Erlösung ist möglich: Tobias Kratzer lässt in seinem erfrischenden Bayreuther „Tannhäuser“ Raum für die Hoffnung

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des "Tannhäuser" stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Dieses Foto von Enrico Nawrath prägt sich ins Gedächtnis ein und könnte einmal repräsentativ für Tobias Kratzers Bayreuther Neuinszenierung des „Tannhäuser“ stehen: Stephen Gould als Tannhäuser und Elena Zhidkova als Venus. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Muss Erlösung scheitern? In Richard Wagners „Tannhäuser“ in der erfrischend neuen und schlüssigen Inszenierung von Tobias Kratzer in Bayreuth bleibt die Frage weniger offen als andernorts.

Während Tannhäuser und Wolfram von Eschenbach die blutbefleckte Leiche Elisabeths in ihren Armen bergen, öffnet sich auf einer zweiten Ebene ein neuer Horizont. Zu den Erlösungsgesängen des Fernchores ist ein Video zu sehen, das in seiner Ambivalenz zwischen Kitsch und Pathos eine Alternative, eine Utopie oder zumindest eine Hoffnung zulässt. Happy End ist möglich, „Erlösung ward der Welt zuteil“ nicht ausgeschlossen.

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Regisseur Tobias Kratzer. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Damit unterscheidet sich Tobias Kratzers so sinnlich einnehmende wie gedanklich durchdrungene Arbeit von vielen Inszenierungen, deren Regisseure mit Wagners Erlösungsthema wenig anzufangen wissen. Kratzer sieht das Reich der Venus auch nicht wie üblich als Totalentgrenzung des Sexuellen. Das Thema hält er zu Recht für abgearbeitet. Sondern er definiert es viel entschiedener gesellschaftlich: Tannhäuser ist mit einer Gruppe von Außenseitern unterwegs, die körperlich, sexuell, in ihrer Lebensform und im künstlerischen Selbstausdruck „anders“ sind: Ein Kleinwüchsiger und eine schwarze Drag Queen gehören dazu.

Verbunden durch Lebenslust und Lebensgier scheitern die modernen Nomaden schon in der Ouvertüre, als es einen Toten gibt: Bei Benzinklau und Zechprellerei erwischt, überfährt Venus mit ihrem alten Citroën-Kastenwagen – eine Anspielung auf die Performance-Künstlerin Marina Abramović – einen Polizisten.

Das traurige Gesicht des Clowns

Das ist für Tannhäuser „zu viel, zu viel“. Der Sänger im Narrengewand wendet sich von der Truppe ab: Die Tränen im traurigen Gesicht des Clowns, in Großaufnahme auf die Projektionswand der Bühne geworfen, ist unvergesslich – der erste von vielen ergreifenden Momenten. Hinter ihm erscheint eine Ikone der Kunst, die „Venus“ von Sandro Botticelli: die Göttin – ein bloß projiziertes Ideal. Mit einer ähnlichen Bildmetapher brechen Kratzer und sein Bühnengestalter Rainer Sellmaier auch die Begriffe von Romantik und Erlösung auf: Das Zitat von Caspar David Friedrichs „Das Kreuz im Gebirge“ rechnet mit dem Ideal der Romantik ab, rückt christliche Erlösungshoffnung gleichzeitig nahe und in weite Ferne.

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

In der Premiere ausgebuht, später gefeiert: Le Gateau Chocolat. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Das bis dahin so humorvolle, leichtgängige, schwerelose Roadmovie endet auf einem Parkplatz mit Märchenland-Plunder: Ein niedliches Wetterhäuschen, aus dem Frau Holle ihr Bett ausschüttelt und vor dem der Kleinwüchsige, der das Aussehen der Protestfigur Oskar Matzerath aus Günter Grass‘ „Blechtrommel“ angenommen hat, mit der kitschigen Herabwürdigung durch Gartenzwerge konfrontiert wird. Der Versuch, Tannhäuser zurückzuhalten, scheitert trotz eines märchenhaft glitzernden Lichtgespinstes, mit dem Le Gateau Chocolat – der schwarze Travestiekünstler ist in dieser Inszenierung er/sie selbst – beeindrucken will. Die mythische Fahrt endet vor dem Festspielhaus, zu dem vornehm gekleidete Besucher hetzen; eine Weihestätte der Kunstreligion.

Wagner als Mythenstifter und Revolutionär

Kratzer positioniert den Autor des „Tannhäuser“ mit solchen Bildern als Mythenstifter und als Revolutionär: Das Programmheft zitiert Texte aus der Zeit, in der Wagner in Dresden mit Bakunin sympathisierte und ethisch beflügelte Worte voll zerstörerischer Wut gegen die herrschenden Verhältnisse schleuderte. Ein Zitat daraus bringt Venus am zentralen Balkon des Festspielhauses an; es wird vorher schon von ihrer reisenden Truppe als Plakat im Märchenland geklebt: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“, lautet der Wagner-Spruch von 1849, und er wirkt wie ein Motto: Venus beileibe nicht als blonde Göttin der Liebe, sondern in ihrem schillernd grüngeschuppten Kostüm eine Kreuzung aus anarchischer Schlange, subversiver Artistin und lockendem Weibchen.

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des "Tannhäuser". Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Die Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses in der ersten Pause des „Tannhäuser“. Was wie ein Gag daherkommt, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn. Foto: Werner Häußner

Der Drang zum Anderssein lebt sich zunächst in der ersten Pause in einer Performance am Teich unterhalb des Festspielhauses aus. Le Gateau Chocolat singt mit rauchig-schrägem Bass „Dich teure Halle grüß‘ ich wieder“, während Manni Laudenbach mit Wagner-Barrett in einem Boot rudert und aus vollem Halse revolutionäre Sprüche des späteren „Meisters“ kräht. Venus umschleicht das Setting, malt ihr Plakat und erkundet das hohe Haus mit dem Feldstecher, während die schräge schwarze Performancerin in einer rosa Wolke und mit einem Kitsch-Kostüm á la „Arielle die Meerjungfrau“ tanzt und plärrt.

