Das Geflüster der Dingwelt – Bilder von Giorgio Morandi in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Ich habe das Glück gehabt, ein ereignisloses Leben zu führen.“ Das bilanzierende Zitat in der Wuppertaler Ausstellung über Giorgio Morandi (1890-1964) ist typisch für diesen Mann.

Nur äußerst selten ist der scheue Morandi überhaupt aus seiner Heimatstadt Bologna herausgekommen, und die Annalen verzeichnen lediglich eine einzige Auslandsreise – in die nahe Schweiz. Auch seine malerischen Vorbilder (Cézanne, Vermeer, Velazquez) kannte Morandi nur aus Büchern. Zudem hatte er sein Lebtag keinerlei „Frauengeschichten“, weder ehelich noch sonstwie. Nein, nein: Mit Männern war auch nichts. Er lebte einfach immer mit seinen drei Schwestern zusammen und malte, malte, malte.

Eingesponnen in den eigenen Kokon

Und niemals trumpfte er auf, sondern hielt sich stets an bescheidene Bildfonnate. Es ist ein wahrer Sonderling und Hagestolz der Kunst, den das von der Heydt-Museum jetzt mit 126 Exponaten (Ölbilder, Radierungen, Zeichnungen) präsentiert. Auch in den wirrsten Zeiten blieb er unbeirrbar, eingesponnen in den eigenen Kosmos – oder auch Kokon. Über zwei Weltkriege hinweg hielt er seinem schmalen Motivvorrat die Treue: Flaschen, Vasen, Schalen und dergleichen schlichte Behältnisse „bevölkern“ seine Stillleben.

„Natura morta“ (tote Natur) heißt die ausgesprochen kontemplative Schau mit Leihgaben aus vielen Städten, darunter auch Siegen, wo Morandi 1962 den Rubenspreis erhalten hat.Allein diese Ausstellung würde schon den (arg gekappten) Jahresetat des Wuppertaler Hauses überschreiten – und das bereits im Januar. Die Brennscheidt-Stiftung sorgt dafür, dass der Betrieb mehr als ordentlich weiter geht.

Zurück zu Morandi. 1925 entstanden zwei Selbstbildnisse. Doch der Mann, den wir da sehen, wirkt dermaßen zurückhaltend, als wolle er am liebsten verschwinden und sich ungeschehen machen. Weitere Selbstporträts hat Morandi vernichtet. Fortan schuf er nur noch jene Stillleben, die vor allem in den ruhebedürftigen 50er Jahren hohe Geltung hatten und etwa auf den ersten beiden documenta-Schauen in Kassel gezeigt wurden.

Tagelang die Gefäße ordnen

In Bologna herrscht(e) oft Wolkenwetter. Damit hatte Morandi seine liebe Not, war er doch auf perfekte Lichtverhältnisse aus. Tagelang soll er die Gefäße, die er malen wollte, hin und her geschoben haben, bis alles in seinem Sinne stand und das Wetter „stimmte“. Die Bilder entstanden jeweils ganz rasch. Man sieht’s an den Pinselspuren.

Die scheinbar leblosen Dinge werden in erdhaften Farben ganz leise beredt, als wären es doch (verschlüsselte) Selbstporträts, die uns etwas zuflüstern wollen. Auf jede Lichtschwingung und jeden Schattenhauch kommt es hier an. Mal wirken die Gegenstände plastisch, dann wieder breiten sie sich als reine Malereignisse in der Fläche aus. Mitunter erlangen sie gerade zu mystische Qualitäten. Eine stille Weit als Hallraum für ungeahnte Erscheinungen.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 11. Januar bis 7. März. Katalog 39 Euro.




Das große Lazarett der Vasen – Vier Museen zeigen die erstaunlichen Terrakotta-Arbeiten von Antonio Recalcati

Von Bernd Berke

Im Westen. Gleich vier deutsche Museen zeigen Vasen und Teller aus Terrakotta. Hat man sich da etwa auf breiter Front dem „Schöner wohnen“-Genre samt Luxus und Moden verschrieben? Nein, keine Sorge. In Duisburg, Marl, Köln und Hannover wird nach wie vor seriöse Museumsarbeit betrieben.

Mit den Keramik-Stücken hat es nämlich einiges auf sich. Manche dieser Vasen sehen ja von weitem einigermaßen intakt aus. Doch tritt man näher heran, so sieht man das (mal aggressive, mal beinahe verspielte) Zerstörungswerk: Die eine Vase hat Löcher, keine Flüssigkeit bliebe drinnen. Die Öffnung des nächsten Exemplars ist mit lauter tönernen „Knoten“ verschlossen, ein weiteres Exponat lappt nach oben rissig aus. Verrenkte Hälse, verzerrte Bäuche — ein wahres Vasen-Lazarett.

Die ihrer Funktion beraubten Gegenstände werden zu freien Formen, ja vielleicht zu Abbildern von Freiheit überhaupt. Gelegentlich unbehandelt, doch meist mit verschiedenen Glasuren (bis hin zum kostbaren Gold) überzogen, wirken sie wie individuelle Wesen.

Überaus erstaunlich, wie viele Vasen-Varianten dieser Künstler hervorgebracht hat. All diese Arbeiten stammen von Antonio Recalcati (54), der in den 60er Jahren zu den „Neuen Realisten“ zählte, die sich in Paris um Yves Klein, den Magier der blauen Farbe, gruppierten. Ähnlich wie Klein, der durch Körperabdrücke leibhaftig berühmt wurde, experimentierte auch Recalcati damals mit Körper- und Kleider-Spuren auf der Leinwand.

Doch das ist lang her, und der Mailänder ist ein unruhiger Geist, immer auf der Suche nach Veränderung – darin ein Spätling der Avantgarde. Jede Schaffenskrise zieht einen neuen, wieder ganz anders gearteten Werkzyklus nach sich. Derzeit arbeitet er in den Marmorbrüchen von Carrara an abstrakten Groß-Skulpturen. Doch von 1989 bis 1991 hat er sich in einen wahren Terrakotta-Schaffensrausch gesteigert. In dieser Zeit entstand ungefähr täglich eine Arbeit.

Dazu muß man wissen, daß rund ums Mittelmeer beim Anblick von Keramik ganz andere Gedanken aufkommen. Dort stellt man sofort die Verbindung zur antiken Tradition her, die auch von Künstlern wie Lucio Fontana und Giuseppe Spagnulo (kürzlich in Dortmund ausgestellt) mit neuem Leben erfüllt wurde.

Jedes der vier beteiligten Museen setzt bei der Präsentation andere Schwerpunkte. In Marl etwa hat man sich dafür entschieden, die Verfremdung des Alltags zu betonen. Man stellt Recalcatis Vasen neben Arbeiten von Beuys und Uecker. Auch Uecker machte ja, indem er ein TV-Gerät ringsum vernagelte, ein Alltagsding zur Spielform.

Marl: Skulpturenmuseum „Glaskasten“, 11. bis 25. Oktoher und 13. Dezember bis 10. Januar 1993 / Duisburg: Lehmbruck-Museum, 11. Oktober bis 29. November / Köln: Museum Ludwig, 10. November bis 3. Januar 1993 / Hannover: Sprengel Museum, gleiche Daten wie Köln. Gemeinsamer Katalog 49 DM.