Heillos verknäult, filigran entwirrt: Donna Leons 31. Brunetti-Fall „Milde Gaben“

Langsam erwacht Venedig aus dem Tiefschlaf der Pandemie. Die Masken fallen, die Touristen strömen in die Lagunenstadt. In den Bars gönnt man sich einen Blick in die Zeitung, einen Espresso und ein süßes Teilchen, bevor es ins Büro geht. Auch einige Läden, die den Lockdown überstanden haben, öffnen ihre Pforten.

Doch während viele Gewerbetreibende aufgeben mussten, haben andere mit miesen Tricks große Profite gemacht, Scheingeschäfte eröffnet, um Corona-Hilfen abzugreifen. Im „Gazzettino“ kann Commissario Brunetti die ekligen Details über die Folgen der Pandemie nachlesen. Er hat genug Zeit zur Lektüre. Denn Mord und und Diebstahl haben auf das Virus reagiert und gehen gegen Null. Dass sich das schon bald ändern und sein kriminalistischer Spürsinn gefragt sein wird, ahnt Brunetti. Doch bis es so weit ist, lässt er seinen Gedanken freien Lauf, liest seine geliebten griechischen Klassiker und versucht seine Gattin Paola zu beruhigen. Die Spezialistin für englische Literatur ärgert sich darüber, dass an ihrer Universität eine junge Kollegin Karriere macht, die wissenschaftlich wenig leistet, aber die richtigen Kontakte hat und die alten Professoren um den Finger wickelt. Ist das Geplänkel über den Geschlechter-Krieg vielleicht ein erster Hinweis auf kommendes Unheil, dem sich der Commissario wird stellen müssen? Und warum will Tochter Chiara mehr wissen über die „Orestie“ und Klytämnestra, die sich betrogen, verraten und missachtet wähnt und zur blutrünstigen Rachefurie wird?

Donna Leon ist Meisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten, des langen Anlaufs, der versteckten Andeutungen und des scheinbar Nebensächlichen, hinter dem sich ein Abgrund an Missgunst und Neid, Hass und Gier auftut. In ihrem neuen Roman „Milde Gaben“ spannt sie die Leser besonders lange auf die Folter. Wir sind bereits auf Seite 32, bis der aus pandemischer Melancholie mühsam erwachende Brunetti aus dem Mund einer ihn in der Questura aufsuchenden alten Bekannten einen Satz hört, der ihn aufhorchen lässt. Elisabetta Foscarini ist besorgt um ihre Tochter Flora, eine Tierärztin, verheiratet mit Enrico, einem Steuerberater und Buchprüfer. Nach einem Streit habe er „etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt.“ Was genau das sein soll, kann sie nicht benennen. Es dauert weitere 10 Seiten, bis Brunetti seiner Freundin aus verklärten Kindertagen einen Seufzer entlockt: „Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes.“

Brunettis Jagdfieber ist geweckt. Aber wonach soll er suchen? Woher nimmt Elisabetta diese nebulösen Anschuldigungen, beruhen sie auf Einbildungen oder konkreten Fakten? Brunetti schart seine Mitarbeiter um sich, den leutseligen Inspektor Vianello, die hartnäckige Kommissarin Griffoni, Computer-Spezialistin Signorina Elettra, die noch jede Datenbank geknackt hat. Bald schon haben sie den Verdacht, dass sie von der sich – angeblich – um ihre Tochter sorgenden Mutter nur benutzt werden, um hinter die Fassade ehrbarer Dienstleistungen zu blicken und kriminelle Machenschaften und menschliche Verfehlungen ans Tageslicht zu fördern, die ihren Stolz und ihre Ehre verletzen, Betrug und Verrat, bei dem sie sich missachtet, ausgeschlossen und zurückgesetzt fühlt.

