Kraftvolle „Hamletmaschine“ in Dortmund

Die Hamletmaschine

Hamlet (Sebastian Graf) salutiert vor Heiner Müllers Text. Foto: Birgit Hupfeld

Schwarz gewandete Totengräber weisen dem Publikum den Weg zu den Plätzen. „Willkommen in der Maschine“, raunt es bassig.

Im Vordergrund liegen schwarz gekleidete Menschen auf- und übereinander, im Hintergrund steht ein Totengräber am golden glitzernden DJ-Pult. Heiner Müller ist tot – aber was passiert mit seinem Text, seinen Ideen? Sie bleiben, werden aber neu gesampelt und mit neuen Unter- und Obertönen versehen – so die musikalische Umschreibung der Idee hinter der „Hamletmaschine“, die am Sonntag im Studio des Dortmunder Schauspiels Premiere hatte.

Man kann sich Heiner Müllers Stück aus dem Jahr 1977 vorstellen wie eine Collage aus Monolog-Fragmenten, gesprochen von zwei Figuren, die ebenso Hamlet und Ophelia sind wie die Schauspieler, die Hamlet und Ophelia spielen. Das neunseitige Stück ist trotz seiner Kürze eine gigantische Referenz-Maschine, ein hoch verdichteter Text über Kapitalismus und Sozialismus, Familie und Krieg, die kranke Gesellschaft und die Möglichkeiten des Theaters in ihr. Regisseur Uwe Schmieder, Ensemble-Mitglied am Dortmunder Schauspiel, mixt diesen Text nun neu zusammen, ergänzt ihn um weitere Texte Heiner Müllers und inszeniert diese Hamlet-Müller-Maschine mit dem und für den 50-köpfigen Dortmunder Sprechchor. Das Ergebnis ist Kraft, Rhythmus, pure Energie.

Der Dortmunder Sprechchor. Foto: Birgit Hupfeld

Der Dortmunder Sprechchor. Foto: Birgit Hupfeld

Das Publikum wolle „immer nur verstehen, nie eine Erfahrung machen“, ärgert sich Regisseur Schmieder im Programheft – eindeutig verstehen lässt sich Heiner Müllers Text allerdings auch nach eingehender Beschäftigung kaum, zumindest nicht endgültig. „Es gibt keine Lösung! Das ist die Lösung!“, ruft der Sprechchor den Zuschauern minutenlang eindringlich zu.

Die „Hamletmaschine“ ist die Wutrede eines Suchenden, so versteht sie Schmieder und so bringt er sie auf die Dortmunder Studiobühne. Die Regie setzt auf ein sinnliches Erlebnis, das einen durchrüttelt und involviert. Zwischen Bühne und Publikum gibt es keine klare Abgrenzung, kaum ein Entrinnen für die Zuschauer (Bühne: Jennifer Schulz, Udo Höderath, Birgit Rumpel). Der Musiker am DJ-Pult erzeugt live mit allerlei Gerätschaften Klänge, elektronisch und mechanisch: Es wirkt, als setze Ole Herbström mit seinen Obertönen und Vibrationen, Einspielern und Klangeffekten die Maschine immer wieder neu in Gang.

Ophelia (Merle Wasmuth) mit Mitgliedern des Sprechchors. Foto: Birgit Hupfeld

Ophelia (Merle Wasmuth) mit Mitgliedern des Sprechchors. Foto: Birgit Hupfeld

Dem Zuschauer bieten sich immer wieder Anknüpfungspunkte, in den Text und seine Themen einzutauchen – sei es die Kritik am Kapitalismus („Heil Coca Cola!“), seien es die Gedanken zu Aufständen und Revolutionen, die Heiner Müller mit Blick auf den ungarischen Volksaufstand 1956 schrieb und die Schmieder assoziativ mit der Ukraine heute verknüpft.

Packend Merle Wasmuth als Ophelia: Wie eine soeben dem Fluss entstiegene Wasserleiche, mit noch nassen Haaren und verlaufener Wimperntusche, ist sie bald die über-empfindsame, hysterische, vom Schmerz an der ewigen Wiederkehr des Bösen gepeinigte Welt-Mutter, um dann mit Hamlet-Darsteller Sebastian Graf nonchalant über das Theater heute zu scherzen: „Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand.“

Der Sprechchor, den das Schauspiel als „17. Ensemblemitglied“ bezeichnet, ist in der Tat genau das: ein elementarer Bestandteil dieser Inszenierung. Die pure Präsenz der 50 Mitglieder macht einen Gutteil dieses kraftvollen Theaterabends aus. Der Chor singt, schreit, weint und klagt, die Mitglieder kriechen und kauern auf dem Boden, sie tanzen im Stroboskop-Licht und marschieren im Rhythmus des Textes. Vor allem aber sprechen sie wie aus einem Mund, sorgfältig und exakt einstudiert – eine enorme Leistung mit enormer Wirkung.

