Das Begehren in den Zeiten der Krise – Uwe Timms Roman „Vogelweide“

Auf der deutschen Nordsee-Insel Scharhörn lebt nur ein einziger Mensch, nämlich ein Vogelwart. Genau auf diesen Außenposten hat sich Eschenbach zurückgezogen, die männliche Hauptfigur in Uwe Timms neuem Roman „Vogelweide“. Von hier aus wird weitschweifig rückblickend erzählt.

Durch wirtschaftliche Wechselfälle hat der Mittfünfziger Eschenbach ein paar Jahre zuvor seine einst gut gehende Berliner Softwarefirma verloren, in der man alle denkbaren Abläufe hat beschleunigen und optimieren wollen. Das Ende einer solchen Unternehmung ist schon per se vielsagend. Da platzt sozusagen eine neoliberale Blase, wenn nicht gleich eine ganze Weltanschauung.

9783462045710_10

Die Krise vertieft sich ins Existenzielle, als Eschenbach (von Haus aus eigentlich Theologe!) seine große Leidenschaft verliert. Jene Kunstlehrerin Anna war zuvor mit dem Architekten Ewald liiert, Eschenbach selbst mit der Silberschmiedin Selma. Man traf sich zu viert. Beide Paare lebten in gutsituierter Zufriedenheit, ja Sättigung. Als erst einmal das maßlose, unabweisbare Begehren entfacht war, konnten Eschenbach und Anna für eine Zeit nicht mehr voneinander lassen – bis Annas Schuldgefühle als Ehefrau und Mutter überwogen. Schnitt.

Wenn man diese Vorgaben hintereinander liest, so hört sich das ebenso altbekannt wie angestrengt ausgedacht an, wie aus dem Baukasten gefügt. Gar zu umständlich, durchreflektiert und druckreif gezurrt klingen denn auch manche Dialogpassagen in diesem Buch, dessen Autor sich immer wieder kleine Abschweifungen gestattet, als sei er zwischendurch das lineare Erzählen leid. Insgesamt ist dies aber ein konventionell konstruierter Roman.

Geld weg, Job weg, Frau weg. Der alte Blues. Sodann die Flucht von Berlin auf die einsamste deutsche Insel: der alte Mann und das Meer. Auch sinnreiche Lebensentwürfe für ein würdiges Alter (Eschenbachs linksgerichtete Eltern sind in einen Alten-WG gezogen) bilden einen Themenstrang des Romans. Man muss ja nicht gerade als Hippie-Veteran enden.

Im Kern geht es darum, das schiere Begehren gegen alle Berechnungen zu bewahren. So will eine Meinungsforscherin (seltsam herbeigezerrte Persiflage auf die Altvordere Elisabeth Noelle-Neumann) den Software-Fachmann Eschenbach gewinnen, um im Sinne von Internet-Partnerbörsen die Glückschancen algorithmisch auszuloten. Alsbald steigt er aus dem Projekt aus. Überhaupt hat er begonnen, zielgerichtete Planungen zu verabscheuen, die nach seinem Empfinden doch eines Tages im Chaos enden werden. Und also ist vieles im Schwinden begriffen. Von Sprachverlusten ist vielfach die Rede, von bedrohten Völkern und Idiomen. Und überhaupt. Was hat Bestand?

Nun also das karge Eremitendasein auf Scharhörn. Ringsum die rauhe Meeresnatur. Abstand von allem. Inventur. Die Menschen seines Lebens spuken manchmal nachts durchs Eschenbachs Kopf und Kammer. Am Schluss des Romans darf ihn ausnahmsweise Anna noch einmal über Nacht besuchen, die ansonsten längst als Galeristin in Kalifornien lebt. Es wird ein betrüblicher Abschied, für immer.

Wir haben es hier übrigens mit anspielungsreichen Namen zu tun. Eschenbach erinnert – besonders im Hinblick auf dem Titel des Romans – an den mittelhochdeutschen „Parzival“-Dichter Wolfram von Eschenbach. Und der Name „Vogelweide“ führt uns vollends in die Zeiten der Minne. Weit weg jedenfalls aus unserer formlos rasenden, leerlaufenden Zeit.

Uwe Timm: „Vogelweide“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 336 Seiten. 19,99 €.