Was wie ein grotesker Gag serviert wird, hat im Ganzen der Inszenierung einen präzisen Sinn: Erst im Video im zweiten Akt, in dem in herrlich witziger Weise die „Eroberung“ der Wartburghalle – sprich, des Festspielhauses – geschildert wird, wird klar, dass Venus ihren Überfall vorbereitet und ihre Vasallen die bevorstehende Kunst-Religions-Feier mit ihrem lustvollen Gegenprogramm konfrontieren. Noch feiert sich das „Anderssein“ in vollen Zügen. Im dritten Akt wird es damit vorbei sein: Der Citroën, mit ausgeschlachteter Motorhaube seiner Bewegungsfähigkeit beraubt, ist nur noch eine Ruine; der Zwerg reißt verächtlich von einem der so optimistisch bedruckten Plakate Papierstreifen ab und verschwindet in eindeutiger Absicht hinter dem Fahrzeug. Die Rom-Pilger sind eine Herde aufgescheuchter Menschen, und Tannhäuser kehrt langhaarig, abgewetzt und mit ein paar Plastiktüten zurück – ob aus Rom oder wer weiß woher, wird nicht mehr klar.

Hinreißende und präzise Bilder

Was in der Bayreuther Neuproduktion des Jahres 2019 also scheitert, sind Konzepte, die sich im Aussteigen wie im Beharren manifestieren. Kratzer, Sellmaier und der Videokünstler Manuel Braun zeigen das in hinreißenden, beziehungsvollen, auch ironischen Bildern, die gleichwohl nicht im Vergnügen am bloß assoziativen Zitieren, in der sinnlichen Überwältigung oder in der Visualisierung von Privatmythologien aufgehen, wie das in Frank Castorfs und Aleksandar Denićs „Ring“ die Gefahr war.

Von der ironisch getönten Dekonstruktion bleiben auch die „teure Halle“ und die wackeren Sänger nicht verschont. Sellmaier baut einen düsteren, stilisierten Wartburg-Festsaal nach, hoch an der Wand wieder ein Verweis auf das Ideal des Sängers in Form einer halb an Naumburger Stifterfiguren, halb an nazarenische Altarskulptur erinnernden Sängerplastik. Auch die Kostüme zitieren historische Vorbilder: In dieser Gesellschaft soll alles so bleiben, wie es ist; umso nachhaltiger wird sie vom Einbruch des Sinnlichkeit preisenden Tannhäusers und der Venustruppe erschüttert.

Die "teure Halle" im zweiten Akt des Bayreuther "Tannhäuser", ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Die „teure Halle“ im zweiten Akt des Bayreuther „Tannhäuser“, ein vermeintlicher Hort der Beständigkeit und unveränderlicher Traditionen. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Gerade in solchen Momenten, in denen es aufs Detail so sehr wie auf die übergreifende Konzeption ankommt, zeigt sich die handwerkliche Stärke des 1980 geborenen Regisseurs, wie sie in anderen seiner Inszenierungen (Nürnberg: Meyerbeers „Les Huguenots“; Karlsruhe: Meyerbeers „Le Prophète“ und Wagners „Meistersinger“; Frankfurt: Meyerbeers „L’Africaine“; Berlin: Zemlinskys „Der Zwerg“) zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat. Das unterscheidet die diesjährige Neuinszenierung am Grünen Hügel vom „Lohengrin“ Yuval Sharons im letzten Jahr. Trifft eine versierte Regiehandschrift auf eine tragende, so komplex wie eingängig das Stück durchziehende Idee, ist das Ergebnis, wie es in Bayreuth 2019 zu bewundern ist: festspielwürdig.

Ein Fest des Vibrato

Jetzt wäre es befriedigend, die musikalische Seite in ähnlichen Worten bewundern zu können. Sicher: Das „Handwerk“ war weitgehend perfekt, das Orchester wie stets ohne Fehl und Tadel, der Chor Eberhard Friedrichs nur in zwei, drei Millisekunden nicht so traumsicher wie sonst, auch klanglich im dritten Akt nicht so geschlossen, wie es bei einer sängerfreundlicheren Aufstellung möglich wäre. Die Solisten boten weithin ein Fest des Vibrato. Elena Zhidkova als körperlich geschmeidige, umwerfend komische wie verstörende Darstellerin hielt die Amplitude ihrer Töne immer weniger unter Kontrolle, konnte im dritten Akt kaum mehr verständlich artikulieren und ersetzte durch undifferenzierte Lautstärke, was für Venus an vokaler Biegsamkeit und Färbung nötig wäre.

Stephen Gould, der in diesem Jahr am Hügel auch seine Paraderolle, den Tristan singt, lässt das Vibrato allzu breit schwingen, hat Probleme mit einer konzentrierten Fokussierung von Legato, wirkt auch in der Phrasierung und dem fiebrigen Brio von Tannhäusers Bekenntnis-Strophen im zweiten Akt holprig. Dafür bewältigt er die gefürchteten „Erbarm dich mein!“-Rufe mehr als achtbar und hat seinen gestalterischen Höhepunkt in der wortbewussten Rom-Erzählung im dritten Akt, in der er die ganze Resignation, Gebrochenheit und grelle Verzweiflung des unversühnten Erdenpilgers herausbrechen lässt.

