Schnoddrig unterwegs – Stefanie Sargnagels Reisebuch „Iowa“

Im US-Bundesstaat Iowa (kürzlich wegen einer betrüblichen US-Vorwahl in den Zeitungsspalten) spielen nicht allzu viele deutschsprachige Bücher. Sei’s Lockung oder Warnung: Die nicht nur im Fankreis vielgepriesene Stefanie Sargnagel stellt die geographische Bezeichnung gleich in den Titel: Schlichtweg „Iowa“ heißt ihr… ja, was eigentlich? Ein Roman ist es nicht. Vielleicht ein sehr subjektiver Reise- und Erlebnisbericht.

Jedenfalls liest sich das Ganze mal wieder weg wie geschmiert. Es bleibt nicht verborgen, dass die Autorin viele Jahre in sozialen Netzwerken erprobt hat, wie sich Leserinnen und Leser fix einfangen lassen. Nach der Lektüre sonnt man sich überdies in dem Glauben, nun tatsächlich einiges über Iowa zu wissen – im Grunde viel mehr, als ein noch so ambitionierter Reiseführer mit „Geheimtipps“ es vermitteln könnte.

Schwerlich mit Thomas Bernhard vergleichbar

Dennoch habe ich mich (auch angesichts einzelner, mitunter etwas geschwätzig wirkender Strecken) gefragt, ob es sich hier um Literatur im eigentlichen Sinne handelt. Findet Stefanie Sargnagel wirklich zu einer ureigenen Sprache und Form? Wenn ich lese, sie werde (von wem? warum? einfach wegen Österreich?) mit Thomas Bernhard verglichen, sträube ich mich unwillkürlich dagegen. Aber süffig und plastisch beschreiben kann sie wahrlich. Langeweile hat keine Chance. Und die unsinnigen Vergleiche stammen schließlich nicht von ihr.

Die Enddreißigerin Sargnagel ist in einem Alter, in dem sie sich noch einigermaßen auf Höhe des Zeitgeistes wähnen darf. Freilich wendet sie sich auch schon von etlichen Erscheinungen der Gegenwart überdrüssig und geradezu unwirsch ab. Genau das richtige Biotop für schnoddrige Betrachtungsweisen mit feministischer Grundierung. „Clean“ und nüchtern geht es nicht zu. Es wird viel geraucht und gesoffen in diesem von Weltschmerz und allerlei Ängsten durchzogenen Buch.

Grässliches Essen, bizarre Kneipen

Stefanie Sargnagel (Künstlername, gebürtige Wienerin vom Jahrgang 1986) hat sich mit ihrer deutlich älteren Freundin aus Berlin, der gleichfalls real existierenden Christiane Rösinger – bekannt durch ihre beachtlichen Bands „Lassie Singers“ und „Britta“ – auf den eher seltenen US-Trip in den abgelegenen Mais- und Rinderzucht-Staat Iowa begeben. In Grinnell, quasi im Niemandsland abseits der regionalen Hauptstadt Des Moines, soll sie an einem College auf Deutsch Creative Writing unterrichten, während Rösinger einen Konzertauftritt hat. Die Erledigung dieser Aufgaben bleibt hübsche, eher widerstrebend absolvierte Nebensache.

Schon das Bild auf dem Cover lässt es ahnen: Vertrödelte Tage gehören dazu. Doch zwischendurch erkunden die beiden ungleichen, aber einander hart-herzlich zugetanen Frauen kursorisch dieses „Outback“ der USA. Es kommen zur Sprache: das weit überwiegend grässliche Essen; die seltsamen Kneipen und Bars mit ihrem vielfach bizarren menschlichen Inventar; die zumindest im College-Dunstkreis bis in die Provinz wabernde Wokeness, allem Beharrungsvermögen der meisten Durchschnittsbewohner zum Trotz. Ferner die irrwitzigen Einkaufszentren und Ladendörfer, deren Angebote Sargnagel sehr detailfreudig schildert. Sodann der unverwüstliche Autokult. Die religiösen Gruppen, Grüppchen und Sekten, teils auch im Nachklang uralter deutscher oder niederländischer Einwanderungs-Traditionen. Aber auch schwerer greifbare Phänomene wie die eigentümlich ausgebleichte Farbpalette der Landschaft.

Freundliche Leute, aber bewaffnet

Ein Exkurs führt nach Fairfield/Iowa, wo das weltgrößte Meditations-Zentrum des berühmten Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi sich befand und wo noch zahlreiche Adepten leben. Schließlich der grassierende Waffenwahn, aber auch die staunenswert gelassene Freundlichkeit der allermeisten Einheimischen. Sie wollen einfach eine gute Zeit haben und gönnen auch Fremden alles Gute. Sargnagel fällt dies besonders auf, weil es sich so sehr von ihrem heimischen Wien mit seinen missgünstigen Grantlern abhebt. Auch Rösingers Berlin gilt ja nicht gerade als lieblich. Dennoch gibt es Passagen, in denen man sich mit den beiden Protagonistinnen nach Europa zurücksehnt. Daran ändern auch Abstecher nach Chicago und Kalifornien nichts.

Das alles und einiges mehr fügt sich zu einem vielfältigen und vielschichtigen Bild dieser gar nicht unbedingt erzkonservativen Gegend. Iowa gilt (Trump zum Trotz) als „swing state“, in dem mal die Republikaner, mal die Demokraten die Oberhand haben. Dieser Bundesstaat bescherte seinerzeit Obama die ersten Erfolge auf dem Weg ins Weiße Haus.

Die surreale Sache mit dem Pelikan

Ein nicht nur unterschwelliges Grundthema ist die liebevolle, ironisch unterfütterte Beziehung zwischen den beiden reisenden Frauen, mitsamt den Untiefen weiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Christiane Rösinger kommt zu Wort, indem ihr gelegentlich korrigierende oder ergänzende Fußnoten zu Sargnagels Haupttext eingeräumt werden, womit etwas schelmisch Dialogisches in das Buch Einzug hält. Beide Frauen schätzen den trockenen, ja zuweilen ruppigen Humor und geben sich keinen haltlosen Träumereien hin, doch eine Szene fällt aus dem Rahmen: Christiane, so scheint es, fliegt einmal unversehens auf dem Rücken eines Pelikans dahin. Oder war’s nur schöne Einbildung, ein wundersamer Flug der Phantasie, weg von aller Erdenschwere?

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, Reihe „Hundert Augen“. 304 Seiten, 22 Euro.




„Alles geben“: Der Fußballer Neven Subotić und seine Abkehr vom rauschhaften Luxusleben

Ganz ehrlich: Dies Buch gehört eigentlich nicht zu der Sorte, die ich getreulich Seite für Seite und Zeile für Zeile durchackern würde. Querlesen tut’s auch. Doch dabei zeigt sich, dass der Fußballer Neven Subotić (unterstützt von der Journalistin Sonja Hartwig) zumindest die Stoffsammlung für eine Art „Entwicklungsroman“ vorgelegt hat, der allerdings keine Fiktion ist, sondern mitten im (un)wirklichen Leben spielt und vielsagend „Alles geben“ heißt.

Neven Subotić, geboren 1988 in Banja Luka (heute Bosnien und Herzegowina) und von Haus aus serbischer Staatsbürger, kommt im Vorfeld des Jugoslawien-Kriegs mit seinen Eltern nach Süddeutschland. Der extrem arbeitsame (und fußballerisch ehrgeizige) Vater schuftet in etlichen Jobs, um die Migranten-Familie über Wasser zu halten.

„Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Als die „Duldung“ in Deutschland fraglich wird, brechen die Subotićs in die USA auf, wo in Salt Lake City und später Tampa ein gänzlich anderes Leben beginnt als in der Provinz bei Pforzheim. Doch Neven bleibt auch dort lange ein Außenseiter in eher kümmerlichen Verhältnissen – nicht nur, was die sportliche Ausrüstung anbelangt. Er und seine Schwester müssen familiär mithelfen, mal beim Klavier-Schleppen, mal beim Putzen oder wobei auch immer. Irgendwann zieht der Jugendliche ein erstes Zwischenfazit seines Lebens, es kennzeichnet später auch seine Präsenz auf dem Fußballplatz: „Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Immer mehr geraten nun fußballerische Belange in den Blick. Im Laufe eines Europa-Trips darf er tatsächlich bei der Jugendabteilung des Edel-Clubs Ajax Amsterdam vorspielen – einstweilen noch ohne Erfolg. Doch sein Kampfgeist ist geweckt. Bald darauf geschieht einer der an Wunder grenzenden Zufälle (oder war’s doch schicksalhafte Bestimmung?): Überraschend, fast wie aus dem Nichts, gehört Neven Subotić auf einmal zu den 40 besten Nachwuchsspielern der Vereinigten Staaten. Qualität setzt sich durch.

Glücksfall Jürgen Klopp – in Mainz und Dortmund

Gleichsam noch heute mit großen Augen staunend, registriert Neven Subotić seinen rasanten sportlichen und sonstigen Aufstieg: In Mainz trifft er – noch so ein Glücksfall – erstmals auf Jürgen Klopp, dem er fortan die entscheidenden Impulse verdankt (und der auch ein warmherziges Vorwort zu diesem Buch beigesteuert hat). Der charismatische Trainer nimmt ihn später mit zu Borussia Dortmund, 2011 und 2012 erringt das Team die deutsche Meisterschaft. Zusammen mit Mats Hummels bildet Neven Subotić beim BVB das jüngste und alsbald beste Abwehr-Duo der Liga (Sportjournalisten-Schnack: „Kinderriegel“). Man ahnt, dass die Titelgewinne auch mit menschlicher „Chemie“ zu tun hatten, die Klopp wie kaum ein zweiter Trainer anzuregen und zu nutzen weiß.

Im Rausch der Erfolge und des großen Geldes kann sich der ärmlich aufgewachsene Neven Subotić nun alles leisten, alles erlauben: ein sündhaft teures Domizil, den Cadillac und ähnliche Premium-Fahrzeuge, exzessiv lange Partynächte und Gelage, serienweise schöne Frauen, die er jeweils schnell wieder fallen lässt.

Stiftung für Brunnenbau in Äthiopien

Irgendwann jedoch befällt ihn Scham über dieses halt- und sinnlose Leben ohne jede Verantwortung. Nicht häufig, aber zuweilen eben doch gibt es diese Geschichten der gründlich geläuterten Menschen (berühmteste, gar zu hoch gegriffene Beispiele: Buddha oder der Heilige Franziskus), die ob der Ödnis eines rauschhaften Lebens in Saus und Braus irgendwann ins tiefe Nachdenken geraten sind und sich zur Umkehr entschlossen haben.

Von Subotićs Umkehr handelt die zweite Hälfte des Buches. So wie er auf dem Platz alles gegeben hat, setzt er sich mit seiner 2012/13 gegründeten Stiftung für eine der ärmsten Weltregionen in Äthiopien ein. Hauptanliegen ist der dort bitter notwendige Brunnenbau, also die Verwirklichung des Menschenrechts auf sauberes Wasser. Dieser Aufgabe widmet Neven Subotić längst einen Großteil seiner Zeit und Kraft – und fragt sich doch, nahezu selbstquälerisch, ob er wirklich von sich behaupten kann, er würde „alles geben“.

Wie ein Mensch im Büßergewand

Eine Angabe taucht immer wieder auf, nämlich die der Quadratmeter, auf denen Neven Subotić nach und nach gewohnt hat; zunächst auf beengten 17 Quadratmetern eines Mainzer Dachgeschosses, dann auf auch noch recht bescheidenen 45 Quadratmetern, danach immerhin auf 80 qm. Kaum war er Stammspieler bei Borussia Dortmund, diente man ihm ein Riesenhaus mit 220 Quadratmetern und allen Schikanen an. Und heute? Lebt er mit Freundin auf 90 Quadratmetern und findet, das sei eigentlich zu viel. Manchmal klingt er wie jemand, der sich mönchisch kasteien möchte, wie ein Mensch im Büßergewand. Vor allem aber sagt er, wollte man es biblisch formulieren: Folget mir nach! Das andere Extrem zu seinem früheren Luxusrausch.

Fest steht, dass Neven Subotić, abseits von allen oberflächlichen Image- und Marketing-Fragen, auf seiner Sinnsuche ausgesprochen authentisch und sympathisch wirkt. Nur sehr wenige Fußballspieler erlangen diesen menschlichen Reifegrad. Es wäre schön, wenn sich sein Beispiel auf andere Millionäre jeder Couleur auswirken könnte, nicht nur auf prominente Kickerkollegen. Dass Subotić bei den Fans, insbesondere natürlich den schwarzgelb orientierten, für alle Zeit einen dicken Stein im Brett hat, ist ohnehin klar.

Neven Subotic (mit Sonja Hartwig): „Alles geben“. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten. Mit einem Vorwort von Jürgen Klopp und einigen Farbfotos. 22 Euro.

 

 




Die Comedians sind los oder: Was doch noch für Netflix sprechen könnte

Der britische Comedian James Acaster bei einem Auftritt am 1. November 2018. (© Wikimedia Commons, by Raph_PH – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Was den Medienkonsum angeht, habe ich ein neues Hobby, nein, man muss schon sagen: eine neue Liebhaberei. Und ich habe sie da gefunden, wo ich sie eigentlich nicht vermutet hätte. Netflix setzt nämlich auch bei uns zunehmend auf englischsprachige Stand-up-Comedians, deren Auftritte im Original mit deutschen Untertiteln gestreamt werden. Ja, gewiss doch: Wenn manche dieser Leute so richtig loslegen, ist man schon mal dankbar für schriftliche Hilfestellung. Kann ja nicht jede(r) in Oxford oder Harvard studiert haben.

Zuerst habe ich mir Sketche des mächtig „inkorrekten“ Ricky Gervais zu Gemüte geführt. Sein Humor ist mir manchmal eine Spur zu rabiat und rücksichtslos. Auch röhrt und kichert er nicht wenig über seine eigenen Gags, aber Vorsicht: Sie haben mindestens doppelten Boden. Es gibt (zwischen Trans-Ideologie und behinderten Kindern) nichts, worüber er sich nicht belustigen würde – außer über Tierschutz, da kennt der vehemente Naturfreund und Veganer auf einmal keinen Spaß mehr.

Vor allem aber habe ich den wahrhaft grandiosen James Acaster für mich entdeckt. Der Mann ist ein Original sondergleichen, obwohl in der Erscheinung zunächst mal völlig „normal“ (was immer das heißen mag). Er gewinnt noch der kleinsten Nichtigkeit enorm viel Komik ab, ja, es ist phänomenal, wie er scheinbar abseitige thematische Nischen aufspürt. Zum Glucksen seine Etüden über Gratis-Bananen (und die perfiden Ausnahmen). Zum Gackern seine Version von Promi-Tratsch, die durch absurde Nicht-Promi-Gefilde im chilenischen Bergbau führt. Zum Brüllen seine Parodie auf das Gehabe von Streetgangs in London. Und welcher andere Spaßvogel beendet seine Performance schon mit einer solch finsteren Ansage ans wiehernde Publikum: „Death comes to us all.“ Der Tod kommt zu uns allen. Überhaupt scheint es, als ziehe Acaster seinen speziellen Humor nicht zuletzt aus deprimierenden Befunden, was ja eh ein fruchtbarer Nährboden ist. Nicht wenige Spaßmacher könnten es persönlich bezeugen.

Ein wenig Name-dropping, es ließen sich noch Dutzende andere aufzählen: Der Streamingdienst hat u. a. auch noch Taylor Tomlinson, Dave Chappelle*, Bill Burr, Tom Segura (alle USA, mit unterschiedlichen Akzenten), Jim Jefferies* (Australien) und Daniel Sloss (Schottland) im Angebot. Sie alle stehen auf meiner Liste für die nächsten Wochen und Monate, weitere werden wohl hinzukommen. Das ist ja schon mal eine Aufgabe, in deren Verlauf sich die eigene „Humorstruktur“ überprüfen lässt. (Subjektive Kurzbewertungen folgen nach und nach am Ende dieses Beitrags).