Uwe Timms „Freitisch“: Frühling der Freiheit

Ich gebe gern zu: Die frühen 1960er Jahre sind bis heute meine Lieblingszeit. Zum einen zählten sie zur eigenen, noch nicht so recht bewussten Frühphase, zum anderen wurden damals all die kleinen Freiheiten noch eher spielerisch erprobt, um die man später so erbittert gestritten hat. Kein Wunder, dass gerade zu dieser Zeit die Beatles aufkamen. Sie haben anfangs so überaus zuversichtlich geklungen…

Warum ich das so ausgiebig darlege? Weil Uwe Timms neue Novelle „Freitisch“ in jenen Jahren spielt und somit bei mir schon vorab einen Extra-Bonus bekommt, ebenso wie der in langen Jahren vertraut gewordene Autor. Das sind natürlich keine genuin literarischen Kriterien, sondern zunächst Sympathiewerte, die jedoch auf Erfahrung fußen. Außerdem liest man auf der Basis von Sympathie einlässlicher als sonst, gleichsam mit weit offenen Nüstern.

Worum geht’s? Um ein studentisches Quartett, das am Beginn der 60er in München allmittäglich just an einem Freitisch beisammen sitzt und die von einer Versicherung gesponserten Mahlzeiten verzehrt. Bei Tisch ergibt sich die eine oder andere Debatte. Der Zahlenmensch mit dem Spitznamen Euler bringt dabei vor allem seine Verehrung für den nach seinem Gusto einzig wahren Autor zum Ausdruck: Arno Schmidt. Um seine Bemühungen, Schmidt einen Besuch im einsamen Bargfeld abzustatten, ranken sich später Legenden. Ein angehender Jurist und ein werdender Schriftsteller (der Schmidts Sprachspiele nicht mag) gehörten seinerzeit gleichfalls zur Tischbesetzung.

Das Buch setzt freilich Jahrzehnte später ein. Tief im provinziellen Osten, in Anklam, hat sich einer der damaligen Freitischler mit seiner norwegischen Frau niedergelassen. Der Studienrat ist inzwischen pensioniert und sammelt antiquarische Reliquien zum rebellischen Jahr 1968 – und zu Arno Schmidt. Sieht also ganz so aus, als sei er den Idealen der Jugend ziemlich treu geblieben.

Bei „Euler“ verhält es sich auf den ersten Blick anders: Er ist ein großer Hecht in der Abfallwirtschaft und will ausgerechnet in Anklam in eine Deponie investieren. Von seinem Termin mit dem örtlichen Wirtschaftsförderer hat der Studienrat und Ich-Erzähler Wind bekommen. Nun treffen sie sich auf einen Kaffee und lassen die Erinnerung schweifen. Allerdings haben die beiden wenig Zeit, denn der Termin im Rathaus steht an.

Trotzdem kommen jetzt die frühen 60er ins Spiel. Die Zeit, als man es noch riskierte, mit dem Kuppeleiparagraphen in Konflikt zu geraten, wenn man ein Mädchen mit aufs möblierte Zimmer nahm. Die Zeit, in der Studenten einander noch nicht duzten und schon gar nicht larmoyant über Beziehungskisten oder Trennungen redeten. Lektüren von Freud bis Reich folgten erst danach. Die Zeit der allerersten Happenings, bei denen etwa ein Klavier mit der Axt zerspalten wird. Die Zeit, über die Euler sagt: „Da ging eben noch alles zusammen, damals: Hasch, Ernst Jünger und die illegale KP.“ Und ein andermal: „War ´ne muntere Zeit, die frühen Sechziger, werden ja immer als langweilig gehandelt. Dabei wurde all der Zunder gesammelt, der dann später achtundsechzig die Feuerchen machte.“

Und so werden denn die Zwiegespräche zur wehmütigen Rückschau auf eine Zeit der Erwartung, der Vor-Bereitung, des Vorscheins. Man sucht auszuloten, was damals reif und unreif war, was verloren ging und was sich im Lichte der Lebenserfahrung ganz anders darstellt. Seinerzeit spannte sich das Denken zwischen Heidegger und Marx aus, jetzt – so ein Lamento – habe man es vorwiegend mit Punks oder Neonazis zu tun.

Das von der Historie vielfach verwundete Anklam erweist sich als heimlicher Hort der unscheinbaren, kleinen Hoffnungen, die man irgendwie am Leben halten muss. Gewiss: Eine Mülldeponie mag Arbeitsplätze dorthin bringen, doch ist sie nur ein Nebenschauplatz. Vielleicht weist ja die schöne List einen Weg, mit der man damals Arno Schmidt düpiert hat und die hier nicht verraten wird.

