Alle Gefühle zeigen, aber keines festhalten – Uwe Dag Berlin inszeniert Goethes Drama „Stella“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Auf der Bühne stehen ausgestopfte Hühner. Ganz allerliebst und wie von Geisterhand bewegt, zuckelt nun eine kleine Spielzeugkutsche quer über die Szenerie. Soll das etwa heißen: Goethe und die Welt seiner „Stella“ sind weit von uns entfernt, sie wirken nur noch niedlich?

Oh, nein. Das putzige Eingangsbild ist wohl nur eine Anspielung auf die etwaige Neigung, den Stoff als „erledigt“ zu betrachten. Plötzlich brandet in Uwe Dag Berlins Bochumer Inszenierung des Dreiecks-Dramas Autolärm auf. Zwischen den Szenen ertönt fortan Furcht erregend das Geräusch dumpfer Schläge. Hier herrscht Verstörung, nicht Verniedlichung. Und der Konflikt ist ganz von heute: Mit dem historisch noch gar nicht so alten Konzept einer „romantischen“ Liebe samt lebenslanger Treue plagen wir uns noch.

Hysterisch verkichern Madame Sommer (Friederike Kammer) und Tochter Lucie (Susanne Weber) ihre ersten Sätze. Ihre gewiss geröteten Augen verbergen sie hinter Sonnenbrillen. Vor Jahren hat Fernando (Horst Kotterba) beide, hat Weib und Kind verlassen. Jetzt soll Lucie Gesellschafterin bei jener „Stella“ werden, die als Geliebte vom selben Manne dasselbe Schicksal erlitten hat. So treffen also deren Mutter und Stella zusammen, die beiden Liebesversehrten.

Alsbald stellt sich auch der halbwegs reuige Fernando ein, Urheber des Unglücks. Und es erhebt sich die Frage: Ist ein Liebesglück zu dritt denkbar? Auf der im Geiste der Minimal-Art sparsam möblierten, gleißend weißen Bühne (Entwurf: Annette Murschetz) entsteigt Fernando einem Schrankkoffer. Aus dem Spalt lugt er mit schlechtem Gewissen ins Gelände. Derweil haben sich die verlassenen Damen (in sanfte Selbsterfahrungsgruppen-Farben zwischen Orange, Pink und Violett gehüllt) frauenbewegt verschwistert. Auch das wirkt nur wie ein flüchtiges Spiel.

Ist dauerhaftes Liebesglück zu dritt denkbar?

Die Aufführung flimmert zwischen Nähe und Distanz zur Textvorlage. Mal drückt Stella (man sieht ihr atemlos zu: Steffi Kühnert) das ganze Weh aus, dann wirft sie unvermittelt Satzkaskaden im pragmatischen oder gar abgebrühten Tonfall hin. Ähnlich changieren die anderen Figuren. Es sind keine ausgeformten Charaktere, sondern gleichsam Menschen und Haltungen auf Probe – oder auch postmodern zersplitterte Seelen, nicht so recht fassbar. Sie kennen alle Gefühlsstufen, können alles vorführen, aber nichts festhalten.

Es scheint, als trauten Regie und Darsteller Goethe nie ganz über den Weg, als fühlten sie sich aber doch in den Bann gezogen. Man tastet sich wachsam heran und bekommt so viel mehr Nuancen in den Blick, als wenn man textfromm vorginge. Also erleben wir die Spiegelungen hoffnungsloser Abhängigkeit, das gelegentlich Debile in der Liebe, alle Bitterkeit des Verlassenseins, aber auch den fahrigen, fast unbeteiligten Umgang mit derlei Regungen.

Einmal platziert Stella jenen Fernando wie ein fragwürdig gewordenes Idol auf einen Drehteller, wo er zu fern verwehenden Grammoption-Klängen rotiert wie eine Porzellanfigur. Zunächst gibt’s Gelächter im Publikum. Doch diese Szene dauert an – und setzt zunehmend eine elegische Stimmung frei. Ein Bild, in dem man sich verfängt.

Für den Dreier-Konflikt gibt es keine eindeutige Lösung: In Bochum spielt man mit der Pistole Russisches Roulette, doch niemand kommt zu Tode wie in Goethes Zweitversion (1805). Sodann folgt Goethes Schluss von 1776: Beide Frauen wollen mit Fernando und miteinander leben. Fernando grunzt zufrieden, doch in seinem Laut kündigt sich schon neues Unglück an.

Langer Beifall für alle.

