Auf übermalten Bildern sieht man mehr – Arnulf Rainer, sein „Markenzeichen“ und die brachialen Witzbolde von Wien

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Solche Kapriolen schlägt der Kunstbetrieb: Da hat Arnulf Rainer sich zum Markenzeichen erkoren, fremde Bilder zu übertünchen – und dann kommen just in seiner Heimatstadt Wien schurkische Scherzkekse daher, die seine längst teuer gehandelten Übermalungen ihrerseits übermalen. Jetzt sind 64 Arbeiten Rainers in Recklinghausen zu sehen – willkommene Lehrstücke zu einer Geschichte, die sich wie ein Witz anhört.

Arnulf Rainer (Jahrgang 1929) ist nicht irgendein vom Markt gehätschelter Schmierfink, der sich über die Sachen anderer Leute hermacht und sie wahllos zukleistert. Die Übermalung ist zunächst sein probates Mittel, die in der Malerei seit jeher grassierende Angst vor der leeren Leinwand zu überspringen. Außerdem verwendet Rainer als Bildgrund fast immer Reproduktionen, z. B. von Fotos oder alten Stichen. Die wird er ja wohl noch bepinseln dürfen!

Vor allem aber: Wenn Arnulf Rainer ein Bild übermalt hat, dann ist es nicht einfach unter Farbe verschwunden, sondern tritt auf wundersame Weise meist deutlicher zutage. Verbergen heißt zeigen. Beispiel: „Königsee“. Eine Postkartenidylle der tausendfach gesehenen Art, man guckt gar nicht mehr richtig hin. Wenn diese Landschaft aber zwischen Rainers Farbströmungen schemenhaft auftaucht, bekommt sie eine flirrende, fast übernatürliche Aura.

Auch Christus am Kreuz ist durch die Jahrhunderte zu einer Art Klischee geworden, man nimmt seine Leiden kaum noch wahr. Wenn Arnulf Rainer in wilder Manier durch die religiöse Szenerie gefahren ist, wird sie wieder zur spannungsvollen Provokation. Ähnliche Wandlung erfahren jene gesichtslos-anonymen Bilder von Katastrophen wie etwa Schiffs-Unglücken.

Eine weitere Bilderserie in Recklinghausen zeigt Übermalungen von (relativ harmlosen) erotischen Fotos. Auch hier herrscht das Verdeutlichungs-Prinzip: Massenware und billiger Abklatsch lebt durch Nachbehandlung neu auf, das Immergleiche wird durch den Akt des Malens zum Einmaligen.

Arnulf Rainer arbeitet in erregten, expressiv und explosiv gestimmten Seelenzuständcn. Früher hat er sich mit Alkohol, Drogen und Tabletten befeuert. Doch diese Zeiten sind lange vorüber. Er hat gewissermaßen Routine in Sachen Ekstase erlangt. Mit den Jahren ist er auch formal treffsicher geworden. Deshalb muß er nicht mehr so viel Mißratenes abtun wie ehedem.

Meist sucht er den ganz direkten Weg vom Körper zur Leinwand, gelegentlich läßt er auch Pinsel oder Spachtel beiseite und malt mit schmerzenden Fingern auf die immer rissigere Leinwand. Dann rinnt schon mal echtes Blut aufs Bild…

Vorbilder des Schaffensrausches mit getrübtem Bewußtsein hat Rainer in bildnerischen Entäußerungen von Geisteskranken gesucht. Er hat solche Arbeiten gesammelt. Unter dem Titel „Outsiders“ (Außenseiter) werden Werke aus dieser Kollektion – parallel zu Rainers Kunsthallen-Schau – im Vestischen Museum gezeigt. Es sind Seelen-Schreckbilder, die ohne Selbstkontrolle zum Ausdruck finden.

Arnulf Rainer. Kunsthalle Recklinghausen, am Hauptbahnhof / „Outsiders“ – Bilder von Geisteskranken. Vestisches Museum, Recklinghausen, Hohenzollernstr. 12 – Beide Ausstellungen: 18. September bis 6. November, di-fr 10-18 Uhr, sa/so 11-17 Uhr. Kataloge 35 bzw. 15 DM.




Festspiel-Schauen in Recklinghausen: Deutlich näher an der Gegenwart

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Museums-Chef Dr. Ferdinand Ullrich machte am Samstag die Probe vor versammelter Presse. Erst Klopfzeichen, dann: „Wolfgang, hörst du mich?“ – Beuys-Schüler Wolfgang Wendker (alias „IGADiM“) hörte. Dumpf kamen seine Antworten („Mir geht’s gut“) aus einem mit Stahldeckel verschlossenen Erdloch. Der unterirdische Künstler (die WR berichtete über das Projekt) setzt den wohl auffälligsten Akzent bei der Ausstellung der Ruhrfestspiele.

