Die Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein – Genazinos „Lieber Gott mach mich blind“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Körperlicher Verfall, wohin man auch blickt. Runzeln, Falten und Warzen breiten sich aus, die Haut wird teigig, übler Schweiß rinnt ohne Unterlass. Die Haare der einen stinken „nach Maggi“, das Gesicht des anderen sieht grässlich kastenförmig aus.

Am liebsten möchte man die ganze Hässlichkeit gar nicht mehr wahrnehmen: „Lieber Gott mach mich blind“ heißt denn auch Wilhelm Genazinos neues Stück, das jetzt in Bochum Premiere hatte. Stimmiger Ort ist das „Theater unter Tage“, sozusagen der Keller des Schauspielhauses. Bloß kein Licht hereinlassen!

Büchner-Preisträger Genazino, zumal als Prosa-Autor famos, unterhöhlt hier den landläufigen Jugend- und Schönheitswahn. Fünf nahezu abgestorbene, gleichwohl geschwätzige Figuren betreten die Bühne: Robert und Martha (Klaus Weiss und die geradezu gläsern zerbrechlich wirkende Margit Carstensen) sind ein älteres Paar. Sie haben sich längst nichts mehr zu sagen, werden aber gewiss für alle verbleibende Lebenszeit nebeneinander her leben. Sodann ihr Sohn Andreas und dessen trennungswillige Frau Tessa (Mark Oliver Bögel, Veronika Nickl).

Vom südlichen Liebestraum bleibt nur die Schürze mit Capri-Motiven

Schließlich die verblühte Iris (Veronika Bayer), die früher mal was mit Robert hatte und immer noch lachhaft frivol an die „Vögelei“ von damals anknüpfen möchte. Doch zu Roberts Leidwesen bringt sie nicht mal mehr eine anständige Perversion zuwege. Vom südlichen Liebestraum bleibt der kessen Iris nur die kitschige Schürze mit Capri-Motiven.

Diese absonderlichen Menschen beklagen unentwegt ihre leiblichen Schwundstufen – und halten sie sich auch gegenseitig vor. Die allgemeine Hypochondrie wirkt zuweilen äußerst komisch. Doch Vorsicht! Es ist eine schmerzliche Farce der Vergänglichkeit nach Samuel Becketts Art. Das Stück reicht tief ins Existenzielle, es handelt überhaupt von der Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein. Linderung besteht nur darin, der Qualwenigstens Namen zu geben. Einzig und allein dieser Wille treibt die Sprache an.

Etwaige Eingriffe der Regle (Christian Tschirner) sind kaum zu spüren, und das ist gut so. Denn dies ist ein Stück für Schauspieler. Die starke Bochumer Besetzung holt auf karger Szenerie (nur eine Matratze und ein Wasserbecken) viele Nuancen heraus. Kein eintöniger Jammer, sondern reiche Ernte im Absurden.

Termine: 21. Dez. 2005 – 3., 26., 27. und 31. Jan. 2006. Karten: 0234/3333-5555.




Im Dschungel der Begierden – Lukas Bärfuss‘ Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Vorhang öffnet sich und man sitzt vor einem Dschungel. Über und über ist die Bühne bewachsen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Ist dies der Dschungel der Begierden? Die Assoziation liegt nicht allzu fern, denn auf dem Spielplan stehen „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“.

Das zu Herzen gehende Stück des jungen Schweizers Lukas Bärfuss handelt von der geistig leicht behinderten Dora. Auf Wunsch der Mutter werden eines Tages ihre dämpfenden Medikamente abgesetzt. Und was kommt zum Vorschein? Ein sexuelles Monstrum, das fortan nur noch „ficken“ will.

Einiger Unsinn ist über das Stück verbreitet worden, etwa nach der Devise, dass Doras machtvoll erwachende Sexualität von den Erwachsenen im Namen einer höheren Ordnung unterdrückt werde. Ganz so, als wär’s noch wie einst in Frank Wedekinds„Frühlings Erwachen“, wo die Lüste der Jugend im wilhelminischen Ungeist erstickten.

