Gar hübsch schnurrt die Mechanik ab – Molières „Der eingebildet(e) Kranke“ am Westfälischen Landestheater

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Neue Stufe der Gesundheitsreform: Einfach nicht mehr zu den Ärzten gehen, sondern auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Behandlungen und Medikamente richten sowieso nur Schaden an.

Nein, nein, das ist kein neuer Sparvorschlag voll Minister Seehofer, sondern so legt es uns bereits der Dramatiker Jean Baptiste Molière (1622-1673) nahe. Sein Stück „Der eingebildet(e) Kranke“ hatte jetzt zum Saisonauftakt am Westfälisehen Landestheater (WLT) Premiere.

Man spielt die moderne Übersetzung von Tankred Dorst, und die setzt mit den Verbesserungen just schon beim Titel an: „Le malade imaginaire“ heißt nun auf Deutsch nicht mehr „Der eingebildete Kranke“, sondern „Der eingebildet Kranke“. Kein Arroganter also, der krank ist, sondern ein Mensch, der sich lediglich einbildet, krank zu sein.

Genug der Spitzfindigkeiten. Unverwüstlich ist das Drama jenes allzeit jammerndenArgan (Hubert Schedlbauer), der seine Tochter partout mit dem lachhaft steifen Nachwuchsmediziner Thomas Diafoirus (Guido Thurk) verheiraten will, nur damit Papa stets über einen Leibmedikus für seine tausend Zipperlein verfügt. Am Ende bringt das schlaue Dienstmädchen Toinette (Vesna Buljevic) alles ins rechte Liebeslot.

Die erprobte Ansammlung „dankbarer“ Rollen läßt sich selbst mit gebremsten Kräften halbwegs unterhaltsam auf die Bühne bringen. Hypochonder, Geizhälse und scheinheilige Erbschleicherinnen wird s halt immer geben.

In Castrop-Rauxel ist die winzige, fast puppenhafte Szenerie mit goldenem Rahmen eingefaßt wie ein kostbares, schier unantastbares Gemälde. Und tatsächlich: So recht beherzt traut man sich – unter der Regie von Lothar Maninger – nicht an diesen Klassiker der Typenkomödie heran. Es sieht so aus, als habe man uns jegliche Überraschung ersparen wollen. Und so schnurrt das Ganze sehr brav mit der hübschen Mechanik einer Spieluhr ab. Gerafftes Röckchen hier, gravitätisches Staksen da. Die zwischenmenschlichen Beziehungen als höchst berechenbares Räderwerk.

Auf Tiefenschärfe wird nahezu ganz verzichtet, man hat den Figuren lediglich ein paar Attribute beigegeben, mit denen sie sich in wohlfeilen Slapstick flüchten können. Der Notar wankt als Balancekünstler mit meterhohem Bücherturm herein, der als Gesangslehrer verkleidete Liebhaber Cléante (Ulrich Mayer) trägt eine Note auf dem Jackett und darf immer mal wieder einen Opernarien-Kiekser von sich geben. Argan selbst tapert – Söckchen aus, Söckchen an – deppenhaft zwischen medizinischen Fußbädern, Fläschchen, Bettpfannen und Klistieren herum. Der Komik entbehrt all das nicht, doch es ist nur der halbe Spaß. Und ein kurzer: Nach eindreiviertel Stunden (Pause eingerechnet) ist’s vorüber. Keine abendfüllende Sache, weder zeitlich noch sonst.

Termine: 14. September (Castrop-Rauxel), 25. Sept. (Mülheim), 21. Okt. (Hamm). Karten: 02305/1617.




„Jedermann“ will alles – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes in einer Bochumer Variante

Von Bernd Berke

Bochum. Dröhnender hat der Tod den reichen „Jedermann“ wohl selten gerufen. In der Bochumer Jahrhunderthalle, einem gigantischen früheren Werksgebäude von Krupp, hallt das Echo des Namens sekundenlang schaurig nach. Überhaupt ist beim Sterben des reichen Mannes in Bochum beinahe alles anders als in Salzburg, wo Hugo von Hofmannsthals Version alljährlich als christliches Mahn-Spiel vor dem Dom gegeben wird.

