Literarische Verlage und der Literaturbetrieb im Ruhrgebiet: Förderung nur noch für Glamour?

Bücher: verlegt, aber nicht verlegen. Foto: Gerd Herholz

Seitdem der Klartext Verlag sein karges literarisches Programm nahezu ganz einstellte und der Dortmunder Grafit-Verlag nach Köln umzog, existieren nur noch inhabergeführte Klein- und Selbstverlage längs der Ruhr. Von einer Kultur- als Verlagsmetropole kann an deren Ufern wahrlich keine Rede sein. Zudem wird ein jährlich mit 500.000 Euro gesponserter  Show-Platz wie die lit.RUHR von Köln aus bespielt.

Ruhr-Stiftungen, das Land NRW und der Regionalverband Ruhr stecken Millionen an Fördergeldern in Hochglanzbroschüren, Festivals, Galas oder Blenderprojekte der Creative Economy wie das Kreativwirtschaftsorakel „ecce“. Zur Belebung des Literaturmarktes führte das aber hierzulande nirgends.

Auch weil bundesweit stärker ausstrahlende Verlage fehlen (von TV- oder Radiosendern ganz zu schweigen), vermisst man im Revier ein lebendiges literarisches Leben mit Autoren, Literaturkritikern, Lektoren oder Illustratoren. Und der „Kultur & Freizeit“-Teil der zum Verwechseln ähnlichen Funke-Zeitungen ersetzt mit täglich anderthalb Seiten auch zu „Kinder – Wetter – Leute – Panorama“ kein Feuilleton von Rang – an solch eingeschränkten Arbeitsbedingungen in den Redaktionen ändern selbst engagierte Journalisten wenig.

Für 2,95 € im Klartext-Online-Shop: Magnet „Merkse noch wat?“

Nachdem Dr. Ludger Claßen 2016 nach gut drei Jahrzehnten den Klartext Verlag Essen verlassen hatte und der neue Geschäftsführer (auch zuständig für die „Koordination Marken und Events“ der Funke Mediengruppe) das literarische wie das wissenschaftliche Programm des Verlages fast auf null stellte, wird es für junge Autorinnen und Autoren aus dem Ruhrgebiet nahezu unmöglich, ihr literarisches Debüt mit einem regionalen Verlag zu wagen. Klartext verkauft lieber Ratgeber, Reiseführer und Folkloreartikel wie die Brotdose „Kniften“, oder austauschbare Non-Book-Souvenirs wie das Glaslicht „Osnabrück“ (auch in den Varianten „Hamburg“, „Bremen“, „Köln“ …). Und für nur 2,95 € gibt’s einen Magneten mit der Aufschrift „Merkse noch wat?“

Überhaupt Köln: ein starkes Stück Ruhrgebiet

Der Grafit Verlag, einst von Dortmund aus tonangebend im bundesweiten Konzert der Lokal- und Regionalkrimiszenen, ist nach Köln verkauft worden. Mit ihm verließ der letzte halbwegs größere literarische Verlag das Ruhrgebiet. Jetzt gehört Grafit dem kölschen Emons Verlag. Auch vieles andere im Literaturbetrieb Ruhr wird heutzutage von Kölnern gedeichselt. Rainer Osnowski und andere bringen nicht nur die lit.COLOGNE, sondern im Oktober gleich nach der lit.RUHR auch die lit.COLOGNE Spezial auf die Bühnen; manches im Programm überschneidet sich da, nur Stars wie Rusdie oder Colson Whitehead behält man lieber exklusiv Köln vor. Aus der dortigen Maria-Hilf-Straße inszenieren die Festival-Macher all das über die lit.Cologne GmbH oder die „litissimo gGmbH zur Förderung der Literatur und Philosophie“. Und selbst vom Stadtschreiber Ruhr hieß es: „Die Lit.RUHR (also Köln, G.H.) unterstützt die Brost-Stiftung beim Projekt ,Stadtschreiber(in) Ruhr’“.

„Bücher vonne Ruhr“: Bücher von (dieser) Welt

Nur gut, dass es in Bottrop immer noch und zunehmend deutlicher sichtbar den Verlag Henselowsky Boschmann gibt. Verleger (und Autor) Werner Boschmann versucht mit Reihen („Ruhrgebiet de luxe“), Anthologien und starken Einzeltiteln mehr zu bieten als nur einen Kessel Buntes rund ums Ruhrgebiet. Selbstironisch nennt er seinen Verlag „Regionaler Literaturversorger Ruhrgebiet“, doch viele Leser  und Autoren kommen längst nicht mehr nur aus dem Ruhrgebiet, wie man etwa aus den Bio-Bibliografien der Autoren des „Vorbilderbuch. Kleine Galerie der Menschlichkeit“ erfahren kann.