Diese Dora liefert sich vollkommen aus

In Wahrheit geht es hier ziemlich permissiv zu, sprich: Die Erwachsenen erlauben dieser Dora so manches, sie haben (oder heucheln) ja sooo viel Verständnis. Die Eltern, der Arzt (bravourös: Fritz Schediwy), der Gemüsehändler (Bernd Rademacher als Doras Arbeitgeber) und ein „feiner Herr“ (Martin Horn als Parfümvertreter), der Dora brutal entjungfert, sind in verschiedenen Graden und Verdruckstheiten selbst bis zum Anschlag sexualisiert. Mutter und Vater (Veronika Bayer, Manfred Böll) etwa treiben’s mit einem „gut bestückten“ Mann zu dritt.

Die Leute sind daher ebenso irritiert wie insgeheim aufgestachelt, als dieses Mädchen mit seinem etwas debilen Lolita-Appeal zu allem bereit ist und sich alles gefallen lässt, um sich endlich einmal selbst zu spüren. Eine unversehens auf die Welt gefallene Versuchung. Blutergüsse, heftige Hautabschürfungen? Egal. Dora liefert sich aus, wie ein vollkommen passives Fluidum. Es ist ihr offenbar ganz gleich, ob man sie gröbstens beschläft, sie verprügelt oder eine Abtreibung an ihr vornimmt. Ihre häufigsten Sätze bei all dem lauten „Weiß nicht“ und „Ist doch nichts dabei“. Ungeheuerlich.

Martin Höfermanns Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus lässt solche bestürzenden Befunde im besagten Dschungel (mit Extra-Beifall bedachtes Bühnenbild: Volker Hintermeier) wie ein düsteres Märchen oder eine Legende erscheinen. Der Rcgisseur erspart uns rüde Sex-Szenen. Statt dessen wird es jeweils finster, und man hört ein bcdrohlich-atavistisches Dröhnen.

Herkömmliche Erklärungsmuster helfen hier nicht

Die Regie erschließt geradezu mythische Dimensionen und beschwört abgründige Ängste vor einer freigelassenen, geist- und grenzenlosen Sexualität. Herkömmliche gesellschaftliche Erklärungsmuster (von Geld, Arbeit und drohender Pleite ist nur en passant die Rede) helfen hier kaum weiter. Es waltet ein unlösbares Geheimnis. Doch im ältesten, aristotelischen Sinne des Theaters werden Furcht und Mitleid geweckt.

Sehr leicht könnte das Stück in Brachial-Komik oder Weltekel abstürzen. Es steht und fällt fast alles mit der Darstellerin der Dora: Bewundernswert, wie Angelika Richter in Bochum das Schwanken auf dem Grat vollbringt. Am Ende erstrahlt sie geradezu in ihrem Elend der Selbstaufopferung, als wäre sie eine „Heilige“ ganz eigener Art.

Doch über allem thront wie eine Zauberin oder Zeremonienmeisterin die betagte, doch frisch-freche Mutter des Gemüsehändlers: Mit dieser Urgestalt (Tana Schanzara), so ahnt man, könnte vielleicht ein neues Matriarchat beginnen. Doch das wäre ein anderes Märchen.

Termine: 31. März, 7., 13., 19. April. Karten: 0234/33 33-111.




Leise kommt der Jammer – Jürgen Kruse inszeniert Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Da hat man vorher gewettet, welche Schätze der Regisseur Jürgen Kruse diesmal aus Rock- und Pop-Archiven heben würde, um sie mit ordentlichen Dezibel-Werten von der Bühne schallen zu lassen. Doch an dem fast vierstündigen Abend kommt es ganz anders.

Zwar setzt Kruse auch diesmal allerlei Musik (von Brenda Lee bis zu den Byrds) ein, doch nur als weiche Einbettung für den Text, den er mit großem Respekt vor dem Wortlaut inszeniert hat.

Auf dem Plan steht Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Uraufführung 1949), jenes tragische, manchmal auch ein klein wenig sentimentale Spiel vom Scheitern des „kleinen Mannes“ und seines amerikanischen Traums vom ungehinderten Fortkommen.