Übrigens sind sie alle – im Vergleich zu deutschsprachigen Comedians – in einem entscheidenden Punkt beneidenswert, können sie doch in ihrer Muttersprache schätzungsweise den halben Erdball nuancenreich unterhalten, von Kanada bis Neuseeland, von Irland bis Südafrika. Und überhaupt.

Bislang habe ich Netflix als Quelle des wenig ambitionierten Mainstream betrachtet und weitgehend gemieden. Achselzuckend habe ich zur Kenntnis genommen, dass sie nach dem pandemischen Streaming-Hype viele Abonnenten wieder verloren  haben und dass die Aktie in den Keller gerauscht ist. Dass sie entgegen früheren Bekundungen offenbar planen, auch Werbung zu schalten, macht einen gleichfalls nicht gerade geneigt.

Immerhin hat Netflix vor einiger Zeit auch in Deutschland die schier endlose Serie „The Office“ (Das Büro) gestartet, nach deren Fortgang man süchtig werden kann. Just Ricky Gervais, der auch schon mehrfach die „Golden Globes“ präsentierte, hat sich das englische Original der Büroserie ausgedacht, bevor die Chose in den Vereinigten Staaten zum weltweit ausstrahlenden Dauererfolg wurde. Sie wird besser und besser, je mehr Folgen man sieht, je vertrauter man mit den Figuren wird. Inzwischen halte ich „The Office“ für mindestens ebenso gut wie das daran angelehnte deutsche Pendant „Stromberg“, das sie auch im Repertoire haben. Mit solchen Schmankerln haben sie Leute bei Laune gehalten, die nicht so sehr aufs populäre Hollywood-Kino einsteigen. Nun also die Comedians. Schaun mer mal. Und zwar gepflegt.

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*James Acaster (siehe oben im Beitrag)

*Neal Brennan Schaut Euch einfach sein Programm 3Mics (3 Mikrophone) an, dann wisst Ihr Bescheid. Wie er zwischen luzidem Witz und tiefster Depression hin und her springt, das ist ziemlich unnachahmlich. Manchmal möchte man glauben, dass Depressionen geradewegs die Voraussetzung für Komik sind. Als Jüngster unter 10 Kindern aufgewachsen, hat Brennan unter einem furchtbaren Vater gelitten. Drogen und hammerharte Medikamente – Brennan hat praktisch alles hinter sich. Einer, dem man wirklich nichts mehr vormachen kann.

*Dave Chappelle benutzt das „N“-Wort so oft wie wohl kein anderer, und zwar ziemlich aggressiv – in der harten US-amerikanischen Slang-Form („N*gga“). Als schwarzer Komiker „darf“ er das natürlich auch, zumal er heftig für die Rechte derer eintritt, die heute nach woker Lesart „people of colo(u)r“ genannt werden sollen. Auch sonst lässt er an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So bekundet er seinen Neid auf die LGBTQ-Community, weil die sich so gut organisierte habe. Chappelle findet: Wäre das den Schwarzen auf ähnliche Weise gelungen, so hätten sie hundert früher ihre Freiheit erlangen können… Auf Einfälle wie jenen, was Martin Luther King wohl mit einem „glory hole“ angefangen hätte, muss man ja auch erst einmal kommen. Hier zeigt sich erneut, dass heute ein gewisses Maß an Inkorrektheit dazugehört, wenn es wirklich komisch werden soll.

*Ari Eldjárn ist ein waschechter Isländer und zieht just daraus sein enorm komisches Potential, jongliert er doch zum Zwerchfellerweichen mit sämtlichen Klischees, die im restlichen Europa und auf anderen Kontinenten über die Geysir-Insel kursieren. Da er nicht nur das Englische, sondern auch dessen Dialekte und Spielarten (Schottisch, Australisch etc.) beherrscht, findet er inzwischen ein globales Publikum. Außerdem kann er z. B. Dänen und Finnen so parodieren, dass man sich schier am Boden wälzen möchte. Nur: Was macht er, wenn alle Gags zu Island und Skandinavien ausgeschöpft sind?

*Ricky Gervais (siehe oben im Beitrag)

*Jim Jefferies verwendet gefühlt jede zehnte Wendung in Verbindung mit f*ck, f*cking oder f*cked – ganz entschieden über den Zappen hinaus. Wenn beim unflätigen Dauergefluche wenigstens ordentliche Gags herauskämen… Wie hieß es früher so schön klar: Wir raten ab.

*Taylor Tomlinson, eine Frau mit außerordentlich flottem Mundwerk und lebendiger Mimik, spricht vor allem viel über Sex, und zwar ziemlich unverblümt und desillusioniert. Hat sie gerade mal niemanden für Bett, muss sie jemanden mühsam „in mich reinquatschen“. Dann fühle sie sich wie jemand, der den Leuten Flyer für einen Nightclub andrehen will, während die Typen nach einem etwaigen „Korb“ weiter zögen wie die Staubsaugervertreter: „Ah, da ist ja schon das nächste Haus…“ Kurzum: Die Frau vom Jahrgang 1993 gewinnt den Fährnissen auf dem Markt der Geschlechter einige Komik ab. Ihren Zwanzigern kann sie, wie sie im Programm „Quarter Life Crisis“ sagt, wenig abgewinnen. Mich erinnert sie ein wenig an Carolin Kebekus. Beide haben es drauf.

 

 




„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




Scaramucci und all die anderen Typen oder: Ich mag mir nicht mehr die Namen von drittklassigen Kaspern merken

Okay, Anthony „Tourette“ Scaramucci ist also nach gerade mal 10 Tagen ebenfalls weg vom Fenster – warum auch immer. Ist ja im Grunde egal. Dann macht den elenden Sch…-Job eben ein Anderer.

Im Zweifelsfall geht's abwärts. (Foto: BB)

Im Zweifelsfall geht’s abwärts. (Foto: BB)

Eigentlich hat Scaramucci mit seinem rüden Tonfall („I’m not trying to suck my own cock“) recht gut zu der desolaten Truppe gepasst. Man erinnere sich nur ans ordinäre „Grab `em by the pussy“ seines Chefs. Da spielt doch jeder US-Fernsehsender alarmierende Pfeiftöne ein…

Dieser Scaramuschi (oh, sorry für den Mausrutscher – wie überaus gewöhnlich!) hätte vielleicht nur noch etwas warten sollen, bis er solche Sachen `raushaut. Er war ja noch in der Probezeit und hat den Boss schon übertrumpfen wollen. Das geht natürlich nicht. Für halbwegs seriöse Aufgaben dürfte der Mann jedenfalls erledigt sein. Überall wird es heißen, das sei doch derjenige, der damals…

Der Perückendarsteller heuert und feuert die Leute eh nach cholerischem Belieben – und allweil soll man sich als Medienkonsument neue Namen drittklassiger Politkasper merken, die einem das Gehirn verstopfen.

Unsereiner versucht seit Schultagen zu allem Überfluss auch noch, buchstabengerecht korrekt zu schreiben, also muss man getreulich den ganzen Mist abspeichern: Reince Priebus, Steve Bannon und ca. zwei Dutzend weitere Typen; hergelaufene Heimatschutzminister und dergleichen Leutchen.

Mit den Sprechern aber geht es am schnellsten auf und ab. Vorgestern noch Sean Spicer, gestern Anthony Scaramucci – und morgen? By the way: Was ist eigentlich aus Kellyanne Conway geworden? Ist die etwa noch im Amt? Von Würden wollen wir in diesem Kontext gar nicht erst reden.

Angeblich steckt sogar System hinter dem Personalchaos: D. T. sortiert demnach alle aus, die zu sehr mit der Republikanischen Partei verbandelt sind – und behält bzw. holt unverwurzelt ruppige Rechtsaußen-Ideologen und Multimillionäre. Auf dass alles vollends „unpolitisch“ entfesselt werde.

Bleibt uns einstweilen nur das berühmte Rilke-Zitat: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“ Und vielleicht noch Hendrix mit der US-Hymne.




Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

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In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Nix zu Trump

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DVD-Doku zeigt, wie die Amerikaner im April 1945 nach Westfalen kamen…

Im Frühjahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg, weil sowjetische und amerikanische Truppen mit ihren Verbündeten von mehreren Seiten das „Reich“ in die Zange nahmen. Auch in Westfalen durchkämmten US-Soldaten Dorf für Dorf, Stadt für Stadt, um Deutschland von der Naziherrschaft zu befreien. Dabei nahmen sie auch Kamerateams mit, die den Einsatz aus amerikanischer Sicht filmten. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat aus diesen Aufnahmen eine eindrucksvolle DVD über Westfalen zusammengestellt.

Als zum Beispiel der Kulturverein der Stadt Sprockhövel vor einigen Tagen diese neue DVD öffentlich aufführte, war der Saal proppevoll. Die überwiegend älteren Besucher waren bei Kriegsende Kinder oder Jugendliche gewesen und erinnerten sich nur in Details an die Ereignisse rund um Ostern des Jahres 1945. Die Dokumentation auf der Leinwand zeigte ihnen natürlich nur das einseitige Bild der amerikanischen Kameraleute, die ihre Aufnahmen auch für die Kino-Wochenschauen in der Heimat drehten.

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In den Schwarz-Weiß-Filmausschnitten, die der LWL aus acht Stunden Material des National-Archivs Washington zusammengestellt hat, kommen neben Kampfhandlungen und Kriegszerstöungen durch die Bomben auch die Folgen der Grausamenkeiten in den Lagern für Fremdarbeiter und Kriegsgefangene und die Internierung von NS-Funktionären vor. Die Sieger zeigen sich bei Paraden und Trauerfeiern für ihre gefallenen Kameraden, und von den deutschen Menschen sieht man einen erstaunlich schnellen Übergang in die Normalität des Alltagslebens in Friedenszeiten.

Aus Westfalen sind unter anderem Szenen aus folgenden Gemeinden und Städten zu sehen: Altenhundem und Würdinghausen im Kreis Olpe, Bad Salzuflen, Beckum, Bochum, Gelsenkirchen, Haltern, Hamm, Menden, Hemer, Münster, Olpe, Herne, Lügde, Minden, Paderborn, Stuckenbrock, Elspe, Recklinghausen, Dortmund, Schmallenberg, Soest und Siegen, Wehrden, Suttrop bei Warstein und Witten. Die Idee zu dieser Zusammenstellung bisher überwiegend unveröffentlichter Aufnahmen hatte Professor Markus Köster, der Leiter des LWL-Medienzentrums. Dort kann man die DVD auch privat erwerben.

Als die Amerikaner kamen. US-Filmaufnahmen vom Kriegsende 1945 in Westfalen. DVD mit Begleitheft, 14,90Euro. Bezug im LWL-Medienzentrum für Westfalen, Fürstenbergstr. 14, 48147 Münster. E-Mail: medienzentrum@lwl.org.




Kinoschauspieler, Folkmusiker und vieles mehr: Theodore Bikel starb mit 91

Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die TV-Sendung und ihren genauen Namen erinnern, ist einfach zu lange her. Aber der Name des Moderators (wie man es heute nennen würde) blieb haften. Es war Theodore Bikel. Theodore Meir Bikel ist jetzt im Alter von 91 Jahren gestorben. Nach meinem Dafürhalten ist er auf eine Stufe zu stellen mit beispielsweise Sir Peter Ustinov.

Immer wieder seit unserem ersten Kennenlernen via TV ereignete es sich, dass ein Film begann oder endete, und ich im Vorspann seinen Namen las oder im Nachspann erfuhr, dass er es war, dessen Rolle mir auffiel, aber wieder mal sein Name mir nicht eingefallen war. Meist entfuhr mir dann leise: „Ah, ja, Theodore Bikel.“ Und selten waren es Rollen und Filme, deren Auftauchen in einer späteren Filmografie hätten bedauert werden müssen.

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Auftritt beim St. Louis Jewish Books Festival: Theodore Bikel am 2. November 2014. (Foto: Fitzaubrey / Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ob es in John Hustons „African Queen“ der zackige deutsche Marineoffizier war, dem sein Schiff von Humphrey Bogarts handgeklöppeltem Torpedo im tapferen Flussschiffchen unter den Füßen abgeschossen wurde, oder ob er als Sheriff Max Muller in Stanley Kramers „Flucht in Ketten“ neben Tony Curtis und Sidney Poitier auftrat – fast alle Filme mit dem gebürtigen Wiener (auch in scheinbar randständigen Nebenrollen) hatten eine tolle Geschichte zu erzählen. „Flucht in Ketten“ bescherte Theodore Bikel sogar eine Oscar-Nominierung.

Der multibegabte junge Mann musste indes wie viele seiner Konfession im Jahre 1938 mit Mutter Miriam und Vater Joseph vor den Hitler-Deutschen fliehen, als die Österreich anschlossen. Erst einmal nach Palästina, wo sie britische Staatsbürger wurden. Dort war er zunächst Kibbuzim, dann studierte er am Habimah-Theater in Tel Aviv, und schließlich war er Mitbegründer des Tel Aviv Chamber Theater. Niemand anderem als Sir Laurence Olivier war es vorbehalten, sein Talent zu entdecken und ihm den Weg nach London zu weisen, wo er dann in „Endstation Sehnsucht“ auftrat.

Aber nach „African Queen“ zog’s ihn endgültig in die Staaten, nach New York. Dort führte er seine lebenslange Doppelkarriere fort – als anerkannter Bühnen- und Filmschauspieler und als beklatschter Folksänger, der mit Pete Seeger das „Newport Folk Festival“ ins Leben rief, der selbst außer Gitarre, Mandoline, Balalaika und Mundharmonika spielte, um sich selbst zu begleiten, wenn er in 20 Sprachen dieser Welt sang (sechs davon beherrschte er perfekt).

Und immer wieder kamen die Filmanfragen. Bis hin zu „007“, wo er fast Gerd Fröbe den Bösewicht Goldfinger weggeschnappt hätte. Auch an seine Auftritte in „Star Trek – The Next Generation“ wird man sich wieder erinnern, wenn sie im TV wiederholt werden.

Theodore Meir Bikel war sein Leben lang ein ungemein politischer Mensch. Immer stand er den amerikanischen Demokraten nahe. 1977 nahm Präsident Jimmy Carter ihn ins National Council for the Arts auf, was er bis 1982 beibehielt. Er war Präsident der Actors’ Equity Association und war bis zu seinem Tod Präsident der Associated Actors and Artistes of America. Er engagierte sich bei Americans for the Arts und natürlich im American Jewish Congress, dessen Vizepräsident er war.

Theodore Bikel spielte jedoch im Film gern den Schurken, den garstigen Typen, der seinen Weggefährten Übles antat. Seltsam, aber so oft ich ihn in Filmen genau so sah, so oft er selbst diesen Rollen eine manchmal fast sympathische Wärme gab, werde ich doch Theodore Bikel immer nur mit dem freundlich aus dem Schwarz-Weiß-Fernseher blickenden Herrn verbinden, der uns Kindern Freude machte und dabei immer wieder eines der Lieder aus seinem grenzenlosen Repertoire klampfte.




Wenn der Minister von Wurst und Käse erzählt

Ein Minister, dessen ministrable Realexistenz mir immer erst dann wieder bewusst wird, wenn er sich zu ziemlich unwesentlichen Politikbereichen äußert (vermutlich geschieht das immer dann, wenn er sich von der allgemeinen Vergessenheit bedroht sieht); diesem Minister also (es handelt sich um einen gewissen Christian Schmidt aus der unvermeidlichen CSU) fiel es ein, dass er sich nach wiederholtem Flachsinn, den sein heimischer Ministerpräsident Seehofer von sich gegeben hat, auch mal wieder zu Wort melden musste.

Erstens, um den Nachweis zu erbringen, dass es ein Bundesagrarministerium wirklich gibt.

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Zweitens, um den Nachweis zu erbringen, dass nicht nur sein Ministerpräsident in München dummes Zeug mundartlich verbreiten kann.