Doch auch sonst hält die gestern eröffnete „Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“ einiges bereit. Sicher: Es gibt da einige Kopfgeburten, die ihre Deutung gar zu offensichtlich nahelegen. Doch das Gros der Arbeiten hält auch dem kritischen zweiten Blick stand. Vorbei jedenfalls die Zeiten jener Festspiel-Schauen, bei denen pflichtschuldigst die montanindustrielle Vergangenheit bemüht wurde, meist mit Gemälden aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Diesmal ist man deutlich näher an der Gegenwart.

Der Strukturwandel im Revier gibt gleichsam den Takt vor, 34 Künstler aus ganz Europa (Polen bis Island, Türkei bis Norwegen) haben sich damit auseinandergesetzt. Bis auf einige Projektskizzen gibt’s auch keine Bilder zu sehen, sondern 55 Installationen in allen drei Museen der Stadt und im Freien. Einige Arbeiten werden der Stadt erhalten bleiben. Die Kunst erobert Terrain.

Bestes Beispiel in diesem Sinne ist Vincenzo Bavieras gigantischer „Streitwagen“ auf einer Wiese vor dem Hauptbahnhof. Das Monument des Schweizers besteht aus einer Seilscheibe und Fahrleitungsmasten, greift also Formen des Bahnverkehrs und der Zechentechnik auf, verschmilzt sie zu geglückter Einheit.

Der Italiener Silvio Wolf erhebt, vor allem an der Fassade der Kunsthalle, mit Blattgold-Einfasssungen simple Signets des Bergbaus ironisch zu Ikonen, er bezieht sich damit auch auf das renommierte Ikonenmuseum am Ort. Just dort entfachte Raffael Rheinsberg (Berlin) Volkszorn, weil er die Gebäudefront mit einem Fries von Gefahrenwarnschildern aus der Arbeitswelt versehen hat. Manche sehen darin eine Verunglimpfung religiöser Inhalte des Ikonenmuseums. Staunenswert präzise hat Andrej Roiter (UdSSR) eine Wehmut des
Reviers mit seinen „Workersongs“ (Arbeiterlieder) getroffen: Kalte Neonschrift überstrahlt schäbige, mit Kohlestaub gefüllte Koffer. Die Vergangenheit auf Abreise ins Exil.

Abgesänge aufs schwarze Gold auch sonst: Der Spanier Julio Jara präsentiert Kohlebrocken im abweisenden Stahlgehege wie Reliquien, der Brite David Nash schichtet verkokelte Grubenhölzer zu einer Art Grabeshügel auf. Die schöne neue Zukunftswelt der Europäischen Gemeinschaft (EG) hat der Schwede Stefan Karlsson im Visier: Er packt die Buchstaben E und G schlicht auf zwei Einkaufswagen – ein Kontinent erliegt Kommerz und Konsum.

„Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“. Recklinghausen, Kunsthalle, Vestischeses Museum, Ikonenmuseum, diverse Freigelânde. Bis 17. Juli. Di-Fr 10-18, Sa/So 10-17 Uhr, Katalog 20 DM.




Bizarre Welt aus Holz – Skulpturen des „Naiven“ Hans Schmitt in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Schon ohne Besucher ist das Vestische Museum dicht bevölkert: Opa mit Enkeln, Mutter mit Kind, Putzfrau mit Eimer. Die „Leute“ sind aus Holz; Friedlich stehen sie Seit‘ an Seit‘ – mit einem „Beatle“, mit „Adam und Eva“, Pferden, Katzen usw.

Wir sind mitten im Phantasie-Reich des „naiven“ Bildhauers Hans Schmitt (77), eines ehemaligen Kuhhirten, Kohlefahrers, Gemeinde- und Privatdieners aus Bayerns Provinz, der erst im Alter kreativ wurde und wie ein Besessener Tausende von Skulpturen schuf. Inzwischen gilt er, neben dem 1971 verstorbenen Revier-Naiven Erich Bödeker, als einer der wichtigsten deutschen Vertreter jener Kunstrichtung.