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Glänzt in der kurzen Rolle des Hirten: Katharina Konradi. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele 2019

Markus Eiche kann als Wolfram von Eschenbach für sich einnehmen. Er ist nicht der salbungsvoll entsagende Anbeter des Liebesbronnens: Die beobachtende Videokamera verfolgt seine verzweifelten Ausbrüche hinter den Kulissen, als die alte Liebe zwischen Tannhäuser und Elisabeth im Duett des zweiten Akts wieder aufkeimt. Im dritten Akt verlässt er – berechnend oder überzeugt – die gesellschaftliche Konvention der Wartburg, zieht das Narrengewand und die Perücke Tannhäusers über und erringt so, wenn vielleicht auch nicht die Seele, so wenigstens den Körper Elisabeths. Eiche singt passend zur Inszenierung seinen Wolfram nicht lyrisch verschattet, sondern präsent und viril, mit klarem Timbre und präziser Diktion. Stephen Milling prunkt als Landgraf mit einem stets abgesicherten Bass. Sehr überzeugend war Katharina Konradi in der kleinen Rolle des Hirten.

Fragen zur Jahrhundertstimme

Schon jetzt als Jahrhundertstimme gehandelt wird die Elisabeth Lise Davidsen. Rechtzeitig zum Debüt am Hügel erschien ihr erstes Doppelalbum mit Wagner- und Strauss-Aufnahmen. Die Elisabeth hatte die junge Norwegerin bereits 2019 in Zürich ausprobiert. Ein gut kalkuliertes Debüt also. In der Tat sind ihr sattfarbiges Timbre, ihre Flexibilität im Piano, ihre gewinnende Innigkeit in der zweiten und ihre strahlende Präsenz in der Hallen-Arie bemerkenswert. Aber auch sie kommt nicht ohne erhebliches Vibrato aus; außerdem scheint es, als verliere sie beim Übergang vom Piano ins Forte die Souveränität über den Atem – es klingt, als müsse sie auf die Stimme Druck ausüben. Bei aller Bewunderung für dieses Debüt sei vor allzu schnellem Hochstilisieren gewarnt.

Die Verpflichtung des internationalen Jet-Set-Dirigenten Valery Gergiev lässt sich nur als Fehlgriff qualifizieren: Selten noch spielte das Festspiel-Orchester eine so marginalisierte Rolle, selten noch brachte ein Dirigent so wenig persönliche Note ein. Sicher gab es bezaubernde lyrische Momente, öfter aber irritierend flaue Konturen. Es fehlt Tiefenschärfe, Entschiedenheit im Zugriff und spannungsvolle Steigerungen. Gergiev hat – so ist bei seinem Terminkalender zu vermuten – die Proben weitgehend seinen Assistenten überlassen. Keine Rede von der früheren „Werkstatt“ Bayreuth, in der auch ein Dirigent „seine“ Produktion von Anfang bis Ende betreute und über die erste Spielzeit hinaus am Ausdruck feilte.

Nächstes Jahr bereits wird der Düsseldorfer GMD Axel Kober den „Tannhäuser“ übernehmen; Gergiev hat das Festspielhaus in der Liste seiner berühmten Auftrittsorte abgehakt – Schluss. Dies zu beklagen, ist keine Nostalgie; bei Wolfgang Wagner hätte es das nicht gegeben. Auch deshalb mag es gut sein, dass mit dem „Ring“ 2020 ein unverbrauchter und vielleicht engagiert für und in Bayreuth arbeitender junger Dirigent, Pietari Inkinen, betraut wird. In der Premiere gab es verständliche Buhs für Gergiev und weniger verständliche für Le Gateau Chocolat; in der zweiten Vorstellung beklatschte ein enthusiastisches Publikum alle Künstler gleich begeistert.




Die Bewältigung einer Überwältigung – Wagner und Mahler an einem Abend mit dem Mariinsky Orchester und Valery Gergiev

Dirigent Valery Gergiev inmitten seines Orchesters. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Der Mann ist wahnsinnig. Setzt zwei Stücke für einen Konzertabend an, die für sich allein schon wie gewaltige Monolithe im Raum stehen. Platziert den ersten Aufzug aus Richard Wagners „Die Walküre“ neben Gustav Mahlers sechste Sinfonie.

Beide Male geht es um Leben und Tod, insgesamt bald zweieinhalb Stunden lang, geht es also wieder einmal ums Ganze. Das scheint dem Manne am Pult, dem Dirigenten Valery Gergiev, gerade das rechte Maß. Mit dem Orchester des Mariinsky-Theaters St. Petersburg ist er nach Essen gekommen, in die Philharmonie. Es wird ein Abend, der insgesamt beeindruckt, im Einzelnen aber manche Schwäche offenbart. Kein Wunder.

Gergiev wirkt als Dirigent immer ein wenig archaisch. Wie er dasteht mit seinem Zahnstochertaktstock, wenig Körperlichkeit zeigt, nur ab und an einen Einsatz aus den Armen rüttelnd. Manchmal raunt er in sich hinein, zischt oder bläst hörbar die Luft durch die Backen. Von ihm geht eine gewisse Zuchtmeister-Aura aus, die letzthin auch bedeutet, dass seine Disziplin die des Orchesters sein muss. Musizierende „Indianer“ zeigen eben keine Schwächen, sei ein Konzert auch noch so lang. Doch Heldentum ist das eine, die physische Belastbarkeit eines Instrumentalisten die andere Seite der Medaille. Und dann kann schon Mal etwas aus dem Ruder laufen.

So wie im „Walküre“-Aufzug. Der ruppige Streicherbeginn, die Sturm- und Gewittermusik, von höchster Not kündend, wirkt ein wenig holprig und nicht wirklich tief schwarz. Überhaupt scheint Gergiev in erster Linie in Strukturen zu denken, was die zunehmende musikalische Raserei bisweilen ausbremst. Andererseits gönnt sich der Dirigent die feine psychologische Ausdeutung des personellen Beziehungsgeflechts und agiert betont sängerfreundlich. Die wiederum danken es mit klarster Diktion und einem unaufdringlichen Spiel, das die Spannung allein durch Blickkontakte hält.