Drittens, um zu zeigen, dass ein deutsches Bundesagrarministerium im Themenzusammenhang mit dem TTIP – das ist ein Abkommen zwischen EU und den USA, das den freien Handel zwischen den Kontinenten nach Jahrhunderten der boshaften Vorschriftengrenzziehungen erst möglich machen soll (das war ein Scherz!), dass also dieses Bundesagrarministerium etwas zu sagen hat.

Und was sagt er Herr Schmidt? „Wenn wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen, können wir nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen!“ Seitdem ich das las, frage ich mich, ob er mit Wurst vielleicht sich selbst meinte und mit Käse das, was er da erzählt.

Aber im Ernst. Der bodenständige Bayer Schmidt will mit seinen generösen Angeboten den Amis ein Zückerchen hinwerfen, das es ihnen erleichtert, dem Abkommen zuzustimmen, dessen Verhandlungsinhalte hierzulande nur wenigen und denen auch nur rangbedingt in ausreichendem Maße bekannt sind (wird ja von der EU verhandelt).

Ob Thüringer Bratwurst, Allgäuer Emmentaler, Oude Gouda oder Schwarzwälder Schinken, das könnten doch wohl keine Hindernisse sein, bloß weil der Herkunftshinweis EU-rechtlich geschützt ist. „Es wäre unseren amerikanischen Handelspartnern schwer vermittelbar, dass sie keinen Tiroler Speck oder Holländischen Gouda zu uns exportieren dürften, wenn wir in Europa selbst den Schutz nicht konsequent durchsetzen würden“, wird er vom „Spiegel“ zitiert.

Au weia. Ich sehe schon die blühende Freihandelszukunft: „Original Holländischer Gouda“ aus Wisconsin. Gleichzeitig droht dem Mimolette (dem Gouda ähnlicher Festkäse aus Frankreich) die Massenvernichtung durch den amerikanischen Zoll. Oder „Original Schwarzwälder Schinken“ von Monsanto (amerikanischer Saatgutkonzern, der eigene Schweineherden weltweit patentieren lassen will, weil die Viecher so schön schnell wachsen). Oder wie wäre es mit „Original Pfälzer Saumagen“ oder „Original Thüringer Bratwurst“ aus Milwaukee? Im Gegenzug, so schwebt es dem pfiffigen Herrn Schmidt vor, könnte man seitens der USA ja auf die ominösen Chlor-Hähnchen verzichten.

Mieses Geschäft. Wie wäre es denn, wenn wir aus Sachsen „Original BigMacs“ liefern, aus Bayern mit den Produktion von „Original Kentucky Fried Chicken“ auf den Markt der noch nicht erschlossenen Märkte träten? Oder wenn wir den Bremer Labskaus in New Mexico anböten (ach nein, dem würde ja gleich wieder von der dortigen Lebensmittelaufsicht wegen seines Erscheinungsbildes das Schicksal des Mimolette-Käses angedroht).

Aber nochmal, im Ernst. Der famose Herr Schmidt schafft es mit ein paar geplapperten Sätzen, die dann auch noch todernst via „Spiegel“ breit getreten werden, die Bedrohungen des TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“) auf Chlor-Hähnchen und Bratwürste zu reduzieren. Dabei sind die ernsthaften Kritiker dieser Befreiung des Handels hin zu einer Machtübergabe an weltweit operierende Konzerne (Stichwort Investorenschutzklage) auf ganz anderen Ebenen unterwegs und haben sich ernsthaft mit den möglichen Folgen und der damit verbundenen Entdemokratisierung zugunsten einer gierigen Wirtschaft auseinander gesetzt.




Es gibt ein Leben nach Opel – das Bochumer Detroit-Projekt

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Das Motto der Ausstellung weist, auf den Asphalt gesprüht, den Weg – jedenfalls manchmal. Foto: rp

Der Bus steht. Auf der anderen Spur geht es auch nicht schneller. Unter normalen Verhältnissen wäre die Strecke vom Exzenterhaus nahe dem Schauspielhaus zum Bergbaumuseum in zehn, fünfzehn Minuten zu schaffen, im freitagnachmittäglichem Berufsverkehr jedoch nicht. Doch Bochum hat viele hübsche Fassaden. Das wäre einem sonst vielleicht nie aufgefallen.

Eingeladen zur Rundfahrt im Bochumer Stadtgebiet haben das Schauspielhaus und „Urbane Künste Ruhr“. Zusammen haben sie in diesem Jahr das „Detroit-Projekt“ aus der Taufe gehoben, das an etlichen Stellen der Stadt Kunst präsentiert. Und alles hat irgendwie mit Opel zu tun, der Traditions-Automarke, die bald schon in Bochum keine Autos mehr bauen wird. Das Kunstprojekt ist nach der Stadt benannt, wo Opels Mutterkonzern General Motors sitzt, außerdem steht der Name für den dramatischen Niedergang, den die Schließungen der Autofabriken dort für die US-Stadt bedeuteten. So schlimm soll es in Bochum natürlich nicht kommen, auch wenn das Schlagwort von der „postindustriellen Gesellschaft“ gern und häufig Verwendung findet. Nein, die Unterzeile des Projekts wie auch eine ihrer Internetanschriften pochen auf den eigenen Weg: „This Is Not Detroit“, beziehungsweise www.thisisnotdetroit.de.

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„HOW LOVE COULD BE“ steht in flammendem Rot auf dem Förderturm des Bergbaumuseums. Eine Lichtkunst-Intervention des Briten Tim Etchells. Foto: Schauspielhaus Bochum

Allerdings sollen die künstlerischen Arbeiten durchaus das Postindustrielle reflektieren. Künstlerinnen und Künstler kommen aus Ländern, in denen es noch General Motors-Standorte gibt, aus Großbritannien, Polen, Spanien, den USA und natürlich weiterhin auch Deutschland.

Bevor der Bus sich in den Dauerstau begab, hatten sich seine Insassen im Exzenterhaus, das wie eine gigantische Nockenwelle aussieht, die Videoinstallation „The Pigeon Project“ des Polen Michal Januszaniec angesehen. „Das Tauben-Projekt“, so die Übersetzung, zeigt uns deutsche, polnische, deutsch-türkische „Taubenväter“ und läßt sie ausgiebig zu Wort kommen, erzählt vom Abwicklungsstreß bei Opel, läßt uns einer Schauspielerin zusehen, die mühsam einen vor Selbstbewußtsein strotzenden Text einstudiert, und verweist mit solchen Elementen unaufdringlich, aber schlüssig auf eine Zukunft, der soziale wie kollektive Gewißheiten zunehmend fehlen werden.

Aber ist das wirklich die Zukunft? Wird es wirklich so trostlos, wie Januszaniec behutsam andeutet? Jedenfalls ist die Arbeit im 13. Stockwerk des asymmetrischen Hochhauses zu besichtigen, was zum einen zwar 8 Euro Eintritt kostet, zum anderen aber einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, die von hier oben aus überhaupt nicht hinfällig wirkt, sondern grün und vital und sehr ordentlich. Andererseits ist zu hören, daß sich die Vermarktung des Hauses schwierig gestalte – weshalb die 13. Etage für das Kunstprojekt noch zu haben war. Alles hat seine zwei Seiten.

Das Bergbaumuseum, endlich hat es der Bus geschafft, ziert eine Leuchtschrift. „How Love Could Be“ steht in roten (LED-befeuerten) Buchstaben oben am mächtigen Förderturm. Die Zeile, die der Brite Tim Etchells dort platziert hat, stammt aus dem ersten Song, der bei der legendären Detroiter Schallplattenfirma Motown 1961 herauskam: „Bad Girl“ von den Miracles. Denkanstoß: Bochum, Detroit, Liebe, Menschen… Die Museumsleute haben einen Rekorder mitgebracht und spielen den Song vor. Auf den Bänken vor dem Bergbaumuseum gucken die Leute irritiert.

Außerhalb der Bochumer City geht es zügiger voran. Im Viertel hinter der Jahrhunderthalle wurde eine ehemalige Schlecker-Filiale zum Kunstraum. Hier zelebrieren Chris Kondek, Christiane Kühl und Klaus Weddig mit grimmigem Humor das Scheitern einer Idee. Es ist ein Kunstwerk mit (erfundener) Geschichte: Das Hochglanz-Magazin „Reconquer“ beauftragte im Frühjahr 2014 eine renommierte Werbeagentur, die „sieben gelungenen Überlebensformen der geldlosen Gesellschaft (Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Jagen, Verzicht und Saufen)“ für eine fetzige Geschichte ins Bild zu setzen. Der Vesuch scheiterte völlig, das „Making of“ jedoch hinterließ Videos und Fotos, die nun hier, in der einstigen Schlecker-Filiale, gezeigt werden. Eine originelle und hintersinnige Idee, ganz ohne Frage; noch bemerkenswerter jedoch ist das Vorkommen von Humor, was in der zeitgenössischen Kunst ja sonst eher selten ist. Gleichzeitig aber wird im quasi ernsten Kern des Projekts auch viel Hilflosigkeit erkennbar angesichts des großen Rades, das diese Künstlergemeinschaft, das Elend der („postindustriellen“) Welt streng im Blick, gerne drehen würde. Wie kann man einer Gesellschaft noch helfen, in der wegen Streß immer weniger Schnaps getrunken wird?

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Hier ist einem nicht recht geheuer:“Der Keller“ des Polen Robert Kusmirowski. Foto: Schauspielhaus Bochum

Weiter geht die Tour zu juvenilen künstlerischen Interventionen im Stadtgebiet, zur Thyssen-Industriebrache, auf der eine Ein-Mann-Sauna steht, zum Prinzregent-Theater, wo im Keller (von Robert Kusmirowski) ein Toter liegt… Und immer wieder vorbei an großformatigen Bochum-Fotos, die an markanten Punkten im Stadtgebiet hängen. Sie stellen eine Auswahl aus dem Material dar, das beim Projekt „Mein Bochum – unsere Zukunft“ zusammenkam. 29 Motive hat Hans-Günter Golinski vom Bochumer Kunstmuseum daraus ausgewählt.

Befindet Bochum sich also jetzt im Detroit-Fieber, vibriert die Stadt im Rhythmus des Motown-Sounds, pilgern Heerscharen von Kunstliebhabern zu den Ausstellungsstätten? Eher wohl nicht. Die Standorte liegen weit auseinander, über die Erreichbarkeit scheinen sich die Veranstalter wenig Gedanken gemacht zu haben, sieht man einmal vom kostenlos angebotenen zweistündigen Fußmarsch „durch ausgewählte Arbeiten des Projekts“ ab. Touren mit dem Reisebus sind, wie erlebt, Glückssache, eine ÖPNV-Tour (welches Ticket?) findet sich in den Unterlagen nicht. Geführte Fahrradtouren sind wegen hoher Sicherheitsauflagen angeblich kaum genehmigungsfähig.

Eine Ausstellung für Kunst-Flaneure ist das „Detroit-Projekt“ aber auch nicht, weil die Öffnungszeiten einiger Standorte recht eingeschränkt sind und man dort, wo sie sich befinden, einfach nicht flaniert. Die Kunstwerke wiederum, sieht man einmal von der Leuchtschrift am Förderturm des Bergbaumuseums ab, sind so unauffällig,  daß sie es kaum schaffen werden, aus sich heraus Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Doch freuen wir uns auf die Spanier, die eingeladen wurden! Ab dem 23. Mai führen Tänzerinnen und Tänzer von Trayectos „choreographische Vermessungen“ in der Stadt durch, gibt es „Saludos de Zaragoza“ (Grüße aus Zaragossa) von der Gruppe Asalto im Bochumer Hauptbahnhof, fördert basurama „kollektive Freizeit und Pflege“ auf einem ehemaligen Fabrikgelände. „Esto no es un solar“ schließlich kündigt die Ankunft des Küchenmobils an, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls klingt es recht vital. Am 29. Juni feiert das Detroit-Projekt sein Zukunftsfest, offizielles Ende ist am 5. Juli.

www.schauspielhausbochum.de

www.urbanekuensteruhr.de

www.thisisnotdetroit.de, Info-Hotline 0234 / 3333 5555




Menschen kreisen nur um sich: Edith Wharton beschreibt den „Dämmerschlaf“ der 20er Jahre

Was ist das für ein Leben in der Upperclass der Vereinigten Staaten in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, auch Roaring Twenties genannt? Der Oberschicht fehlte es an nichts, materiell gesehen. Gute Jobs, gutes Geld, bester Lebensstandard.

Je mehr man aber als Leser von Pauline Manford erfährt, die in Edith Whartons Roman „Dämmerschlaf“ die Schlüsselrolle einnimmt, desto klarer wird der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Alltag ist im Aktionismus erstarrt, ein Termin jagt den nächsten. Ob das Engagement hier und Einsatz dort überhaupt zueinander passen: Wer will das schon wissen?

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Da fällt es dann auch nicht ins Gewicht, wenn Pauline ihre Rede verwechselt. Was eigentlich diejenigen vernehmen sollten, die für Geburtenkontrolle ins Feld ziehen, hörten die Befürworterinnen der uneingeschränkten Mutterschaft. Selbst, wenn es irgendwem aufgefallen sein sollte, wird er sich schnell in den Zustand geflüchtet haben, der mit Buchtitel bereits benannt ist.

Man kann vortrefflich darüber streiten, ob dieser Roman überhaupt eine Handlung hat. Man trifft sich hier, feiert dort, plant dieses Fest und jenen Charity-Termin, plaudert und parliert, wie es gerade chic ist. Wenn überhaupt von einem Handlungsstrang gesprochen werden kann, dann lässt sich nur ausmachen, dass Pauline die Krise ihres Sohnes Jim mit seiner Ehefrau Lita managen möchte. Die Schwiegertochter möchte zum Film, fühlt sich gelangweilt und will ihr altes Leben hinter sich lassen. Doch Scheidung? Das darf in damaliger Zeit nicht sein. Dabei lebt Pauline selbst auch in zweiter Ehe, hat es aber irgendwie geschafft, dass ihre Kreise sie nicht ausgegrenzt haben. So aktiv und vielseitig sie ist, dürfte es aber auch schwer fallen, sie an den Rand drängen zu wollen.

So scheint der Roman dahin zu plätschern, wobei allerdings die feine Ironie sich in der Vielzahl an kleinen Szenen zeigt. Wenn sich Pauline und ihr Mann Dexter am Tag nach einer Hausparty mühen, der gähnend langweiligen Feier doch noch ihre schönen Seiten abzugewinnen, tritt die Brüchigkeit des Systems deutlich hervor.

Womit vor allem die Frauen den lieben langen Tag verbringen (oder verschwenden), das ist schon bemerkenswert. Gesichtsmassagen in verschiedenen Varianten oder Besuche bei selbsternannten Wunderheilern sind nur zwei Beispiele dafür, dass Lebenssinn ganz unterschiedlich interpretiert werden kann. Ob ein solcher Sinn überhaupt existiert, diese Fragen lässt Paulines Familie nicht zu, allerdings mit einer Ausnahme. Tochter Nona ist so eine Art Gegenentwurf, hinterfragt sie doch gern auch mal das Treiben rund um sie herum.

Die Autorin, die von 1862 bis 1937 lebte, entstammte selbst einer wohlhabenden Familie, deren Ursprünge sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lassen, und verspürte schon in jungen Jahren eine große Distanz zu ihren Angehörigen. Die Diskrepanz zur Gesellschaft wurde ihr deutlich, als sie sich während des Ersten Weltkriegs für Flüchtlinge und Vertriebene einsetzte. Dass die US-Gesellschaft überhaupt keine Notiz nahm vom Leid dieser Menschen, war für Edith Wharton ein echtes Ärgernis. Vor einem solchen Hintergrund wird die Intention für dieses Buch umso deutlicher: Die Autorin beschreibt eine Gesellschaft, in der die Menschen letztlich nur noch um sich selbst kreisen, wenngleich sie nach Außen den Eindruck erwecken, als würden sie pausenlos für ihre Mitmenschen unterwegs sein. Aldous Huxley hat einmal behauptet, in Whartons Roman sei seine „Schöne Neue Welt“ schon längst existent.

