„Spätlese“ zum 90. von Loriot: Eine Fülle bisher unbekannter Zeichnungen

Ach, um den Humor deutscher Bauart ist es nicht eben blendend bestellt, seit prägende Gestalten wie Robert Gernhardt und Loriot gestorben sind. Umso inniger sollte man der beiden und einiger anderer gedenken.

Es hat sich herumgesprochen: Loriot (1923-2011) wäre just heute 90 Jahre alt geworden. Gern geben Verlage zu solchen Anlässen Bücher aus dem Nachlass heraus, möglichst mit bislang unbeannten Schöpfungen. Ganz in diesem Sinne möchte Diogenes, dass wir nun eine „Spätlese“ des begnadeten Vicco von Bülow verkosten. Die Verlagswerbung scheut dabei den marktschreierischen Begriff „Sensation“ nicht.

Das Wort „Spätlese“ bezieht sich auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung, weniger auf die Entstehung der bisher nicht publizierten Blätter, rund 400 an der Zahl. Ein anfänglicher Schwerpunkt liegt gar auf Zeichnungen und Cartoons der 50er und frühen 60er Jahre.

Loriot

Das Etikett „unveröffentlicht“ ist nicht durchweg ein Qualitätssiegel. Anfangs wurden vereinzelte Einfälle von Illustrierten wie „Stern, „Quick“ und „Weltbild“ noch abgelehnt – öfter freilich auch, weil die Redakteure den eigentlichen Witz verkannt haben.

Sehr schnell zeigt sich jedoch, dass die anfänglichen Fingerübungen zügig in einen eigenen, unverwechselbaren Stil übergehen. Der typische Loriot-Duktus entwickelt sich, der szenische Phantasie freisetzt und mit herrlich trockenem Understatement daherkommt. In einem Atemzuge wird da die Realität bemäntelt und enthüllt.

Wie man hier sehen kann, dienten Loriot häufig unscheinbare, insgeheim groteske Zeitungsmeldungen und Kleinanzeigen als Anstöße. Da schlägt er manchen Funken scheinbar aus dem schieren Nichts. Unvergleichlich, wie der Humorist Freundlichkeit und Abgründigkeit verbindet. Nur ein Beispiel: Die geradezu diskret erscheinende Straßenbahn-Zeichnung „Nicht mit dem Führer sprechen“ holt Hitler gruselig in die Gegenwart.

Zeitdiagnostisch für die Wirtschaftswunder-Republik sind jene Szenen aus der Arbeitswelt, die von Drill und starrer Disziplin künden und damit das Militärische in den Alltag bringen. Weitere Themenfelder muss Loriot nicht lange suche, sie drängen sich geradezu auf: Das Verhältnis zwischen Firmen und Kunden, Gebrauchtwagenkauf, Restaurantbesuche, Massentourismus, Jagd, Bahnfahren und Fliegerei sind auch ihm nahezu unerschöpfliche Quellen. Doch er findet zumeist einen eigenen Dreh, der ihn von der Masse der bloßen „Witzzeichner“ abhebt.

Geradezu nostalgisch mutet aus heutiger Sicht an, wie Loriot die damals gängigen Telefon-Ansagedienste aufgreift. Beispielsweise den Dienst mit Kochrezepten. Leider hat die Platte einen Sprung und verkündet immer wieder denselben Schritt. Und also schlägt der Koch daheim ein ums andere Ei entzwei.

„Große Deutsche“ als Knollennasenfiguren sind ein weiteres Kapitel, man bestaune Goethe, Nietzsche, Wagner, Thomas Mann, die der Bildungsbürger Loriot in den 90er Jahren auf etwas andere Weise zeigt. Leider ist die Reihe unvollendet geblieben. Eine Liste zeigt, wen Loriot noch porträtieren wollte – übrigens neben all den Berühmtheiten auch einen unbekannten „Herrn Schultze“.

Weitere Abschnitte des gewichtigen Bandes (fast 2,5 Kilo) widmen sich Möpsen (sozusagen in allen Lebenslagen) oder auch Zueignungen aus Anlass von Geburtstagen und anderen Feierlichkeiten. So hat Loriot liebvolle kleine Hommagen etwa an „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, den Kritiker Joachim Kaiser, Tagesschau-Sprecher Karl-Heinz Köpcke oder den Kollegen Robert Gernhardt verfertigt. Doch auch sein Briefträger bekam zum Ruhestand eine Widmung.

Die wohl größte Überraschung aber sind die „Nachtschattengewächse“ im Schlusskapitel. Diese ins Horrible reichenden Visionen sind ganz offenkundig in schlaflosen Nächten entstanden. Die oft kubistisch getürmt erscheinenden Alpträume haben mancherlei Quellen. Hier spukt Hitler ebenfalls, doch auch die eigenen Figuren haben Loriot in gespenstischer Verwandlung heimgesucht.

Nun muss doch noch getadelt werden. So interessant das ausgebreitete Material sein mag, so nachlässig wird es präsentiert. Ich rede nicht von der Drucktechnik, dem guten Papier und überhaupt von der imposanten Physis des Bandes, sondern davon, dass bis auf eine läppisch kurze Vorbemerkung und ein paar nichtssagende Zwischentexte keinerlei Würdigung oder Einordnung dieser unbekannten Werkkomplexe gibt.

Es scheint ganz so, als hätte sich die Arbeit der drei Herausgeber (darunter Loriots Tochter Susanne von Bülow) weitgehend auf Beschaffung, Sichtung, Auswahl und Sortierung beschränkt. Jammerschade!