Anja Kampe (Sieglinde) und Mikhail Vekua (Siegmund), einander noch fremd, im 1. Aufzug von Wagners „Walküre“. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Denn dieser Teil aus Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ handelt nicht zuletzt vom Wiedererkennen. Siegmund flieht vor Feinden und Wetter in Sieglindes Heim. Beide ahnen zunächst, erlangen zunehmend Gewissheit, dass sie einst als Zwillingspaar auseinandergerissen wurden. Die Freude über das Wiedersehen steigert sich zur inzestuösen Liebesbeziehung. Wenn da nur nicht der widerliche Hunding wäre, Sieglindes Gatte durch Zwangsheirat und Siegmunds Todfeind.

Dies alles untermalt Wagner mit rauschhafter Glut und  sehrendem Melos, das sich förmlich beißt mit der archaischen, dunklen Akkordik des Hunding-Motivs. Lyrische Episoden, die von Liebe künden, stehen neben exzessiver Leidenschaft, neben Parlando- und Belcanto-Elementen. Ja, ausdrucksstark und schön darf hier gesungen werden, oder, im Falle Hundings, arg bedrohlich. Das löst Mikhail Petrenko in großer Finsternis ein, wie andererseits die wunderbare Anja Kampe eine Sieglinde gibt, die jugendliche Unbekümmertheit ausstrahlen kann wie auch  die weit gefächerte Emphase. Ihr Sopran ist gut fundiert, blüht herrlich auf, schillert in verführerischen Farben. Nur schade, dass Mikhail Vekua (Siegmund) sich vor allem mit den deutschen Vokalen arg müht. Der Tenor verfügt über jede Menge Metall und Kraft, sucht aber oft sein Heil in der gekünstelten Exaltation, im Affekt.

Sei’s drum: Nach einer guten Stunde dieses emotionalen Aufbegehrens hat das Publikum – und das Orchester – eine Pause redlich verdient. Einige wollen sich das Schwelgen in Wagners Leitmotiven auch nicht zerstören lassen und verzichten auf Mahlers 6. Das ist durchaus nachvollziehbar. Denn es folgen weitere 75 Minuten wild hämmernde Rhythmik, Destruktion und Endzeitstimmung, nur kurz unterbrochen von einer vermeintlichen Idylle, die alsbald schon ins Dramatische abgleitet. Ja, Mahler wollte mit seiner Musik eine Welt zimmern, doch vom puren Paradies war dabei nie die Rede. Schon Schönberg erkannte in der 3. Sinfonie die nackte Seele eines Menschen, „wie eine geheimnisvolle, wilde Landschaft“, mit „grauenerregenden Untiefen“ und „idyllischen Ruheplätzen“.

Am Ende großer Applaus. Foto: Hamza Saad/Philharmonie Essen

Und so ist auch die Nr. 6 ein in musikalische Tableaus gegossener Daseinskampf, der indes in der Katastrophe endet. Zwei wuchtige Hammerschläge im Finale besiegeln das Desaster eines imaginären Helden, zugleich stehen sie für den Zerfall tönender Struktur. Es ist ein Schlagen und ein Toben, Aufjaulen und Zerbröseln im Orchester, dass wir den Wagner vom Beginn des Konzerts nur noch einer fernen Vergangenheit zuordnen wollen.

Fast stoisch allerdings steht Valery Gergiev das alles durch, legt auch hier Strukturen frei, nimmt dem Ganzen jedoch die letzte Entäußerung. Das Orchester gerät konditionell und in puncto Genauigkeit ohnehin an seine Grenzen. Mahlers Raumklangeffekte wollen sich nicht einstellen. Und den wenigen, von Herdenglocken durchtränkten Idyllen, fehlt die Nähe zur Transzendenz, zur Erhabenheit.

Am Ende (natürlich) jede Menge Applaus, doch ein wenig darf sich das Publikum auch selbst feiern. Für die Bewältigung einer Überwältigung.

 

 

 




Subversive Untertöne: Sergej Prokofjews „Die Verlobung im Kloster“ in Dortmund

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

1936 löste Sergej Prokofjew seine Wohnung in Paris auf. Just in den finsteren Jahren des stalinistischen Terrors zog er mit seiner Frau und zwei Söhnen endgültig nach Moskau zurück. Es war nicht nur Heimweh, das ihn zu diesem folgenreichen Schritt bewog.

Nachdem er im Westen darunter gelitten hatte, vor reichen Gönnern, Agenten, Verlegern und Orchesterchefs katzbuckeln zu müssen, verführte ihn Stalins Propaganda vom „Kulturarbeiter an der künstlerischen Front“, vom Künstler „als führendes Mitglied der neuen Sowjetgesellschaft.“

Die Vorteile waren zunächst erheblich. Prokofjew erhielt jährlich garantierte Aufträge, Vorschüsse, eine kostenfreie Wohnung, Studienreisen, kostenlose Schule für die Kinder, freie Krankenversicherung und Sonderprämien. Er feierte große Erfolge, aber die bittere Rechnung blieb nicht aus. In der berüchtigten „Formalismusdebatte“ ritten Kulturfunktionäre scharfe Attacken gegen sein Schaffen. Stalins immerzu schwankende Richtlinien von der wahren Sowjetkunst führten unter Künstlern und Intellektuellen zu einem Klima ständiger Angst.

Auch Prokofjews lyrisch-komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, nur ein Jahr vor Hitlers Überfall auf Russland vollendet, wurde als „typische Erscheinung des Formalismus“ gegeißelt und erhielt Aufführungsverbot. Dabei hatte der Komponist für diese sechste seiner insgesamt acht Opern einen heiteren, volkstümlichen Stoff gewählt.