Das Buch von Edith Wharton erschien 1927 mit dem Originaltitel „Twilight Sleep“. In Deutschland kam es unter „Die oberen Zehntausend“ heraus. In der jetzigen Ausgabe wurde der ursprüngliche Titel ins Deutsche übersetzt, wobei der Begriff Dämmerschlaf zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein medizinisches Verfahren meinte, das Geburtsschmerzen unterdrücken sollte. Da Wharton mit ihrem Buch auch unterschwellig die Sexualmoral der damaligen Zeit im Visier hatte, ist es nicht auszuschließen, dass sie bei der Wahl des Buchtitels auch an die Medizinmethode gedacht hat.

„Dämmerschlaf“ war übrigens nicht das erfolgreichste Buch der Autorin. Das schrieb sie mit „Zeit der Unschuld“, 1920 erschienen.

Edith Wharton: „Dämmerschlaf“. Roman. Manesse Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Ott. 320 Seiten, 24,95 Euro.




Auslosung zur Fußball-WM – Löw vs. Klinsmann oder: Überstehen ist alles…

Jetzt ist es also heraus: Deutschland spielt bei der WM 2014 in einer Gruppe mit Portugal, Ghana und den USA. Ausgerechnet die USA mit Trainer Jürgen Klinsmann! Wird das ein Duell mit seinem früheren Assistenten Jogi Löw. Und überhaupt ist es keine leichte Gruppe.

In einer ersten ARD-„Analyse“ befand Experte Mehmet Scholl dennoch, dies sei eine lösbare Aufgabe. Ungleich härter haben es wohl Spanien und die Niederlande getroffen, die schon in der Vorrunde gegeneinander spielen. Und England bekommt es gleich mit Italien zu tun.

(© lukas555 - www.fotolia.com)

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Löws erste Reaktion: „Das ist ’ne schwere Gruppe. Aber ich akzeptiere es so, wie es ist.“ Tja, was bleibt ihm auch sonst übrig? Deutlich wurde ebenfalls: Ab sofort gilt auch gegenüber dem alten Freund Klinsmann quasi Geheimhaltung. Und vor der brasilianischen Tropenhitze hat man zumindest Respekt. Es war halt das übliche Fußball-Palaver mit allen Klischees und Schikanen. Man ist ja schon froh, wenn es nur „Hammergruppe“ und nicht „Todesgruppe“ heißt…

Schier endlos gestreckte Auslosung

Das mit Filmchen und Show auf rund zwei Stunden gestreckte Los-Verfahren zog sich schier endlos hin. Man besaß immerhin Takt genug, anfangs an den verstorbenen Nelson Mandela zu erinnern. Die rasch absolvierte Pflichtübung war aber auch das Mindeste. Im Mandela-Einspielfilm tauchte der FIFA-Präsident Sepp Blatter schon unangenehm penetrant auf. Dasselbe gilt für Blatters Bühnenauftritt.

Ansonsten: Welch ein Brimborium! Die reichlich komplizierte Auslosungs-Zeremonie in Costa do Sauípe (bei Salvador da Bahia) fand in einer eigens errichteten Arena statt. Allein das lässt schon den immensen Aufwand ahnen, der da betrieben wird. Einige der Stadien, die jetzt in Brasilien aus dem Boden gestampft werden, werden nach der WM vermutlich nie mehr gebraucht.

Traumfinale gegen Brasilien?

Natürlich fragen wir uns alle gespannt, welche Chancen die deutsche Mannschaft im nächsten Jahr haben wird. Kommt es etwa zum deutschen Traumfinale gegen den Gastgeber Brasilien? Das wäre was!

Aber gemach! Immer langsam. Unter den 32 Teams der Endrunde (12. Juni bis 13. Juli 2014) gibt es wahrlich noch ein paar andere, die mit Macht zum Endspiel drängen, nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ wie etwa Argentinien, Spanien, Holland oder Italien. Einige Experten haben gar die Belgier, die sich so souverän qualifiziert haben, als Geheimfavoriten ausgemacht. Allerdings ist fraglich, ob überhaupt europäische Mannschaften sich im brasilianischen Klima bis zum Schluss behaupten können. Deutschland spielt zunächst in Salvador, Fortaleza und Recife. Auch nicht so bequem.

Hohe Erwartungen

Sagen wir mal so: Die Vorrunde sollten Löws Mannen wohl überstehen. Was danach geschieht, wissen die Fußballgötter. Eventuell geht’s dann bereits gegen Belgien. Man kann nur die Daumen drücken, dass die derzeit verletzten Spieler – wie beispielsweise Khedira – zeitig wieder zu Kräften kommen. Doch wenn das deutsche Team erst einmal unter den letzten Vier steht, ist „alles möglich“, wie man so schön sagt.

Noch größer als die Hoffnungen in Deutschland dürften die Erwartungen in Brasilien sein. Alles andere als die „Hexa“ (also den sechsten WM-Titel) würde man den Kickern in Gelb und Blau nicht durchgehen lassen. Zu tief sitzt immer noch das Trauma von 1950, als Brasilien im eigenen Land den Titel nicht holte.

Massiver Protest

Wie es aussieht, wird man 2014 beileibe nicht nur über Fußball zu reden haben. Schon jetzt formiert sich im eigentlich so fußballverrückten Brasilien massiver Protest gegen die ungemein kostspielige Veranstaltung in einem aufstrebenden, aber vielfach immer noch armen Land, das nicht nur unter Korruption und gebietsweise katastrophaler Infrastruktur ächzt. Auch Bildungs- und Gesundheitswesen brauchen dringend Geldzufuhr…




Mythos Kennedy: Wie gut, dass man nicht alles wusste

Am liebsten würden uns TV-Beiträge wie „Kennedy – Das Geheimnis der letzten Tage“ (ZDF) wohl direkt vors Schlüsselloch der Weltgeschichte setzen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Und gar manches muss Spekulation bleiben. Aber gerade so entstehen Legenden.

Eins steht allerdings für so ziemlich alle Zeiten fest: Wer immer damals schon bei wachem Bewusstsein war, für den ist Kennedy bis heute ein Mythos geblieben. Dieser strahlende, offenbar so kraftvolle US-Präsident, der der (westlichen) Welt so viel Hoffnung gegeben hat. Diese Ikone der frühen 60er Jahre – und dann sein tragischer Tod…

Sexsüchtig und ernsthaft krank

Nicht erst jetzt, fast genau 50 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Dallas (22. November 1963), wissen wir leider etwas mehr. John F. Kennedy war ein geradezu sexsüchtiger Präsident, dem man rund 2000 (!) Affären nachsagt. Seinerzeit war das Thema für die Presse tabu. Heute sagt Mimi Alford, damals 19jährige Praktikantin im Weißen Haus, sie habe im Schlafzimmer der First Lady Jackie Kennedy ihre Unschuld verloren.

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

In Annette Harlfingers Film für die historische Reihe ZDFzeit wurden solche pikanten Befunde noch einmal weidlich, um nicht zu sagen genüsslich ausgekostet. Die Zeitzeugen-Befragungen waren mal wieder purer Standard, sie scheinen seit Jahr und Tag immer nach demselben Muster gefertigt zu werden.

Fatales Stützkorsett

Auch blätterte man abermals in der Krankenakte von JFK: Der Mann habe schon in seinen Zwanzigern an einer schweren Darmkrankheit gelitten, später kamen gravierende Nieren- und Rückenleiden hinzu. Mit Amphetamin-Spritzen („Speed“) wurden seine chronischen Schmerzen bekämpft. Er war also quasi drogenabhängig.

Mit Mitte 50, so mutmaßt man, wäre Kennedy an seinen Leiden höchstwahrscheinlich gestorben. Zeitweise ging er an Krücken, zudem trug er unterm Anzug ein Stützkorsett, das ihn fatalerweise aufrecht hielt, als die tödlichen Schüsse von Dallas fielen. So konnte er sich nicht wegducken.

Bewegende Trauer der US-Bürger

Wie gut, dass wir all das damals nicht einmal geahnt haben. Wir hätten uns in der Kuba-Krise noch viel mehr Sorgen gemacht als ohnehin schon. Und die Sowjets wären sicherlich viel dominanter aufgetreten.

Für eine wirklich fundierte Analyse war der Film zu kurz, er geriet hin und wieder ins ungute Hecheln. Die nachdrücklichsten Aufnahmen, noch heute ungemein bewegend, waren jene, die die tiefe und aufrichtige Trauer der US-Bürger nach dem Attentat zeigten. Da starb auch viel vom Optimismus einer Nation.

Der hohe Preis der Offenheit

Den zahlreichen Verschwörungstheorien, die über den Mord von Dallas kursieren, saßen die Filmemacher immerhin nicht auf. Während damalige US-Bodyguards sich bis heute mitschuldig fühlen, meinte ein deutscher Experte, nach Lage der Dinge habe Kennedy selbst einen hohen Preis für seine sträflich offenherzige Wahlkampftour durch Texas bezahlt.

Ausdrücklich bestand Kennedy (trotz mancher Warnungen und Drohungen) darauf, im offenen Wagen zu fahren, um dem Volk nahe zu sein. Die Personenschützer hatten derweil strikte Anweisung, sich zurückzuhalten und auf Abstand zum Präsidenten zu gehen. Was will man da machen?




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Familienfreuden auf Reisen: Wie wundersam!

Camping in Reih und Glied (Foto: Normen Ruhrus)

Camping in Reih und Glied (Foto: Normen Ruhrus)

Fünf Wochen verreisen! So viel Zeit, so viele wundervolle, herrlich schräge, freundlich skurrile Menschen – die sich besonders zwischen Zelten und Campern zu versammeln scheinen.  Und wenn man mit einem so süßen Baby wie Fiona auf dem Arm auf einem Campingplatz umherläuft, ist das fast eine Garantie, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Da war zum Beispiel jene freundliche Frau in ihren Mittfünfzigern. Normen saß gerade spielend draußen mit Fiona auf der Picknickdecke, als sie ihn ansprach und schnell auch die Frage stellte, wo wir denn herkämen. Als Normen antwortete „Aus Deutschland“, überlegte sie kurz, um sich dann zu erkundigen, wo das denn genau sei. Die Auskunft „in Europa“ kommentierte sie mit einem „Oh, das hatte ich mir beinahe schon gedacht.“

Mülltonnen-Alarm!
Am Lake Tahoe war es, wo wir erstaunt beobachteten, dass plötzlich eine Armada von Ranger-Fahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn an uns vorbeiraste. Der Campingplatz war eigentlich extrem ruhig und dieser Ausbruch an Hektik machte uns neugierig: Ein kleiner Brand in einer Mülltonne war es, der den Alarm ausgelöst hatte. Als die gesamten Ranger von Lake Tahoe versammelt schienen, fehlte nur noch einer: Der „Host“, einer jener zumeist im Rentenalter befindlichen Herren und Damen, die bei freiem Logis Unbedarften Auskunft erteilen und Hilfestellung leisten. Dieser spezielle Host nun brauste (soweit möglich) in einer Art Golfcaddy an uns vorbei, mit bitterernster Miene, den Ort des Unglücks fest im Blick, die Amerika-Fahne eifrig flatternd. Und anscheinend war ihm sein Dasein auf dem Platz bislang allzu ruhig vorgekommen  – denn er hatte ein ganzes Bündel voller Holzscheite aufgeladen, vielleicht, um das Feuer noch ein wenig dramatischer zu gestalten.

Toilettenteppiche
Campen, zumal dauerhaftes, scheint zudem wie unter einem Brennglas persönliche Marotten zu offenbaren: Bei einer Zwischenübernachtung trafen wir auf einen Campingplatz, bei dem doch tatsächlich Teppiche vor den öffentlichen Toiletten lagen – mitsamt Bordüre an der Wand und kleinen Vorhängen vor den Fenstern. Dass der Besitzer außerdem gern abends seine Gäste mit einer Lok umherfuhr – wen wundert’s. Als ich dieses besondere Vergnügen für Fiona in Betracht zog und fragte, was es denn bei der Lokfahrt so zu sehen gebe, schaute er mich erstaunt an und meinte: „Na, den Campingplatz!“

An einem anderen Ort trafen wir auf eine Art Pleasantville des Campers, wo Bingo & Bibelstunde zum wöchentlichen Vergnügen gehörten. Und morgens, pünktlich um neun Uhr, wurde die CD für die Wassergymnastik eingeschaltet, die am Ende der Stunde auch brav plärrte: „Hope we’ll see us again!“

Klopf, klopf machte es derweil eines nachmittags: Ein freundlicher älterer Herr stand vor uns, Milch und Kakao in der Hand. Er wolle jetzt mit seiner Frau nach Alaska fahren, da habe er dafür keine Verwendung mehr – ob wir nicht…?

Ein wenig unheimlich wurde es uns allerdings, als wir in der Nähe des Olympic National Park an einem äußerst gepflegten Campingplatz eintrafen: Hier war alles picobello, der Rasen frisch gemäht, die Linien auf dem Parkplatz noch glänzend weiß und alles so ordentlich, wie sonst nur in Doris Day-Filmen. Der Ranger, nachdem er gemerkt hatte, dass ich keine Amerikanerin bin, sprach äußerst langsam mit mir, unterstrich die Erklärung des Reservierungsvorgangs, indem er mir einen Zettel mit dem Wort „Reserved“ vor die Nase hielt und verzog bei all dem keine Miene. Dass sein Name auch noch dem des Mannes ähnelte, der damals Polanskis Frau Sharon Tate ermordete, ließ uns regelrecht frösteln. Als er am nächsten Tag erneut sorgsam den Rasen auf seiner Mähmaschine trimmte, versteckten wir Fiona vorsichtshalber vor seinen Blicken.

Fernsehen wird draußen erst schön
Die Tendenz zu Größenrekorden gibt es auch bei Campern: Unsere siebeneinhalb Meter halten zwar trefflich als Fionas Abenteuerspielplatz her, sind aber regelrecht lächerlich im Vergleich zu den Gefährten, mit denen viele  Amerikaner anrücken und die an Tourbusse von Rockbands erinnern. Mit diesen Ungeheuern passen sie natürlich in keinen kleinen Naturpark, sondern nur auf jene teuren privaten Plätze, die zwar eher unattraktiv, dafür aber mit jeglichem Komfort ausgestattet sind. So sahen wir eine Familie die, umgeben von Wald, Spielplatz und Swimmingpool, all dies missachtete, zwar ein Feuer anzündete (unerlässlich!) – dafür aber lieber einträchtig von draußen auf den Flachbildfernseher sah, den man selbstverständlich aus dem Camper herausfahren konnte.

Herrlich skurril mögen es einige Hundebesitzer. Freundlichst unterhielten wir uns mit unseren Nachbarn auf einem idyllischen Campingplatz in Washington (nicht DC), ein älteres Ehepaar, das schon 48 von 50 US-Staaten bereist hatte. Doch eben jene Leute, die gerade noch interessante Details zum amerikanischen Bildungssystem preisgegeben hatten, ließen uns an jener seltsamen Szene teilhaben: Der Mann sagte zu seiner Frau, er mache noch einen kleinen Spaziergang und ging los. Die beiden Dackel aber, die sie dabei hatten, durften nur zusehen – von einem kleinen Gitterparcours aus, der extra für sie errichtet wurde.

Heute haben wir diese Liebe zur Eingrenzung dann in puristischer Reinform erlebt: Wir fuhren umher, einen Stellplatz suchend. Dabei sahen wir eine Frau und einen Mann. Sie lächelten uns freundlich an, das Feuer knisterte neben ihnen fröhlich. Um sie herum aber, da glänzte, recht  eng gefasst  – ein hüfthoher Stahlzaun. Ohne Hund wohlgemerkt.

Ach ja, vielleicht, wer weiß, ist es neben der Naturnähe genau das, was Campen ausmacht: Diese wundersamen, herrlichen Begegnungen.




Zeitgeist-Zeugen: Warum „Zero Dark Thirty“ beim Oscar nur einen Trostpreis erhalten hat

Populäres Kino ist, wenn es gut gemacht ist, stets ein Seismograph für den Zeitgeist. Mit manchmal erschreckend ausschlagenden Zacken wie „Zero Dark Thirty“ der Amerikanerin Kathryn Bigelow. Dass dieser Film über die Jagd auf Osama Bin Laden keinen der Oscar-Blumentöpfe gewinnen würde, war von vornherein klar: Er ist heiß umstritten, einige Republikaner im US-Kongress verlangten sogar eine Untersuchung.

