„Sein Bayreuth war Europa“: Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin

"Vasco da Gama" von Giacomo Meyerbeer, Regie: Vera Nemirova, Premiere am 4.10.2015, Deutsche Oper Berlin, Foto: Bettina Stöss

Szenenbild aus „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (Foto: Bettina Stöss)

Für Giacomo Meyerbeer hat die Deutsche Oper Berlin einen großen Namen aus der Regieszene aufgeboten: Vera Nemirova, die einen gefeierten Frankfurter „Ring“ verantwortete und in der Region 2013 mit „Tristan und Isolde“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hatte, wagte sich an „Vasco da Gama“ – früher bekannt unter dem verfälschenden Titel „Die Afrikanerin“ („L’Africaine“).

Die letzte große Oper des aus Berlin stammenden Komponisten – ein Jahr nach seinem Tod 1865 uraufgeführt – erlebte einen Tag nach der großen Wiedervereinigungsfeier eine umjubelte, wenn auch nicht unumstrittene Premiere.

Ein sinniges Datum: Während die Staatsoper im Schillertheater den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mit einer Premiere von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und damit mit so etwas wie einer deutschen Nationaloper beging, richtete das Haus an der Bismarckstraße mit Meyerbeer den Blick auf die internationale Musikszene des 19. Jahrhunderts: „Sein Bayreuth war Europa“ titelt ein Kongressbericht über Meyerbeer. Da ist viel Wahres dran.

Der gebildete Intellektuelle aus jüdischer Familie hat seine Karriere in Italien und Paris gemacht. Er steht als „der“ europäische Komponist des 19. Jahrhunderts für einen Musikbegriff, der sich von der nationalen Verengung der Musiktheorie seiner Zeit absetzt: ein internationaler Zug, der deutsche Tradition mit den Stilmitteln des italienischen Belcanto verbindet. Und der die moderne, von Eugéne Scribe und Daniel François Esprit Auber mit seiner „La Muette de Portici“ (1828) konkretisierte Form der großen historischen Oper perfekt auf den Betrieb der Pariser „Opéra“ und den Geschmack ihres Publikum zuschnitt.

Der Erfolg gab Meyerbeer recht; die Polemik – mit Wagner an vorderer Stelle – reagierte wütend: Ein Jude, so die krude These von damals, könne letztlich keine tiefe Musik schreiben, da der Kern wahrer, schöpferischer Musik immer im „Nationalen“ zu finden sei.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Heute sind solche Urteile zum Glück Geschichte – noch nicht historisch ist allerdings, dass Meyerbeer allmählich aus den Spielplänen verdrängt wurde. Inzwischen haben seine bedeutenden Werke wieder ihren Ort gefunden – wenn auch nicht im Zentrum des Repertoires, so doch auf einem geachteten Randplatz.

Berlin, Meyerbeers Heimat und langjähriger Wirkungsort – auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist er auch begraben – startet nun einen ehrgeizigen Versuch, die Rezeption auf höchstem Niveau wieder anzustoßen: In den nächsten drei Jahren ist an der Deutschen Oper ein Zyklus geplant, der mit „Vasco da Gama“ begonnen hat, im nächsten Jahr mit „Les Huguenots“ in der Regie Stefan Herheims fortgesetzt und 2017 mit „Le Prophète“ beendet wird.

Missbrauch des Glaubens

Nicht nur in „Vasco de Gama“ bilden Macht und Missbrauch des Glaubens einen zentralen Aspekt der geistigen Problematik. In der Nürnberger Inszenierung der „Hugenotten“ hatte das Regisseur Tobias Kratzer deutlich gemacht; auch Stefan Otteni fokussierte sich in seiner Braunschweiger Inszenierung des „Propheten“ in der letzten Spielzeit auf den Missbrauch der Religion im Mahlstrom der Macht. Und die bevorstehende Premiere von „Le Prophète“ am Staatstheater Karlsruhe am 18. Oktober wird zeigen, wie Kratzer seine Sicht auf dieses bestürzend aktuelle Werk präzisiert.