Der Vierakter handelt von Liebeswirren im Sevilla des 18. Jahrhunderts. Zwei junge Paare finden erst nach erheblichen Turbulenzen zueinander, ganz wie im „tollen Tag“ von Mozarts „Le Nozze di Figaro“. Das ist kein Zufall, denn der irische Dramatiker Richard Brinsley Sheridan, der das Theaterstück „La Dueña“ und somit die Vorlage schrieb, war ein Zeitgenosse des französischen Schriftstellers Pierre Augustin Beaumarchais – und damit auch von Mozart.

Als Rarität bereicherte „Die Verlobung im Kloster“ die aktuelle Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund. Die buffoneske Heiterkeit des rund dreistündigen Werks entpuppt sich dabei als keineswegs harmlos. Vielmehr würzte Prokofjew die Partitur mit unterschwelliger Ironie. Sein Gespür für das Lächerliche treibt dabei Blüten, die eine feine Perfidie verströmen.

Auf solch subversive Untertöne verstehen sich Chor, Orchester und Sänger des Mariisnky-Theaters St. Petersburg offenbar blendend. Kraftvolle Motoren des turbulenten Spiels sind Evgeny Akimov (Don Jeronimo) und der kurzfristig eingesprungene Sergei Aleksashkin (Mendoza): ein auf geldwerten Vorteil bedachter Vater der eine, ein ungehobelter, aber reicher Fischhändler der andere. Wie diese beiden miteinander um Don Jeronimos Tochter Luisa schachern, wie sie wüten und sich winden, ist ein köstliches und stimmstarkes Schauspiel. Mendoza, der vermeintlich Bauernschlaue, entpuppt sich dabei als Trottel, weil er sich hereinlegen und mit der alten Hauswirtin abspeisen lässt (spanisch: Dueña). Und Don Jeronimo, der unbedingt den lukrativen Kuhhandel um seine Tochter über die Bühne bringen will, ist einer jener Choleriker, deren Zorn leicht ins Lächerliche verrutscht.

Die Komik gipfelt in einer zirkusreifen Hausmusik-Szene, in der ein Trio aus Klarinette, Trompete und Basstrommel quietschfidel vor sich hin dilettiert, vom Hausherrn aber dauernd unterbrochen wird. Der findet es schließlich angesagt, die Leitung des Trios selbst zu übernehmen. Evgeny Akimov (alias Don Jeronimo) nutzt die Gelegenheit, um Chefdirigent Valery Gergiev zu imitieren: die flatternden Handbewegungen und der auf Zahnstocher-Format geschrumpfte Taktstock haben köstlichen Wiedererkennungswert. Die nächste böse Parodie lässt nicht lange auf sich warten. Im Kloster findet ein allgemeines Besäufnis statt, begleitet von scheinheiligen Chorälen. Die Mönche, die da Wein trinken und lärmen, predigen mit größter Strenge Wasser, sobald der heiratswillige Besuch eintrifft.

Das Orchester des Mariinksy-Theaters ist bei diesen komischen Eskapaden weit engagierter bei der Sache als am ersten Abend der Prokofjew-Zeitinsel. Es nimmt seinen Hang zum knalligen Forte zurück, um den Sängern den Vortritt zu lassen, Ironisches fein zu untermalen und mancher Farce die rechte Farbe zu geben. So löst sich für Prokofjews Figuren und für die Dortmunder Zuhörer alles in Wohlgefallen auf.

 (Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415)




Auf den Spuren eines Modernisten: Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund

Valery Gergiev (l.) und der Pianist Behzod Abduraimov (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev (l.), der Pianist Behzod Abduraimov und das Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Nicht einmal Blumen gab es für seinen Sarg. Alle Floristen und Gewächshäuser in Moskau waren leer gekauft am 5. März 1953, als der Komponist Sergej Prokofjew starb: am gleichen Tag wie der Despot Josef Stalin, dessen Schatten er selbst im Tode nicht entkam.

Die sowjetischen Zeitungen nahmen vom Ableben des Komponisten keine Notiz. Es war die New York Times, die am 9. März zuerst darüber berichtete. Prokofjews erste Frau Lina Codina, zu diesem Zeitpunkt in einem sibirischen Lager inhaftiert, erfuhr die traurige Nachricht erst im Sommer.

Der da fast unbemerkt verschied, war weit mehr als der Schöpfer des weltweit beliebten musikalischen Märchens „Peter und der Wolf“. Er war ein Neuerer, der sich in der Rolle des skandalträchtigen Modernisten wohl fühlte, der die russische Romantik à la Rachmaninow, Skrjabin und Tschaikowsky mit genialischem Schwung vom Tisch fegte. An Politik im Grunde wenig interessiert, richtete er sich nach seiner Rückkehr aus dem Ausland gleichwohl in der Rolle des Staatskünstlers und Stalin-Preisträgers ein. Vor den Angriffen bornierter Kulturfunktionäre und Verfolgungen des Regimes schützte ihn das aber nicht.

Das Konzerthaus Dortmund beleuchtet Prokofjews Schaffen jetzt im Rahmen einer dreitägigen „Zeitinsel“, gestaltet von dem Dirigenten Valery Gergiev und dem Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters. Viel Interessantes gibt es dabei zu entdecken, so zum Beispiel die nur wenigen Musikfreunden bekannte komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, die Dmitri Schostakowitsch einst mit Verdis „Falstaff“ verglich. Die Musik zu Sergej Eisensteins Monumentalfilm „Iwan der Schreckliche“ ist am dritten und letzten Abend in der Oratorienfassung von Abram Stassewitsch zu erleben. Ihr gehen Auszüge aus der Ballettmusik zu „Cinderella“ voraus.

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Gewiss ist es eine sinnvolle Idee, die Prokofjew-Zeitinsel mit einer Gesamtaufführung der fünf Klavierkonzerte zu beginnen, vermitteln sie doch einen Eindruck von der Experimentierfreude des Komponisten sowie von seinen überragenden pianistischen Fähigkeiten. Valery Gergiev, der diesen Prokofjew-Marathon zuvor bereits in St. Petersburg realisierte, brachte vier Pianisten nach Dortmund mit, die dem Mariinksy-Theater besonders verbunden sind: Alexej Volodin, Denis Kozhukhin, Behzod Abduraimov und Sergei Babayan.

