Geschichtenerzähler im Videokabinett – Kunstsammlung NRW präsentiert den britischen Künstler Isaac Julien

Isaac Juliens Zehnkanalinstallation „Lessons of The Hour“ über den ehemaligen Sklaven, Freiheitkämpfer und Fotografen Frederick Douglass. (Foto: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Achim Kukulies)

Überall Videos. Abgedunkelte Räume voll von unterschiedlich großen Projektionsflächen, auf denen in bunten Farben Bewegtbilder ablaufen. Alles sehr ordentlich, professionell und, ja, so kann man durchaus sagen: schön. Natürlich ordnet sich der überwältigende erste Eindruck zügig, die realen Räume sind eben auch Themenräume, in denen auf drei, fünf, zehn Bildflächen, je nachdem, Geschichten erzählt werden.

Große Werkschau

Der Schöpfer dieser Arbeiten, den Videokünstler zu nennen es nur zum Teil trifft, ist Isaac Julien, Jahrgang 1960, Brite, Documenta- und Biennale-Teilnehmer und für sein künstlerisches Schaffen bereits hoch geehrt. Zu sehen sind nun elf Video-Installationen sowie eine Reihe von Fotografien in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, im K21, dem Haus für das Zeitgenössische, das früher mal den Landtag beherbergte.

Videokünstler, Filmemacher, Fotograf: Isaac Julien (Foto: Theirry Bal/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Schwarz und schwul

Seit Julien in den frühen 80er Jahren, mit Amateurvideo-, 8- und 16-Millimetermaterial zunächst, zu arbeiten begann, sind „schwarz“ und „schwul“ zentrale Motive. Von Anfang an ist da der Zorn über die ungerechten Verhältnisse. „Who Killed Colin Roach?“ aus dem Jahr 1983 etwa thematisiert den Mord an einem Farbigen vor einem Londoner Polizeirevier, „Territories“ (1984) Erfahrungen junger farbiger Frauen in England, und der Titel des Zehnminüters „This Is Not An AIDS Advertisement“ (1987) ist quasi selbsterklärend. „Western Union: Small Boats“ (2007) erzählt von afrikanischer Migration, verwebt die Dokumentation auf unerhörte Weise mit einer Tanzperformance Russell Maliphants. Altchinesische Mythen wiederum und die zu Anfang des 20. Jahrhunderts glamouröse Filmstadt Shanghai sind Thema von „Ten Thousand Waves“ (2010), werden thematisch in Zusammenhang gebracht mit dem tragischen Tod von chinesischen Wanderarbeitern in England. Es gibt der Themen etliche mehr.

Harlem Renaissance: Szene aus „Looking For Langston“ von 1989 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Geschichte

Seit dem Ende der 80er Jahre, jedenfalls vermittelt die Düsseldorfer Schau diesen Eindruck, verlagert sich Juliens Interesse stärker hin zu historischen Themen. „Looking for Langston“ (1989), ein zwischen schwelgerischer Reinszenierung, Spielhandlung und eleganter Erotik meisterlich changierendes Werk in Schwarzweiß, thematisiert die „Harlem Renaissance“, die selbstbewußte Manifestation schwarzen homosexuellen Lebens in den 20er Jahren. „Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung schwarzen, queeren Begehrens“ ist „Looking…“ laut Pressetext, „die wichtigste Arbeit der Ausstellung“ in den Worten von Kuratorin Doris Krystof.

Sklave, Freiheitskämpfer, Fotograf

Auch das üppigste Werk der Schau hat ein historisches Thema. „Lessons of The Hour“ (2019) – 10 Bildkanäle, Surroundsound, knapp eine halbe Stunde lang – portraitiert Leben und Werk des ehemaligen Sklaven Frederick Douglass, der sich selbst befreite und zum Freiheitskämpfer wurde. Douglass befaßte sich intensiv mit Fotografie, schrieb über sie, gilt überdies „als die meistfotografierte Persönlichkeit in den USA im 19. Jahrhundert“. „Der moralische und soziale Einfluß des Bildermachens“, noch einmal sei mit diesem Terminus der Pressetext zitiert, hat Isaac Julien in seinem eigenen Schaffen tief und nachhaltig motiviert. Und das Video (wenn man es denn doch einmal so nennen darf): schöne Bilder aus einer versunkenen Zeit, lange Kleider, Samt und Seide. Bilder gerade so, wie sie seinerzeit in den Fotoateliers entstanden.

In einem Fotoatelier des 19. Jahrhunderts; Szene und Still aus „Lessons of The Hour“ von 2019 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nodrhein-Westfalen)

Bildergalerie

Vier Stunden 35 Minuten braucht man, um alle in Düsseldorf gezeigten Filme vollständig anzuschauen. Aber dazu muß man sich schon zwingen, denn die Gleichzeitigkeit vieler Bildbotschaften nebeneinander vermittelt einen paradoxen Eindruck von Bewegungslosigkeit, von Gemäldeausstellung mithin. Das scheint ein wenig auch gewollt zu sein, ähnelt die Bildpräsentation doch sehr jener der brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi, die in von ihr geplanten Museumsbauten Alte Meister gerade so im Raum platzierte wie Isaac Julien in seinen Ausstellungen die Videoflächen. „Lina Bo Bardi – A Marvellous Entanglement“ (2019) heißt sein Film über sie, der übrigens nur über drei Videoflächen läuft.