Ärmliche Wohnung in Brooklyn; lauter noch nicht abbezahlte Ratenkäufe. Trotzdem wirken die Möbel schon aufgebraucht. Wie in eine Puppenstube schauen wir in die zwei Etagen dieser Behausung (Bühnenbild: Steffi Bruhn). „Draußen“ dräut eine Hochhaus-Silhouette, man hört hektisches Hupen. Keine gute Gegend. Links von der Bühne, grinst „Uncle Sam“, der das Dach von einem Hause hebt und so in die Privatsphäre dringt.

Den Träumen folgen keine Taten mehr

Hierher kehrt der Handlungsreisende Willy Loman (stille Größe im Leid: Jürgen Rohe) von einer kläglich erfolglosen Verkaufstour zurück. Er trägt einen verschlissenen braunen Anzug. Der Mann spricht leise, mit brüchiger Stimme, die Schultern hängen herab. Sein ganzes Wesen ist nur noch ein mühsam wankendes Aufrecht-Erhalten, steifbeiniger Rest einer längst verbrauchten Würde. Ein Satzfetzen wird immer wieder gemurmelt: „Waagerecht oder senkrecht“. Ja, das ist hier die Frage: Wie sich einer im Kreuzworträtsel des Lebens noch behaupten kann, wenn alle Felder falsch ausgefüllt sind.

40 Jahre lang hat Willy der Firma gedient, nun kann er nicht mehr. Die beschädigten Träume ergießen sich nicht mehr in Taten, sondern bloß noch in (Selbst-)Gespräche. Phantasien von Großartigkeit („Ich bin überall beliebt“) wechseln mit Jammer („Man findet mich lächerlich“). Was einst Selbstentwurf war, ist nur noch Selbstbetrug und mündet schließlich in Selbstaufgabe. Ein „Versager“ in den Zeiten des Börsenwahns. Rings um ihn verdichtet sich ein simultanes Geisterspiel, eine Art „Gespenstersonate“. Die Traumlicht-Erscheinung des „im Dschungel“ reich gewordenen Bruders Ben (Ralf Dittrich) lockt Willy ins gefährlich Ungefähre.

Kruse lässt Millers Text in aller Ruhe dahin rinnen, er zerfleddert nichts, sondern lotet leise, umsichtig und mitleidend aus. So sehr hat er sich als Regisseur zurückgenommen, dass man gelegentlich gar ein paar rhythmische Akzente vermisst, die den Energiefluss stauen und wieder freisetzen könnten.

Am Ende tobt sich doch noch die Spaßgesellschaft aus

Präzise sezieren Kruse und seine Darsteller auch das freilich nicht rein „private“ Familien-Syndrom der Lomans: Da ist Linda (Veronika Bayer), die ihren Mann, trotz all‘ seiner Schwächen liebt, eine Heroine des Alltags im Morgenrock; da sind die Söhne Biff und Happy (Patrick Heyn, Johann von Bülow), noch jugendlich hitzig und albern, doch auch schon gebrachen. In ihrem Widerspiel mit dem Vater spürt man schaudernd die allzu kurze Spanne des Lebens: kaum gehofft, schon halb gescheitert. Generation für Generation.

Und die Musik? So behutsam verwendet wie hier, nimmt sie Stimmungen auf und trägt sie sanft weiter. Nur ganz am Schluss dröhnt, nach Willys Autounfall-Tod, eine Party mit dem „Starfucker“ der Rolling Stones. Fühllos stampft die Generation der Lebensversicherungs-Erben übers triste Schicksal des Handlungsreisenden hinweg. Da tobt sich die Spaßgesellschaft im Jugendwahn aus.

Frenetischer Beifall für alle.

Termine: 28. Mai, 17., 25. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Im Fegefeuer der Intrigen – Matthias Hartmanns Bochumer Triumph mit der Schiller-Rarität „Der Parasit“

Von Bernd Berke

Bochum. Hand aufs Herz: Wer kennt Friedrich Schillers „Der Parasit“? Nein, nein. Keine Ballade ist’s, sondern ein richtiges Theaterstück. Und doch taucht es noch nicht mal im zweibändigen Hensel-Schauspielführer („Spielplan“) auf, der sonst fast immer Rat weiß. Es ist eine Rarität, die Bochums Intendant Matthias Hartmann zum Bühnenleben erweckt. Und zwar fulminant!