Ein Hauch von Resignation scheint durch die letzten Sätze des Buches zu wehen, freilich könnte man sie auch als Einleitung zum Aufbruch deuten: „Die Bedienung kam, fragte, darf’s noch was sein. Nein danke. Nur noch zahlen.“

Uwe Timm: „Freitisch“. Novelle. Kiepenheuer & Witsch. 136 Seiten, 16,95 Euro.




Am Fenster sehen Krieg und Frieden völlig anders aus – Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“

Von Bernd Berke

Uwe Timm ist ein Wanderer zwischen den Themen. In „Heißer Sommer“ gab der Autor eine Innenansicht der Studentenbewegung zur APO-Zeit, in „Der Mann auf dem Hochrad“ erzählte er eine circensisch angehauchte Geschichte aus Großvaters Epoche, in „Morenga“ schilderte er Deutschlands Kolonial-Historie. Jetzt bemäntelt er mit einem scheinbar komischen Titel ein ernstes Thema: „Die Entdeckung der Currywurst“ handelt vom Kriege und vom kleinen Widerstand.

Timms namenloser Ich-Erzähler besucht die erblindete Frau Lena Brücker, die er seit seiner Kindheit kennt, in einem Hamburger Altenheim. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg soll sie die Currywurst erfanden haben. Doch Timm spart des Rätsels Lösung auf. Am Ende erweist sich die Sache mit der Wurst als eher beiläufige Münchhausiade.

Tatsächlich hat Lena Brücker ja auch eine viel interessantere Geschichte erlebt. In den letzten Kriegstagen, als schon alles in Schutt und Asche lag, hat sie den Deserteur Bremer in ihrer Wohnung versteckt. Bremer ist verheiratet, sie ist verheiratet. Doch die Ehepartner sind in den Kriegswirren fern.

Natürlich entwickelt sich zwischen Bremer und Lena eine Liebschaft auf Zeit. Nachts das lustvolle Matratzenlager, tags die Angst vor Blockwart und Gestapo, die Bremer um ein Haar aufspüren. Er zittert um sein Leben. Nur um eines muß man sich kaum Sorgen machen. Lena Brücker arbeitet in der Lebensmittel-Verwaltung und kann dort öfter etwas beschaffen.

Deutschland im Jahre „Null“ – eine Groteske

Und plötzlich ist der Krieg vorbei. Lena Brücker schwankt zwischen Freude und Entsetzen. Einerseits: der Friede! Andererseits: Wenn Bremer in seinem Versteck davon erfährt, wird er sie verlassen und zu seiner Familie zurückkehren. Also hält sie gleichsam Zeit und Atem an – und sagt ihm nichts. Sie läßt ihm seinen Irrglauben, nun kämpfe Deutschland gemeinsam mit Briten und Amerikanern gegen die Sowjets…

Bremer, ohne Zeitung und Radio, erlebt die langsame Veränderung des Lebens nur im Blick aus dem Fenster. Diese (sozusagen kleinbürgerliche) Perspektive hat Uwe Timm geschickt gewählt. In solcher Verfremdung und Ausschnitt-Verkleinerung wirken historische Ereignisse wie das Auftauchen britischer Soldaten oder die Entstehung des Schwarzmarkts ganz anders, wie unter einer Lupe. Deutschland im „Jahre Null“ – eine Groteske.

Timm, ein solider, gelegentlich etwas zu routinierter und beflissener Erzähler, übt sich in wirksamer Bescheidenheit. Heutzutage nennen die Verlage Jedes Buch über 100 Seiten ein „Roman“. Hier gibt man sich mit der Bezeichnung „Novelle“ zufrieden. Auch sonst ist das Buch eine zwischen Elegie und Zuversicht schwankende Feier des Unscheinbaren, des Unauffälligen – zumal des kleinen Widerstands kleiner Leute im großen Krieg. Hier werden keine Heiden aufgeboten, um zu zeigen, wie widerwärtig Krieg und Naziherrschaft waren. Komische, fast chaplineske Einfälle hat der Autor. Vielleicht die schönste Stelle: Ein Koch verköstigt die Leute vom Reichsrundfunk so übel, daß sie die angeblichen Triumphe der Wehrmacht am Mikro nur noch mit Würgelauten vermeiden können.

Kein großes Buch. Das will es auch nicht sein. Aber ein lesenswertes. Und schließlich: Wer möchte denn nicht wissen, wie die Currywurst erfunden wurde?

Uwe Timm: „Die Entdeckung der Currywurst“. Kiepenheuer & Witsch. 221S., 29,80DM.