Das Schockierende an dem Thriller ist aber nicht, dass er (angeblich) geheime politisch Informationen verwendet, sondern dass er kompromisslos die dunkle Seite entfesselter Brutalität unserer Zivilisation zeigt: In „Zero Dark Thirty“ taugt jedes Mittel, um ans Ziel zu kommen. Und der Film verschwendet weder in seinem Plot noch in seinen Personen auch nur einen Gedanken an eine Kritik dieses brutalen Utilitarismus. Erlaubt ist, was nützt.

Dunkelzone der Gesellschaft

Dass Kathryn Bigelow mit diesem erbarmungslosen Blick auf die ethikfreie Dunkelzone unserer moralisierenden Gesellschaften schon in der Vorauswahl nicht landen konnte, hat wohl wenig mit der Qualität ihrer Arbeit zu tun. „Zero Dark Thirty“ hat lediglich einen – wie es ein Magazin heute nennt – „Trostpreis“ erhalten: Paul N.J. Ottosson muss sich einen Oscar für den Tonschnitt  mit Per Hallberg und Karen Baker Landers für „Skyfall“ teilen. Auch die viel gerühmte und bereits mit dem „Golden Globe 2013“ und dem „Broadcast Film Critics Association Award“ ausgezeichnete Hauptdarstellerin Jessica Chastain ging leer aus: Ihr wurde die 22jährige Jennifer Lawrence („Silver Linings“) vorgezogen.

Bigelow hat sich mit ihrem schonungslosen Streifen zwischen alle Stühle gesetzt: Den Linken gilt er als Verherrlichung von Folter, die Rechten witterten gleich Verrat und Beweihräucherung Obamas, nur weil der am TV im Film irgendwelche geänderten Zeiten ankündigt. Das beziehen die CIA-Folterer auf sich und raten sich gegenseitig zur Vorsicht. Ihre Methoden könnten auf einmal political incorrect werden. Doch der Film bringt nichts, was sich nicht aus Medienberichten rund um Guantanamo und Abu Ghreib erschließen und mit ein wenig Fantasie fürs Perverse ergänzen ließe.

Die Szenen sprechen für sich

Aber ist „Zero Dark Thirty“ eine „Verherrlichung“ der Folter? Muss ein menschlich zutiefst abschreckendes Verhalten in einem Film noch durch beschwichtigende oder kritische Kommentare bewertet werden, um in eine moralisch einwandfreie Position eingeordnet zu werden? Das ist zumindest im Falle von Bigelows Film nicht nötig. Die Szenen sprechen für sich: Wenn dem hilflos an Kabeln hängenden Häftling Ammar zu Beginn die verschissenen Hosen heruntergerissen werden, damit vor den Augen der Agentin Maya – das ist Jessica Chastain – sein „Gehänge“ bloßliegt, dann spricht diese entwürdigende Szene eine deutliche Sprache, die auch ohne Kommentar abschreckend genug ist.

Brutale Szenen gehören heute zum Filmgeschäft, und in vielen B-Movies wird Ekelhafteres gezeigt als in „Zero Dark Thirty“. Was das Verstörende ist: Bigelow lässt die Täter keine Sekunde an ihrem Handeln zweifeln. Sie gehören nicht einmal so sehr zum Typ der „aufrechten“ Patrioten, die für ihre Nation alles, aber auch alles erledigen würden. Sie sind vielmehr perfekte Angestellte, völlig reibungsfrei funktionierende Rädchen des furchtbaren Getriebes, die sich höchstens mal interne Karrierekämpfe liefern oder bei der erfolgsarmen Fahndung nach Al-Qaida-Tätern ihr Gesicht nicht verlieren wollen.

Das Grauen beschleicht den Zuschauer, wenn er diese Menschen verfolgt: Ihre zwangshafte Fixierung auf den Erfolg, ihr eiskalter Umgang mit ihren Mitmenschen, ihre private und emotionale Verelendung. Wenn Maya endlich Osama erwischt hat und im Flugzeug ganz alleine nach Hause reist, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Es sind nicht einmal Tränen, die vom Abfallen der jahrelangen Anspannung zeugen. Maya vergießt sie, weil ihr das einzige und ausschließliche Lebensziel, das sie über Jahre beherrscht hat, nun genommen ist. Eindrücklicher lässt sich die Enthumanisierung dieser Anti-Terror-Roboter nicht einfangen als in dieser simplen Abschluss-Sequenz.

Entlarvung der „erweiterten Verhörmethoden“

Der Film tritt nicht – wie unterstellt – für die „erweiterten Verhörmethoden“ ein, die er zeigt. Sondern er entlarvt ihre ganze Sinnlosigkeit und Inhumanität, indem er sie lapidar und unverbrämt darstellt. Damit tritt er nicht für die Rechtfertigung der Täter oder für das fragwürdige Ethos der Bush-Regierung und ihrer Apologeten ein, wie die Historikerin Karen Greenberg behauptet. „Zero Dark Thirty“ ist eine Studie darüber, wie der totale Kampf gegen den Terror seine Protagonisten entmenschlicht. Und er wirft ein unverbrämt grelles Licht auf die Nischen unserer Gesellschaften, in denen das Abgründige gedeiht und sich mit dem Mäntelchen einer Legitimität umgeben kann, die von den Tätern bürokratisch korrekt verwaltet wird und daher in ihren Augen als gerechtfertigt gilt. Und er stützt damit eine ethische Position, die – trotz aller bekannten Problematik – der Folter Null Toleranz entgegenbringt.

Dass der Oscar-Segen des besten Films stattdessen an „Argo“ ging, spricht eine deutliche Sprache: Ben Affleck mag seinen Thriller fulminant inszeniert haben, die politische Botschaft bleibt im Rahmen: Amerikaner werden vor Islamisten gerettet und eine auch nur indirekte Kritik an herrschenden Konstellationen ist nicht ersichtlich. Auch ein Zeitgeist-Zeugnis.




Vom Varieté bis zur Vorhölle: Die Comics und Trickfilme des Winsor McCay in Dortmund

Wer hätte das gedacht: Da präsentiert Dortmund die bislang wohl weltweit umfangreichste Retrospektive zum Werk von Winsor McCay.

Winsor Who? – McCay! Der US-Amerikaner, der von 1869 bis 1934 gelebt hat, gilt als eigentlicher Erfinder des Zeichentrickfilms, dessen frühe Standards er lange vor Walt Disney gesetzt hat. So geht die zeitsparende Folientechnik für Bildhintergründe auf ihn zurück. Überdies war er einer der genialen Pioniere des Comics.

Das Tor zum Schlummerland - Detail aus Winsor McCays "Little Nemo in Slumberland", 1906 (Bild: Katalog)

Das Tor zum Schlummerland – Detail aus Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“, 1906 (Bild: Katalog)

Diese besonders in Deutschland (NS-Zeit, Schundkampagne der 50er Jahre) lange unterdrückte bzw. gering geschätzte Kunstform entschied seinerzeit in den USA über Wohl und Wehe der Zeitungen. Nur wer die besten Comic-Zeichner hatte, konnte die Auflage nachhaltig steigern. Nachrichten aus Politik, Sport und Kultur waren demgegenüber fast zweitrangig. Die hatte ja, salopp gesagt, jeder. Der „New York Herald“ und später zahlreiche andere Blätter aber hatten Winsor McCay.

Die berühmtesten Serien McCays hießen „Dream oft the Rarebit Fiend“ (etwa: „Traum eines Käsetoast-Liebhabers“, ab 1904) und vor allem „Little Nemo in Slumberland“ („Der kleine Nemo im Schlummerland“, ab 1905). Vorbild dieser Kinderfigur war McCays Sohn Robert, der an Schlafstörungen litt und oft wüstes Zeug träumte. Während die irrwitzigen Käse-Episoden für ein erwachsenes Publikum gedacht waren, richtete sich Nemo in farbig gedruckten Wochenendbeilagen an ganze Familien und kam deshalb etwas entschärft daher.

Alptraumszene aus "Little Nemo in Slumberland", 1909 (Bild: Katalog)

Alptraumszene aus „Little Nemo in Slumberland“, 1909 (Bild: Katalog)

Das Kerngeschehen beider Langzeitserien, die sich über Hunderte von Folgen erstreckten, wird von phantastischen Träumen und Alpträumen bestimmt, die freilich stets unterhaltsam ausfabuliert werden. Tatsächlich findet McCay dabei zu einer fulminanten Bildsprache, die Elemente des Surrealismus vorwegnimmt und manche Fährte der Freudschen Traumdeutung kongenial vor Augen führt.

Derart tief und manchmal verstörend ist McCay ins irrlichternde, flackernde Traumreich vorgedrungen, dass es im Grunde kaum verwundert, wer sein Werk in den späten 1960er Jahren der Vergessenheit entrissen hat. Es waren Underground-Zeichner wie Robert Crumb, die in ihm gleichsam einen Vorläufer ihrer wilden und windungsreichen Trips gesehen haben. Die Ausstellung dokumentiert auch Ausläufer solcher Nachwirkungen.

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sind nun annähernd 200 Exponate aus allen Schaffensphasen zu sehen – zumeist ursprüngliche Entwürfe oder originale Zeitungsseiten, für die auf dem Sammlermarkt zuweilen zigtausend Dollar bezahlt werden. Schräg gegenüber im Foyer des RWE-Towers ergänzen einige zusätzliche Filme die Schau, die den Abschluss einer stark beachteten Tournee (u.a. Hannovers Wilhelm Busch Museum und Basels Cartoonmuseum) bildet – mit deutlich mehr Ausstellungsstücken als an den vorherigen Stationen.

Bildfolge aus "Dream of the Rarebit Fiend", 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel ("puzzle") - und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Bildfolge aus „Dream of the Rarebit Fiend“, 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel („puzzle“) – und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Der wahrhaft kundige Kurator der Schau, der gebürtige Dortmunder Alexander Braun, der notfalls stundenlang inspiriert und inspirierend über McCay sprechen kann, ist froh, dass just ein honoriges kulturgeschichtliches Museum den Schlusspunkt setzt, denn die anderen Stätten der Rundreise sind auf humorige Darstellungsformen spezialisiert. Hier aber erfahren die Comics nun die Nobilitierung, die solchen Künstlern und ihren Hervorbringungen gebührt. Heute nennen die Feuilletons bessere Comics ja auch ganz vornehm „Graphic Novels“.

Gewiss: Die Ursprünge McCays lagen im Varieté, im Vaudeville und in damals grassierenden Freak Shows. Mit seinen Filmen und sonstigen Vorführungen (z. B. als Schnellzeichner) hat der Workaholic, der bei Tag und Nacht in Schöpferlaune war, auch Jahrmarkts-Gelüste bedient, wie denn überhaupt das Kino anfangs eine Art Kirmesvergnügen gewesen ist und keine sonderlichen Hochkultur-Ambitionen gehabt hat.

Doch sowohl seine Filme als auch die Comics überwinden sehr rasch, ja quasi von Anfang an das starre Schema anderer Zeichner. Man sieht es schon am stets dynamisch wechselnden Zuschnitt der Bildformate, die – im Dienste der jeweiligen Geschichte – bis ins Extreme gehen können. Da werden beispielsweise ganze Bildfolgen mittels Zerrspiegel-Ästhetik in groteske Längenmaße gedehnt, andere verwirren durch endlose Treppenlabyrinthe. Und was der tausend Ideen mehr sind.

Zeichnung zum Trickfilm "Gertie, der Dinosaurier", 1914 (Bild: Katalog)

Zeichnung zum Trickfilm „Gertie, der Dinosaurier“, 1914 (Bild: Katalog)

Virtuos jongliert McCay mit den Zeichen- und Druck-Techniken des noch neuen Mediums, spannt weite, geradezu literarische Erzählbögen über viele Folgen hinweg und begibt sich alsbald immer mal wieder auf hintersinnige Meta-Ebenen, indem er etwa Dialoge mit seinen eigenen Figuren führt, die sich über schlampige Ausführung beschweren oder gleich in Tuscheflecken ertränkt werden. Höchst subtil sind Linienführung und Farbgebung, die durchaus an die Größen des Jugendstils heranreichen.

Und welche Visionen hatte dieser Selfmademan, der es übrigens zu einigem Wohlstand brachte! Zum US-Feiertag Thanksgiving denkt er sich einen Riesen-Truthahn aus, der ganze Häuser vertilgt – lange vor solchen Kinomonstern wie King Kong oder Godzilla. Seine immense Vorstellungskraft stellt er gelegentlich auch in den Dienst politischer Propaganda, so mit einem famosen Trickfilm über den Untergang der „Lusitania“ am 7. Mai 1915, die von einem deutschen U-Boot vor der irischen Küste versenkt worden war.

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Dieser schreckliche Vorfall bewog die öffentliche Meinung in den USA, im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland Stellung zu beziehen. Die Kriegserklärung folgte allerdings erst rund zwei Jahre später. Fürs Zeitungs-Imperium des Verleger-Tycoons Randolph Hearst, der ebenfalls in diesem Sinne gegen Deutschland agitierte, illustrierte McCay in jenen Jahren zahlreiche Leitartikel.

McCays Lusitania-Film nimmt Sequenzen vorweg, wie sie später die großen Katastrophenfilme geprägt haben. Und man traut seinen Augen nicht, wenn die Menschen (sich) en masse vom Schiff stürzen. Hat da einer etwa schon Schrecknisse wie die des 11. September 2001 vorausgesehen? Sagen wir so: Wie viele andere Künstler, so hatte auch McCay einen geheimen Zugang zur Vorhölle, er war in der Lage, überzeitliche Formen des Urbösen zu imaginieren.

Zweierlei sollte man als Besucher jedenfalls mitbringen: Erstens viel Zeit, um sich auf die Bildfolgen einzulassen. Zweitens einigermaßen belastbare Englisch-Kenntnisse, sonst hat man von all dem leider ziemlich wenig.

Winsor McCay – Comics, Filme, Träume. 23. Februar bis zum 9. Juni 2013. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Hansastraße 3). Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 49 Euro. Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Mo geschlossen. Infos über Führungen 0231/50-26028. Internet: www.museendortmund.de
Ergänzende Filmschau im RWE-Tower, Freistuhl 7. Vom 25. Februar bis zum 12. April 2013, werktags 9-18 Uhr (von außen durchs Schaufenster 24 Stunden lang zu sehen), Eintritt frei.




Zum Tode von Neil Armstrong: Die Mondfahrt und der historische Satz

„Wie, du hast dir das entgehen lassen?“ Die Kolleginnen und Kollegen, angeführt von Chef Malte, blickten ungläubig bis verblüfft in meine naiv-blauen Augen und schüttelten unisono ebenso entgeistert wie im Geiste scheibenwischend die erfahreneren Köpfe. Gerade hatte ihnen so ein nassforscher Berufsneuling die überraschende Tatsache verkündet, dass er nicht wie im Falle von faustkämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Cassius Clay (der hieß damals noch so) und Ingemar Johansson nächtens aus den Federn gekrabbelt war und schlaftrunkenen Auges den unvermeidlichen Sieg des tänzelnden US-Profis wahrgenommen hatte.

Nein, dieser Berufsneuling des Jahres 1969, Ihr werdet es erraten, das war ich, hatte sich nach links umgedreht und weiter geratzt, während Neil Armstrong auf die staubige Mondoberfläche hüpfte und seine legendären Worte hinaus in All nuschelte: „That’s one small step for a man, one giant step for mankind.“ („Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Schritt für die Menschheit.“) Der nassforsche Jüngling hatte vor sich selbst auch eine Begründung für diese historische Respektlosigkeit: Die USA waren immer noch das Land, das Rassen diskriminierte, die USA waren das Land, das den Vietnamkrieg führte, die USA ließen nicht erkennen, dass sie wesentliche Beiträge dafür leisten wollten, dass Bettelarmut im reichsten Land der Welt verschwindet, die USA ließen noch weniger erkennen, dass sie ernsthaft Frieden als ultimatives Ziel ihrer Außenpolitik sahen, usw. usw.. Warum also sollte ich noch stumm applaudieren, wenn ein solches Land Milliardenbeträge ins Weltall schießt, um den eiskalten Steinklumpen zu erobern.