In „Vasco da Gama“ geht Meyerbeer mit diesem Thema weniger explizit um. Aber Nemirova will den Blick auf die unterschwellige Frage des Gottesbegriffs richten. Und auf die Rolle von Glauben für die Figuren. Vasco da Gama etwa stürmt in Felduniform auf die Bühne und in die Schar der Offiziere am Hof des portugiesischen Königs in ihren Galauniformen: der dynamische, aktive Eroberer gegen die beharrenden Vertreter eines Status Quo.

Jens Kilian konkretisiert in seinem Bühnenbild, wie unterschiedlich die Welt-Träume der Protagonisten sind: Für Ines, die in Vasco unsterblich verliebt ist, dient das aufrecht stehende Halbrund einer Weltkugel mit einer Zeichnung Afrikas und des Indischen Ozeans als Projektions- und Erinnerungsfläche. In ihrer das Stück einleitenden Arie spielt sie mit Papierschiffchen, malt die gedachte Route Vascos in die „neue Welt“ mit Kreide nach.

Für den königlichen Rat senkt sich das Halbrund und bildet einen Konferenztisch: Hier geht es um das Abstecken von Macht und Terrain, um Kontrolle und Einfluss – und die Vertreter der Kirche, von Marie-Thérèse Jossen in realistische Soutanen gesteckt, mischen kräftig mit. Scribes Libretto zeichnet sie, bestätigt von Meyerbeers Musik, als Prinzipienreiter. Der auf Erfahrung basierenden Argumentation des Seefahrers setzen sie die einfache Feststellung entgegen, er sei eben ein Ketzer: ein Totschlagargument im wahrsten Sinn des Wortes.

„Unsterblichkeit“ durch Ruhm und große Taten

Den statischen, die bestehenden Verhältnisse bestätigenden Gottesbegriff der Kleriker kontrastiert Meyerbeer mit der dynamisch-schwärmerischen Vorstellung Vascos: Er strebt nach „Unsterblichkeit“, aber in einem strikt diesseitigen Sinn. Die Garantie dafür sind Ruhm und unerhörte Taten. Dafür ist er bereit, alles zu opfern. Als er nach der gescheiterten Umrundung eines berüchtigten Kaps, gefangen im Bauch des Schiffs seines Rivalen Don Pedro, in die Hände der „Wilden“ gerät, ist seine größte Sorge nicht, das Leben zu verlieren, sondern den Ruhm. Unter allen Umständen soll die Nachricht, er habe als erster unbekanntes Land betreten und ein fremdes, exotisches Reich entdeckt, die Heimat erreichen.

Doch Meyerbeer hütet sich, seine Figuren schwarz-weiss zu zeichnen. Vasco etwa ist, wie in seiner berühmten Arie „Ô Paradis“ im vierten Akt zu hören, sensibel für die Schönheit und den Wert des Landes, auch wenn er im zweiten Teil in marschartigem Rhythmus das Gelüst des Eroberers ausspricht: Mein soll es sein, das Paradies. Nélusko, der verschlagene und gewalttätige Exponent des bisher unbekannten indischen Volkes, Begleiter seiner gefangenen Königin Sélica, zeigt bestürzenden Fanatismus und Fremdenhass.

Meyerbeers Analyse ist so scharf wie zeitlos und weit davon entfernt, ein idealisiertes Naturvolk auf die Bühne zu bringen. Im Missbrauch des Transzendenten für das Spiel der Macht sind sich Europäer und Inder gegenseitig nichts schuldig. Die Anrufung der Hindu-Götter im vierten Akt ist als große Show zu verstehen und wird auch so inszeniert: Exoten-Folklore in Weiß und Orange.