Die „Quote“ durfte man schon damals nicht ganz außer Acht lassen: Auf der Suche nach einer Komödie mit Kassen-Chancen stieß Schiller anno 1803 auf den Stoff des Franzosen Louis Benoît Picard. Er übertrug dessen Text, verwandelte die Verse in flüssige Prosa, verschob inhaltliche Akzente – und fertig war ein funkelndes, effektvoll gebautes Konversationsstück, bei dem man nie und nimmer an den sonst so ernsten Schiller denkt. Eine Gelegenheitsarbeit, kein Hauptwerk. In Bochum erweist sich freilich, dass darin eine Menge steckt.

Ein Mitläufer aller Systeme

Hartmann verlegt die Karriere-Intrigen im Dunstkreis eines Ministeriums in die Angestellten-Welt. Vor ehedem vielleicht gediegener, nun aber etwas verschlissen wirkender Kulisse (unmodische Wandfarben, verstaubter Gummibaum, schäbige Plastik-Planen / Bühnenbild: Petra Korink) betreibt jener „Parasit“ namens Selicour (einfach wunderbar präsent: Michael Maertens) seine Ränkespiele, um endlich Gesandter zu werden. Als erotische Zusatz-Trophäe lockt Charlotte (Lena Schwarz), 17jährigesTöchterlein des neuen Ministers Narbonne (Felix Vörtler).

Eminent komisch ist’s, wie dieser Selicour mit tausend Wort-, Bein- und Körper-Verdrehungen es eilfertig jedem recht machen will; wie er, wachsam in jeder Sekunde, dem Minister schmeichelt und dessen Mutter (Veronika Bayer) becirct, die darob ganz lüstern wird. Wie er jede Schwäche anderer für sich münzt, nach oben buckelt und nach unten keilt. Schon dem verwerflichen Vorgänger hat Selicour, Mitläufer (und Motor) jedes Systems, gedient. Nun schmäht er ihn. Er war ja schon immer dagegen.

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt, dass selbst seine Gegner wankend werden. La Roche (Thomas Büchel), den Selicour kurzerhand entlassen hat und der aus Rachedurst eine Gegen-Intrige ins Werk setzen will, wird nach allen Regeln der Kunst umgarnt, als er sich beim Minister beschwert. Selicour bedient sich zudem virtuos der Fähigkeiten anderer: Dem redlichen Beamten Firmin (Ralf Dittrich) luchst er ein kluges Dossier ab, von dessen in Charlotte verliebtem Sohn Karl (Manuel Bürgin) erhält er glühende Gedichte.

Herrlich, wie Hartmann und die Darsteller den typenkomödiantisch zugespitzten Charakteren flackernde Doppeldeutigkeit ablauschen. Minister Narbonne (gestisch zwischen dem Komiker Heinz Erhardt und dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß angesiedelt), hat zwar etwas Salomonisches, bei Konflikten will er stets beide Seiten hören. Doch lässt der Schelm nicht die Gegner wie Gladiatoren gegeneinander antreten?

Sogar mit Selicour, so wie Maertens ihn anlegt, kann man Mitleid haben. Aus kleinen Verhältnissen stammend, will er halt hinauf. Verzweifelt strampelt er sich ab bis zur Erschöpfung, schmort selbst gehörig im Fegefeuer seiner Intrigen. Als sich Erfolge (trügerisch) abzeichnen, kann er es nicht recht fassen, geschweige denn genießen. Wäre Selicours Seelendrang nur etwas anders gelagert, so taugte er zum guten Menschen, denn er kann sich doch so gut in alle hineinversetzen…

Drei Lösungen für das Lustspiel

Bis dahin war’s schon köstlich, man hat sich im Voraus auf jede Szene diebisch gefreut. Doch der Geniestreich folgt erst noch: Im Schnellgang spielt Hartmann drei Lösungen des Lustspiels durch – und alle scheinen irgendwie höllisch plausibel. Einmal obsiegt (der Vorlage gemäß) der seriös-zurückhaltende Firmin, dann zieht mit La Roche der nächste Opportunist seine Schleimspur, schließlich triumphiert Selicour.