Nun, ich räume ja ein, dass ich wie manche andere ziemlich naiv und vielleicht auch übertrieben politisch korrekt durch die frühen Arbeitsjahre wandelte und es als Lust empfand, mich auf bisweilen schräge Art und Weise zum sogenannten Linkssein bekannte. Richtig Unrecht geben kann ich mir aber bis heute noch nicht, nur halte ich mich inzwischen für etwas zu respektlos diesem Neil Armstrong gegenüber. Er, der am vergangenen Samstag starb, wurde zum Symbolhelden einer wissenschaftlich-kulturellen Glanzleistung, die bis auf den Tag in fast alle Lebensbereiche nachwirkt – und nicht nur beim fettlosen Eierbraten in einer Teflon-Pfanne. Nicht nur er allein war der Held, sondern auch Buzz Aldrin, der nach der Landung in der Mondfähre „Eagle“ blieb und keine Chance bekam, historische Sätze ins All zu nuscheln.

Nun, ich bleibe dabei, es für richtig zu halten, mich nicht meines Schlafes zu berauben, um diese einmalige TV-Aufführung einer amerikanischen Ruhmestat in Live-Erinnerung zu behalten. Ich verbeuge mich angesichts des Todes von Neil Armstrong am Samstag vor ihm, weil er sich nach anstrengender Reise beim ersten Fußtritt auf Mondboden einen Satz (sicher wohl überlegt) heraus schraubte, der in der Geschichte bleiben wird. Ähnlich wie Cäsars „Iacta est Alea!“ (laut Plutarch – „Geworfen ist der Würfel!“).
Obgleich ich gestehen muss, dass ich davor und danach noch andere, werthaltigere Sätze hören durfte. Wie Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen!“ Oder Robert Jungks: „Die Welt kann verändert werden. Zukunft ist kein Schicksal.“

Gut, dann gehen wir mal ans Werk und arbeiten mit daran, dass gute Lehren gezogen werden, aus den Segnungen einer Mondfahrt und aus meinen nicht so weit hörbaren Begründungen für die mir eigene Mondfahrt-Ignoranz.




Gegen die Wand – eine milde Brandrede

Muss alles erst in den USA ausbaldowert werden, kommerzialisiert oder erfunden werden, bevor es nach Europa schwappt? In der Popmusik war das so (Ausnahme: Beatles), in der Filmgeschichte sowieso, in der Mode ab und an, im Bereich political correctness bis zum Erbrechen. Endlich und sicher zu spät protestieren dort in den Zentren (wie immer, denn der Landmann will ein Cowboy sein) die Menschen gegen all das, was das soziale Gefüge in Gänze zu zerstören droht: Gegen das Finanzsystem. Man konnte auch sagen: Gegen kriminelle Dummheit und Angst der Entscheidungsträger in der Politik, die es sicher nicht mehr sind, aber meinen, es noch sein zu können if they still have guts.

Deutschland schläft und die, die Autos abfackeln, sind dumme Pappnasen. Hier liegt man am liebsten auf dem Sofa und meckert. Diese ganze geistkorrupte Bande, eine Melange aus Mainstreamern des Kapitalismus und Staatsträgern, sind ein Gräuel und wir merken es nicht – besser gesagt: wollen es nicht merken. Man kann ja nichts machen.

Nun wäre es ja der Lauf der Dinge, wenn diese Bewegung auf Europa abstrahlt und man sich hier mal traut, auf die oft zitierte Kacke zu hauen, die Börse besetzt, Bankkonten auflöst. Die Griechen protestieren in ihrem Interesse, die spanische Jugend wird endlich mal laut. Die Briten hauen Nachbars Garten kaputt. Wohin mit der Wut, mit der Ahnungslosigkeit, mit dem Gefühl, verarscht zu werden? Und hier geht es nicht um den niedlich als Wutbürger bezeichnen Mitmenschen. Vielleicht gibt es ja bald den Wutburger bei McDonalds, so wie alles schnell vermarktet wird. Hier geht es um eine fast globale Tendenz, die Gemeinschaft hinters Licht zuführen. Der virtuelle Finanzmarkt hat alle infiziert. Jede Stimme, doch vernünftig zu bleiben, schleimt durch die Polit-Talk-Shows. Hunderte von Experten erklären, warum es so ist, wie es ist und jeder erklärt es anders.

Derweil werden in Griechenland die Armen zu Bettlern, in Ungarn tobt der ungebremste Nationalismus, in Russland schmieren sich die Neureichen Goldstaub aufs Brot.

Vielleicht gibt es ja bald genügend Mutbürger, die Dinge machen, die nicht vernünftig sind.

 

(Foto: Bernd Berke)




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949




Zu Fuß durch Amerika

Eine seltsame Art zu reisen kündigt bereits der Untertitel an: „Zu Fuß durch Amerika“. Ausgerechnet durch das Land der Autofahrer. Doch dann erinnert man sich an den Namen des Autors. Wolfgang Büscher, das war doch der Journalist, der vor acht Jahren in seinem Buch „Berlin-Moskau“ einen ähnlichen Fußmarsch durch die östliche Pampa beschrieben und damit einen Bestseller gelandet hatte.

„Hartland“ lautet der Titel seines neuen Reisebuches, und da zögere ich bereits, denn Büscher ist weit mehr als ein Reiseschriftsteller. Hartland ist ein einfühlsamer, poetischer Zugriff auf das riesige, vertraute und doch so fremde Land auf der anderen Seite des Meeres.
Büscher kannte Amerika nicht, bevor er sich mit großem Rucksack und ausreichend Geld von Kanada aus zu Fuß auf den Weg von Nord nach Süd durch den Mittleren Westen der USA macht, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko.

Er lässt sich auf die Menschen ein, sieht Vorurteile bestätigt oder widerlegt und wird überrascht durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und echte Offenheit vieler Amerikaner. Er folgt teilweise den Spuren der Zerstörung, die wir europäischen Eroberer auf dem Weg nach Westen hinterließen. Er spricht mit Indianern und modernen Cowboys, lässt sich streckenweise in Pick-Ups mitnehmen und kommt so auch in Familien und fromme Christengruppen. Ratlos hört er den durchweg konservativen Meinungsäußerungen der Leute im amerikanischen Herzland zu – denn darauf bezieht sich auch der doppeldeutige Titel: Hartland heißt der erste Ort, den Büscher in den USA betritt, und dieser Name leitet sich von „Heartland“ ab. Aber Büscher lässt bei seiner Wegbeschreibung keinen Zweifel, dass er auch die deutsche Bedeutung von „Hartland“ meint, wenn er den endlosen Marsch durch die Prärie beschreibt oder den Spuren der unglückseligen Geschichte der amerikanischen Ureinwohner folgt. Zum Schluss verliert er zwar noch sein Gepäck, aber auch dem kann er erfrischende Gedankengänge abgewinnen.

Wer sich von Büschers weicher Prosa mitziehen lässt, und das ging auch schon bei „Berlin-Moskau“ so, der versteht sofort, warum der Autor bereits vor Jahren den Tucholsky- und den Ludwig-Börne-Preis erhielt.

Wolfgang Büscher: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 19,90 Euro




Die Ex-Gay-Therapie

Ted Haggard war mir bis vor kurzem noch unbekannt. Einige US-Amerikaner würden sich wahrscheinlich wünschen, dass es bei Ihnen ebenso wäre. Ted Haggard war der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Evangelikalen und Sprecher von gut 30 Millionen Christen. Und wie ich aus einem Artikel in der „Zeit“ lernte, führte er einen Feldzug gegen Homosexualität – bis ihn 2006 ein Callboy als schwul outete.

Das Schauspiel Dortmund zeigt zur Zeit die „Ted Haggard Monologe“ von Michael Yates Crowley: Ein beeindruckendes Solo von Ekkehard Freye, der bereits die deutschsprachige Erstaufführung am Schlosstheater Moers gespielt und sie nun als neues Ensemblemitglied von Schauspieldirektor Kay Voges sozusagen mit nach Dortmund gebracht hat.

Das Stück zeigt vor allem, wie viel Haggard in den Menschen seiner Umgebung steckt, wie sehr sie damit kämpfen, sich rigiden Dogmen und Moralvorstellungen zu unterwerfen und dabei allzu oft unterdrücken, was es heißt, Mensch zu sein.

Nach diesem Stück waren wir neugierig, ganz banal, wie dieser Ted Haggard wohl aussehen mag – und fanden Fotos von einem blonden, glatt gut aussehenden, weißzahnigen, strahlend lächelnden Werbemann.

Noch erschreckender war allerdings zu lesen, dass Ted Haggard Homosexualität noch immer für eine Sünde halten und angeblich eine „Ex-Gay-Therapie“ gemacht haben soll. Allein die Tatsache, dass es so etwas gibt…

Infos des Dortmunder Theaters: www.theaterdo.de

(Hier noch der Link zu meiner Rezension des Stückes für die Westfälische Rundschau).




Ein Mann zerstört sich selbst

Der erste Satz des Romans lautet so: „Im Spätsommer 1960 begann für Janice Wilder alles schiefzugehen.“ Das ist noch weit untertrieben.

Hier nimmt von Anfang an ein Verhängnis seinen Lauf, offenbar unaufhaltsam. John Wilder (36), Ehemann jener Janice, leidet an verschärftem Normalitäts-Koller, an Alltags-Überdruss. Der bislang recht erfolgreiche Anzeigenverkäufer (in Diensten des Edelblatts „Scientific American“) besäuft sich mal wieder und randaliert unflätig gegen Freund und Feind. Nicht ganz ohne eigene Vorahnung. Er hat „es“ kommen sehen und Frau und Sohn am Telefon gewarnt: Er werde von seiner Dienstreise lieber nicht heimkehren, sonst wäre er wohl imstande zu familiärem Mord und Totschlag. Fortan zerstört er sich selbst.

Fatal: Wegen eines Feiertags kommt Wilder nach dem Nervenzusammenbruch nicht in eine übliche Klinik, sondern gleich in die Psychiatrie. Nur dort ist man aufnahmebereit für akute Fälle. Was sich in der geschlossenen Abteilung für gewalttätige Männer abspielt, schildert der US-Schriftsteller Richard Yates (1926-1992) in seinem Roman „Ruhestörung“ als alptraumhaftes Kopfkino. Tatsächlich geht es im weiteren Verlauf der Handlung auch um eine mögliche Verfilmung dieser desolaten Zustände. Ein paar Junggenies, Studienfreunde seiner Freundin Pamela, planen das Filmdrama zu Wilders Auslöschung, er selbst wirkt beratend mit. Doch das Werk wird nie fertiggestellt. Erbärmlich und lachhaft zugleich, wie Wilders Erlebnisse derweil die Klischees des Kinos geradezu übererfüllen. Sein Leben ist auch nur so eine schmutzige, scheußliche Fiktion.

Die Ebenen des Erlebens und Erzählens werden dicht verwoben, bis zur Ununterscheidbarkeit. Man scheut sich freilich, dies „kunstvoll“ zu nennen, denn Yates hat an keiner Stelle artifiziell geschrieben. „Ruhestörung“ zählt zu den großen, erratischen Alkoholiker-Romanen. Größenwahn und höllischer Absturz liegen stets nah beieinander.

Das bereits 1975 im Original („Disturbing the Peace“) erschienene Buch, das zwischen 1960 und 1970 spielt, seziert alle Illusionen. Wie Yates die zunehmend wankende Wirklichkeit und den wachsenden Wahn ineinander schachtelt, das ist durchaus beklemmend. Umso erstaunlicher, dass dieser Autor bei uns immer noch zu „entdecken“ ist.

John Wilder wird aus der Psychiatrie entlassen. Doch hat er eine Chance? Eigentlich nicht. Er unternimmt Anläufe, um sein Leben neu auszurichten, doch sammelt er auf Dauer nur das Scheitern an. Kein Tag ohne Whiskey. Heillos schlingert er zwischen diversen Psychiatern und wechselnden Geliebten durchs Dasein. Allerlei Hoffnungen werden durchgespielt, sie verblassen jedoch zusehends. Samt und sonders.

Treffen der Anonymen Alkoholiker geben ihm keinen Halt. Ärzte und Psychologen sind hilflos, reden hohles Zeug oder verabreichen kurzerhand Psychopharmaka, damit Ruhe ist. Liebe erstickt in Eifersucht. Erklärungsversuche zwecklos. Filmkunst, auf die sich Wilder als Produzent stürzen will, führt zu nichts. Ortswechsel (von New York nach Vermont und Kalifornien, an den schäbigen Rand Hollywoods) bleiben gleichfalls fruchtlos. Hinzu kommt der zeitgeschichtliche Hintergrund: Auch die Verheißungen der Kennedy-Ära werden in jenen Jahren zunichte. Ja, Wilder versteigt sich in die Vorstellung, er selbst habe auf John F. Kennedy geschossen.

Was bleibt? Gefrorener Stillstand wie für alle restliche Zeit. Von wegen „amerikanischer Traum“.

Welch ein Dämonium, welch eine Depression! Man sollte einigermaßen gefasst und gefestigt sein, um dieses Buch zu lesen. Zumal der Befund sich ins Allgemeine weitet und gleichsam uns alle zu Insassen macht. Ansicht eines beliebigen Büros im Vergleich zur Psychiatrie: „Die Wände waren weiß und die Beleuchtung war indirekt; es befanden sich sowohl Männer als auch Frauen hier; alle trugen anständige Kleidung und niemand bat darum, gerettet zu werden, oder schrie oder masturbierte oder trat gegen ein Fenster. Nichtsdestoweniger waren in jedem Gesicht im Verlauf des Tages zunehmend Zeichen der Verzweiflung zu erkennen…“

Richard Yates: „Ruhestörung“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube. Deutsche Verlags-Anstalt, München. 315 Seiten. 19,95 Euro.




Wie die USA vor 50 Jahren waren – Jetzt in der Werkausgabe: „Amerikafahrt“ des Schriftstellers Wolfgang Koeppen

Da ist einer soeben in New York angekommen und schreibt: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, den Broadway lohen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.”

Wann ist das gewesen? Kurz vor oder nach dem 11. September 2001? Weit gefehlt. Es war im Frühjahr 1958. Da hat jemand latente Gefahren gewittert, die in jener Mega-Stadt vielleicht von jeher in der Luft gelegen haben. Der Mann hieß Wolfgang Koeppen und zählte zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach dem Krieg.

Es ist ungemein spannend, jetzt – im Rahmen der höchst verdienstvollen Werkausgabe – wieder zu lesen, was Koeppen damals auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten bewegt hat.

Koeppen lässt eindeutige Vorlieben erkennen: San Francisco und Boston erscheinen ihm wie nahezu himmlische Orte, Salt Lake City und New Orleans hingegen als öde, überhitzte Höllenbezirke auf Erden. Die Fegefeuer der aus Faszination und Furcht gemischten Gefühle brennen in Washington, Texas und Los Angeles. Doch New York ist in jeder Hinsicht ein herausragender Sonderfall.

Mit dem soliden Halbwissen darüber, was mittlerweile aus den USA geworden ist, staunt man als Leser, wie Koeppen offenkundig schon manche Essenzen des Kommenden herausgefiltert hat – schlichtweg durch geduldig teilnehmendes, im besten Sinne subjektiv getöntes Beobachten. Historisch geschärftes Bewusstsein und die Wachhheit eines klugen, hochsensiblen Zeitgenossen vereinen sich hier zur vertrauenswürdigen Zeugenschaft.

Gewiss, man spürt den geschichtlichen Abstand. Gerade das macht einen weiteren Reiz dieses Buches aus. Koeppen spricht durchweg noch – wie damals allgemein üblich – von „Negern”, wenn er Menschen meint, die wir heute politisch korrekt Afro-Amerikaner nennen. Aber: Er begibt sich (anders als damals die allermeisten Weißen) in die Wohnviertel und Kneipen der Farbigen, benennt Symptome und Formen der täglichen Unterdrückung.