Brunetti begreift langsam, dass es nicht ums das geht, was gesagt wird und offen zutage liegt, sondern um das, was verschwiegen wird und sich nur dem offenbart, der zwischen den Zeilen zu lesen und Zeichen zu deuten vermag. Als wäre Donna Leon eine Wahlverwandte von Semantik-Deuter Umberto Eco, macht sie Brunetti zu einem Wiedergänger von Mönch William von Baskerville, der in der labyrinthischen Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters nach einem verschollenen Buch über die subversive Kraft des Lachens und die Gründe für eine Mordserie fahndet.

Im Labyrinth von Venedigs Gassen und Kanälen findet Brunetti Menschen, die lügen und betrügen und bereit sind, sich selbst und andere zu zerstören. Brunetti folgt der Spur des Geldes. Sie führt ihn zu den „Milden Gaben“, die Elisabettas Ehemann, Bruno del Balzo, den Armen und Notdürftigen zukommen lässt…

Donna Leon weiß, wie man Erzähl-Fäden erst heillos verknäult und dann filigran wieder entwirrt. Ein Genuss, ihr bei der leichthändigen Arbeit am literarischen Fein-Gewebe zu folgen.

Donna Leon: „Milde Gaben“. Commissario Brunettis einunddreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 344 S., 25 Euro. (Das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, erschien gleichfalls bei Diogenes und kostet 18,95 Euro).




Dem „göttlichen Claudio“ zum 450. Geburtstag: Monteverdi bringt in seinen Opern die Seele zum Singen

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Über seine Heimat Oberitalien ist Claudio Monteverdi nie hinausgekommen. Aber seine Wirkung als Erneuerer in der Zeit eines gewaltigen Umbruchs war in der gesamten Welt der Musik zu spüren. Vor 450 Jahren in dem damals minder bedeutenden Städtchen Cremona geboren, hat Monteverdi in der Entwicklung der Musik eine Rolle gespielt, die höchstens noch mit Namen wie Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner oder Arnold Schönberg zu vergleichen wäre.

Dabei hat sich der Sohn eines Baders – damals ein Beruf, der sich zwischen Medizin und Körperpflege bewegte – nie als musikalischer Rebell verstanden. Aber seine geistlichen und weltlichen Kompositionen und vor allem seine Opern haben Geschichte geschrieben.

Cremona, damals eine Stadt im Herzogtum Mailand, hatte kaum politischen Einfluss, aber ein reges geistiges Leben. Die Gebildeten trafen sich in einer Akademie, an einem Priesterseminar wurde moderne Theologie gelehrt. Die Instrumentenbauer Andrea Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari hatten den Ruf Cremonas als Stadt exzellenter Geigen in ganz Europa verbreitet. In der Pfarrei SS. Nazzaro e Celso wurde der erste Sohn von Baldassare Monteverdi, am 15. Mai 1567 auf den Namen Claudio getauft.

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Vater wollte seinen Kindern den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichen und förderte ihre Begabungen. Die Bedingungen waren günstig, die katholischen Reformer legten großen Wert auf Bildung. Monteverdi selbst bezeichnet sich als Schüler des „herausragenden Ingegneri“. Der erfahrene Domkapellmeister gab ihm umfassende Grundlagen mit, zu denen Singen und das Spielen von Instrumenten gehörte, und bildete ihn planmäßig in Komposition heran. Als Fünfzehnjähriger veröffentlichte Claudio Monteverdi seine „Sacrae Cantiunculae“, kleinere geistliche Gesänge. Ein Jahr später erschienen vierstimmige Madrigale und wieder nach einem Jahr sein Probestück in der weltlichen Musik, eine Sammlung vierstimmiger „Canzonette“.

Die folgenden Jahre seines Lebens liegen im Dunkeln; offenbar perfektioniere sich Monteverdi in der Kunst des Komponierens. Das Ergebnis waren zwei Madrigalbücher, von denen das zweite von 1590 Monteverdi auf der Höhe seiner Kunst zeigt: „Hätte Monteverdi nur dieses Madrigalbuch hinterlassen – er hätte sich gleichwohl in die Geschichte der Musik eingeschrieben“, urteilt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold in ihrer erst vor wenigen Wochen erschienenen Biografie. Denn die Gesänge zeigen bei „außerordentlicher musikalischer Sensibilität“ eigene künstlerische Ideen. In ihnen entwickelt Monteverdi, was sein Schaffen und vor allem seine Opern kennzeichnen sollte: Die musikalische Erfindung steht konsequent im Dienst des Textes.