Termine: 25., 27. Nov., 8., 19. Dez. Karten: 0234/3333-111




Uferlos schwappt die Gewalt herüber – Sarah Kanes ultrahartes Theaterstück „Zerbombt“ im Bochumer „ZadEck“

Von Bernd Berke

Bochum. Dies zur Warnung gleich vorweg: Sarah Kanes Theaterstück „Zerbombt“ beschwört das nackte Grauen herauf. Da wird ein totes Baby verspeist, und einem Manne werden bei lebendigem Leibe die Augäpfel aus dem Kopf gebissen. Hier müßte man eigentlich schon verstummen.

Ein paar Dinge gibt’s aber noch zu sagen über die Aufführung (Regie: Uwe Dag Berlin) im „ZadEck“, dem Kellertheater unterm Bochumer Schauspielhaus. Sarah Kane, die britische Autorin, hat sich im Februar mit nur 28 Jahren das Leben genommen. Bochum hat daher die Premiere zeitlich vorgezogen. Freitod verleiht einen Nimbus…

Der englische Zeitungsreporter lan (Steve Karier), Mittvierziger, Ausländerhasser, unheilbar lungenkrank und zuständig für Berichte über widerliche Sexualstraftaten, haust im Hotel mit der viel jüngeren Gate (Elena Meissner). Sie lieben einander nicht, scheinen aber miteinander verkeilt auf Gedeih und vor allem Verderb. Denn keiner von beiden flüchtet vor dieser schmierig-düsteren Zweisamkeits-Hölle aus Flüchen, Suff, Drohungen, Weinerlichkeit und erbärmlich erzwungenem Sex, bei dem Gate wie eine Gummipuppe benutzt wird.

Von Trieb-Abfuhr müßte man hier reden, so wie man von Müll-Abfuhr spricht. Wenn lan mit seiner Pistole fuchtelt, antwortet Gate reflexhaft: „Drück doch ab! Erschieß mich!“ Nähe als Nahkampf. Die Gewalt ist also schon da, sie wird nur noch gesteigert: In dieses Hotelzimmer-Schlachtfeld bricht (verkörpert durch einen Soldaten – Peter Jordan) ein veritabler Kriegszustand herein, und zwar so heftig, so form- und uferlos, daß es hirnzerstäubend surreal wirkt.

Kern des 1994 verfaßten Stückes: Die Greuel in Bosnien (wir setzen hinzu: im Kosovo) können überall hinschwappen. Merke: Ein Herzstück der Gewalt, die uns überflutet, sitzt in uns selbst.

Theater als moralische Anstalt? Nein! Theater zum Tode. Das Stück nennt und zeigt nicht nur kaum vorstellbare Aggressionen, es weckt auch welche. Diese richten sich nicht nur gegen Zustände der wirklichen Welt, sondern auch gegen die Autorin oder das Theater, die uns derlei zumuten.

Verdacht eins: Sarah Kane, die den Text nach TV-Nachrichten aus Bosnien schrieb, hat sich wehrlos in den Sumpf der Sinnlosigkeit ziehen lassen. Kurzschlüssig, ohne begriffliche Anstrengung, hat sie Britannien mit Bosnien überblendet und die schlimmsten Phantasien lediglich angehäuft. Verdacht zwei: Die Theater glauben solche Stoffe zu brauchen, um die Generation der Horrorfilm-Konsumenten zu erreichen. Doch bei steigendem Härtegrad droht Abstumpfung.

Die Schauspieler machen – wie so oft – alles mit: Röchelnd und würgend, die Worte oft hervorkotzend, wühlen sich die drei Darsteller tief hinein ins schier ausweglose Elend. Sie flößen einem aber nicht nur Angst und Ekel ein, sondern lassen – fast unglaublich – in gewissen Momenten etwas anderes aufscheinen: Verletzlichkeit. Reste zerfetzter Zärtlichkeit gar. Hier erfüllt sich vielleicht ein Anspruch der Autorin, die in der schlimmsten aller Weiten noch Zeichen der Hoffnung aufspüren wollte. Doch es sind nur Spuren. Und Sarah Kane selbst haben sie nicht mehr genügt.

Ein ohnmächtiger Abend, nach dem entsetztes Schweigen passender als Beifall wäre.

Termine: 5., 15., 29. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Shakespeare-Premiere mit Drehwurm und „Stinkefinger“ – Leander Haußmanns harsche Reaktion auf Buhrufe in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Hat man so etwas schon erlebt? Da kassiert das Ensemble seinen Beifall und holt nun den Regisseur auf die Bühne: Leander Haußmann, Intendant des Bochumer Schauspiels. Der muß einige Buhrufe einstecken. Und wie reagiert er? Er zeigt den Vogel, reckt sodann einen „Stinkefinger“ in Richtung der vorderen Publikumsreihen und geht brüsk ab.

