 gestartete und 2021 fortgesetzte Trilogie „Ruhr Ding“ enden, deren erste Ausgaben „Territorien“ und „Klima“ in den Blick genommen haben. Allesamt dehnbare Themenfelder, fürwahr.

„Schlaf“ also. Unter diesem Losungswort sollen sich diverse Orte im Ruhrgebiet als traum- oder auch alptraumnahe Gelände erweisen, wenn nur erst Künstlerinnen und Künstler ihnen beigekommen sind. Manche Stätten haben freilich auch so schon einigermaßen surreale Anmutungen. Wer es gerne in Zahlen hat, bitte sehr: 19 künstlerische „Positionen“ werden an 22 Standorten „sichtbar“, um im modischen Jargon zu bleiben.

Britta Peters, Leiterin von „Urbane Künste Ruhr“, bezeichnet den Schlaf als universelles Thema. In der Tat: Es ist – wie vordem schon Territorien und Klima – im Grunde dermaßen ausufernd, dass es beliebig werden könnte. Allerdings wird der Schlaf sozusagen regional und lebensweltlich verankert, nämlich auf Zeiten, Rhythmen und Schichten der Arbeit bezogen, wie sie im Revier einmal üblich waren und längst im vielfachen Wandel begriffen sind. Peters und ihre Assistenz-Kuratorin Alissa Raissa Danscher haben dabei abermals auf eine mindestens gleichberechtigte, wenn nicht überwiegende Präsenz von Künstlerinnen Wert gelegt. Warum auch nicht?

Verschiedene Zonen des Reviers

Nachdem 2019 vorwiegend die mittlere Schiene des Ruhrgebiets (u. a. mit Dortmund, Bochum, Essen und Oberhausen) den Anfang machte und 2021 der Norden (mit Gelsenkirchen, Recklinghausen, Herten und Haltern) folgte, geht es diesmal vor allem südwärts: nach Mülheim, Witten und Essen-Steele. Wo sind bei all dem Hagen, Hamm oder z. B. die Kreise Unna oder Ennepe-Ruhr geblieben? Nun, das Ruhrgebiet ist wohl doch zu weitläufig, um jede Ecke zu „bespielen“.

Ein Dreh- und Angelpunkt der neuen „Ruhr Ding“-Ausgabe ist Mülheim, wo einst der Filmemacher und Sammler Werner Nekes nachmals ruhmreiche Künstler wie Christoph Schlingensief (Oberhausen) und Helge Schneider (just Mülheim) „entdeckt“ und gefördert hat, woran Britta Peters aus- und nachdrücklich erinnert.

Es mag also einen langjährig wirksamen Geist des Ortes geben, an den sich anknüpfen ließe – mit ausgesprochen internationalem Horizont, was die Biographien der Mitwirkenden angeht. Nun also ein paar Projekt-Beispiele, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind lauter Vorhaben, die sich noch nicht vollends konkretisiert haben:

Projekte in Mülheim/Ruhr

Unter Ägide des preisgekrönten Filmemachers Michel Gondry (geb. 1963 in Versailles) können Leute in der Alten Dreherei zu Mülheim ihre eigenen Filme – drehen. Genre und Gestaltung nach Gusto. Die Resultate erweitern ein bestehendes, bei ähnlichen Aktionen u. a. in New York, Tokyo und Paris entstandenes Archiv um eine Revier-Perspektive.

Katarina Jazbec, Künstlerin und Filmemacherin vom Jahrgang 1991 aus Slowenien, hat sich mit harten Arbeitswelten in einem Hagener Steinbruch und einem Duisburger Stahlwerk befasst. Nik Nowak (geb. 1981 in Mainz, in Berlin lebend) verwandelt einen Übersee-Container unter der Mülheimer Konrad-Adenauer-Brücke in eine Klangskulptur. Viron Erol Vert (geb. 1975, aufgewachsen in Norddeutschland, Istanbul und Athen) will einen typischen Ruhrgebiets-Kiosk mit Farben und Spiegelungen in ein Kunstwerk zwischen Alltag und Traumwelt transferieren.