Die „naive“ Sichtweise kann sich einer bewahrt oder aber mühsam wiedererobert haben. Zwischen beiden Polen der „Naivität“ erstreckt sich jedenfalls leider ein weites Feld glatter und marktgängiger Gefälligkeiten. Davon kann bei Hans Schmitt, der nie auf Moden und Entwicklungen der Kunstgeschichte geachtet hat, gar nicht die Rede sein. Seine Arbeiten sind urtümlich, schrundig, rauh, eben nicht glatt. Derlei Qualitäten erheben die Skulpturen über bloßes Kunsthandwerk. Manchmal „unterlaufen“ Schmitt im Schaffens-Rausch gar Figurationen wie die „Dame in Grau“, die stark (und doch eigenständig) an kubistische Plastiken von Picasso gemahnt, oder wie die „Tänzerin“ in beinahe futuristisch anmutender Bewegung sich ergeht.

Schmitt arbeitet ganz offenbar „additiv“, er fügt seinen Figuren immer noch weitere Teile hinzu, „baut an“, als sei es noch nicht genug. Reduktion ist seine Sache nicht. Die findet man weit eher bei Erich Bödeker, von dem einige Arbeiten als „Kontrastprogramm“ der Schmitt-Ausstellung beigegeben sind. Weiterer Unterschied: Schmitt ist entschieden „schamloser“, längst nicht so zurückhaltend wie Bödeker; er protzt geradezu mit Nacktheit.

Die wohl bizarrste Arbeit der Schmitt-Auswahl ist eine klinische Gruppenszene liebenswert-bedenkenloser Art, „Operation“ (1976): Krankenschwester „Narko“ schwingt den Hammer, Doktor „Heuler“ fletscht bedrohlich die Zähne, und Schwester „Placenta“ trägt schon das Austauschherz auf dem Tablett herein…

Recklinghausens Museumsdirektor Ferdinand Ullrich möchte übrigens künftig das Vestische Museum zum gleichrangigen Ausstellungsart (neben der Kunsthalle) aufwerten. Für sein Programm hat er bereits „einen dicken Fisch“ an der Angel: Er verhandelt mit Lothar-Günther Buchheim, dem bekannten und für zäheste Eigenwilligkeit berüchtigten Maler, Autor und Sammler, über eine Ausstellung expressionistischer Zeichnungen aus der Buchheim-Kollektion. Buchheim gehört übrigens auch zu den wenigen Förderern des „Naiven“ Hans Schmitt. Das ehrt ihn.

Hans Schmitt. Recklinghausen, Vestisches Museum, Hohenzollernstraße 12. Bis 8. Oktober. Begleitheft 10 DM, Buch über Schmitt 39,80 DM.

 




Käthe Kollwitz: Zwischen Leid und Aufstand

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Seltsame Wege der Geschichte: Um das Werk von Käthe Kollwitz, deren Hauptthema bekanntlich das Leid der Unterdrückten war, haben sich in den letzten Jahren vor allem Banken gekümmert, und zwar in Köln und West-Berlin. Unsere Museen haben sich da eher „bedeckt gehalten“.

Anders die Kunstinstitute der DDR – nicht natur-, aber gesellschaftsgemäß: Die DDR-„Akademie der Künste“ schickte ihre bedeutende Kollektion an Kollwitz-Druckgraphik bereits durch viele Länder. Jetzt sind die 124 Arbeiten, ergänzt um sechs Stücke aus anderen DDR-Sammlungen, erstmals in der Bundesrepublik zu sehen: bei den Ruhrfestspielen, im Vestischen Museum Recklinghausen (Hohenzollernstr. 12; bis 5. Juni. Katalog: 12 DM).

Alle großen Themen der Kollwitz kommen in der Druckgraphik (Radierungen, Holzschnitte, Lithographien) vor. Dazu gehört der – von Gerhart Hauptmanns Stuck „Die Weber“ angeregte – Zyklus zum Weberaufstand (1895), außerdem sind z. B. Bildfolgen zu den Bauernkriegen (1905/07) und über das Proletariat (1925) zu sehen. Anfangs, beim Thema „Weberaufstand“, sind die Revoltierenden noch als Vereinzelte, sich gerade erst zögernd Zusammenschließende dargestellt. In der Bauernkriegs-Serie wirkte die aufbegehrende Masse dann schon wie aus einem Block gefügt.

Neben solchen Massenereignissen vergaß Käthe Kollwitz – und das zeichnet ihr Werk besonders aus – aber auch nicht die Leiden des einzelnen, ganz gleich, ob politisch verursachte oder existentielle. Besonders hervorzuheben sind die Variationen des Mütterlichkeits-Motivs. Biographisch stand am Anfang der Tod ihres Sohnes, der als Soldat im Ersten Weltkrieg fiel. Immer wieder stellt Käthe Kollwitz Mütter dar, die ihre Kinder umklammern, vor Krieg, Not und Elend bewahren wollen.