Auch die Bücher der international ausgezeichneten Kinder- und Jugendbuchautorin Inge Meyer-Dietrich oder die des Filmemachers Adolf Winkelmann verhandeln zwar das Ruhrgebiet und seine Geschichte(n), sind aber frei von jedem Provinzmief. Ein neuer Autor wie Ruhrbarone-Blogger Stefan Laurin hält in „Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende“ Politik, Verwaltung und ihren taumelnden Satelliten drastisch den Spiegel vor: „Das Ruhrgebiet hatte viele Möglichkeiten; die meisten hat es nicht genutzt. Keine Region Deutschlands, ja Europas, von dieser Größe wird dilettantischer regiert. Verantwortlich hierfür waren und sind die Menschen, die all das mitgetragen haben.“

Man kann nur hoffen, dass Henselowsky Boschmann sein freches Programm inhaltlich weiterentwickelt, also die Balance zwischen regionaler Verwurzelung und weltoffenem Horizont immer wieder neu und besser auspendelt. Auf Unterstützung oder kleine Subventionen aus dem kunstfernen Regionalverband Ruhr wird der Verlag dabei erst gar nicht hoffen dürfen.

Jürgen Brôcan: Lyriker, Verleger, Übersetzer, Kritiker. Foto: Jörg Briese

edition offenes feld

Sehen lassen kann sich auch das rein literarische Programm des Dortmunder Verlegers, Übersetzers und Kulturjournalisten Jürgen Brôcan. 2016 erhielt er für sein lyrisches Gesamtwerk den Literaturpreis Ruhr. Über seinen Verlag, der mindestens drei Titel pro Jahr herausbringt, schreibt er:

„Das Programm der „edition offenes feld“ (eof) ist auf Vielfalt der Gattungen und Stile ausgerichtet. Klassiker in Übersetzung, arrivierte Autoren aus verschiedenen Ländern und Entdeckungen in Lyrik und Prosa sollen zum Facettenreichtum der Literatur beitragen.“
Und dass dies Brôcan auch gelingt, dafür bürgen Autoren wie Ranjit Hoskoté, Spoon Jackson oder die Lieder des chinesischen Poeten Zhou Bangyan aus Zeiten der Song-Dynastie.

Last but not least: Rigodon Verlag und andere Solitäre

Ich bin sicher: Einige wenige Special-Interest-, Klein-, Kleinst- und Selbstverleger habe ich aufzuzählen vergessen. Nicht vergessen werden aber darf das aus all dem hervorrragende „Schreibheft“ Norbert Wehrs, das vom Rigodon Verlag in Essen herausgegeben wird und es zu internationaler Geltung gebracht hat. Vergessen sollte man auch nicht die Edition Wort und Bild des Bochumer Dichters und Grafikers H.D. Gölzenleuchter. Seit 1979 gibt Gölzenleuchter Lyrik, Prosa und Mappen mit literarischen Texten und Originalgrafiken heraus. In der Zusammenarbeit von Autoren und Grafiker sind feinste bibliophile Drucksachen entstanden.

Ob nun Norbert Wehr, H.D. Gölzenleuchter, Klauspeter Sachau und sein  ‚vorsatzverlag‘ in Dortmund, ob nun Werner Boschmann oder Jürgen Brôcan: Das finanzielle Risiko der Herausgabe eigener und fremder Texte tragen sie immer ganz persönlich. Glücklich, wer nach Jahrzehnten freier Verlagstätigkeit irgendwo irgendwann einen Preis erhält, an dem auch ein Scheck hängt.

Beim RVR verleiht man gern preiswert Literaturpreise – je mehr, desto besser. Foto: Jörg Briese

Statt Muse: Almosen

Norbert Wehr erhielt 2010 angesichts seiner Lebensleistung fürs „Schreibheft“ den Hauptpreis zum Literaturpreis Ruhr, immerhin mit 10.000 Euro dotiert. Das war damals möglich, weil nicht nur Schriftsteller mit dem Hauptpreis ausgezeichnet werden konnten, sondern gelegentlich auch hochverdiente Verleger, Kritiker, Wissenschaftler und Archivare.