Nicht etwa mutwillig aufgepfropft sind diese Varianten. sondern unmittelbar aus vorherigen Kernsätzen des Stückes geronnen. So wird’s unversehens ein ganz heutiges Drama: der Text als Spielmaterial wechselnder, einander überlagernder Bedeutungen.

Stehende Ovationen für alle Mitwirkenden. Bochum ist wieder eine zentrale Pilgerstätte des deutschen Theaters!




Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.

 




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Am Ende aller Mythen – Roberto Ciulli inszeniert „Die Bakchen“ des Euripides in Mülheim

Von Bernd Berke

Jesus stirbt am Kreuz und preßt seine letzten Worte hervor: Unser ailer Seelen seien verhärtet. Wir verschlössen Augen und Ohren vor dem Leid.

Der Messias ist nicht allein. Ton ab, Kamera läuft; wie beim Gladbecker Geiseldrama? Doch dann zeigt sich, daß hier das Leben Jesu verfilmt wird. Die Kameras werden schließlich abgebaut, der Gottessohn steigt über eine Leiter vom Kreuz. Auch er ist nur ein Schauspieler. Kult und Mythen sind vergangen, sie existieren allenfalls noch auf Zelluloid.

So beginnt in der Mülheimer Stadthalle Roberto Ciullis Inszenierung des Euripides-Dramas „Die Bakchen“. Das Stück entstand etwa 406 v. Chr. Der Jesus-Auftritt zeigt mithin, wie überaus frei Ciulli abermals mit seiner Vorlage umgegangen ist. „Nach Euripides“ heißt es im Programmheft. Roberto Ciulli und Helmut Schäfer haben das Griechenstück mit Texten von Baudelaire, Pavese, Nietzsche und Hölderlin „angereichert“.

Ciulli hat erneut ausufernd-bildkräftige szenische Phantasie walten lassen. Der Fotorealist Howard Kanovitz hat mit antikisierenden Versatzstücken einen Traumraum aus Grüften und Grabsteinen entworfen – ein Bühnenbild beinahe im Geiste von Giorgio de Chirico, dessen Arbeiten das Programmheft füllen. In diesem unwirklichen Raum verlagert sich alles Geschehen ins Innerseelische, wird zum (Alp)-Traumspiel.

Der Rausch-Gott Dionysos will, von Asien kommend, Theben erobern. Einige Frauen sind – wie man hört, aber nicht sieht – seinem Lockruf schon gefolgt, haben die Webstühle verlassen und geben sich orgiastischen Riten hin. Es sind die „Bakchen“ (Bacchantinnen). Thebens Machthaber Pentheus (knittrig auf verlorenem Vernunft-Posten: Volker Roos) ist die Gegenfigur. Der Rationalist sieht die Felle der Ordnung davonschwimmen. Er nimmt Dionysos, der Menschengestalt angenommen hat, gefangen. Doch der Gott stellt Pentheus eine furchtbare Falle, die rasenden „Bakchen“, darunter Pentheus‘ Mutter, reißen ihn in Stücke. Auch davon erfährt man nur durch einen „Botenbericht“. Bis heute ein Rätsel: Wollte Euripides der Vernunft oder dem Rausch das Wort reden? Geht es gar darum, daß das Rauschhafte nicht verdrängt werden darf, wenn es nicht zerstörerisch wiederkehren soll?

Ciulli jedenfalls macht über weite Strecken kein großes Drama daraus: Sein „Dionysos“ (Hannes Hellmann) ist nicht magisch-göttlich, sondern ein etwas überdrüssiger „Typ“ mit wallendem Langhaar. Seine Wein-Seligkeit wirkt nicht sehr lustvoll. Er schleppt die Flasche eher wie ein „Penner“ mit sich herum. Auf dem Todestrip ist er auch noch. Sein erster Monolog („Der frohe Tote“), in dem er sich den Raben und Würmern zum Fraß anbietet, stammt von Baudelaire. Die Götter müssen verrückt sein.