Die Stärke von Nemirovas Regie zeigt sich – darin entspricht sie ihrem Frankfurter „Ring“ – in der sensiblen Zeichnung intimer Begegnungen: zwischen Sélica und Vasco im vierten, im Duett der unglücklichen Frauen Sélica und Ines im fünften Akt. Schwach geraten Massenszenen und Tableaus: Da setzt Nemirova auf großflächige Bewegungs- und Bildregie, die aber nicht expressiv vertieft wirkt. Der dritte Akt mit seinen episodischen Momenten, mit Matrosenchören und Ines‘ erzwungener Hochzeit misslingt, weil sich die Regie nicht zwischen Stilisierung und Aktualisierung entscheidet. Und weil Jens Kilians Bühne mit drehbaren Elementen, die hier zu Segeln werden, keinen imaginativen Reiz entwickelt.

Problematisches Ende bleibt offen

Die Fernost-Piraten, die das aufs Riff gelaufene Schiff entern, sind Dritt-Welt-Kriminelle von heute, die den Portugiesen mit MG und Uzi den Garaus machen. Wenig erhellend auch Details wie die erzwungene Einkleidung Sélicas als Nonne oder die Vergewaltigung einer als Ordensschwester camouflierten Frau, deren schwarze Tracht aufreizende Dessous verbirgt. Néluscos berühmte Ballade vom Meeresriesen Adamastor degeneriert zu einer komisch-parodistischen Nummer. Zu Recht gab es nach diesem dritten Akt Buhs und Gelächter.

Das problematische Ende der Oper – Meyerbeer konnte es nicht mehr endgültig konzipieren – lässt Nemirova offen: In den letzten Takten von Sélicas langem Abschiedsgesang flutet eine Menschenmenge die Bühne, die indische Königin wird in einem symbolhaften, in Orange- und Rottönen wabernden Viereck versenkt. Aus ihm entspringt Vasco als junger Uniformierter mit Landkarte und Rucksack: der Urtyp des Eroberers, der als Militär oder als Backpacker kommt?

Die gewaltige Aufgabe, Meyerbeers Partitur in Klang umzusetzen, schultern Dirigent Enrique Mazzola und das Orchester der Deutschen Oper sowie der stark geforderte und nicht immer souverän treffsichere Chor und Extrachor unter William Spaulding. Meyerbeers aparte Kunst der Instrumentation und des expressiven Einsatzes von Klangfarben ist bei den Solisten des Berliner Orchesters in guten Händen – vom tintig dräuenden Fagottquartett über den „schmutzigen“ Klang des damals hochmodernen Sax-Hornes bis hin zu den raffinierten Kombinationen klassischer Orchesterinstrumente.

Mazzola geht dem manchmal episodischen Charakter von Meyerbeers Musik eher nach als der Konstruktion großer dynamischer Bögen; auch die Tempi könnten zupackender, die Phrasierung entschiedener ausfallen. Gegen Mazzolas temperamentloses und unentschiedenes Dirigat kann sich die Konkurrenz von Enrico Calesso (Würzburg 2011) und Frank Beermann (Chemnitz 2013) bestens behaupten.

Der Sänger-Star des Abends ließ sich ansagen: Roberto Alagna war im Kampf gegen eine Infektion hörbar indisponiert. Zu hören war aber auch, dass er, sofern gesundet, einen respektablen Vasco da Gama gestalten könnte.

Markus Brück stellt einen imponierenden Nélusco auf die Bühne: subtil und farbig in zurückgenommenen Momenten, dröhnend expansiv in der Gewalt und im Triumph. Clemens Bieber bewältigt die kleinere, aber wichtige Rolle des Don Alvar wie stets stimmschön und mit bewusstem Einsatz gestalterischer Mittel – dieser Tenor ist für die Deutsche Oper eine sichere Stütze des Ensembles. Seth Carico gibt den Don Pedro mit flutendem, manchmal etwas zu weit hinten positioniertem Bass; Andrew Harris als Don Diego, Dong-Hwan Lee als Großinquisitor und Albert Pesendorfer als Oberpriester der Inder ergänzen das Ensemble anstandslos und klangschön, ebenso Irene Roberts in ihren paar Sätzen als Dienerin Anna.