Freiheit bedeutet, keine Furcht zu haben

Je länger man in der Schau verweilt, im Untergeschoß des K21, desto mehr verflüchtigt sich der Eindruck von „Oberflächlichkeit“ (ich stelle das mal in Tüttelchen, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen), den die formal makellose, technisch aufwendige Präsentation zunächst hervorgerufen hatte. In der zeitgenössischen Kunstproduktion begegnet man einem gewissen Mißverhältnis zwischen Aufwand und Botschaft häufiger, da hat sich beim Betrachter vielleicht eine falsche Erwartungshaltung herausgebildet. Isaac Julien jedenfalls erzählt ganze Geschichten, die trotz ihrer Opulenz nur zu einem Teil über die Videowand laufen und ihre Ergänzungen in den Köpfen der Betrachter finden. Und vielleicht erzählt er auch nur eine Geschichte. „I’ll tell you what freedom is to me. No fear” zitiert er die amerikanische Jazz-Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Aus ihrem Satz ist der Titel der Ausstellung, die vor Düsseldorf übrigens in der Londoner Tate-Gallery zu sehen war, abgeleitet.

  • „Isaac Julien. What Freedom Is To Me“
  • Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, Ständehaus, Ständehausstr. 1
  • Bis 14. Januar 2024
  • Geöffnet Di-So 11-18 Uhr
  • www.kunstsammlung.de
  • Katalog 207 Seiten, 46 €

 




Das Flimmern der Gefühle in der Videokunst: Zehn Jahre Düsseldorfer Stoschek Collection

Wer in der Kunst nach Seelenruhe sucht, der sollte vielleicht lieber seinen Zier-Buddha im Garten betrachten. In der Düsseldorfer Stoschek Collection braucht der Mensch eine Bereitschaft, die Aufmerksamkeit strapazieren zu lassen. Videokunst, diese subjektive Verwendung der Filmtechnik ohne cineastische Absicht, ist nichts für schwache Nerven.

Installationsansicht - Links: Charles Atlas "Hail the New Puritan" (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Wolfgang Tillmanns "Heartbeat / Armpit" (2003), Video 2'27. (Foto: Simon Vogel, Köln - © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Installationsansicht – Vorn links: Charles Atlas „Hail the New Puritan“ (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Vorn rechts: Wolfgang Tillmanns „Heartbeat / Armpit“ (2003), Video 2’27. (Foto: Simon Vogel, Köln – © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Besonders herausfordernd wirkt eine Ansammlung von Videokunst ohne den üblichen Ausgleich durch Bilder oder Skulpturen. Für Julia Stoschek, die Sammlerin, Sponsorin und Stifterin eines europaweit einmaligen Ausstellungshauses für nichts als flimmernde, immaterielle Werke, gibt es nichts Spannenderes.

Pressekonferenz an der Düsseldorfer Schanzenstraße 54, dem kühlen Tempel der unfassbaren Kunstform, wo zum zehnjährigen Bestehen eine Schau unter dem „Generation Loss“ (Generationsverlust) arrangiert wurde. „Wir warten noch auf Frau Stoschek“, heißt es. Und dann schwebt sie die graue, raue Treppe herab zu uns – das mondäne Schneewittchen unter den Big Spendern: eine bleiche, perfekt geschminkte Schönheit mit pechschwarzem langem Haar, elfenhaft schlank auf atemberaubenden rosa Stöckelstiefeln: „Guten Morgen“, lächelt sie.

Die Schöne und ihre Geheimnisse

Dass man Julia Stoscheks Erscheinung nicht beachtet, ist unmöglich, auch wenn sie sich mit betont intellektueller Attitüde von der Welt des Luxus und der Modegeschöpfe distanziert. Sie spricht viel und unbeirrt über die Relevanz von „time-based media“, die zeitbezogene Medienkunst. Über ihr Leben und ihre lang geheime Liebe zu Springer-Chef Mathias Döpfner äußert sich die Mutter eines 2016 geborenen Sohnes nicht. Das überlässt sie dem Klatsch der Magazine.

Aber gerade das Geheimnis, das sie umgibt, macht die 42-jährige Milliardärin und Gesellschafterin der Brose Fahrzeugteile GmbH zu einer der viel beachteten Figuren in der internationalen Kunstszene. Sie ist unsere Peggy Guggenheim der Gegenwart und bringt Glamour ins bürgerliche Einerlei. Zu ihren Vernissagen treffen internationale Künstler und Galeristen auf geschmeichelte Vertreter der regionalen Society.