Loriot: „Spätlese“. Rund 400 bisher unbekannte Arbeiten aus dem Nachlass. Hrsg: Susanne von Bülow, Peter Geyer, OA Krimmel. Diogenes Verlag, Zürich. 374 Seiten. 39,90 Euro.

Gleichfalls unter dem Titel „Spätlese“ steht die Loriot-Ausstellung, die bis zum 12. Januar 2014 im Literaturhaus München gastiert (danach ab 25.1.2014 bis 21.4.2014 Galerie Stihl, Waiblingen, und von 4.5.2014 bis 16.8.2014 im Wilhelm Busch Museum in Hannover)




Komik des Kosakenzipfels – Deutschlands prominentester Humorist Loriot wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

So feinsinnig, charmant und verbindlich wirkt der distinguierte Herr, daß man kaum merkt, wie rigide seine Komik manchmal ist. Aber ja! Wir reden wirklich von Vicco von Bülow alias Loriot, der heute 75 Jahre alt wird.

Er selbst hat einmal Buster Keaton und W. C. Fields als Vorbilder genannt, denn deren Komik sei „erbarmungslos“. Charlie Chaplin hingegen sei, bei allem Respekt, zu sentimental und moralisch. Bei Loriot „menschelt“ es nicht nur unverbindlich daher, sondern er zielt und trifft. Schon die steifen Posen des deutschen „Wirtschaftswunders“ hat er dem Gelächter preisgegeben. Und dabei wirkten seine Knollennasen-Männchen aus Büchern wie „Der gute Ton“ oder „Der Weg zum Erfolg“ doch so harmlos.

Was wirkliche Haltung und was bloße „Mache“ war, weiß der in Brandenburg geborene Sproß einer alten preußischen Offiziersfamilie gewiß haargenau zu unterscheiden.

„Man muß sich über alles wundem“

Mit solchem Gespür begabt, mußte man in den verdrucksten 50er Jahren nur noch mit offenen Augen durch die Welt gehen, um an jeder Ecke komische Situationen zu entdecken. Wenn sich gewisse Leute im Bewußtsein des „Wir sind wieder wer!“ reckten, so schrie das ja geradezu nach humoristischer Weiterverarbeitung. „Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen und muß sich über alles wundern“, so lautete eine von Loriots Humor-Regeln. So ist es.

Mit Cartoons und Sketchen in Fernseh-Sendereihen wie „Cartoon“ (ab 1967), „Telecabinet (ab 1974) oder „Loriot I bis VI“ (1976) erlangte er unverwüstliche Popularität. Endlich war da mal einer, der nicht die vordem landläufige, eher krachlederne Variante „deutschen Humors bediente! Loriot (französisches Wort für Pirol – der Vogel ist das Wappentier seiner Familie) dürfte Einflüsse ausgeübt haben, die etwa über die „Neue Frankfurter Schule“ (Robert Gernhardt & Co.) bis hin zur Kabarettszene neuester Prägung unterschwellig gewirkt haben.

Unvergeßliches TV-Requisit war jenes Gründerzeit-Sofa, auf dem Loriot mit gekräuselten Lippen seine Beiträge ansagte. Man fängt schon an zu grinsen, wenn man nur an all diese Szenen denkt, die längst zum Standard-Repertoire gehören. Da war z. B. jener Mann, der sich im Restaurant eine glühende Liebeserklärung abquält („Sagen Sie jetzt nichts, Fräulein Hildegard!“) und dabei einen Nudelrest in seinem Gesicht nicht bemerkt, während die Angebetete (Lieblings-Sketchpartnerin Evelyn Hamann) immerzu fassungslos dorthin starren muß.

Von der Gummiente zum Jodeldiplom

Urkomisch auch die Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die aus unerfindlichen Gründen in derselben Hotelbadewanne stranden und nun streiten, ob und wie man die Gummiente „zu Wasser lassen“ solle.

Man könnte endlos weiter memorieren: den ausufernden Streit zweier Ehepaare, die sich im Campingurlaub kennengelernt haben. Anlaß: jene Nachtisch-Leckerei namens „Kosakenzipfel“; das „Jodeldiplom“ für die unausgefüllte Hausfrau („Da hat man was Eigenes“); das Ehepaar Hoppenstedt und seine Chaos-Besuche beim Herrenausstatter oder in der Bettenabteilung. Es waren im Grunde kleine Tragödien einer allseits gründlich fehlschlagenden Kommunikation, die einen trübsinnig machen könnten, wenn bitterernste Autoren sie aufbereitet hätten.

Apropos Paare: Nicht nur bei den Hoppenstedts und der ehelichen Groteske ums Vierminuten-Ei erweist sich die tiefe Wahrheit der Loriot-Formel „Frauen und Männer passen eigentlich nicht zusammen“. Sie versuchen’s halt immer wieder, ob’s nicht doch geht…

Daß die von Loriot gezeichneten Maskottchen „Wum und Wendelin“ jahrzehntelang für die „Aktion Sorgenkind“ warben, haben wir bei all dem noch gar nicht erwähnt. Bayreuth-Stammgast Loriot hat zudem gelegentlich Opern inszeniert und zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der letzten Jahrzehnte gedreht, „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“.

Die Ruhe, die er sich neuerdings antut, sei ihm von Herzen gegönnt. Doch wie schade auch, daß er, sich so zurückhält! Wir vermissen etwas.

Das ARD-Fernsehen bietet heute um 21.45 Uhr viel Prominenz auf, um Loriot gebührend zu gratulieren. Programmänderung: Um 23.45 Uhr schließt sich Theatermann August Everding als Solo-Gratulant an.