Welch ein Kerl! Fürs gleiche Verhalten ist der Fußballer Stefan Effenberg jahrelang aus der Nationalmannschaft verbannt worden. Fragt sich, von wem man mehr Souveränität, Reife und Stilgefühl erwarten sollte – von einem Kicker in seinen Zwanzigern, oder vom bald 40jährigen Chef einer ruhmreichen Bühne.

Gespielt wurde auch, und zwar Shakespeares „Viel Lärm um nichts“. Es war jene große Produktion mit fortgeschrittenen Schauspielschülern, die in Bochum gute Tradition hat. Die berühmte Komödie handelt vorwiegend von zwei Paaren: Graf Claudio und die schöne Hero lieben einander sogleich, werden aber durch gemeine Ränkespiele zunächst am Glücksgenuß gehindert. Edelmann Benedikt und Heros Cousine Beatrice wehren sich scharfzüngig gegen jede Gefühlsanwandlung, werden aber (gleichfalls auf intriganten Wegen) dann doch zueinander gedrängt.

Bevor sich diese Verhältnisse herauskristallisieren, erleben wir erst mal das kollektiveVorspiel. Merke: Die böse Gesellschaft behauptet ihren Vorrang, sie mischt sich in alle „privaten“ Dinge. Männlein und Weiblein noch strikt wie in einer Schlachtordnung getrennt, ergeht sich die junge Truppe in Gruppen-Übungen, die Merkmale der schauspielerischen Ausbildungsgänge tragen. Welche Lektionen haben sie gelernt? Beispielsweise den Umgang mit Fechtgerät und die sichere Einteilung des knappen Bühnenraums: Auch wenn alle durcheinander wuseln, darf keiner den anderen ungewollt anrempeln.

Der Reigen des Begehrens wird zum Totentanz

Die Bühne rotiert so ausgiebig, daß man schon vom Zuschauen fast einen Drehwurm bekommt. Doch der technische Trick weitet den Blick. Sinnfällige Simultan-Geschehnisse tun sich auf: Sah man gerade noch ein geil sich wälzendes Paar, so saust schon – wusch! –  die Szene vorbei, in der eine einstmals Geliebte gewürgt wird. Der Reigen des Begehrens als Totentanz. Hübsche Groteske: Auf dem Karussell erhebt sich ein Gehäuse (Bühnenbild: Alex Harb), durch dessen viele Türen Betrüger und Betrogene mitunter wie von Sinnen stolpern.

Diese Inszenierung (Ko-Regie: Leander Haußmann, Uwe Dag Berlin) sucht uns stets über Zusammenhänge zwischen Sex und Tod, Gier und Vergänglichkeit auf dem laufenden zu halten. Lustgott Cupido (längst kein Schüler mehr, sondern gestandener Darsteller: Steffen Schult) gibt hier den melancholisch singenden Mahner. Nichts Fleischliches ist von Dauer. Nun ja, Derlei Einsicht hat begrenzte Leuchtkraft, sie erlischt rasch zur Allerweltsweisheit.

Claudia (Lucas Gregorowicz) kehrt anfangs aus dem Kriege heim und sehnt sich nach der Liebe. Doch Liebe ist hier just ein anderes Wort für Krieg. Bescheidwisser von heute inszenieren solchen Befund freilich nicht nur trübsinnig, sondern in einer flackernden Mixtur aus Schwermut, Überdruß und Unernst, der oft eher albern als komisch wirkt.

Trivialmythen fließen umstandslos ein: Fürst Don Pedro (Uwe Eichler) tritt auf wie ein Bruder von Guildo Horn, Beatrice (Yvon Jansen) und Benedikt (auffallend, das könnte „mal einer werden“: Benjamin Höppner) hocken schon mal da, als hätten sie sich bei einer kieksenden „Herzblatt-Show kennengelernt.

Trotz solcher Gags hat der fast dreistündige Abend ein paar arge Längen. Das Ensemble hält sich insgesamt wacker, scheint aber mehr auf körperliche Ausdruckspräsenz denn auf Sprechkultur trainiert zu sein. Doch das eine oder andere, gar zu nachdrückliche Über-Agieren wird sich im Laufe des langen Bühnenlebens wohl noch geben…

Termine: 2., 6., 11., 13. Februar. Karten: 02 34/3333-111.