Überhaupt nimmt Koeppen Vorgänge wahr, die tiefer reichen und länger währen als kurzatmige Aufregungen der Tagespolitik. Er ist durchaus zur Bewunderung bereit: Beispielsweise preist er die aus vitaler Vielfalt erwachsende, fortwährende Kraft zur Selbsterneuerung, die die Staaten ja jüngst wieder bewiesen haben. Weiterer Befund: In den USA könne sich jederzeit Geld in Geist verwandeln – allerdings auch umgekehrt …

Die Dominanz von Auto und Fernsehen entgeht Koeppen natürlich nicht. Schon 1958 gibt es dort eine TV-Show, die ihm geradezu brutal vorkommt: „Sie waren Leute aus dem Publikum und wurden auf eine Art Thron gesetzt. Dann traten Komiker vor sie hin, freche, mit allen Hunden gehetzte Kerle, die darauf aus waren, die Personen zum Lachen zu bringen.” Und wehe, wenn nicht! – Mal gespannt, welcher Privatsender diese Idee bald aufgreift.

Zielgenau charakterisiert Koeppen die gravierenden Unterschiede zu Europa, seien sie nun klimatischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art. Er hat gar eine spezifisch amerikanische Form menschlicher Einsamkeit entdeckt, die er so bildhaft beschreibt, dass sie geradezu als landschaftlich umrissenes Phänomen greifbar wird. Überhaupt sieht man unentwegt imaginäre Fotografien oder Kinobilder vor sich, wenn man diese famosen Reise-Impressionen liest. Koeppens Stil animiert die Einbildungskraft. Kein Zweifel: große Literatur!

Wolfgang Koeppen: „Amerikafahrt und andere Reisen in die Neue Welt”, Suhrkamp-Verlag, Werkausgabe in 16 Bänden (Band 9), 333 Seiten, 34,80 Euro.

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ZUR PERSON

  • Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren.
  • Unstetes Leben in der Weimarer Republik. Jobs als Platzanweiser, Eisverkäufer, Schiffskoch. Umzug nach Berlin, erste Publikationen.
  • 1934 Romandebüt mit „Eine unglückliche Liebe”.
  • Koeppen verfasst ab 1938 Drehbücher für die Ufa.
  • Ab 1946 Beziehung und später Ehe mit Marion, die zunehmend unter Alkoholismus leidet. Ihr Briefwechsel erschien Anfang 2008: „. . . trotz allem, so wie du bist”, Suhrkamp, 457 S., 32,80 €.
  • Wichtigste Romane: „Tauben im Gras” (1951) und „Das Treibhaus” (1954) über das damalige politische Bonn.
  • Die Reisen nach Russland, Amerika und Frankreich unternahm Koeppen in den 50er Jahren im Auftrag von Alfred Andersch, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
  • Legendär sind Koeppens lang andauernde Schreibkrisen. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sehr viel Geduld mit ihm und half stets mit Vorschüssen. Davon zeugt ebenfalls ein Briefwechsel.
  • Koeppen starb am 15. März 1996 in München.



Krämpfe der Wirklichkeit – Fotografien von Diane Arbus im Essener Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. Von Erotik keine Spur: Einsam hockt die Stripperin zwischen zwei Auftritten im schäbigen Hinterzimmer. Von Glorie kein Schimmer: Ein namenloser US-Patriot hat sich mit Flagge und Anstecker („l’m proud“) gerüstet. Doch der „stolze“ Mann sieht erbärmlich aus; ganz so, als hätte er in dieser Leistungsgesellschaft nie eine Chance gehabt. Man glaubt ohne weiteres, dass er zum seelischen Ausgleich glühender Patriot werden musste.

Wenn man die Fotografien der US-Künstlerin Diane Arbus (1923-1971) anschaut, rieseln einem häufig Schauer über den Rücken. Hier begegnet man meist Menschen von den Rändern der Gesellschaft – ungemein frontal und unausweichlich. Jedes Bild scheint einem zuzurufen: Stelle dich der Wirklichkeit!

Oberflächlich betrachtet, summieren sich die rund 180 Schwarzweiß-Aufnahmen im Essener Folkwang-Museum zum Panoptikum wie auf längst vergangenen Jahrmärkten. Ist es Voyeurismus? Man sieht Transvestiten, Dominas mit devot winselnden Kunden, Nudisten, dicke Kinder, Kleinwüchsige, Behinderte, schräge Leute aus der High Society.

Viele der erfassten Momente sind sirrend, manche auch brüllend bizarr. Hier waltet ein Wille zur ungeschönten Wahrheit. „Diane Arbus – Revelations“ heißt die Schau. Enthüllungen also. Im Wörterbuch steht auch: Offenbarungen.

Die in New York geborene Diane Arbus war eine „höhere Tochter“ und schuf anfangs elegante Modefotografte. Dann aber suchte sie andere Welten auf. Wohl in einer Mischung aus Angst und Faszination hat sie sich auf die Schatten- und Nachtseiten der Gesellschaft begeben. In den 50er und frühen 60er Jahren war dies ein Tabubruch. Die Abweichungen, die Arbus gezeigt hat, erweisen sich als eine Art Vorschuss auf spätere, schrille Zeiten. Heute wimmelt jede Nachmittags-Talkshow von Freaks.

Das Bizarre wird allmählich „normal“

Bei Diane Arbus kann jedoch von Banalisierung noch keine Rede sein. Mit geradezu heiligem Ernst verwandelt sie all diese Randfiguren in Ikonen. Dies geschieht mit solcher Beharrungskraft, dass das Bizarre irgendwann beinahe alltäglich wird. Wenn Arbus sich hingegen dem Alltag der „schweigenden Mehrheit“ zuwendet, so entdeckt sie darin wiederum bestürzend krampfhafte Momente. Ein kleiner Junge auf der Straße schreit da unvermittelt existenzielle Not heraus. Und ein ganz junges Paar wirkt so desolat, als wäre es längst in ehelicher Ödnis erstarrt.

Mögliche Folgerung: All diese Menschen sind, in welcher Ausprägung auch immer, aus einem Holz geschnitzt. Ein humaner Ansatz, der auch abseitige Existenzen gleichsam eingemeindet. Dahinter lauert die Grundsatzfrage: Was ist überhaupt „normal“? Doch heute nimmt man diese Gesellschaftskritik in erster Linie als Kunst wahr. Ethik verschwindet hinter Ästhetik. Die Ausstellung war auf US-Toumee und hat nun ihre Europa-Premiere in Essen, es folgen London und Barcelona.

Die von RWE gesponserte Folkwang-Schau bietet mehr als nur die bloße Präsentation der (auf dem Kunstmarkt sehr hoch gehandelten) Fotografien. In drei atmosphärisch dicht gespickten Kabinetten blickt man in die Werkstatt der Künstlerin. Tagebücher, Notizen, Briefe, Lektüre, Handwerkszeug und dergleichen sind hier versammelt. Auch sieht man Kontaktabzüge ganzer Serien, so dass man nachvollziehen kann, welche Motive und Ausschnitte die Fotografin verworfen hat.

Diane Arbus hat den Freitod gewählt. Mit 48 Jahren schnitt sie sich die Pulsadern auf. Vielleicht hat sie die Trennung von ihrem Mann nicht verwunden. Medikamente, die sie gegen Hepatitis nehmen musste, haben vermutlich zusätzliche Depressionen ausgelöst. Oder hatte die Verzweiflung auch etwas mit den Motiven ihrer Fotografien zu tun? Wir werden es nie wissen, wir können nur schauen und ahnen.

„Diane Arbus – Revelations“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße 41. Bis 18. September. Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 49.80 €.




Sex wie aus dem Supermarkt – Tom Wesselmann, eine Leitfigur der Pop-Art, ist mit 73 Jahren gestorben

Von Bernd Berke

Zu Beginn der 60er Jahre sind die Bilder des Tom Wesselmann grelle Schocks: Nackte, laszive Frauengestalten rekeln sich da – ohne Gesichter, ohne persönlichen Umriss. Als grellrotes Signal lockt zwischen großflächigen Fleischfarben oft nur ein sinnlich geöffneter Mund.

Die Kunstwelt trauert um den Mann, der mit solchen Visionen Zeiterscheinungen auf den bildlichen Begriff gebracht hat: Tom Wesselmann ist, wie jetzt bekannt wurde, am letzten Freitag mit 73 Jahren nach einer Herzoperation in einer New Yorker Klinik gestorben.

Die anonymen Leiber, die er malte, bleiben reduziert auf sexuelle Merkmale und sind zu jeder lüsternen Tat bereit. Diese „Great American Nudes“ verheißen Genuss ohne Reue. Ein offensiver Appell wie aus dem Supermarkt: Alles ist vorhanden, greif sofort zu. Längst erkennen wir darin typische Embleme der 1960er, die sich so freizügig gaben und verdünnt bis heute wirken.

Der Körper als Angebot in der Warenwelt

Solche Gemälde sind „Klassiker“ mit seherisch-diagnostischer Kraft. Der zunehmende Warencharakter der Sexualität leuchtet bereits auf, die allseitige Verfügbarkeit des Körpers als eines unter vielen „Angeboten“. Weibliche Brüste etwa, zumeist im sichtlich erregten Zustand, konkurrieren auf Wesselmanns collagierten, geradezu schaufensterhaften Bildern mit allerlei Botschaften der Reklamewelt.

Nicht so glamourös wie der Medienstar Andy Warhol und weniger auf ein Markenzeichen (Comic-Adaptionen) fixiert als Roy Lichtenstein, gilt Wesselmann als ein weiterer Pionier der Pop-Art. Er selbst mochte sich ungern einsortieren lassen. Welcher Künstler will schon einem „Verein“ angehören?

Anfangs auf Pollocks Spuren

In den 50er Jahren malt Wesselmann, wie damals in den USA üblich, auf Jackson Pollocks Spuren im heftig gestischen Geiste des abstrakten Expressionismus. Auf diesem Felde lassen sich allerdings bald kaum noch individuelle Besonderheiten schärfen. Schon deshalb ist es wohl folgerichtig, sich dem Gegenständlichen zuzuwenden. Vielleicht hilft Wesselmann dabei eine vorübergehende Tätigkeit als Cartoon-Zeichner.

Als treibende Kräfte kommen zudem eine neue, dauerhafte Liebesbeziehung (mit seiner späteren Frau Claire) und eine langwierige Psychoanalyse mit offenbar befreiender Wirkung in Betracht. Sie geben seinem Leben wohl neue Richtung und Halt. Und die ausgiebige Seelenschau schmälert durch „Heilung“ nicht etwa die kreativen Impulse. Trostreiche Erkenntnis gegen das Klischee: Er muss keine „Macken“ hegen und pflegen, um Gültiges auszudrücken.

Kunst soll in den Alltag ragen

Etwa seit 1959 verschreibt sich der allzeit diszipliniert arbeitende Wesselmann (keine Bohème-Attititüden, nahezu bürgerliches Familienleben, mindestens Achtstunden-Tag im Atelier) der europäischen Genre-Tradition, es entstehen zunächst vor allem Stillleben und Akte. Die flächig fragmentierte Sehweise steht in der Überlieferung von Matisse und Modigliani. Doch Wesselmann füllt die Kompositionen mit ausgesprochen amerikanischen Motiven aus Werbung und Warenwelt.

Später fügt er reale Objekte wie Radios, Uhren, Kühlschranktüren oder Handtuchhalter ein, er dringt somit vor in die dritte Dimension. Mit ganz banalen Dingen will seine Kunst ins alltägliche Leben hinein ragen und entschieden auf den Betrachter zukommen. Der wiederum ertappt sich selbst als Voyeur der verführerischen Oberflächen.




Der Sieg über das Chaos – Wuppertal zeigt Europas erste Werkschau des Amerikaners Adolph Gottlieb

Von Bernd Berke

Wuppertal. Biographischer Zufall bestimmt oft die Wege der Kunst. Beim Amerikaner Adolph Gottlieb (1903-1974) trug es sich so zu: 1937 erlitt er einen Arthritis-Anfall. Auf ärztlichen Rat hin verließ er New York und begab sich ins trockene Klima von Tucson/Arizona. Dort entdeckte er die Kunst indianischer Ureinwohner – und malte fortan ganz anders.

Wuppertals Von der Heydt-Museum widmet ihm eine Retrospektive mit 39 Gemälden, wobei einige Großformate die Logistik des Hauses arg strapazierten. Die Mühe hat sich gelohnt. Fast jedes US-Museum, das auf sich hält, besitzt Gottlieb-Werke, doch in Europa ist es die erste nennenswerte Werkschau überhaupt. Und Wuppertal ist einzige deutsche Station.

Vor allem Deutschland mied Gottlieb, Sohn einer Familie jüdischen Glaubens, die aus der damaligen Tschechoslowakei in die USA ausgewandert war. Zu seinen Lebzeiten, so verfügte er, dürfe es in Deutschland keine Einzelausstellungen mit seinen Arbeiten geben. Verwandte Gottliebs waren im KZ ermordet worden. Da erübrigt sich jede weitere Begründung.

Archaische Zeichen wie im Setzkasten

Museumsleiterin Sabine Fehlemann knüpfte indes Kontakte zur Gottlieb-Stiftung, die sich – Jahrzehnte nach seinem Tod – nicht mehr ans Verdikt des Künstlers gebunden fühlen muss.

Von 1929 bis 1973 reicht der Überblick. Schon mit 17 Jahren war Adolph Gottlieb nach Europa aufgebrochen und hatte in Paris gelebt. Anfangs noch im Bannkreis der klassischen Moderne (Matisse, Picasso, Klee), geraten seine frühen Werke noch nicht sehr charakteristisch, die Entwicklung ist offen. „South Ferry Waiting Room“ (1929) evoziert eine Einsamkeits- und Warte-Stimmung wie gewisse Bilder eines Edward Hopper. Doch diese Linie bricht bald ab.

Gottlieb legt die seinerzeit übliche Strecke vom perspektivisch gerundeten Gegenstand zur abstrahierenden Flächigkeit zurück. Auch erprobt er surrealistische Motive („Box and Sea Objects“), dies freilich in eigener Ausgestaltung und mit spezieller Farbwahl: zunächst erdhaft dunkel, später in äußerst gewagten Zusammenklängen.

Mit dem Rückgriff auf indianische Bildwelten beschreitet Gottlieb vollends andere Pfade. Kunstgeschichtler haben sich auf den Begriff „Piktographien“ geeinigt: Gottlieb „sortiert“ zeichenhafte Kürzel (Spannweite zwischen Schrift und Symbol) wie Zufalls-Fundstücke in eine Gitterstruktur. Es herrscht eine Art Setzkasten-Prinzip. Doch das vermeintliche Ordnungsmuster täuscht, die oft rätselhaften, archaischen und magischen Signale gruppieren sich nach unbewusster, quasi-surrealistischer Kombinatorik – Wegmarken auf der Suche nach dem Ungeahnten.

Kontemplative Sonnenaufgänge

Gottlieb pflog freundschaftlichen Umgang mit Kollegen wie Mark Rothko, Ad Reinhardt und Barnett Newman. Sie standen für ein zunehmend selbstbewusstes Amerika, das besonders nach dem Zweiten Weltkrieg Europa den Rücken kehrte. Sogar in künstlerischer Hinsicht gehörte man damals wohl einer „Siegermacht“ an.

In den Piktographien flackert gelegentlich noch Nervosität. Die späteren „Imaginary Landscapes“ (Imaginäre Landschaften) sind zwar auch sichtlich einer fiebrigen Unruhe abgerungen, wirken aber kontemplativ. Da sehen wir etliche Farb-„Sonnen“ über brodelnden Urgründen aufgehen, als habe der Kosmos das Chaos besiegt und alles Explosive gebändigt. Beruhigt, wie für die Ewigkeit, stehen diese Zentralgestirne weit überm Bildhorizont.