Der Regionalverband Ruhr will auch das nun ändern und hat für Verleger ab 2020 voraussichtlich nur noch einen Talmi- Ehrenpreis übrig. In einer Beschlussvorlage des Ausschusses für Kultur und Sport beim RVR hieß es kürzlich so bürokratisch wie genderkorrekt:
„,Mit dem Ehrenpreis des Literaturpreises Ruhr werden eine oder mehrere Personen oder eine Institution für herausragende Verdienste um die Literatur im Ruhrgebiet oder für das literarische, literaturwissenschaftliche, literaturkritische, organisatorische oder verlegerische Gesamtwerk ausgezeichnet.‘ Dieser Preis ist kein Jurypreis, sondern der RVR bestimmt gemeinsam mit dem Literaturbüro Ruhr den bzw. die Preisträger*in. Der Preis wird nach Bedarf und nicht jährlich vergeben. Der bzw. die Gewinner*in erhält einen Preis in einer noch zu bestimmenden Form. Dieser kann z.B. eine von einem bzw. einer Künstler*in gestaltete Skulptur/Statue sein.“

Ehrloser Ehrenpreis

Ich sehe es schon vor mir und würde mitleiden, falls etwa der virtuose Holzschneider H.D. Gölzenleuchter von einem linkischen Ausschuss-Vorsitzenden eine gemäß Parteien-Proporz gestaltete Stilmix-Statuette in die Hand gedrückt bekäme, die nun wiederum dem HAP Grieshaber-Bewunderer Gölzenleuchter Tränen des Entsetzens in die Augen treiben dürfte.

Sehr viel lieber ist mir daher die Vorstellung, dass ab 2020 niemand diesen Dumping-„Ehrenpreis“ annehmen wird: Deutlicher als mit ihm hätten die hochbestallten Kulturverweser des RVR ihre Geringschätzung editorischer Leistungen in der Verlags-Diaspora des Reviers nicht ausdrücken können. Und wahrscheinlich bemerken sie wieder nicht, was sie da anrichten.




Gewiss nicht immer geliebt, aber günstig gelesen: Seit 150 Jahren gibt es die Reclam-Heftchen

Natürlich dies und das von Goethe. Natürlich Schiller, Lessing und Kleist. Dazu Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“, Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ oder auch – heute weitaus weniger bekannt – Fred von Hoerschelmanns Hörspiel „Das Schiff Esperanza“. Und. Und. Und.

Reclam-Heftchen aus meinen Beständen: früher in (heute mehr oder weniger ausgebleichter) Sandfarbe, dann in entschiedenem Gelb. (Foto: Bernd Berke)

Reclam-Heftchen aus meinen heimischen Beständen: früher in (heute ziemlich ausgebleichter) Sandfarbe, dann in entschiedenem Kanari-Gelb. (Foto: Bernd Berke)

Es sind ein paar wenige Beispiele für damals oft als quälend lästig empfundene Schullektüre. Man weiß ja noch, wie sie manches angestellt haben, um einem die Klassiker zu vergällen. Wirklich für sich „entdecken“ durfte man sie erst später. Jetzt, da eine Filmserie „Fuck ju Göthe“ heißt, sind sie in den Schulen und selbst in germanistischen Seminaren längst nicht mehr so selbstverständlich wie damals.

In welcher Form hat man diese Lektüren absolviert? Mit diesen gelben Heftchen im Hosentaschenformat, die seinerzeit (bis 1970) freilich noch einen Farbton hatten wie später jene notorischen Rentner-Westen, also ein sandiges Beige. Nach und nach kamen u. a. noch Hefte in Rot (fremdsprachige Ausgaben), Orange (zweisprachig) und Grün (Interpretationen) hinzu. Doch das Markensignal ist das kräftige Kanariengelb.

Die älteste deutsche Buchreihe

Warum diese Erinnerung? Weil es diese Texte, unter dem etwas geschwollen klingenden Reihentitel „Reclams Universal-Bibliothek“, nunmehr seit 150 Jahren gibt. Bekannter sind die ausgesprochen schlicht ausgestatteten Bände unter dem eher zutreffenden Namen „Reclam-Heftchen“. Wenn ich nicht irre, höre einen kollektiven Seufzer. Das Jubiläumsmotto des (1828 in Leipzig gegründeten) Reclam-Verlages lautet denn heuer auch: „Gehasst, geliebt, gelesen“. Hauptsache Letzteres.

Die Reclam-Hefte sind die älteste noch bestehende deutsche Buchreihe. Also muss ja wohl etwas Handfestes dran sein am verlegerischen Konzept, vor allem wohl der unschlagbar günstige Preis für vielfach anspruchsvolle Dichtungen. Modernste Produktions- und Werbemethoden sorgten schon früh dafür, dass sich die Heftchen am Markt etablierten.

Es begann mit einem neuen Gesetz – und mit Goethes „Faust“

Dreimal darf man raten, was am 10. November 1867 zu allererst in der Reclam-Reihe erschienen ist. Klar doch, es waren Goethes „Faust I“ und „Faust II“, jeweils in einer Auflage von 5000 Exemplaren, was seinerzeit schon eine ordentliche Hausnummer gewesen ist. Trotzdem waren die Bändchen binnen weniger Wochen vergriffen, so dass 1868 noch einmal 10000 Exemplare gedruckt wurden. Und es kamen noch viele, viele hinterher.