Zerrüttung und Wahn – einst und jetzt / Uwe Dag Berlin inszeniert Hauptmanns „Einsame Menschen“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was tun diese drei Frauen denn bloß? Sie schlagen um sich, als wollten sie ungute Träume wie lästige Insekten verscheuchen, dann reden sie wirr verhuscht aneinander vorbei, beziehungslos vor sich hin. Das soll also der Beginn von Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ (1890) sein? In Bochum, wo jetzt Uwe Dag Berlin das Drama inszenierte, glaubt man’s anfangs kaum.

Geräumiges Landhaus am Müggelsee bei Berlin. Hierhin hat sich der Philosoph Johannes Vockerat (Martin Olbertz) samt Gattin Käthe (Annika Kuhl) und Baby zurückgezogen, um sein denkerisches Werk zu verrichten. „Sich einmummeln“ nennt die biedere Käthe das – in eher schaurigem als wohligem Vorgefühl. Und es wird ja auch nichts draus. Kaum taucht die Studentin Anna (Annemarie Knaak-Tiefenbacher) als Gast des Hauses auf, ist die Ruhe hin, und das Herz wird schwer. Johannes verliebt sich, sozusagen erst in ihren freien Geist, dann überhaupt in die Frau. Der Rest ist schlimmste Familien-Zerrüttung, Selbstmord, Wahnsinn.

Am Anfang toben und tollen sie durch den Text

In Bochum taumeln diese Menschen oft in größtmöglicher Distanz dahin. Manchmal brauchen sie gar Ferngläser, um die anderen noch wahrzunehmen. Furchtbar vereinzelte Leute eben. Wenn gegen Schluß des langen Abends ein Titel der Gruppe „Ton Steine Scherben“ („Alles, was uns fehlt / Ist die Solidarität“) aus den Lautsprechern dröhnt, so klingt das wie bittere Wahrheit, trostloser Hohn und hohle Phrase zugleich.

Ein gar finsteres und sprachlich schroffes Stück, das freilich in Bochum zunächst hell bis grell aufleuchtet. Vor roten Tapeten, zwischen umgestürzten Stühlen und unterm bezeichnenden Bildnis zweier Wissenschafts-Patriarchen (Bühnenbild: Hamster Damm) werden weite Teile der ersten Hälfte verjuxt, man tobt und tollt durch den Text.

Mit manisch wiederholten Gesten, von denen sie ganz beherrscht werden, stürmen die Figuren nach und nach die Bühne. Sie brüllen sich was von den Seelen. Groteske Witzfiguren. Hauptmann, so fürchtet man, wird zum Gaglieferanten fürs frei improvisierende Slapstick-Theater degradiert. Sehen und staunen im Kicher-Kabinett, vor allem die Manner sind ziemlich gaga: Der alkoholgierige Pastor (Heiner Stadelmann) würgt am Hals einer Weinflasche, die er zu tief in den Mund eingeführt hat.

Fein gesponnenes Verhältnis des Stoffs zu unserer Gegenwart

Johannes‘ Vater schnarrt immer mechanisch „Tja-Tja“ und ist so wenig bei Sinnen wie sein grüblerischer Sohn, der sich auch schon mal jaulend in den Teppich einwickelt.

Mag sein, daß es bei all dem mächtigen Proben Spaß gegeben hat, dessen Reste zur Premiere nur noch nicht ganz abgeschüttelt sind. Denn es entwickelt sich ja ganz anders. Die dreieinhalbstündige Inszenierung ergeht sich zunehmend in leiseren Momenten; sie spürt nun, da der Trubel gemindert ist, wirklich aufmerksam dem Schmerz der Personen nach und gewinnt frappierend an Nuancenreichtum. Und zwar auf zeitgemäße Weise: Aufgefächert werden nicht nur die Leiden der Eifersucht, sondern auch gesellschaftliche Zwänge („Frauenfrage“, wie man seinerzeit sagte).

Man merkt durchaus, daß der Text mittlerweile historisch ist, aber die Inszenierung legt – aufs Ganze gesehen – recht behutsam Schichten neueren Erlebens darüber. Ohne Jahrzehnte des Selbsterfahrungs-Kults, politischer Revolten oder auch die Tics der Computer-Generation wäre sie so nicht denkbar. Respekt vor dem Ensemble, das mehrere zeitliche Ebenen und Gefühlslagen sinnfällig überblenden kann!

Und so wird Hauptmanns letztlich doch nicht verkaspert, sondern in ein fein gesponnenes Verhältnis zu unserer Gegenwart gesetzt. Manche sagen, daß Theater genau dazu da seien. Der frenetische Beifall prasselte lang.

Termine: 5., 18., 23. und 26. Dezember. Karten: 0234/3333-111.