Nicht so überzeugend die Damen: Sophie Koch in der prominenten, herausfordernden Partie der Sélica hat zwar eine wunderschön sitzende Stimme, einen ebenmäßig polierten Ton und ein füllig-feines Timbre, aber zu wenig Farben, um die Facetten von hingebungsvoller Liebe bis hochfahrender Herrscherinnen-Arroganz, von Großmut bis Wehmut zu beglaubigen. Das differenzierte Schlaflied des zweiten Aktes ist lediglich schön gesungen; die Selbstreflexion der verlassenen, sich opfernden Frau unter dem giftigen Manzanillobaum in ihrem Spektrum von Resignation bis Ekstase gelingt Sophie Koch bewegender. Nino Machaidze als Ines demonstriert entschiedenen Willen zur Gestaltung, zeigt schimmernde, wenn auch zu wenig frei schwingende Höhen; im Zentrum jedoch bleibt die Stimme seltsam klangarm und ist von der kräftigen Amplitude eines metallisch klirrenden Vibrato gestört.

Gott und Glaube: Vera Nemirova stellt sich im Programmheft großen Fragen, löst die Erwartungen aber nicht ein. Sie bleibt zu sehr an den Szenen hängen statt sie zugunsten einer übergreifenden Idee konzeptionell zu bändigen.

Dennoch: Die Deutsche Oper setzt mit dieser Meyerbeer-Premiere einen Impuls, der hoffentlich auch andere Häuser anregt, sich mit diesem prägenden Musiktheater des 19. Jahrhunderts und seiner Aktualität zu befassen. Zum Beispiel in der Rhein-Ruhr-Region: Da hat zuletzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen 2008 mit der „Afrikanerin“ einen Versuch unternommen – damals noch auf der Basis alten Materials. Mit der neuen, in Berlin verwendeten kritischen Edition von Jürgen Schläder liegt nun – wie auch für andere wichtige Opern Meyerbeers – eine ausgezeichnete Grundlage vor; die Theater müssen nur noch zugreifen!

Informationen: http://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/vasco-da-gama.12676793




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




Todeskuss im Treibhaus: Richard Wagners „Tristan und Isolde“ an der Oper Bonn

Dass Vera Nemirova eine faszinierende Erzählerin ist, wissen wir spätestens, seit sie mit dem Frankfurter „Ring des Nibelungen“ einen der bedeutenden Beiträge zum Wagner-Jahr 2013 leistete.

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Die Regisseurin braucht keinen dekonstruktiven Überbau, keine umständliche Symbolik, keine privatmythologische Verrätselung, um einem Stück Belang zu geben. Sie erzählt intensiv und klug eine Geschichte. So hat sie es auch in ihrem – 2007 sehr umstrittenen – Frankfurter „Tannhäuser“ gehalten: Das virtuos herausgearbeitete Ergebnis ihrer ersten Regiearbeit mit Wagner wird ab 19. Oktober 2013 wieder zu erleben sein.

Jetzt hat sich Vera Nemirova dem Schlüsselwerk des Wagner’schen Theaterkosmos zugewandt: Mit Spannung erwartet, ging jetzt „Tristan und Isolde“ über die Bühne der Oper Bonn. Und wieder ist ein Triumph der Erzählerin zu vermelden: Selten in den letzten Jahren wurde Wagners Bekenntnis zur transzendierenden Liebes- und Todesmystik so unverstellt und eindringlich in Bild und Aktion gebracht wie in dieser Premiere. Sicher auch ein Verdienst der Raumgestaltung von Klaus W. Noack und des Lichts von Max Karbe – aber eben auch das Ergebnis der passionierten Regiekunst der Nemirova.