Nach dem Ende aller Tragödien folgt die Farce: In einer langen Szene geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Schwebende Jungfrau, Kasperltheater, King-Kong-Affe, Orient- und Feuerzauber. Da wirkt Dionysos‘ Befreiung aus Pentheus‘ Ketten wie der Auftritt eines Kirmes-Entfesselungskünstlers, sein Ringkampf mit Pentheus hat etwas von Boxbuden-Atmosphäre.

Nach der Pause: Pentheus‘ Mutter Agaue (Veronika Bayer) will ihren Wahn aufrecht erhalten, sie habe einen Löwen und nicht ihren eigenen Sohn zerfleischt. Ihr Vater Kadmos schlägt sie, will ihr die Wahrheit einbleuen. Die Szene wiederholt sich, es könnte endlos so weitergehen. Ein ewiger Kreislauf aus Schuld und Lüge. Dionysos schläft darüber ein, Wein rinnt aus seiner Flasche. Die Mythen sind vergangen.

 




Banalität und Alptraum der Folter – Roberto Ciulli inszeniert Sartres „Tote ohne Begräbnis“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es ist eine Zumutung und zum Davonlaufen, was uns Roberto Ciulli in Mülheim als Sartres „Tote ohne Begräbnis“ vorsetzen läßt. Doch können nicht Zumutungen auf dem Theater eine andere Qualität bekommen? Können sie nicht dazu zwingen, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, an die man andernfalls nicht im Traum geriete?

Ciulli läßt Sartres (kaum noch gespieltes) Stück über eine Gruppe von Résistance- Kämpfern, die sich in der blutrünstigen Gewalt französischer Nazi-Kollaborateure befinden, als schrecklichen „Folterabend“ vorführen. Der ohne Pause und also ohne Fluchtmöglichkeit gespielte Text ist rigoros gekürzt. Ciullis Fassung läßt wenig ahnen von Sartres Ansinnen, die existentielIe Entscheidungsfreiheit in einer Extremsituation zu zeigen – die Entscheidung zwischen Verlust der Würde durch Verrat und Verlust des Lebens durch Schweigen. Statt dessen starrt man sprachlos-entsetzt in ein Horrorkabinett.

Die vordere Bühnenhälfte (Spielstätte im Raffelbergpark) ist voll von brackigem Wasser. Ein Unterweltfluß, eine Art Acheron? Doch mythisch Anwandlungen steht das banale Inventar entgegegen: Der „Warteraum“ der Opfer, in dem sie der Folter entgegenzittern, erweist sich (zu erinnern ist an reale Stadien als Stätten der Gewalt) als Turnhalle mit Barren, Sprungbock und Sprossenwand, an der die Widerständskämpfer anfangs wie Gekreuzigte hängen. Überhaupt flimmert das Geschehen ständig zwischen alptraumhafter Bedeutsamkeit und abgründiger Banalität.

Hinten, abgegrenzt durch einen Vorhang, liegt das armselig-schäbige Abteil der Folterknechte: Rostiges Stahlbett, nackter Scheinwerfer, ein Radio; das ist alles.Umso absurder zelebrieren die Folterer ihre Bluttaten – mal geschminkt, mal schmierige Erotik signalisierend, mal kühl experimentierend, mal wie Turner sich zur Gewalt „ertüchtigend“. Und: Zu Folter und Mord ertönt immer Musik. Die Folter als bizarres Fest.

Doch auch ihre Opfer erscheinen keinesfalls als Helden. Sie sind mit ihren Peinigern im selben hermetischen Wahnsystem gefangen. Ihre Wunden tragen durchaus auch groteske Züge, was – falls eine Steigerung möglich wäre – alles noch schlimmer, noch sinnloser macht. Am Schluß bleibt nicht einmal (wie bei Sartre) „Erlösung“ durch den Tod, sondern Verewigung der Qual in einer endlos zerdehnten Zeit.