Projekte in Essen-Steele

„Ruhr Ding“ gastiert auch im Essener Stadtteil Steele, der in den 1960er und 70er Jahren brutal autogerecht umgebaut wurde. Auch hier bezieht sich ein Künstler auf die regionale Kiosk-Kultur: Wojciech Bakowski (geb. 1979 in Posen) entwickelt eine Installation im Inneren einer „Bude“. Ins ehemalige Wertheim-Kaufhaus von Essen-Steele begibt sich unterdessen Nadia Kaabi-Linke (geb. 1978 in Tunis, aufgewachsen dort und in Kiew, lebt in Berlin). Ihre Installation zielt auf optische Unendlichkeits-Effekte. Auch die Fassade des einstigen Kaufhauses wird künstlerisch bearbeitet – von Kameelah Janan Rasheed (geb. 1985 in East Palo Alto). Sie will auf der „Außenhaut“ des Gebäudes die „architektonischen und historischen Schichtungen des Stadtraums“ (Ankündigungstext) freilegen. Gleichfalls in Steele erkundet die polnische Künstlerin Alicja Rogalska Zusammenhänge von Architektur und sozialem Leben – insbesondere aus Frauensicht.

Besonders spektakulär verspricht die – ebenfalls in Essen-Steele angesiedelte – Performance von Stephanie Lüning (geb. 1978 in Schwerin) zu werden. Lüning ist dafür bekannt, öffentliche Plätze mit bunten Schaumbergen zu überfluten – auch für Kinder ein Hauptspaß, wie Aufnahmen früherer Aktionen zeigen.

Projekte in Witten

Dritter Hauptort des Geschehens ist die von anthroposophisch inspirierter Uni und Klinik mitgeprägte Stadt Witten. Auch deshalb erhebt sich hier nach Ansicht der Kuratorinnen die Frage nach der Zukunft des Körpers in der digitalisierten Welt.

Melanie Manchot (geb. 1966 in Witten) hat mit der Filmkamera Frauen bei ihrer nächtlichen Arbeit beobachtet: Pole-Dancerin, Bäckerin, Türsteherin, Reinigungskraft. Schon kurze Probe-Sequenzen lassen einen eindrücklichen Film erwarten, der in der Wittener WerkStadt gezeigt werden werden soll. Zugleich bekommt Melanie Manchot eine Einzelausstellung im Märkischen Museum der Stadt Witten.

Joanna Piotrowska (geb. 1985 in Warschau) bringt eine Körper-Choreographie in Schaufenster-Vitrinen der früheren Wittener Galeria Kaufhof. Nora Turato (geb. 1991 in Zagreb/Kroatien) stattet den idyllischen „Schwesternpark“ in Witten mit einem Klang-Parcours aus. Das Wiener Theaterkollektiv „God’s Entertainment“ versieht derweil den örtlichen Saalbau mit einer großen Raumskulptur in Form eines Oktopus‘ und assoziiert die kantige Form des Gebäudes mit einem Kreuzfahrtschiff.

Zu hoffen wäre, dass sich einige (einstweilen noch etwas nebulöse) Versprechen und Konzepte einlösen und dass sich der etwaige Eindruck verflüchtigt, hier sei eine mehrjährig eingeschworene Gruppe am Werk, die „ihr (Ruhr)-Ding“ nach Belieben macht, ohne gar zu sehr auf breitere Wirksamkeit zu achten. Wir lassen uns gern überraschen.

Urbane Künste Ruhr: „Ruhr Ding: Schlaf“. 5. Mai bis 26. Juni 2023. Ausstellungen und Aktionen im öffentlichen Raum in Mülheim/Ruhr, Essen-Steele, Witten (dazu als nördlicher „Satellit“: Gelsenkirchen-Erle).

Nähere Infos:

www.urbanekuensteruhr.de

 

 

 

 




Eine frühere Kirche als Backstube und Sauna? – Das gibt es nur bei „Urbane Künste Ruhr“

Hier soll tatsächlich einmal gebacken und sauniert werden: Innenraum der ehemaligen Kirche St. Bonifatius in Gelsenkirchen-Erle. (Foto: Heinrich Holtgreve)

Was unter dem Label „Urbane Künste Ruhr“ in manchen Ecken des Reviers passiert, darüber lässt sich ohne Anschauung offenbar nur vage reden. Das hat sich abermals bei der heutigen Jahrespressekonferenz zum vielfältigen Projektbündel gezeigt. Fünf Statements waren angesagt – übrigens ausnahmslos von Frauen. Da hieß es erst einmal: den Überblick gewinnen, den zur Gänze vielleicht gerade mal die Insiderinnen haben.

Es war die einleitende Rede von künstlerischen Positionen, bei denen es letztlich um die zentrale Frage gehe: „Wie wollen wir leben?“ Ach so. – Anschließend rauschte die künstlerische Leiterin Britta Peters rasant durch Bisheriges und Künftiges. Fotografische Impressionen sollten gehabte künstlerische „Interventionen“ unter dem Generaltitel „Ruhr Ding“ vergegenwärtigen – zu den Globalthemen „Territorien“ (2019) und „Klima“ (2021). Im Vorgriff wurde verraten, dass das Leitthema für 2023 „Schlaf“ laute. Darunter kann man sich einstweilen alles oder nichts vorstellen. Wird schon werden.