Klar, auch diese Regisseurin hat ihre Stilmittel, ihre immer wiederkehrenden Codes: Das Brautkleid etwa, von dem Isolde im ersten Aufzug die aufgenähten Blüten abfetzt. Im zweiten schreiben die Protagonisten Schlüsselworte des Dramas auf die halbblinden, teils zerbrochenen Scheiben eines Glashauses: Du, Ich, Licht, Tod, Tag. Später beschriften sie gegenseitig nackte Haut. Aber solche Chiffren werden nie als billige Ersatzeffekte für fehlende Personenführung verwendet.

Nemirova inszeniert auch nicht naturalistisch: Es gibt kein Liebespaar, das aufeinander zufliegt, sich schmusend und küssend in der „Nacht der Liebe“ ergeht. Was so mancher Wagnerianer aus scheinbarer „Werktreue“ der Bayreuther Inszenierung Christoph Marthalers bitter ankreidete, zieht auch Nemirova konsequent durch. Tristan und Isolde singen zusammen für sich, sehen sich selten an. Sie bewegt sich innerhalb des gläsernen Baus, der offensichtlich auf „Im Treibhaus“ aus den Wesendonck-Liedern anspielt; er tastet sich außen an den Scheiben entlang. Erst bei „Nie-Wieder-Erwachens wahnlos hold bewusster Wunsch“ finden sich beide im Glashaus, dem Ort der jenseitigen Liebesvision.

Held aus Cornwall, Maid aus Irland

Der Kuss ereignet sich schon im ersten Aufzug: Endlos lang besiegelt er statt des äußerlichen Hilfsmittels des „Trankes“ die Wandlung. Ein mythischer Todeskuss, gegeben von einer rothaarigen Rätselfrau, die aus dem symbolistischen Bildkanon eines Dante Gabriel Rosetti oder Edward Burne-Jones stammen könnte. Wie Nemirova und ihr Bühnen- und Kostümbildner Klaus W. Noack überhaupt die angelsächsische Sphäre des Stoffes – es geht ja um einen Helden aus Cornwall, um eine Maid aus Irland – in die Bildwelt integrieren: Das Glashaus, das die Drehbühne füllt, ist den viktorianischen Gewächshäusern der Wagner-Zeit abgeschaut; der Baum, auf dessen Zweige Isolde enthusiastisch Zettel steckt, könnte ein Wünschebaum aus dem Feen-Aberglauben sein, wie man ihn heute noch auf dem irischen Lande entdecken kann.

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Im dritten Akt steht die verfallende Glas-Villa dann voll exotischer Gewächse: ein direktes Bildzitat aus Mathilde Wesendoncks Gedicht „Im Treibhaus“, das Wagner als Vorstudie zum „Tristan“ vertont hatte. Wie die Heimat der Pflanzen, so ist auch die Heimat Tristans – der zwischen den Blättern und Stämmen im Bett liegt – „nicht hier“. Für die romantische Sehnsucht nach dem ganz Anderen sind die klagenden „Kinder aus fernen Zonen“ eine berührende Chiffre. Für den „Liebestod“ findet Nemirova ein unspektakuläres, konzentriertes Bild: Isolde steht in einem Regen von Papierblättern – Briefe, literarische Ergüsse, Tagebuchnotizen? –, bevor sie sich wendet und dem Glashaus zuschreitet: Erfüllung im „Nicht Hier“.

Mit ihren Protagonisten arbeitet Nemirova stets sehr intensiv. Umso schmerzliches muss es für die Regisseurin gewesen sein, dass ihre Isolde Dara Hobbs wegen eines Heuschnupfens nicht singen konnte und von Sabine Hogrefe am Bühnenrand eine „Leihstimme“ bekommen musste. Hobbs agiert mit intensiver Körpersprache und theatralischer Leidenschaft; man merkt der Sängerin an, wie schwer ihr der Verzicht auf die vokale Expression fällt.