Der „Bochumer Jedermann“ (offizieller Titel) ist ein Investor, der just das aufgegebene Krupp-Areal rings um die imposante Jahrhunderthalle aufkaufen und die Industriebrache zum lukrativen Konsum- und Freizeitparadies ausbauen will. So etwas soll’s ja geben.

Mit dem Cabrio durch die Jahrhunderthalle

Spielort gleich Handlungsort. Das hat einen gewissen Reiz; gibt es doch dem reichen Jedermann (Thomas Rech) Gelegenheit, mit einem Cabrio bayerischer Marke samt zickiger Buhlschaft (sprich: Geliebte; Vesna Buljevic) durch die Halle zu rasen und das Objekt seiner Begierde gleich in Augenschein zu nehmen.

„Jedermann“ will alles. Gott ist hier nicht mehr der große Weltenherrscher, sondern nur eine ferne, etwas brüchig gewordene Stimme. Und der Teufel (Axel Walter), ein Abklatsch des Mephisto, treibt nur miesen Schacher: Gibst du mir deine Seele, bekommst du die Immobilie gratis…

Zwischen Aufblähung und Kleinkunst

Das Theaterkollektiv „stahlhausen enterprises“ (Bochums freie Thealozzi-Truppe, verstärkt um Darsteller verschiedenster Provenienz) müht sich, die weiträumige Spielfläche weidlich zu nutzen. Schon der Bote, der zu Beginn Aufmerksamkeit vom werten Publikum fordert, kommt auf modischen Rollschuhen (Inline-Skater) angedüst. Alsbald hinkt der Teufel unter wabernden Dampfwolken herbei, wird aber sofort von einem Hausmeister im Revier-Tonfall („Wat machß du denn hia, ey?“) angemeiert. Das nicht immer fruchtbare Wechselspiel zwischen Aufblähung und Kleinkunst zieht sich durch den ganzen Abend.

Regisseurin Gudrun Gerlach hat sich nicht nur textlich im ganzen Umkreis des Stoffes (Urversion: England, spätes 15. Jahrhundert) bedient, sondern auch auf der Bühne ein Konglomerat aller möglichen Theaterformen angerichtet. Sie hat sich halt überall was abgeguckt, wohl auch hoch droben bei Heiner Müller und Pina Bausch. Doch hier heinermüllert und pinabauscht es lediglich lau daher, die Mittel reichen – zumal in zahllosen Nebenrollen – für wirkliche Kraftakte nicht hin.

Man sollte doch, man müßte mal…

Musicalartige Einlagen haben wir auch. Zudem tritt eine Männergesangsgruppe („Brüder, zur Sonne, zur Freizeit“) an. Man sieht Sequenzen mit „volksnahem“ Spaß- und Lachtheater, aber auch Versuche im finsteren großen Weltendrama. Gerüste werden aufgefahren, Feuer lodern im Hintergrund. Exerzitien in Sachen Tanztheater gibt’s gleichfalls, wenn jene fünf „Leichen der Vergangenheit“ der körperlichen Selbsterfahrung frönen. Vieles wirkt wie beliebiger Einschub, etwa nach dem Leitsatz: Diese Form könnten wir doch auch noch erproben. Man sollte doch, man müßte mal…

Manche mögen es für sinnlichen Reichtum an Ausdrucksformen halten, doch aufs Ganze gesellen, zerfasert das Konzept. Es ist kein grandioses, aber doch ein sympathisches Projekt, unterhaltsam oder bedenkenswert in manchen Einzelteilen. Besonders die Szenenfolge mit „Jedermanns“ Investoren-Pressekonferenz samt anschließender Schickimicki-Fete, in deren Verlauf sich ein von ihm drangsalierter Bochumer Opel-Malocher in den Tod stürzt, entfaltet bewegende Kontrastwirkung.