Trotz der bedeutenden Komposition erhielt Claudio Monteverdi seine erste Stelle, weil er gut Viola da gamba spielen konnte. Am Hof des kunstliebenden Herzogs Vincenzo Gonzaga in Mantua begann er seine Karriere: In der Widmung seines dritten Madrigalbuchs 1592 lobt er die „glückliche Tür“, die ihm sein Spiel geöffnet habe. 22 Jahre blieb er in Mantua, heiratete und verlor seine Frau nach nur acht Jahren Ehe. Monteverdi spielte bei Festen und Gottesdiensten, an der Tafel und bei repräsentativen Anlässen. Zehn Jahre veröffentlichte er kein neues Werk, aber sein Ruhm verbreitete sich: In Venedig, Nürnberg und Antwerpen wurden seine Noten gedruckt.

Ab 1601 Kapellmeister, machte er Mantua zu einem Zentrum moderner Musik, dessen Glanz bis heute nachwirkt. Jetzt entstanden zahlreiche Kompositionen, die weitgehend ungedruckt blieben und verschollen sind. Hier schrieb Monteverdi aber auch die erste seiner Opern, uraufgeführt unter der Schirmherrschaft des Thronfolgers Francesco Gonzaga am 14. Februar 1607 – ein „künstlerisches Großereignis und ein Meilenstein der Operngeschichte“.

Monteverdi hat zwar die Oper nicht erfunden. Dieser Ruhm gebührt dem Florentiner Jacopo Peri mit seiner 1598 entstandenen „Dafne“, mit der die antike Theatertradition wiederbelebt werden sollte. Aber ohne Monteverdis „L’Orfeo“ wäre – so Silke Leopold – die Entwicklung der Oper vielleicht gar nicht richtig in Gang gekommen. Auch seine ein Jahr später geschriebene Oper „L’Arianna“, aus der nur der weltberühmte Trauergesang, das „Lamento“, überliefert ist, wurde ein riesiger Erfolg. Monteverdi war überzeugt, darin den Ausdruck menschlicher Emotionen am besten getroffen zu haben. Er blieb aber auch als geistlicher Komponist aktiv: 1610 entstand mit der „Marienvesper“ sein wohl bekanntestes sakrales Werk.

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Ruhm und Können halfen jedoch nicht, als 1612 Francesco die Nachfolge des verstorbenen Herzogs von Mantua antrat und sich daran machte, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Monteverdi wurde regelrecht hinausgeworfen und war mit 45 Jahren arbeitslos. Bis Oktober 1613 sollte es dauern – dann aber erreichte ihn ein Angebot aus Venedig und er erhielt eine der angesehensten Stellen im Bereich der Kirchenmusik: Monteverdi wurde Kapellmeister von S. Marco.

Es begann seine produktivste Zeit: Er reformierte die Kirchenmusik, erneuerte das Repertoire, sorgte sich um die soziale Stellung seiner Musiker und komponierte geistliche wie weltliche Musik, darunter drei neue Madrigalbücher. Für die damals einzigartigen öffentlichen Opernhäuser Venedigs schrieb er Opern und Ballettmusik, erhalten sind aber nur „Die Heimkehr des Odysseus“ und „Die Krönung der Poppea“. 1643 starb Claudio Monteverdi, begraben liegt er in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig.

Monteverdis drei erhaltene Opern gehören seit den bahnbrechenden Aufführungen durch Nikolaus Harnoncourt in den siebziger Jahren wieder zum Repertoire und werden in diesem Jubiläumsjahr u.a. in Berlin, in Venedigs Teatro La Fenice und bei den Festivals in Luzern, Innsbruck, Salzburg und Schwetzingen aufgeführt. In der Region planen die Theater Bielefeld und Aachen, Monteverdi mit „L’Incoronazione di Poppea“ zu würdigen. Die Premieren sind am 10. Juni (Bielefeld) und am 24. September (Aachen).