Sabine Hogrefe, die 1989 am Aalto-Theater in Essen in Siegfried Matthus‘ „Graf Mirabeau“ als Zeitungsjunge debütierte, hat die Isolde bisher in Bremen, Hamburg, Nantes und Angers gesungen und 2008 bis 2012 in Bayreuth gecovert. Ab 26. Mai ist sie als Brünnhilde in der „Walküre“ in Duisburg zu hören. Ungeachtet aller Probleme aus einem kurzfristigen Einspringen hört man von ihr einen durch Erfahrung gereiften, auch des Lyrischen und der leisen Töne mächtigen, souveränen Sopran.

Neue Sicht auf König Marke

Mit der Besetzung des Tristan durch Robert Gambill stand kein ausgeprägter Tenor-Held auf der Bonner Bühne. Im zweiten Aufzug möchte man als Vorzug werten, wenn eine schlanke Artikulation auf eine tragfähige Mezzavoce trifft; im dritten allerdings fehlen Gambill dann Intensität, Schlagkraft und vokales Fieber. Auch die Brangäne Daniela Denschlags – von der Regie als besorgte ältliche Jungfer mit grauem Dutt gezeichnet – hat eine zu lyrische Stimme, überfordert im exaltierten Schrecken am Ende des ersten Aufzugs, zu sanft für die Rufe aus der Ferne im zweiten. Schade, wenn man eine solch kultivierte Stimme ins Wagner-Fach drängt – ihre Alt-Arien in einer Würzburger „Matthäus-Passion“ von 2005 blieben mit viel eindrücklicher in Erinnerung.

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Für Martin Tzonev ist Marke eine Herausforderung, die er mit substanzvollem, aber nicht ausgeglichenem Bass bewältigt. Wieder ist es eher die szenische Umsetzung der Figur, die überzeugt. Nemirova bezieht den König ein in eine Trias des Leidens an der Welt: „Die kein Himmel erlöst, warum mir diese Hölle?“ hebt seinen Schmerz weit über eine beleidigte Beklagung seiner Situation hinaus. Für einige Augenblicke nehmen Tristan und Isolde den König in ihre Mitte, dann aber wird das Paar seinen Weg ohne ihn gehen: „Wohin nun Tristan scheidet, willst du, Isold‘, ihm folgen?“

Ansprechend besetzt sind in Bonn auch die weniger umfangreichen Rollen: Mark Morouse als prägnanter Kurwenal, Giorgos Kanaris als soldatisch korrekter Melot, Johannes Mertes als Hirt und Sven Bakin als Steuermann. Für eine musikalische Sternstunde sorgte Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn. Der Chefdirigent zerriss zwar den langsamen Beginn durch endlose Pausen, konnte dem Orchester aber den „schmachtenden“ Klang entlocken, den Wagner mit dieser Anweisung im Sinn gehabt haben mag. Allmähliches Steigern der Klangintensität, graduelle Verschiebungen in der Mischung der Klänge, flexible Artikulation: das sind die technischen Geheimnisse. Das Ergebnis ist eine für Bonner Verhältnisse außergewöhnliche Spielkultur, ein runder, warmer Gesamtklang, dem Blunier aber auch Feuer, Energie und Tempo mitgeben kann.

Intendant Klaus Weise kann aus Bonn mit einer Produktion scheiden, die der Leistungsfähigkeit des Hauses das schönste Zeugnis ausstellt. Wie sein Nachfolger Bernhard Helmich aus Chemnitz bei zurückgehenden Mitteln in der ehemaligen Bundeshauptstadt – immerhin einer Kommune mit über 325.000 Einwohnern – die Qualität des Angebots sichern will, ist noch sein Geheimnis: Der Spielplan 2013/14 wird im Mai veröffentlicht. Sicher ist schon, dass die Spielzeit mit Zeitgenössischem eröffnet wird: mit der Oper „Written On Skin“ (Auf Haut geschrieben) von George Benjamin. Erstmals in Deutschland wird sie schon am 23. Juli in der Uraufführungsinszenierung aus Aix en Provence von 2012 in der Bayerischen Staatsoper München gespielt.