Am Schluß wird – wie rührend – „Jedermanns“ Seele durch ein armes Ruhrgebietspaar (Frührentner und Taubenmutter) doch noch gerettet, so daß Satan sich ein anderes Opfer suchen muß. Tatsächlich ist ein neuer Investor, ein neuer „Jedermann“ sogleich zur Stelle, und alles könnte von vorn beginnen. Jaja, so ist der Welten Lauf. Doch haben wir damit wirklich etwas gelernt, was wir vorher nicht wußten?

Termine: 13., 14., 19., 20.. 21.7. (jeweils 21 Uhr), zahlreiche weitere Aufführungen bis Ende August (dann Beginn 20.30 Uhr). Jahrhunderthalle Bochum, Zufahrt Gahlensche Straße. Karten (22 DM, ermäßigt17DM). Tel. 0234/17 59 0.

 

 




Vom Trauma des Lebens in der Fremde – Helmut Ruges „Wer bezahlt die Zeche?“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Waren im 19. Jahrhundert polnische Zuwanderer die „Türken des Reviers“? Um diese Frage kreist die neuen Szenencollage des Satirikers Helmut Ruge (Allerweltstitel: „Wer bezahlt die Zeehe?“), die am Samstag im Recklinghäuser „Depot“ als Produktion der Ruhrfestspiele uraufgeführt wurde.

Berge von Koffern sind die Hauptrequisiten, Zeichen für „Heimat“-Losigkeit – und das nicht nur im Hunsrück. Im kohlenschwarzen Bühnenboden klafft ein glühender Riß, als habe sich die Erde aufgetan. Ursache: „soziale Beben“.

Der Türke Erdal führt in fliegendem Rollenwechsel das epochenübergreifende Trauma des Lebens in der Fremde vor. Mal bleibt er der Erdal der „Wende“-Zeit in den 1980ern, mal wird er zum Polen Josef, der hundert Jahre zuvor ins Ruhrgebiet gekommen ist und bei den großen Bergarbeiterstreiks noch mehr Solidarität erfährt, als sie sich heute über Nationalitätsschranken hinwegzusetzen wagt. Zwei Zeitprofile werden ausschnittweise kontrastiert und treten wechselseitig deutlicher hervor: zuweilen verlaufen sie nahezu parallel: Was für den Sozialdemokraten von dazumal der kaiserliche Büttel, ist für den Türken heute der vom heimischen Militärregime beauftragte Spitzel.

Regisseur Bernd Köhler läßt die Szenen vielfach durch harte Ausblendung des Lichts abreißen. Die Einzelteile stehen für sich. Ständiger Neu-Ansatz also, denn Ruges Text zielt in gar viele Richtungen. Manchmal scheint es, als ginge es darob resignativ zu, wie bei einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Doch geht immer wieder gleichsam ein Ruck durch das Stück, und es folgen unvermittelt lustvolle Folklore-Einschübe oder (auch türkischsprachige) Bänkelgesänge. Fluchtreaktion oder Sinnenfreude, die sich nicht unterkriegen läßt?

Uneinheitlich wie der Aufbau ist auch der Inhalt: Es steht Vielsagendes neben vielfach Gesagtem. Daß die Szenenfolge nicht heillos in Resignation hie und Klamauk dort zerföllt. dafür sorgt Hauptdarsteller Erdal Merdan, der den Erdal bzw. Josef mit einer gehörigen und notwendigen Portion aggressiven Beharrungsvermögens spielt und so das Stück zusammenhält. Auch die weiteren Beteiligten aus dem Festspiel-Ensemble (u.a. Jürgen Mikol, Vesna Bujevic, Lydia Billiet) erhielten reichlichen Beifall.