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Radikale Rebellin

Tische und Stühle sind von einer Staubschicht bedeckt, die vor Beginn abgefegt wird – merke: ein Klassiker wird entstaubt. Das Arrangement der kargen, mit Plastikblumen geschmückten Tische erinnert an eine Podiumsdiskussion (Bühne: Kathrine von Hellermann). Merke: Hier wird etwas verhandelt. Charlotte Zilm bringt im Dortmunder Studio Sophokles’ Antigone auf die Bühne. Sie zeigt ein Stück mit einigen Knall-Effekten – spannend, kurzweilig, bilderstark. Ein wenig auf der Strecke bleibt dabei die psychologische Feinzeichnung.

Antigone (Uta Holst-Ziegeler) beweint den Bruder (Sebastian Graf). Foto: Birgit Hupfeld

Der tote Ödipus-Sohn Polyneikes darf nach dem Willen seines Onkels Kreon nicht bestattet werden. Halbnackt und blutig liegt er auf der Bühne, und mit blutigen Händen setzt sich Kreon (Uwe Schmieder) als neuer König von Theben die Krone auf. Antigone (Uta Holst-Ziegeler) leistet als einzige Widerstand: Sie bestattet den Bruder und nimmt dafür den Tod in Kauf. Diese Antigone ist eine Rebellin voller Wut und Aggression. Als sie das Bestattungsverbot vernimmt, ballt sie die Faust und zerdrückt dabei die Flasche in ihrer Hand wie ein Blatt Papier – diese Frau steht unter Strom. Nicht einen Moment der Schwäche erleben wir bei ihr: Aufrecht und angstfrei ist ihre Haltung bis zum Schluss, unbeugsam blickt sie ihrem Onkel und ihrem Tod ins Gesicht. „Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da“ – ihre berühmten Worte spricht sie langsam und voller Zorn, mit dem Zeigefinger gegen Kreon gerichtet. Der Monolog vor ihrem Selbstmord – Antigone schießt sich in den Kopf – ist dann auch kein Klagelied, sondern eine brüllend vorgetragene Anklage, aufrührerisch und aggressiv. Eine Gotteskriegerin, deren Haltung weniger auf eine gefestigte innere Moral denn auf militanten Fundamentalismus schließen lässt.

Kreon (Uwe Schmieder) setzt sich vor Antigone (Uta Holst-Ziegeler) die Krone auf. Foto: Birgit Hupfeld

Kreon ist ihr machtbesoffener, leicht sadistischer Widerpart. Was ihm im Vergleich zu Antigone an Körpergröße fehlt, kompensiert er durch sein übergroßes Ego. In breitbeiniger Macho-Pose sitzt er auf dem Thron, leer sein Bier auf Ex und sucht vergeblich Männerbünde gegen „diese Weiber, die man in Fesseln legen muss“. Mit Auftritt des Sehers, der Kreon warnen will, wird des Königs Wahn offenbar. In der Dortmunder Inszenierung ist der tote Polyneikes (Sebastian Graf) der Seher: Die Leiche wird in Kreons Armen lebendig, nimmt den König auf den Arm und scheint als Über-Ich zu Kreon zu sprechen. Das Ende bleibt offen: Während bei Sophokles der Tod seines Sohnes und seiner Frau Kreon zum Umdenken bewegen, gibt es in Dortmund nach Antigone keine weiteren Toten. Am Ende steht Kreon vor einer Entscheidung.

Der Diktator mit Realitätsverlust und die radikale Rebellin – zwei gut gespielte Figuren, deren Zeichnung zwar keineswegs abwegig, jedoch etwas eindimensional ist. Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck). Ein Überraschungscoup gelingt der Inszenierung mit dem neuen, 30-köpfigen Dortmunder Sprechchor, der sich plötzlich aus den Reihen des Publikums erhebt und dem Volk eine gut einstudierte Stimme gibt (Christoph Jöde, Mirjam Schmuck).

Weitere Termine: 10. Februar, 22. Februar, 10. März

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)