Bedrohlicher Rosenkavalier – Donna Leons Opernkrimi „Endlich mein“

Die Rückkehr von Gesangs-Diva Flavia Petrelli nach Venedig gleicht einem Triumph. Das Opernhaus La Fenice ist jeden Abend ausverkauft. Tatsächlich scheint Flavia die Titelrolle der „Tosca“ auf den Leib geschneidert, und wenn sie beim dramatischen Finale sich über ihre Widersacher erhebt und selbstbewusst in den Tod flieht, sind ihr stehende Ovationen gewiss.

Doch in die Freude über die Liebe der Opernfans mischen sich neuerdings Nervosität und Angst. Eigentlich hat sie gelernt, mit Ruhm und Rummel umzugehen, auch noch zu lächeln und Autogramme schreiben, wenn sie todmüde ist und nur noch ins Bett möchte. Aber seit es jeden Abend beim Schlussapplaus gelbe Rosen regnet und ein unbekannter Verehrer ihre Garderobe in ein Blumenmeer verwandelt, ist ihr doch etwas mulmig zumute.

DonnaleonWer ist dieser namenlose „Rosenkavalier“, warum gibt er sich nicht zu erkennen und was bezweckt er mit seinen Nachstellungen, die – wenn sie sich recht entsinnt – bei ihren Auftritten in Sankt Petersburg und London begonnen haben und jetzt in Venedig geradezu ausufern?

Schon zweimal, im „Venezianischen Finale“ und in „Acqua Alta“, hat Commissario Brunetti das Vergnügen gehabt, sich um Flavia Petrelli zu kümmern und Schaden von ihr abzuwenden. Das ist lange her, aber nicht vergessen – vor allem nicht von Opern-Kennerin und Schriftstellerin Donna Leon, die verschiedene Barock-Ensembles finanziell unterstützt, als Händel-Spezialistin einen guten Ruf genießt und sich weltweit auf dem Opern-Parkett bewegt.

Wenn Donna Leon für ihren nunmehr 24. Brunetti-Krimi die lange vermisste Opern-Diva reaktiviert und zu einem Gastspiel nach Venedig einlädt, gibt es mithin nicht nur pure Wiedersehensfreude und opulente Opernfeste, sondern auch einen handfesten Kriminalfall. Denn was so harmlos mit gelben Rosen beginnt, da ist sich Brunetti gleich beim ersten Treffen mit der angespannt wirkenden Flavia ziemlich sicher, könnte böse und blutig enden.

Werden die Liebes-Bekundungen des Stalkers nicht erwidert, können sie schnell in Hass umschlagen und könnte aus dem unbekannten auch ein tödlicher Rosenkavalier werden. Oder ist der Fan, der anonym im Dunkeln agiert und bald beginnt, Flavias Bekannte als unerwünschte Nebenbuhler zu betrachten und zu attackieren, vielleicht gar eine Frau?

Nach dem einen oder anderen eher langweiligen Brunetti-Roman ist die seit vielen Jahren in Venedig lebende US-Autorin Donna Leon diesmal wieder in Hochform. Man spürt auf jeder Buchseite, welche Freude es ihr bereitet, über Schönheit und Abgründe der Opernwelt zu philosophieren. Und wie traurig es sie macht, dass Venedig zur bunten Kulisse für unaufhörliche Touristenströme geworden ist. Wo einst kleine Läden und Bars ihren morbiden Charme hatten, haben sich längst billige Ramschläden breit gemacht. Flavia Petrelli erkennt ihr geliebtes Venedig kaum wieder.

Der sympathische Melancholiker Guido Brunetti und seine – wie immer – äußerst kultivierte und belesene Gattin Paola schütteln nur noch angewidert den Kopf und verschanzen sich, natürlich bei einem guten Glas Wein und einem klugen Gespräch über Musik und Literatur, auf ihrer Dachterrasse. Doch dann muss Brunetti wieder rein ins reale Leben. Denn die Liste der Opfer wird immer länger, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Flavia – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Tode geliebt wird.