Der Maestro selbst ließ indes auf sich warten. Erst um 19.10 Uhr traf der von manchen überbeschäftigt genannte Arbeitswütige am Dortmunder Hauptbahnhof ein, weshalb der für 19 Uhr geplante Konzertbeginn spontan um eine halbe Stunde verschoben werden musste. Die Einstudierung in Dortmund hatte Gergiev einem Assistenten überlassen. Eine Anspielprobe fiel folglich flach. Immerhin muss der Musikzar aus St. Petersburg noch Zeit gefunden haben, auf dem Weg von der Bahnsteigkante auf die Konzerthausbühne fix in den Künstlerfrack zu hüpfen – und dies trotz erheblicher Rückenschmerzen.

Sein Dirigat wirkt an diesem Abend pauschal mit einer Neigung zur Fahrigkeit. Die Streicher fallen durch einen Hang zu uninspiriertem Mezzoforte-Brei auf, die Blechbläser mit dem zu unkultivierter Lautstärke. Nur selten sind die Holzbläser in diesem hypertroph aufgeblähten Klangballon zu vernehmen. Dass es bei manchem Tempowechsel merklich im Getriebe knirscht und fast alle Musiker so nach hinten gelehnt sitzen, als seien sie am Rückenteil ihrer Stühle festgeklebt, vervollständigt das Bild einer eher lustlosen Professionalität. Gergiev, seit 1988 Chefdirigent dieses traditionsreichen Orchesters, mag über die Köpfe und die Fingerfertigkeit der Musiker verfügen: ihre Herzen erreicht er an diesem Abend nicht.

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Besonders konturlos und verschwommen klingt das Klavierkonzert Nr. 1, für das der junge Prokofjew den mit der Schenkung eines Konzertflügels verbundenen Anton-Rubinstein-Preis erhielt. Alexei Volodin bleibt trotz aller Virtuosität zu stark einem gefälligen Schönklang verhaftet, um die Neuartigkeit und die kompositorischen Kühnheiten des Werks aufleuchten zu lassen. Da geht Denis Kozhukhin schon ganz anders zur Sache: Er verdichtet den dissonanzenreichen, hochvirtuosen Satz des 2. Klavierkonzerts zu spannungsvollen Exzessen, ohne darüber das Gespür für feine Groteske und traumversunkene Lyrik zu verlieren. Mag manche Passage noch nach Rachmaninow klingen, so wischt Kozhukhine diesen Eindruck durch frenetische Steigerungen zur Seite, die ahnen lassen, warum die Uraufführung 1913 in Pawlowsk zu einem Skandal geriet.

Furios auch die Leistung von Behzod Abduraimov, unter dessen Händen das 3. Klavierkonzert sich entfaltet wie ein abwechslungsreiches Feuerwerk. Abduraimov versteht sich auf motorische Wucht ebenso wie auf kapriziös-nervöse Farben. Er kann tändeln, irisierende Klangnebel aufsteigen lassen, aber auch orgiastische Oktav-Gewitter in die Tasten donnern, ohne lärmend zu klingen oder die Trennschärfe seines Anschlags einzubüßen. Nach diesem spektakulären Husarenritt wirkt das 4. Klavierkonzert für die linke Hand, komponiert für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, beinahe ein wenig lahm. Alexei Volodin bleibt als Interpret blass, das Werk entbehrt unter seinen Händen der Magie, der Atmosphäre.

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Den Schlusspunkt zu setzen, bleibt dem armenischstämmigen Pianisten Sergei Babayan vorbehalten. Er meistert das 5. Klavierkonzert mit markantem Ton, verleiht ihm imperialen Glanz und hämmernde Wucht. Die Bässe reißen Abgründe auf, im Diskant herrscht gleißende, fast schmerzende Helligkeit. Und doch gönnt Babayan uns auch schillernd fragile, nachgerade zärtliche Klänge, wie wir sie aus der Ballettmusik zu „Romeo und Julia“ kennen. Prokofjew, das wandelbare Genie, war zuweilen ein rechtes Chamäleon.

Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Nähere Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415




Stell Dich der Klassik! Die neue Dortmunder Konzerthaus-Saison fordert das Publikum heraus

Stell dich der Klassik (verschoben) 1

Das Nashorn, einst nettes Konzerthaus-Wappentier, will nun gezähmt werden. Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt’s mutig an die Kette. Foto: Konzerthaus Dortmund

Beginnen wir mit dem Nashorn. 2002 wurde es in Dortmunds Kulturleben heimisch, als Wappentier des Konzerthauses. Mit großen Ohren, den gewichtigen Attributen des Hörens, und zwei Flügeln. Ein trotz seiner Masse putziges Maskottchen, das durch Musikgenuss offenbar in der Lage sein soll, sich zu neuen Höhen aufzuschwingen. Bald waren in der Stadt diverse, mehr oder weniger geschmackvoll ausstaffierte Nachbildungen zu entdecken.

Doch nun ist Schluss mit niedlich. Im Internet-Trailer, zur Vorstellung der neuen Konzerthaus-Saison (2014/15), bricht das Urviech durch die Kulisse, wie wild geworden, als wollte es uns das Fürchten lehren. Dann taucht in großen Lettern der Satz auf „Stell Dich der Klassik!“. Und mancher im geneigten Publikum, der seine Stars sehen und sich mit gepflegter Musik unterhalten lassen will, dürfte zurückzucken – welche Herausforderung.

Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa, der nun diese neue, seine zehnte Spielzeit vorgestellt hat, unterfüttert die kantige Aufforderung, Stellung zu beziehen, mit weiteren markigen Worten: „Wir machen ein Programm für die Stadt, wollen das Publikum aber auch fordern.“ Es müsse an die Klassik herangeführt werden, doch gelte es zudem, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Soll heißen: „Diese Musik ist komplex. Manches muss man sich erobern.“

Das ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel im Werben um die Hörer/Zuschauer. Denn das Prinzip, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen (ein so anbiederndes wie törichtes Anliegen), verliert nun seine Gültigkeit. Stampa spricht bewusst von einer Kampagne, die über mehre Jahre laufen soll. Die Vermarktung von Komplexität, das sei schließlich auch für den Veranstalter eine Herausforderung. Doch er gibt sich zuversichtlich: „Wir verkaufen Sinnlichkeit und Anspruch. Eine unschlagbare Kombination in der Welt des schnellen Konsums.“ So jedenfalls wird er zitiert, aus seiner Rede während einer Tagung von Konzerthaus-Intendanten in Heidelberg.

Stampa kann sich diese klaren Worte erlauben. Und dem Publikum ein entsprechend exquisites, facettenreiches, auch schwieriges neues Programm zumuten. Denn das Konzerthaus ist eine Größe im Dortmunder Kulturleben. Die Auslastung kreist seit einigen Jahren konstant um die 72 Prozent, die Abos verkaufen sich außergewöhnlich gut, die Reihe „Junge Wilde“ hat die Nachwuchsnische längst verlassen, ist zum Renner geworden. Stampa sagt: „Wir können es uns inzwischen leisten, Künstler und Programm zusammenzudenken.“ Dass also ein „Star“ lediglich das Programm seiner jüngsten CD abspult, dürfte bestenfalls als Ausnahme durchgehen.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt. Foto: Konzerthaus Dortmund

Vom Allgemeinen zum Konkreten, das viel Besonderes in sich birgt: Die neue Konzerthaus-Saison beginnt am 10. September 2014 mit einem Gastspiel der Staatskapelle Dresden unter dem Dirigat Christian Thielemanns. Gleich hier das erste Ausrufezeichen: Gidon Kremer wird das 2. Violinkonzert der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina spielen, einer Avantgardistin, die sich etwa auf Schostakowitsch oder Alfred Schnittke beruft. Und ausklingen wird der Abend mit Bruckners hymnischer, gottesfürchtiger 9. Symphonie.

Nehmen wir weitere Herausforderungen: Ivan Fischer und das Budapest Festival Orchestra widmen sich der monumentalen Turangalila-Sinfonie des französischen Mystikers Olivier Messiaen. Oder die beiden Zeitinseln: Die erste gilt dem Russen Sergej Prokofjew. Gespielt werden an einem Abend alle fünf (!) Klavierkonzerte, tags darauf die Oper „Die Verlobung im Kloster“ (konzertant), zum Abschluss die mächtige (Film)-Musik „Ivan der Schreckliche“. Um authentische Wiedergabe werden sich Chor, Orchester und Solisten des Mariinsky-Theaters bemühen, allen vorweg Valery Gergiev. Die zweite Zeitinsel wiederum ist dem Jazzposaunisten Nils Landgren gewidmet.

Natürlich wird dem Publikum Mozart, Beethoven oder Brahms nicht vorenthalten. In den Auftritten des dirigierenden Exklusivkünstlers Yannick Nézet-Séguin erklingen etwa Brahms’ 2. Klavierkonzert (Solist: Lars Vogt) oder dessen 3. Symphonie. Andererseits aber wird, mit dem Konzerthaus-Debütanten namens Philadelphia Orchestra, die Geigerin Lisa Batiashvili das erste Violinkonzert von Schostakowitsch interpretieren (Die bekenntnishafte Musik des Russen steht übrigens nicht selten auf dem Spielplan). Und wenn Nézet-Séguin mit Dortmunder Chören Carl Orffs beliebte „Carmina Burana“ realisiert, steht die etwas sperrige Fassung für zwei Klaviere und Schlagwerk auf dem Programm. Zuvor gibt’s die Sonate für zwei Klaviere und Perkussion von Béla Bartók.

Aug' in Aug' mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev.

Aug‘ in Aug‘ mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev. Foto: Konzerthaus Dortmund

Die Linie also ist klar: Das Konzerthaus will sein Publikum fordern, mit Qualität, berühmten Künstlern und vielversprechendem Nachwuchs. Dabei nimmt es den geneigten Hörer so fürsorglich wie wiederum anspruchsvoll unter seine Fittiche. Etwa mit einer neuen Auflage der Vorlesungsreihe des Dortmunder Musikwissenschaftlers Michael Stegemann, die sich ganz Werken des 20. Jahrhunderts zuwenden wird. Auch hier darf  Intendant Benedikt Stampa durchaus zuversichtlich sein: Stegemanns aktuelle Reihe über das Ende der Klassik, die Romantik und die aufkeimende Moderne läuft blendend – der Saal des Orchesterzentrums ist stets proppevoll.

Noch einmal zum Nashorn: Wenn es sich uns also herausfordernd in den Weg stellt, sollten wir ihm die Stirn bieten. Wie das gelingen kann, zeigt die kernige Werbekampagne mit reizenden Bildern. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt den Dickhäuter einfach an die Kette, Dirigent Valery Gergiev zeigt, mit dem Urviech Aug’ in Aug’, keine Furcht, Yannick Nézet-Séguin wiederum setzt sich drauf zum wagemutigen Ritt. Wenn das keine Vorbilder sind!