Denn beim wolkig Globalen darf es ja nicht bleiben, im Gegenteil. Alle künstlerischen Äußerungen sollen regional und lokal verankert sein, sollen sich an konkreten Orten des Ruhrgebiets beweisen – ob nun als Installationen, Performance-Darbietungen oder artverwandte Aktionen.

Im Laufe der letzten Jahre haben die Projekte eine Wanderung vollzogen, es begann in der nördlichen Emscherzone und hat sich über die Mitte des Reviers gen Süden bewegt. Im Prinzip bleibt keine Stadt ausgespart. Und was es da nicht alles gibt: den zusehends anwachsenden „Emscherkunstweg“; den „Wandersalon“ als – Zitat – „mobiles Diskursformat“ (Gespräche, Lesungen, Konzerte etc.); Residenzprogramme, mit denen Künstler*innen (bei „Urbane Künste Ruhr“ ist der gender-gerechte Glottisschlag die Regel) ins Revier geholt werden. Und so fort. Insgesamt stehen jährlich 3,7 Millionen Euro bereit, um das Revier künstlerisch zu durchdringen. Auch mit der Ruhrtriennale besteht eine Kooperation.

Monumental und doch anheimelnd alltagsnah

Gut und schön. Und was gibt es in diesem Jahr? Nun, im Mittelpunkt steht ein ziemlich monumentales und doch anheimelnd alltagsnah anmutendes Vorhaben der in Belgrad geborenen und in New York lebenden Künstlerin Irena Haiduk, die 2017 mit der Aktion „Spinal Discipline“ auf der Kasseler documenta für Aufsehen sorgte. Für „Urbane Künste Ruhr“ hat sie die Anfangsgründe eines Projekts skizziert, das womöglich eines Tages in Dauerhaftigkeit überführt werden kann. In der (1964 erbauten und nun eigens angemieteten) ehemaligen Kirche St. Bonifatius zu Gelsenkirchen-Erle will Irena Haiduk eine raumgreifende Situation schaffen, die die Tätigkeiten des Backens und des Saunierens verbindet; auf welche Weise, das soll sich erst noch zeigen. Denn mit der geplanten Eröffnung Anfang Juni 2022 beginnt die Sache erst so richtig. In etlichen Workshops und Begegnungen soll sich das Konzept konkretisieren und eventuell in eine feste Einrichtung münden. Der Titel „Healing Complex“ dürfte auf leibseelische Heilsamkeit durch Genuss hindeuten, auch eine soziale Komponente und die allüberall beschworene Nachhaltigkeit werden mitgedacht, so dass vielleicht gar die Abwärme des Backens für Sauna-Hitze sorgen könnte. Der Phantasie sind zunächst kaum Grenzen gesetzt, die Realisierung steht auf einem anderen Blatt. Idealerweise würden Kunst und Leben ineinander übergehen. Bevor wir es vergessen, sei nüchtern festgestellt: In der ehemaligen Kirche arbeitet bereits ein gewerblicher Bäckereibetrieb.

Und so ufert Kunst, teilweise an verschwiegenen Orten der postindustriellen Landschaft, zuweilen aber auch in den Zentren, nach und nach geradezu aus. Vieles bleibt, etwa in Form von Skulpturenparks, erhalten. Manches muss im Lauf der Zeit einer Revision unterzogen und restauriert oder verändert werden. Anderes existiert nur temporär und flüchtig. Das Revier, so lässt sich inzwischen sagen, wird allmählich mit einem Netz von Kunst überzogen, wird mit Kunst durchsetzt. Es gibt Schlimmeres.

Freilich hilft alles Gerede nichts: Statt sich verbal im Irgendwie und Irgendwann zu verlieren, müssen sich die Leute halt an die entsprechenden Orte begeben, vielleicht auch selbst zum imaginären Teil mancher Kunst-Werke werden. Ideen zur Tourenplanung und weitere Hinweise finden sich auf der Homepage der „Urbanen Künste Ruhr“.




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



RuhrTriennale: Von Geisterbahnen, Freilichtduschen, Pendeltanz und Sinnattacken

Die Installationen der RuhrTriennale – umsonst und teilweise draußen. Jeder soll teilhaben an den Großkunstwerken, die die diesjährige RuhrTrienale zum temporären Einsatz eingekauft hat.

Heiner Goebbels, Experiment-Experte und moderierender Leiter des Kunstfestivals, stellte Künstler und Werke vor. Und alles ist so, als sei es am richtigen Ort zur richtigen Zeit – Festspielzeit im Nachhang des Sommers. In allen großen Nachrichtensendungen des Fernsehens wurde die Eröffnung bildreich angekündigt und man verwechselte schon mal Bochum mit Essen.