Schwächer werden die Kollwitz-Arbeiten nur, wenn sie sich (ganz selten) auf symbolische Sehweisen einläßt, wenn sie etwa eine allegorische Frauenfigur über eine Aufruhr-Szene stellt. Ergreifender ist es allemal, wenn sie die Realität umformt, als wenn sie Phantasiegestalten nachhängt. Die formalen Brüche auf manchen Plakaten und Flugblättern (darunter „Nie wieder Krieg!“, das vor einiger Zeit als Nachzeichnung an einem Dortmunder Weltkriegsbunker für Aufsehen sorgte), stammen hingegen nicht von der Kollwitz: Unpassende .Schriftzüge wurden diesen Auftragsarbeiten von fremder Hand zugefügt. Kollwitz souveränes Formempfinden wird hier augenfällig: Wenn sie nämlich selbst die Schrift gestaltet hat, „stimmt“ der Aufbau.

Die Selbstporträts aus verschiedenen Schaffensphasen sind keine reinen Ich-Darstellungen. Käthe Kollwitz, die sich schon früh (1893) als leidensbereit und leidensfähig zeichnet, „verhärtet“ oft ihre eigene (in natura eher sanfte) Mimik, Gestik und Gestalt, so als wollte sie sich mit einer kampfbereiten Arbeiterschaft identifizieren. Diese Energie zerbricht aber in späteren Jahren zusehends. Zutiefst erschreckend: das Selbstbildnis von 1938, das eine vollkommen resignierte Frau zeigt, oder gar das Blatt „Der Tod wird als Freund erkannt“.




Kunst zum Wohle der Kommune – Recklinghausen zeigt seinen Eigenbesitz

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wenn eine Stadt 750 Jahre alt wird, dann müssen auch die Kulturinstitute zeigen, wie und womit sie das Wohl der Kommune gemehrt haben. In diesem Sinne präsentiert die Kunsthalle Recklinghausen jetzt (bis 19. Oktober) einen Querschnitt durch den Eigenbesitz.

1927, damals noch im „Vestischen Museum“, begann man in Recklinghausen systematisch zeitgenössische Kunst zu sammeln. Aus diesen Anfängen ist eine achtbare Kollektion von insgesamt rund 250 Gemälden, 120 Skulpturen und Objekten sowie 3000 Handzeichnungen und Druckgraphiken geworden. Noch weit mehr wären es, hätten nicht die lokalen NS-Kunstfeinde nach 1933 große Teile der Sammlungen geplündert und zerstört.

Die jetzt getroffene Auswahl aus dem (zum Leidwesen von Museumsleiterin Brigitte Kaul über die ganze Stadt verstreuten) Magazinen kann sich gleichwohl sehen lassen: Arbeiten von Käthe Kollwitz und Christian Rohlfs, um 1927 erworben, waren frühester Kristallisationspunkt der Sammlung. Wie es sich für ein Museum dieser Größenordnung gehört, wurde auch in der Folgezeit nicht wahllos geprunkt, sondern es wurden – der Not wie der Vernunft gehorchend – sinnvolle Schwerpunkte gebildet.

Besonders die Museumsdirektoren Franz Große-Perdekamp und Thomas Grochowiak stellten nach dem Zweiten Weltkrieg die Weichen. Es war ihre Idee, den Bunker am Hauptbahnhof zur Kunsthalle umzufunktionieren. Außerdem sorgten sie dafür, daß zahlreiche Arbeiten der Gruppe „Junger Westen“ (Gustav Deppe, Ernst Hermanns, Emil Schumacher, Heinrich Siepmann, Thomas Grochowiak) in Recklinghausen heimisch wurden. Auch das „Informel“ der 50er Jahre ist mit Bildern von Hann Trier, K. O. Götz und Fritz Winter nennens- und sehenswert dokumentiert.

Weitere Sammlungs-Schwerpunkte bilden die holländische Szene der 50er Jahre, Arbeiten der Kunstpreisträger „Junger Westen“ (u. a. Horst Antes, Gerhard Richter) sowie – bundesweit bedeutsam – Objekte der kinetischen Kunst, u. a. von der Gruppe „Zero“ (Mack, Uecker, Piene), die denn auch bei der jetzigen Ausstellung große Teile des 2. Obergeschosses einnehmen. In diesem Stockwerk sollen fortan, kontinuierlich wechselnd, weitere Teile des Eigenbesitzes gezeigt werden.

Zur Ausstellung erscheint kein Katalog, doch kürzlich kam im Verlag Aurel Bongers ein voluminöser Band (Preis 144 DM) heraus, der die Bestände aller Museen in Recklinghausen vorstellt.