Der verlegerische Verstand ward verlegt

Wir schreiben das Jahr 20.. – ach nee – ich will mich da lieber nicht festlegen, kann sein, dass es schneller geht, als ich es befürchte.
Also noch mal: Wir schreiben das Jahr 20 und X. Rast- und ziellos treibt das „Raumschiff Tageszeitung“ durch die Cyberwelt, irgendwo hin, da nie ein dereinst tätiger Journalist in seiner schlimmsten Fantasie gedacht hätte, dass es landen könnte.

Verlegende Damen und Herren in entsprechenden Verbänden stellten irgendwann fest, dass ihnen Einnahmen entgangen waren, die sie in interneten Seiten, die viele unter ihnen ohnehin viel zu spät einrichteten, hätten einfahren können. Und so beklagten sie 15 Jahre nach deren Geburt die Bemühungen von http://www.tagesschau.de, sich mit Apps um die Zuschaltung jugendlicher Interessenten zu bemühen.

Mein fassungsloses Kopfschütteln über so viel Dummheit nähert sich dem Gezappel einer Paralysis agitans. Wie konnten so viele Zartbegabte so lange Medien führend erfolgreich führen, um diese dann doch in jedes sich bietende schwarze Loch zu führen?




„Herrgott“ auf dem Verlegersessel – TV-Porträt des Siegfried Unseld

Von Bernd Berke

Der Schriftsteller Martin Walser schüttelt den Kopf. Wieder einmal mattgesetzt! Gegen seinen Freund und Verleger Siegfried Unseld, den Chef des Frankfurter Nobelhauses Suhrkamp, kann er im Schach fast nie gewinnen. Walser: „Nur nach Mitternacht, da ist er schlagbar.“

So war denn Unseld in dem Porträt „Der Verleger und die Lust am Buch“ (ARD) gleich als Gewinnertyp eingeführt. In diesem Stile ging es in dem Film von Hilde Bechert und Klaus Dexel weiter: Unseld, „ins Gelingen verliebt“; Unseld, der Mann auf der Sonnenseite des Lebens; Unseld, der kraftvoll „Ja“ sagt zu Dasein und Erfolg. Ein typischer Vertreter der „Wende-Zeit“, könnte man argwöhnen, wäre da nicht sein Buchprogramm, einst zu großen Teilen Pflichtlektüre der „APO“ – und auch heute noch eins der besten und profiliertesten im Lande.

Unseld ließ sich und seinen „Riecher“ gebührend bewundem, aber nicht in die Karten blicken. Mit gepreßter Stimme gab er abgewogene Auskunft, als halte er immer noch etwas Entscheidendes zurück. Welch ein Gegensatz zum „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki, der hier als „Zeuge“ angerufen wurde: Mit ein, zwei Sätzen gab Reich-Ranicki mehr preis als Unseld in einer Stunde. Was etwa Reich-Ranicki offen als Macht des Verlegers bezeichnete, nannte Unseld vornehm eine gewisse „Entscheidungsbefugnis“. In Unselds Augen blitzte es am hellsten auf, als er sich ausmalte, wie der spanische Markt für Brecht geöffnet werden könne. Mit Geist Geld zu machen, das ist seine Leidenschaft.

Die Aussagen der Suhrkamp-Autoren (Martin Walser, Max Frisch, Thomas Bernhard) ließen ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zum Literatur-Markt und seinen Machern erkennen. Zwar kamen höflicherweise keine Schriftsteller zu Wort, die Unseld abgelehnt hatte, doch greinte Thomas Bernhard: Er hänge vom Verleger ab „wie a Bauer von d’r Ernte“; der Verleger sei halt ein „Herrgott“.