Dusche (Foto:Dman)

Dusche (Foto:Dman)

Und wenn es noch heiße Tage geben sollte, dann kann der zufällige Spaziergänger vor dem Ruhrmuseum sich seiner Klamotten entledigen und unter die Dusche springen, die da von der Künstlergruppe „rAndom international“ in Zusammenarbeit mit „Urbane Künste Ruhr“ errichtet wurde. 25.000 Liter Wasser rauschen dort pro Minute von weit oben in einem Viereck auf den Boden nieder, wo sich bei Sonne ein Regenbogen bildet. Nachts wird alles künstlich erhellt, was das Publikum sich tags denken darf.  Der Ort sei dafür eine Entdeckung, sagte man. Nun ja, versteckt liegt er nicht und der urbane Raum ist das bekannteste Open-Air-Museum des vergangenen, lauten Zeitalters der krachenden Industriewerke im Revier.

Wer die Mischanlage der Kokerei Zollverein zum ersten Mal betritt, wird vor lauter Erbauung erst mal verstummen. Ein gigantischer Eindruck verhärtet hier den Gedanken an harte Arbeit und die schwere schmutzige Ressource Kohle.

Geisterbahn (Foto:Dman)

Geisterbahn (Foto:Dman)

Der Schotte Douglas Gordon durfte sich hier auslassen und schuf Lichteffekte, Videos und einen poetisch-brachialen Sound. Es nebelt und bubbert. Im gefilmten Treppenaufgang wird gesungen und musiziert, auf einem Monitor sieht man einem Raben zu, wie er sein Mahl zerrupft und frisst. Eine Art Explosionssound lässt gar diese Mauern erzittern. Der Raum wird erneut illustriert, aber beeindruckend. Als Gordon, der Kaugummi kauend witzig lässig seine Unternehmung „Silence, Exile, Deceit“ beschreibt, erzählt er von seinem kleinen Sohn, dem es gruselte: „Like in a haunted house“ (Wie in einer Geisterbahn). Das ganze Ruhrgebiet sei eine Art Geisterbahn. Das ist allerdings wunderbar und die liebevoll britische Art von Humor. Aber wenn man drin lebt, erschrickt man nicht mehr.

Das edle Museum Folkwang zeigt zwei Arbeiten des Choreographen William Forsythe, der seit langem Tanz und Bildende Kunst auf gleiche Ebenen bringt. Zunächst kann mich sich als Besucher in einer

Installation "Nowhere and everywhere at the same time Nr.2" (Foto Dman)

Installation „Nowhere and everywhere at the same time Nr.2“ (Foto Dman)

Art Zerrspiegel zeitversetzt in verschiedene Positionen schieben, ein Spiel mit Zeit und Selbstbild. In der großen Halle findet man sich dann zu einem Spielraum für Erwachsene zusammen. Von der Decke hängen Pendel, die sich unter Pufflauten verschieben. Man darf und soll hineintreten, allerdings nicht mehr als 12 Personen gleichzeitig. Der Mensch tanzt unwillkürlich durch die engen Gassen zwischen den Fäden mit den Pendeln. Berührt man sie, hat man verloren. Die einen schauen, die anderen tänzeln, laufen, stehen, versuchen zu gewinnen. Preise gibt’s nicht im Spiel- und Tanzzimmer.

Das größte Werk ist in der Kraftzentrale des Duisburger Landschaftsparks zu sehen, Ryoji Ikedas „test pattern“ in der 100-Meter-Version. Und das geht nur in einer solchen Halle. Der Komponist und Bildende Künstler der „elektronischen Szene“  wird mit seinen audio-visuellen Werken international durchgereicht, war bei zahlreichen electronic-art Festivals und in den großen Museen zu sehen und zu hören. Für zart besaitete Kunstliebhaber ist dieser Ort eher ein Raum der Verstörung.

Test Pattern (Foto Dman)

Test Pattern (Foto Dman)

Unsäglich hohe Töne zersägen den Kopf, bevor tiefe Töne den Bauch bewegen. Auf der 100-Meter-Fläche wechseln in nicht wahrnehmbarer Geschwindigkeit Formen in schwarz-weiß. Man kann die Strecke begehen, laufen, rennen, stehen bleiben, sich dem Ganzen aussetzen. Das hat zwar keinerlei poetische Wärme, aber das muss ein elektronisches Werk auch nicht haben. Es ist laut und schrill und sicherlich für viele ein beeindruckendes Beispiel für die „Macht des Unaufhaltsamen“ , die digitalen Daten und Barcodes.