Die Aufführung entwirft starke, verstörende Bilder. Das Ensemble – voran Veronika Bayer – spielt, wenn der Begriff hier erlaubt ist, höchst „diszipliniert“. Dennoch bleibt die Frage, ob Ciulli nicht an dem Problem scheitert, scheitern muß, ein Phänomen wie die Folter auf der Bühne nur scheinhaft verdoppeln und verkünsteln zu können.




Hang zur Hysterie: Roberto Ciulli inszeniert Tschechows „Möwe“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Saison für „Die Möwe“. Am nächsten Wochenende kommt eine Inszenierung von Anton Tschechows Künstlerdrama in München heraus, an diesem Wochenende hatte es Premieren in Augsburg und in Mülheim (Regie: Roberto Ciulli). Das Theater an der Ruhr liegt mit der Wahl des Stücks offenbar im Trend.

Zu Beginn völlige Dunkelheit. dann Scheinwerfer auf einen schweren roten Vorhang, der zwischen Metallgerüsten hängt. Davor, dem Zuschauerrum abgewandt, sieben Stühle. Nach und nach lassen sich die Protagonisten, zugleich Zuschauer eines „Stücks im Stück“, darauf nieder: Die aufgedrehte, sich gegen das Altem sträubende Bühnendiva Irina, die wie ein Kind (oder: ein Besitz, ein Ding) hereingetragen wird von ihrem Liebhaber, dem vielgelesenen Schriftsteller Trigorin; dann Irinas Sohn Konstantin Treplev, Trigorins Kunst verwerfend, mit eigenen Schreibversuchen aber Gelächter hervorrufend; ferner Irinas Bruder, ein Arzt, ein Lehrer, ein Gutsverwalter, die Alkoholikerin Mascha und schließlich die verwundbare „Möwe“ Nina (gute Besetzung: Veronika Bayer), die Opfer Trigorins werden wird.

Eine Wartezimmersituation also, sinnreiche Vergegenwärtigung des für Tschechow-Personal typischen, ziellosen Wartens. In einer späteren Szene liegen die Schauspieler, todweiß geschminkt, so unterm Vorhang, daß nur ihre kalkigen Gesichter unterm Saum hervorlugen. Unbeweglichkeit, Starre, verfehltes Leben. Ein Theaterbild von Becketts Gnaden. So weit, so eindrucksvoll. Aber: Weil gleich alle Personen auf der Bühne versammelt sind und ihre – im Text zu Einzelszenen parzellierten – Dialoge jeweils in Gegenwart der anderen absolvieren, wird das filigrane Beziehungsgeflecht zu entschieden, zu kraftvoll gebündelt. Der elegische Grundton der Vorlage wird übertönt.

Löst sich endlich jemand aus den langen, oft genug funktionsarmen Schweigepausen (Spieldauer: drei Stunden), so gerät das vor allem bei zwei Figuren gleich zur expressiven Selbstdarstellung, zur schrillen, unvermittelten Ausrufung: Gordana Kossanovic als Irina spielt um entscheidende Grade zu überdreht. Hysterisch geht sie mit eitlen Kapricen schwanger, doch da ist – Scheinschwangerschaft eben – viel heiße Luft.

Hannes Hellmann als ihr Sohn Konstantin steht dem kaum nach. Unzulänglicher Prophet eines Traumtheaters, der er laut Text zu sein hätte, krächzt er seine Sätze lautstark heraus, als wolle er sie nur loswerden und nichts damit ausdrücken. Beide zusammen begraben sie die prekäre Mutter-Sohn-Beziehung unter ihrem Schwall.

Zweifellos wohnt Tschechows Figuren eine Neigung zum Ausbruch, zur Hysterie inne. Diese latent vorhandende Prägung aber als Quintessenz hervortreten zu lassen, rührt nach meiner Meinung an die Substanz des Stücks.

Ciullis Experiment mit Tschechow fördert viele richtige Ansätze zutage. Die Aufführung krankt aber daran, daß allzu forsch abstrahiert und überbetont wird. Das gilt auch für die Langeweile des russischen (in Mülheim eher ortlosen) Landlebens: Statt daß sie mit Bedeutung aufgeladen wird, wird sie durch Zerdehnung verdoppelt.