Brunetti, von einigen polizeiinternen Intrigen kurzzeitig abgelenkt, braucht jetzt viel Feingefühl und – wie stets – die Hilfe der Computer-Fachfrau Signorina Elettra und seines Kollegen Vianello. Dass es schließlich zu einem spannenden Showdown in der Oper und im Bühnenbild von „Tosca“ kommt, hätte man sich eigentlich denken können.

Donna Leon: „Endlich mein.“ Commissario Brunettis vierundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 307 Seiten, 24 Euro.




Ein Europäer aus der bayerischen Provinz: Johann Simon Mayr zum 250. Geburtstag

Venedig, Karneval 1794: Im neuen „Teatro La Fenice“ wird die Oper „Saffo“ aufgeführt. Der Komponist ist ein „Zugereister“ aus Bayern, der sich durch einige Oratorien einen Namen gemacht hat: Johann Simon Mayr. Die Oper hat Erfolg, der 30-jährige Maestro erhält ein Jahr später erneut einen Opernauftrag: „Lodoiska“. In den kommenden Jahren sollte Mayr eine der führenden Gestalten nicht nur des venezianischen, sondern des italienischen Opernlebens werden.

 

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Bis vor wenigen Jahren teilte dieser Komponist das Schicksal vieler seiner Kollegen, die in der Übergangszeit zwischen der Barockoper etwa eines Johann Adolph Hasse und der neuen Generation eines Gioacchino Rossini wirkten. Doch das Blatt hat sich gewendet: In Mayrs Heimat Ingolstadt bemüht sich seit 20 Jahren eine sehr aktive Johann-Simon-Mayr-Gesellschaft um die Wiederentdeckung seines Œuvres. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde eine Forschungsstelle eingerichtet. Symposien, Editionen, Dissertationen erschließen Werk, Person und Umfeld des Komponisten.

Der italienische Verlag Ricordi hat eine Ausgabe in Angriff genommen, die Zug um Zug die bisher in Archiven schlummernden Noten aus der Hand Mayrs kritisch ediert und der musikalischen Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Folgen sind schon spürbar: In den letzten Jahren sind wichtige Opern Simon Mayrs auf die Bühne zurückgekehrt, etwa „Fedra“ in Braunschweig (2007/08), „Il Ritorno d’Ulisse“ in Regensburg (2009/10) und Mayrs wohl berühmteste Oper, „Medea in Corinto“, in St. Gallen und München (2010). Zum 250. Geburtstag Mayrs am 14. Juni 2013 führt das Münchner Rundfunkorchester in Ingolstadt die Oper „Ginevra di Scozia“ in einem Festkonzert auf.

Von Mendorf nach Venedig

Am 14. Juni 1763 wird dem Schullehrer und Organisten Joseph Mayr zu Mendorf, 25 Kilometer von Ingolstadt entfernt, ein Sohn geboren. Johann Simon, so sein Name, macht gute Fortschritte in der Musik. Im Kloster Weltenburg, wo er zur Schule geht, rühmt der Abt sein virtuoses Klavierspiel. Mit zehn Jahren erhält der begabte Sänger einen Freiplatz am Jesuitenkolleg in Ingolstadt, wechselt 1777 an die Bayerische Landesuniversität und beginnt, Theologie, Philosophie und Jura zu studieren. Nebenher verdient er sich seinen Unterhalt als Organist. Ohne theoretischen Unterricht genossen zu haben, veröffentlicht er 1786 „12 Lieder, beim Klavier zu singen“.

Ingolstadt ist damals ein Zentrum der „Illuminaten“, einer aufklärerischen Geheimgesellschaft. Mayr kommt mit der nach Freiheit, Bildung und persönlicher Vervollkommnung strebenden Bewegung in Kontakt. In dem Freiherrn Thomas von Bassus findet er einen Förderer, der ihn als Musiklehrer auf sein Schloss Sandersdorf holt. Als der Illuminatenorden 1785 verboten wird, muss Bassus fliehen. Mayr folgt ihm nach Poschiavo in Graubünden – und will sich endgültig der Musik verschreiben.