Es war der Beginn einer langen Erfolgsgeschichte, die noch nicht vorüber ist. Am Anfang stand ein neues Gesetz des Norddeutschen Bundes, das just am Vortag der „Faust“-Publikation in Kraft trat, also am 9. November 1867. Danach waren alle literarischen Werke gemeinfrei, deren Verfasser mindestens seit 30 Jahren verstorben waren.

Als Klassiker noch Bestseller waren

Auch der 1832 gestorbene Goethe fiel also unter diese Regelung, so dass seine Werke honorarfrei nachgedruckt werden konnten, ohne Erben oder andere Verlage abfinden zu müssen. Auf diese Weise konnte Reclam den Preis auf 2 Silbergroschen je Band drücken und ihn sehr lange halten. Im Deutschen Reich waren 20 Pfennige der Standardpreis für ein Heft, Inflationsjahre ausgenommen. In anderen Kriegs- und Krisenzeiten wurde kurzerhand schlechteres Papier verwendet, um den Preis nicht erhöhen zu müssen. Heute haben umfangreichere Hefte allerdings längst die 10-Euro-Schwelle überschritten.

Im Stuttgarter Literaturhaus wurde zur Feier des Jubiläumstages am 11. November ein Gelber Teppich aus lauter Reclam-Bändchen ausgelegt. (Bild: Reclam-Verlag)

Im Stuttgarter Literaturhaus wurde zur Feier des Jubiläumstages am 11. November 2017 ein Gelber Teppich aus lauter Reclam-Bändchen ausgelegt. (Bild: Reclam-Verlag)

Bis in die frühen 60er Jahre waren Klassiker in Reclam-Heftchen wahre Bestseller, allen voran Schillers Drama „Wilhelm Tell“ mit einer unglaublichen Auflage von rund 5 Millionen Stück. Auch die Anzahl der Titel wuchs nahezu wahnwitzig: Bis zum Frühjahr 1898 waren bereits 3810 verschiedene Heftchen erschienen. Heute sind übrigens rund 3500 Titel lieferbar, jährlich kommen 72 neue dazu.

Finstere Kapitel der Verlagsgeschichte

In der Reclam-Geschichte gibt es auch finstere Kapitel. So wurden in der NS-Zeit alle jüdischen  und als „entartet“ verfemten Autoren aus der Reihe verbannt. Im Weltkrieg diente man sich den Soldaten mit der Reclam-Feldbibliothek an, einer – so wörtlich – „Auswahl guter Bücher für den Schützengraben“.

Das Erscheinungsbild der Hefte wurde zwar öfter mal behutsam modernisiert, doch die Anmutung blieb über viele Jahrzehnte hinweg grundsätzlich ähnlich. So einfach Gestaltung und Ausstattung auch sein mochten, so haben die Reclam-Heftchen doch gewiss große geistige Breitenwirkung entfaltet. Viele Menschen hätten große literarische Schöpfungen in teureren Ausgaben vermutlich gar nicht goutiert.

Zerfledderte Exemplare mit Schüler-Kritzeleien

Es war natürlich eine andere, eher unterschwellige Wirkung, als sie in den 1960er Jahren etwa die Edition Suhrkamp mit ihren schockbunten Bänden hatte, ohne die man sich die Revolte von 1968 kaum denken kann. Doch einst konnte man – auch dank der Reclam-Heftchen – ohne weiteres parodierend auf Klassiker Bezug nehmen, so etwa der Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier, der den so weit verbreiteten „Wilhelm Tell“ verulkte.

Eine gediegene Bibliothek baut man eher nicht mit Reclam-Heftchen auf. Einstige Schullektüren sind denn auch hie und da zwangsläufig zerlesen und zerknittert, haben Eselsohren und sind angefüllt mit typischen Schüler-Kritzeleien. Mit diesen Heftchen durfte man das schon mal machen, insofern stehen sie auch für robust benutzbare Lektüre. Wehe, man wäre so mit dem heimischen Brockhaus oder sonstigen gebundenen Ausgaben verfahren! Apropos: Den einst so unerschütterlich imposanten Brockhaus haben die Heftchen ja nun auch überdauert.

Und so stehen oder liegen einige Exemplare auch bei mir noch immer in den fast schon ebenso legendären „Billy“-Regalen, sie nehmen ja nicht viel Platz weg. Mal eben schauen, was sich da noch findet. Oha! Da sehe ich schon was. Gleich mal wieder reinschauen. Bis dann, Leute!