Das komplette Programm für die Saison 2014/15 findet man unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Romantischer Feuerkopf: Ein Berlioz-Programm mit Valery Gergiev in Essen

Hector Berlioz konnte kurzweilig und scharfzüngig erzählen. In seinen Memoiren schildert er, wie er einst auf den Pariser Grandes Boulevards François Adrien Boieldieu traf. Der Kollege, Autor hübsch-frivoler komischer Öperchen, bemühte sich zu erklären, warum Berlioz mit seinem Werk „La Mort de Cléopâtre“ beim Wettbewerb für den Rom-Preis gescheitert ist: zu neu, zu unerhört. Berlioz konterte, er hatte ja Seelennöte und Qualen darzustellen. Ein Argument, das der verbindliche Boieldieu, der mit seiner Musik angenehm und höchstens mit feiner Ironie unterhalten wollte, wohl nicht verstanden hat.

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Valery Gergiev. Foto: Marco Borggreve

Trotz eines Abstands von bald 200 Jahren: Die Kantate, mit der sich Berlioz 1829 vergeblich um den begehrten „Prix de Rome“ bewarb, lässt spüren, wie irritierend ungewohnt, drastisch und direkt Berlioz Gefühle in Musik fasste: düstere Akkorde, originelle Rhythmen, beängstigende Ausgriffe an die Grenzen der Harmonik. Die ägyptische Königin Kleopatra beklagt, bevor sie sich von einer Schlange den tödlichen Biss geben lässt, den Glanz ihrer Vergangenheit, die Schmach ihrer aussichtslosen Lage und die Angst vor ihrem Schicksal nach dem Tode.

Das London Symphony Orchestra entlässt Berlioz‘ klagende Klänge, seine fahlen Farben, auch sein dramatisches Dröhnen mit Sinn für die feuerköpfige Romantik des Franzosen in den weiten Raum der Essener Philharmonie. Die Musiker treffen unter Valery Gergievs hochkonzentrierter Leitung den dunkel-feierlichen Schicksalston ebenso wie die unerbittliche Steigerung. Auch wenn Berlioz von Debussy bis Schreker viele würdige Nachfolger gefunden hat: sein visionäres Genie in der Erfindung unerhörter Klänge fasziniert bis heute. So gepflegt und satt timbriert wie Karen Cargill die Cléopâtre sang, mag man sich heute noch wundern, wie wenig sich die Herren der Pariser Akademie auf diese expressive Musik eingelassen haben. Berlioz hat den Rom-Preis übrigens doch noch gewonnen: ein Jahr später mit seiner Kantate „La Mort de Sardanapale“.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als  Orchester-Feldherr, publiziert in "L’Illustration" 1845.

Grandvilles berühmte Karikatur von Hector Berlioz als Orchester-Feldherr, publiziert in „L’Illustration“ 1845.

Im selben Jahr, 1830, und im selben Konzert am 5. Dezember erklang zum ersten Mal ein Werk, das zu den Marksteinen der Symphonie des 19. Jahrhunderts gehört: die „Symphonie fantastique“. Mit diesem romantischen Fieberwahn in Musik zeigten Gergiev und das LSO, dass das Erbe des unvergessenen Dirigenten und grandiosen Berlioz-Pioniers Sir Colin Davis – er spielte mit dem Orchester den ersten Berlioz-Zyklus überhaupt ein – in würdigen Händen ruht. Das Gastspiel in Essen ist Teil einer umfangreichen Berlioz-Reihe, die in der Barbican Hall in London begann und das Orchester u. a. noch in die Salle Pleyel nach Paris führen wird.

Valery Gergiev, neben Daniel Barenboim der mächtigste Dirigenten der Gegenwart, bekennt sich zur Musik des Franzosen: „In Berlioz‘ Orchester können zwei oder drei Vulkane in einem Moment ausbrechen“, schwärmt er in einem Interview. „Und da ist auf seiner Palette diese außerordentliche Vielfalt von Farben.“ Schon vor vierzig Jahren, so sagt Gergiev, seien Berlioz‘ Memoiren sein Lieblingsbuch gewesen – lange bevor er auch nur davon träumte, eines Tages seine Musik zu dirigieren.

Ein Bekenntnis, das in einer passionierten Interpretation seine Wahrheitsprobe besteht: In einem sparsamen Dirigierstil, mit gefassten, manchmal ungeduldigen Gesten, aber ohne jedes Show-Getänzel lockt Gergiev aus dem Orchester ein Höchstmaß an Konzentration und klanglicher Präsenz. Er zieht die große Linie intensiv aus, er füllt Details mit Ausdruck. So bauen sich schon die scheinbar nur koloristischen Zwecken dienenden Pizzicati der Kontrabässe in der Einleitung zum dynamischen Spannungsbogen auf.

Die Musiker des Londoner Orchesters sind auf der Höhe ihres Könnens. Dass die Holzbläser an manchen Stellen klanglich zurücktreten, mag der Akustik geschuldet sein. Dort, wo sie süße und schreckliche Schauer hervorrufen sollen, sind sie auf dem Plan: elegisch wie das Englischhorn, grotesk wie die irre kreischende Klarinette in ihrem fratzenhaften Solo. In Tempo und knalliger Dynamik fordert Gergiev Äußerstes: Er feuert den Walzer an zu einem bizarr verrenkten Tanz, lässt den Hexensabbat in klirrender Schärfe und krachender Wucht explodieren, setzt aber auch bleierne Erstarrung und müde-benebelte Klangvisionen an der Pianissimo-Grenze dagegen.

Die „Waverley“-Ouvertüre, Berlioz‘ Opus eins, zu Beginn des Konzerts, ist nicht nur ein Zeugnis seiner intensiven Lektüre von Sir Walter Scott, sondern auch eines für die Wurzeln des Komponisten: Die persönliche Handschrift ist noch stark grundiert von Erinnerungen an die klassisch-erhabene Klangwelt von Cherubini und Spontini. Und in der Zugabe, dem Marsch aus „La Damnation de Faust“, hören wir, wie sich Berlioz mit den Wurzeln der deutschen Romantik verbindet – eine Liaison, die ihm den Weg zu einem Förderer und Bewunderer geebnet hat: Franz Liszt.




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

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Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.