Wohl ermutigt und finanziert von Bassus geht Mayr 1789 nach Bergamo, lernt bei Carlo Lenzi, dem damaligen Kapellmeister der Kirche Santa Maria Maggiore, studiert ab 1790 in Venedig. Dort nimmt sich der renommierte Kapellmeister an San Marco, Ferdinando Bertoni, ein stark an Gluck orientierter Musiker, seiner an. Die Begegnung mit dem reichen Musikleben Venedigs und die Bekanntschaft von Komponisten wie Peter von Winter und Nicola Piccinni regen ihn an, sich der Oper zuzuwenden.

Der Bayer eignet sich schnell die Sprache und die Gewohnheiten seiner zweiten Heimat Venedig an, heiratet 1796 in eine venezianische Familie ein und ändert seinen Namen in „Giovanni Simone“. In den nächsten Jahren geht er ganz im aufreibenden Betrieb auf. Für vier der Opernhäuser Venedigs, zunehmend aber auch für Mailand, schreibt er komische und ernste Werke, typische, sogenannte „semiseria“-Opern, die Elemente der alten „Seria“ mit solchen aus der Welt der „Buffa“ verbinden.

Seine einaktigen Farcen sind im Karneval erfolgreich. Sein Ruhm dringt mit der Buffa „Che originali!“ („Was für Originale“) über Italien hinaus. Paris, München und Lissabon spielen das Werk, das die Marotten eines musikliebenden, aber ungebildeten Dilettanten in feinsinniger Satire verspottet. In Italien kann es sich bis 1830 auf den Spielplänen behaupten; in einer Ausgrabung an der Hamburger Kammeroper ist es auch jetzt wieder äußerst erfolgreich.

Der Übergang zur modernen italienischen Oper

Mit der Oper „Ginevra di Scozia“, die von Triest und Wien aus 1801 einen Siegeszug antritt, hat sich Mayr endgültig als führender Komponist der Zeit etabliert. „Ginevra“, basierend auf einem Epos aus Ludovico Ariostos „Orlando furioso“, wird als Maßstäbe setzend eingeschätzt. Die Oper auf ein Libretto Gaetano Rossis markiert den Übergang zum „Melodramma“ des 19. Jahrhunderts. Ein Hinweis ist schon die Stoffwahl: aufgegriffen wird der später so beliebte Schauplatz Schottland. Mayr und Rossi setzen nicht mehr auf die Intrigenhandlung, sondern den wechselnden Kontrast der Affekte. Lokalkolorit kommt ins Spiel; musikalische Charakterstücke kennzeichnen Personen und Schauplätze. Instrumentierung und Orchesterbehandlung sind richtungsweisend. Englischhorn und Harfe zum Beispiel werden eingesetzt, um charakteristische Farben zu erzeugen.

Einer der Biographen Mayrs, Cristoforo Scotti, meinte 1903, keiner von Mayrs Zeitgenossen habe so viel profitiert vom dramatischen Realismus Glucks, der poetischen Melodie Italiens und der Fertigkeit der Instrumentation der Deutschen. Früher sah man besonders den Einfluss Glucks, Mozarts und Haydns auf Mayr; heute sieht die Forschung eine wichtige Quelle in der französischen Revolutionsoper, die Mayr in den bisweilen engen und drückenden Grenzen der italienischen Tradition rezipiert hat.