Gottliebs kreativer Drang war schier unstillbar. Rund 3000 Gemälde soll er geschaffen haben. Selbst nach einem Schlaganfall (1970) malte er weiter – vom Rollstuhl aus. Wollte die Hand nicht ruhig bleiben, behalf er sich mit der Tropftechnik. Die Resultate wirken keineswegs hingehudelt, sondern durchaus zwingend. Alles andere als Zufall.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 11. Nov. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 48 DM.




Die nüchterne Schönheit – Essener Ausstellung erkundet Einflüsse des Bauhauses in Nordamerika

Von Bernd Berke

Essen. Als neue Vereinigung der spezialisierten Künste verstand sich das ruhmreiche „Bauhaus“ in Weimar und später in Dessau. Alle Kunstformen sollten, auf der Basis soliden Handwerks, in der Architektur wieder zusammenfinden – fast wie in einer mittelalterlichen „Bauhütte“, doch den Ansprüchen des technischen Zeitalters gemäß.

Das Essener Folkwang-Museum führt nun vor, dass die Entwicklung inhaltlich und geographisch weite Kreise gezogen hat. Am liebsten hätten die Bauhaus-Meister (Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Josef Albers, Laszlo Moholy-Nagy, Paul Klee, Wassily Kandinsky und etliche andere) mit ihren Künsten wohl das gesamte Leben erfasst. Es sollte keine Schnörkel mehr geben, alle Formen sollten sich an die Funktion schmiegen, und zwar in sämtlichen Sparten: Baukunst, Technik, Werbung, Mode, Theater, Fotografie, industrielle Formgebung…

Schon in der Weimarer Republik war das politisch-soziale Klima fürs Bauhaus widrig, es ließe sich da eine wahrhaft dämonische Geschichte von Plüsch-Verlogenheit und Präfaschismus erzählen. Die Nazis vertrieben das Bauhaus 1933 endgültig aus Deutschland. An diesem Wendepunkt setzt die Essener Schau mit über 350 Exponaten an. Sie erkundet den nachhaltigen Einfluss jener Bauhaus-Künstler, die in die Vereinigten Staaten emigrierten.

Beruhigend zweckmäßig oder kühl abweisend

Am Beginn des Rundgangs finden sich einige Objekte und Dokumente aus der Dessauer Zeit, z. B. die berühmten Stahlrohrmöbel von Marcel Breuer, Klee-Gemälde oder ein Textil-Musterbuch – und schon geht es flugs über den großen Teich. Der US-Schwerpunkt der Ausstellung lässt ahnen, wie tiefgreifend die Bauhaus-Lehre in Chicago und New York gewirkt hat. Die gelegentlich Furcht erregenden Fluchtlinien amerikanischer Wolkenkratzer-Architektur lassen sich durchaus beziehen auf Gebäude, die die deutschen Emigranten dort errichteten. Die nüchterne Reduzierung aufs Wesentliche, oft so wohltuend schmucklos und beruhigend zweckmäßig, zeigt hier mitunter ihr anderes, kühl abweisendes Gesicht.

Zahlreiche Arbeiten amerikanischer Bauhaus-Schüler, die etwa im Geiste Mies van der Rohes stadtplanerische Visionen entwarfen, bezeugen direkte Einflüsse. Die Schau hält hier auch Überraschungen bereit: Wer hätte etwa gedacht, dass ein Josef Albers dem späteren Pop-Art-Heroen Robert Rauschenberg erste Wege gewiesen hat? Bekannter ist schon dieses familiäre Gespann: Andreas Feininger, Sohn des Bauhaus-Malers Lyonel, prägte als Bildredakteur e der Illustrierten „Life“ und als Fotograf die ästhetischen Vorgaben auf diesem Felde mit.

Der Essener Baukonzern Hochtief finanziert die Schau und begeht damit sein 125-jähriges Bestehen. Es durfte also einiges kosten, musste aber huschhusch gehen, weil die Idee erst vor einem Jahr aufkam, als Hochtief das Klee-Haus in Dessau restaurierte. So ließen sich Honorare für eine Kölner Designfabrik abzweigen, die die Schau eilends durchgestylt hat. Edel hat man rahmenlose Bilder und Fotos in die Stellwände eingesenkt, die überall umlaufenden Schriftzüge künden von Eleganz. Ob sich die Exponate dadurch besser erschließen, steht aber auf einem anderen Blatt.

„Bauhaus: Dessau – Chicago – New York“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße. 12. August bis 12. November, Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 15 DM, ermäßigt 10 DM, Familie 30 DM. Katalog 50 DM.

 

 




Die Kinder der Revolte machen bruchlos weiter – Das legendäre „Living Theatre“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So kann man’s machen: Auf der Hinfahrt zum Theater den Cassettenrecorder oder Walkman mit Musik der 60er Jahre laden. Mit Stones, Doors, Velvet Underground & Co. Dann ist man emotional ungefähr da, wo das „Living Theatre“ noch heute leibt und lebt: mitten in den Jahren der Revolte.

Die Kinder dieser Zeit machen bruchlos weiter, als sei seit jenen 60ern nichts geschehen. Diesen Eindruck, von dem man nicht recht weiß, ob man ihn verheißungsvoll oder befremdlich finden soll, nimmt man aus Recklinghausen mit. Dort tritt die legendäre New Yorker Theatertruppe bei den Ruhrfestspielen auf. Steckbrief: 1951 von Julian Beck (†) und Judith Malina gegründet, in den 60er Jahren d a s freie Theater überhaupt und eine Mutter der Alternativ-Szene. „Paradise Now“ hieß das bekannteste Projekt, der Aufschrei einer Generation.

Das neue Stück „Rules of Civility“ (etwa: Anstandsregeln) entstand durch Zufall. Bei einem Ausflug kam die Gruppe, die bis heute als Kommune zusammenlebt, in ein Nationalmuseum. Man fand dort eine Broschüre über den US-Gründervater George Washington (1732-1799). Der vermeintliche Erz-Demokrat hatte in 110 Regeln dargelegt, wie er sich das rechte Leben vorstellte. Essenz: Immer schön Respekt vor den Höhergestellten haben. Und immer saubere Fingernägel vorzeigen.

Sonnenklar, daß ein solches Korsett den Nachfahren von ’68 mißfällt. Das „Living Theatre“ zeigt nun, mit recht simplen darstellerischen Mitteln, wie solche Regeln, wenn sie von Menschen gegen Menschen durchgesetzt werden, direkt den menschlichen Körper betreffen, ihn gewaltsam einschnüren, zurichten, zurechtbiegen.

Sie sind so naiv und so schrecklich sympathisch

Die Darsteller schwärmen auch, nach ihrer Gewohnheit, ins Publikum aus und rufen damit Angstlust im Parkett hervor. Alle 110 Paragraphen werden in der englischsprachigen Aufführung zitiert und musikalisch unterlegt, der Präsidenten-Patriarch betritt als Doppel-Figur (Erwachsener und Kind) die Bühne. Hauptrequisit ist eine Ananas, die als Zeichen für Kolonialismus herhält.

Es wäre leicht, sich ironisch über die Sache herzumachen, so naiv bezieht das „Living Theatre“ George Washington auf die Gegenwart. Dessen Regeln, so ruft man uns inbrünstig von der Bühne aus zu, seien Regeln des Krieges — aus ihnen ableitbar sei Amerikas fatale Weltpolizistenrolle. Und alles, was sie uns gezeigt haben, sagen sie auch noch viele Male: All‘ diese Regeln müsse man brechen, dann werde die Welt besser.

Schön war’s ja: Wir alle benehmen uns spontan — und alsbald herrscht Frieden. Man möchte dem „Living Theatre“ seine Botschaft gerne glauben. Die Truppe ist so mit sich im Reinen, geradeaus und ehrlich. Sie sind gewiß nicht die besten Schauspieler, aber sie sind schrecklich sympathisch.

Im Grunde vollführt man ein Schattenboxen gegen Washington. Seine strikten Benimmregeln sind eh längst außer Kraft. Ja, vielleicht brauchen wir gar das Gegenteil: Mehr statt weniger Form im Zusammenleben. Wenn auch nicht im stocksteifen Sinne Knigges oder Washingtons.

Aber der Schluß ist stark: Da ziehen die Leute von „Living Theatre“ in einer Lichterprozession mit dem Publikum ins Freie – zur stillen Meditation. Rund ums „Depot“ hört man nun Vogelstimmen in der Abenddämmerung. Wer weiß: Vielleicht wird doch noch alles, alles gut…




Bizarre Episoden aus der Provinz – „Garp (und wie er die Welt sah“) kommt ins Kino

Von Bernd Berke

Köln. Ein US-Pilot des Zweiten Weltkriegs kommt schwerverwundet ins Lazarett. Medizinische Sensation: Er kann sich kaum noch bewegen, hat aber bis zum Tod eine Dauer-Erektion.

Nach Verstreichen einer kurzen Schamfrist zieht Krankenschwester Jenny Fields Nutzen aus dieser stehenden Tatsache und schenkt bald darauf einem Knaben das Leben. Sie wollte ein Kind, aber keinen Vater. Sie brauchte Samen, aber keine „Wollust“, wie sie das verächtlich nennt. Diesem verwegenen Einfall des Bestsellerautors John Irving verdankt „Garp“ sein Dasein. Die Verfilmung „Garp (und wie er die Welt sah)“, ein schon 1982 verfertigtes Werk von George Roy Hill („Der Clou“), kommt ab morgen in unsere Kinos.

Mutter Jenny und Sohn Garp sind zwar ein wenig „anders als die Anderen“, sprich anders als die weiße Mittelschicht in der tiefsten US-Provinz; doch wo etwa David Lynchs Film „Blue Velvet“ in eben diesem Milieu wahrhaft erschreckende Abgründe aufriß, bleibt die „Garp“-Verfilmung ein Kuriositäten-Kabinett. Was im Buch detailreich ausgeführt wird, ist hier herbeigezerrte Episode. Für Zusammenhalt in der diffusen Lebensgeschichte sorgen da nur jene seltsamen Wiederholungen: Eine Dirne taucht unvermittelt in verschiedensten Zusammenhängen auf; ein häßliches und neidisches Mädchen macht Garp – im Zehnjahresabstand zwischen Doktorspiel und Jugendliebe – mehrfach bei erotischen „Gehversuchen“ Schwierigkeiten.

Nachdem Garps Pubertät, die hier praktisch nur aus Sexualnöten besteht, überstanden ist, fangen Jenny und er aus heiterem Himmel an zu schriftstellern. Sie verfaßt eine Feministinnen-Bibel gegen die ekle männliche Wollust, er furchtbar traurige Kurzgeschichten. Sie gründet ein Asyl für vergewaltigte Frauen (einige haben sich zu Ehren eines geschändeten Mädchens die Zungen herausgeschnitten). Guter Geist des Hauses ist ein Transsexueller, Ex-Sportskanone, nun aber Frau aus ganzer Seele. Freizeit-Ringkämpfer Garp (liebenswert dargestellt von Robin Williams) gründet auch etwas: eine Familie.

Und so reiht sich, 131 Minuten lang, eine gewollt-bizarr wirkende Episode an die andere. Nicht alle Szenen sind übel, aber sie ergeben keinen Film, den man empfehlen müßte. Vielfach wird es geradezu zwanghaft anzüglich, z. B. wenn Garps Frau, Lehrerin von Beruf, mit einem ihrer Zöglinge fremdgeht. Der steht auch im Auto auf „oral“ – bis der harte Ruck bei einem Auffahrunfall ihm das ein für allemal verleidet.

Der zum Vorspann laufende Beatles-Song „When I’m SixtyFour“ (Wenn ich 64 bin) kann hier nur als Ironie verstanden werden. Die Hauptpersonen sterben plötzliche und gewaltsame Tode. Im Film wirkt das wie ein schlecht motivierter Wutanfall gegen die Figuren.




Als Michelangelo für Rock-Stars werben musste – einschlägige Plakatsammlung in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wer heute zwischen 25 und 35 ist, erlebt zunehmend häufiger, wie seine Jugendjahre bereits der Historie zugeschlagen werden. An diesem Vergessens- und Erinnerungsprozeß nimmt jetzt auch die Kunsthalle Recklinghausen teil – mit einer für die Bundesrepublik bislang beispiellosen Ausstellung von 350 Plakaten zur Rock-Musik der 60er Jahre. Selbst US-Museen beginnen dieses Genre eben erst zu entdecken.

Die seit 1972 „tätigen“ Sammler Tomm Klatt (Recklinghausen) und Rainer Knorr (Neubeckum) haben sich auf Plakate von der US-amerikanischen Westküste konzentriert. Daher ist die einschlägige Produktion hier fast komplett beisammen. So gut wie alle mittlerweile legendären Namen, die damals den West Coast-Sound prägten, kommen vor: Allen voran „The Grateful Dead“. Im Umkreis dieser großen Rock-Family hat sich offenbar das größte graphische Potential entfalten können. Auch jeder weitere Name ein Mythos: Jefferson Airplane, The Byrds, The Doors, Frank Zappa and the Mothers of Invention, und so fort. Schließlich zergehen auch die Veranstaltungsorte etwa „Fillmore West“ und „Avalon Ballroom“ in San Francisco Eingeweihten auf der Zunge.

So sehr die Ausstellung auch Lust auf die passende Musikbegleitung macht (vielleicht wird sie gar geliefert?), geht es doch in erster Linie um optische Aspekte. Die Pop-Graphiker (z.B. Wes Wilson, Victor Moscose) haben in nahezu allen Epochen der Kunstgeschichte produktiv gewildert. In Eigentumsfragen lax, machten sie ihre Inspirationsquellen in den wenigsten Fällen kenntlich. Die Herkunft der Motive war denn auch offensichtlich genug: Wenn eine altägyptische Szene für ein Konzert von „Jefferson Airplane“ in San Francisco wirbt, wenn sich Franz von Stucks Jugendstilbild „Die Sünde“ oder Michelangelos nackte Adam-Figur inmitten der grellbunten Pop-Elemente wiederfinden, dann verschwimmt die Grenze zwisehen „Hoch“- und „Gebrauchskunst“.

Eine dominierende Rolle spielen psychedelische, wohl nicht selten im Drogenrausch erzeugte, pflanzenartige Windungsformen und explosive Farbzusammenstellungen. Auch die vibrierenden Augentäuschungen der Op-Art sind immer für Effekte gut, besonders in Leuchtfarben. Oft wird auf Mythen der amerikanischen Pionierzeit angespielt – Goldgräber, Indianer, Cowboys. Aber auch US-Mythen der Neuzeit werden zitiert, indem z. B. Disney-Figuren als Gitarren-Freaks abgebildet werden.

Erstaunlich, daß viele Exponate der eigentlichen Funktion eines Plakatanschlags, eingängig zu sein, diametral zuwiderlaufen. Überraschend schon die kleinen Formate, die überwiegend unserem „DIN A 2″ entsprechen. Vielleicht wollte man Papier sparen. Nur im Kontext jener Jahre ist hingegen verständlich, daß oft die Namen der Gruppen im optischen Gestrüpp „versaufen“. Mögliche Schlußfolgerung: „Man“ stand unter Drogen – und es war zweitrangig, wer die Musik dazu machen würde…

Man hätte die Plakate nach Bildelementen (typisch etwa die Skelette und Totenköpfe, nicht nur bei „Grateful Dead“ – den „Dankbaren Toten“) oder nach Rock-Formationen geordnet hängen können. In Recklinghausen hat man sich für die zeitliche Abfolge entschieden, folglich wird die Fülle der Plakate kaum strukturiert. Aus Etatgründen fehlt leider auch ein Katalog, der leicht eine Pioniertat hätte werden können.

Die Ausstellung, für Rock-Fans nahezu ein „Muß“, ist ab Sonntag bis 30. September zu sehen (Öffnungszeiten: di-fr 10-18 Uhr, sa/so 11-17 Uhr). Sie wird passend ergänzt durch Pop-Graphik (Warhol, Wesselmann, Lichtenstein & Co) aus dem Eigenbesitz der Kunsthalle.