Neben antiquierten Elementen, wie langen, reflektierenden Arien findet sich zum Beispiel in seiner „Medea“ viel Richtungsweisendes: die Verknüpfung der begleiteten Rezitative mit Arien, Duetten und Chören, die avancierte Orchesterbehandlung, der ausdifferenzierte Satz, die kühne Instrumentierung und eine fortschrittliche, im Dienste des charakteristischen Ausdrucks stehende Harmonik. Die Uraufführung vor zweihundert Jahren, am 28. November 1813, in Neapel sah Isabella Colbran, die spätere Frau Rossinis, als Medea und den Tenor Manuel Garcia, der später ein berühmter Gesanglehrer wurde, als Egeo. Als Hauptstück der Oper gilt die Szene im zweiten Akt, in der Medea die Götter der Unterwelt beschwört, ihr bei ihrer Rache zu helfen. Sie geht weit über die „Ombra-Szenen“ der Barockoper hinaus.

Als Mayr sich nach 1815 mehr und mehr aus der Opernszene zurückzog, dem neu aufstrahlenden Stern Gioacchino Rossini das Feld überlassend, konnte der allgemein geschätzte, liebenswürdige Mann auf 20 Jahre Erfolg und internationalen Ruhm zurückschauen – aber, mehr noch: er hatte die musikalische Entwicklung in Italien entscheidend vorangebracht. Zu den großen Verdiensten Mayrs gehört die Entwicklung eines modernen, sprechenden Opernorchesters.

Gebildet, gütig, generös

Der Nachwelt blieb er vor allem als Pädagoge in Erinnerung, hatte er ja einen weltberühmten Schüler, Gaetano Donizetti. Dieser besuchte als mittelloser Knabe von 1806 bis 1815 die von Mayr in Bergamo gegründete „Scuole caritatevoli di musica“. Der gebildete und belesene Mann ließ die Schüler nicht nur unentgeltlich im Gesang unterrichten, sondern sorgte für Unterweisung in Musiktheorie, Orgel, Klavier, Violine, dazu noch in Geschichte, Geographie, Mythologie und Poesie. Der fromme Mayr, der ein ausgeprägtes Mitleidsgefühl hatte, errichtete 1809 noch das „Pio Istituto Musicale“, in dem mittellose alte Musiker, Witwen und Waisen Aufnahme fanden. Für seine gerühmte Güte und Freundlichkeit spricht auch, dass er Donizetti teils auf eigene Kosten nach Bologna schickte, damit der Hochbegabte beim damals ersten Kompositionslehrer Italiens Unterricht bekäme.

Hätte der bescheidene Komponist, statt sich ab 1802 nur noch seiner Kapellmeisterstelle an S. Maria Maggiore in Bergamo verpflichtet zu fühlen, die verlockenden Angebote aus Paris, London oder Dresden angenommen – wer weiß, wie sein Nachruhm heute erklänge. Die Fama seiner guten Werke ist mit denen, an denen er sie getan hat, gestorben. Dass sein musikalischer Nachruhm gering ist, dafür hat er selbst gesorgt: er hat sich dagegen gewehrt, dass seine Partituren veröffentlicht würden.

Dass sich über Mayr dichtes Vergessen gesenkt hat, ist nicht mit einer sowieso fragwürdigen musikhistorischen Auslese zu begründen, in der das Bessere ein Feind des Guten sei. Iris Winkler, wissenschaftliche Betreuerin der Simon-Mayr-Forschungsstelle Ingolstadt, sieht in Mayr einen Komponisten von europäischem Format: „Mayr ist in einen europäischen Kontext einzuordnen, nicht nur wegen seiner Herkunft und seinem Lebensweg, sondern auch wegen seinen weit über die Musik hinaus greifenden Interessen und seiner musikalischen Sprache.“




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de

 

 

 




Der Kommissar sehnt sich nach heiler Welt – Donna Leons neuer Krimi führt die Bestsellerliste an

Von Bernd Berke

Eine US-Amerikanern mit ausgesprochenem Faible für Italien steht an der Spitze der deutschen Bestsellerliste: Donna Leon mit „Sanft entschlafen“. Was ist dran an diesem Krimi?

Suor Immacolata ringt mit ihrem Gewissen. Die junge Frau, bis vor kurzem Nonne und immer noch gläubig, will kein falsches Zeugnis ablegen wider ihre Nächsten, aber dann wendet sie sich doch an Kommissar Brunetti: Ausgerechnet in jenem Altenheim des Ordens, in dem auch Brunettis Mutter betreut wird, haben sich rätselhafte Todesfälle gehäuft. Und es sieht so aus, als seien die Verstorbenen zuvor gedrängt worden, ihr Hab und Gut der Kirche zu vermachen. Wer weiß, wer weiß…

Brunetti ist eine eingeführte Figur, Donna Leon hat bereits fünf Romane über die Fälle des beleibten Ermittlers vorgelegt, die allesamt in Venedig spielen. Eigentlich dem Wohlleben zugeneigt, ist Brunetti doch von einem Gerechtigkeitssinn beseelt, der ihn aus müßigen Tagträumen oder kulinarischen Vergnügungen reißt. Vollends zornig wird er, wenn er an Augiasställe wie die korrupte Verwaltung oder das marode Gesundheitswesen Italiens denkt.

Im vorliegenden Falle kann er aber nur äußerst diskret ermitteln. Schon ein falscher Zungenschlag kann alles verderben. Denn zum einen ist alles zunächst nur vager Verdacht, zum anderen muß Brunetti hohe Kleriker und adlige Herrschaften mit Samthandschuhen anfassen. Bei den ersten Befragungen kommt denn auch kaum etwas heraus.

Ein Geheimbund, mit dem man sich nicht anlegen sollte

Der Kommissar ist drauf und dran, die Akten zu schließen. Hirngespinste einer Frau, die im Kloster etwas weltfremd und überängstlich geworden ist? Doch dann wird just diese Suor Immacolata, die jetzt wieder bürgerlich Maria Testa heißt, Opfer eines schweren „Unfalls“, und kurz darauf kommt ein Zeuge in seinem Badezimmer zu Tode. Das kann wohl kein Zufall sein. Tatsächlich führt die Fährte alsbald zu Fällen von Kindesmißbrauch und zu einer erzkonservativen Geheimorganisation katholischer Fundamentalisten, mit der man sich nicht ungestraft anlegt.

Als Leser begleitet man diesen Brunetti bei seinen Nachforschungen gern. Beruflich mit einer verderbten Welt konfrontiert, die ebenso faulig ist wie das Brackwasser in Venedigs Kanälen, hat dieser Kommissar selbst etwas liebenswert Anheimelndes, verkörpert er doch eine Ahnung davon, was heile Welt bedeuten könnte. Denn er ist Fixstern in einem Mikrokosmos gelingender menschlicher Beziehungen – ganz so, als sei die Utopie des richtigen Lebens nur einen Schritt entfernt.

Wenn nur die Spitzen der Gesellschaft nicht wären…

Mit seiner feministisch und sozialistisch angehauchten Frau Paola führt er auch nach vielen Jahren eine gute Ehe nach dem Leitsatz „Was sich liebt, das neckt sich“; seine Kinder Raffi und Chiara sind recht wohlgeraten, seine Sekretärin ist stets charmant und überaus klug, die übrigen Mitarbeiter enorm diensteifrig. Nur: Sobald es höher hinauf geht zu den Gipfeln der venezianischen Gesellschaft, weht ein eisiger Wind.

Ein Krimi in (unaufdringlich) linksliberaler Tradition also, geschrieben auf beachtlichem Niveau und bis in bizarre Nebenrollen hinein auf prägnante Charakterisierungen bedacht. Kleine Besessenheiten der Figuren werden ebenso ironisch abgehandelt wie tiefere Einsichten, etwa über die Habgier und die Vergänglichkeit irdischen Besitzes.

Bemerkenswert, daß ein solch ambitioniertes Buch Platz eins unserer Sellerliste erklimmt. Keine Nahrung für Kulturpessimisten: Wo sich Werke z. B. von Donna Leon, Javier Marias, Peter Hoeg oder Umberto Eco so gut verkaufen, dürfte es um die Lesekultur nicht gar so schlecht bestellt sein, oder?

Donna Leon: „Sanft entschlafen“. Kriminalroman. Diogenes-Verlag. 336 Seiten, 39 DM.