Die Unterstützung durch die eher biedere Düsseldorfer Kulturpolitik lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Sammlung Stoschek profitiert nicht von vorhandenen musealen Strukturen, und es dauerte zehn Jahre, bis auch nur ein Wegweiserschild aufgestellt wurde. Dass Stoschek im letzten Jahr eine Filiale ihrer Collection in der offenherzigen Hauptstadt Berlin eröffnete, scheint hier niemanden zu beunruhigen.

Die Ausstellung ist selbst eine Kunst

Immerhin steht fest, dass Julia Stoschek ihre Düsseldorfer Zentrale, eine von den Berliner Architekten Kuehn Malvezzi umgebaute Rahmenfabrik am Rand von Oberkassel, mehr schätzt als die weniger idealen Berliner Räumlichkeiten: „Ich liebe das Haus!“ Ohne Zögern hat sie für die Jubiläumsausstellung gläserne Lärmschutzwände einbauen lassen. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, aber in den nächsten zwölf Monaten kann man hier in Düsseldorf eine faszinierende Ausstellung zur Geschichte der Videokunst sehen: 48 Werke, die keineswegs alle erst gestern, sondern in den letzten 50 Jahren entstanden sind.

Und das Besondere: Die Präsentation ist eine Art übergeordneter Rauminstallation. Denn da war kein Kurator am Werke, sondern ein junger Videokünstler ohne falsche Scheu. Ed Atkins, 1982 in Oxford geborener Wahl-Berliner, nutzt digitale Kopien älterer Schmalfilme und Videos, um sie gleichrangig und gleichformatig mit neueren Arbeiten zu konfrontieren. Der „Generation Loss“ aus dem Titel bezieht sich auf den Verlust des Originals ebenso wie auf die Ablösung der Künstlergeneration und überhaupt auf das Entschwinden aller Dinge und Gewissheiten. Der Gedanke der Vergänglichkeit treibt die heutigen Technik-Freaks genauso um wie einst die Maler des Barock.

Was entsteht und verschwindet

Mit einer stummen Live-Projektion der aktuellen Sky-News zeigt Atkins, was er meint. Kaum gesehen, schon zerronnen sind die Bilder der Stunde, die Aufregung über Anschläge, Katastrophen, Wetterberichte. Der Amerikaner Ian Cheng bezieht sich nicht auf die Realität. Er entwickelt kunstvoll stilisierte Figuren, die nach Art eines Videospiels in Echtzeit agieren, wobei immer neue Szenarien entstehen.

Im nächsten Raum, abgetrennt durch eine gläserne Wand, hat Atkins wild geschnittene Punkclub-Szenen aus den 1980er-Jahren von Charles Atlas mit einem kurzen Video-Loop von Wolfgang Tillmanns kombiniert, der 2003 nichts als die Achselhöhle eines jungen Mannes zeigt, in der man den Herzschlag pochen sieht.

Installationsansicht - Links: Bruce Nauman "Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square" (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén "Paralyzed" (2003, Video 3' (Foto: Simon Vodel, Köln / © Julia Stoschek Foundatiob e. V.)

Installationsansicht – Links: Bruce Nauman „Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“ (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén „Paralyzed“ (2003, Video 3′ (Foto: Simon Vogel, Köln / © Julia Stoschek Foundation e. V.)

So kommt es zu den seltsamsten Begegnungen. Während Paul McCarthy 1974 auf die Kameralinse spuckt („Spitting on Camera Lens“), lässt Douglas Gordon 2003 eine Männer- und eine Frauenhand miteinander kämpfen. Das berühmte Performance-Paar Ulay und Marina Abramovic knallt 1976 im Laufen mit den nackten Körpern gegeneinander, bis es auch dem Betrachter weh tut. Dann bemerkt man auf der linken Seite, wie Konzept-Altmeister Bruce Nauman als junger Mann in einem Schwarzweiß-Film der 1960er-Jahre um die auf den Boden gezeichneten Umrisse eines Quadrats spaziert („Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“), und rechts verausgabt sich Patty Chang 2003 beim „Fan Dance“ in einem Strudel aus Dreck und Farbe.

Das Innere nach außen gekehrt

Immer wieder geht es in der Videokunst um die Enthüllung neurotischer Strukturen und Zwangshandlungen, das Innere wird nach außen gekehrt. Ein bisschen Witz kann auch mal dabei sein, zum Beispiel, wenn die Abramovic sich mit einem Vollbart in einen Mann verwandelt. Schwindelerregende Effekte kann es geben wie in Dara Friedmans „Revolution“, wo ein Mann wie eine Fliege an der Wand und der Decke läuft, weil sich die Perspektive dreht. Und manchmal wird man ganz andächtig wie vor dem „Sanctus“ von Barbara Hammer, die 1990 zu Bachmusik eine Art Totentanz aus experimentellen Röntgenfilmen der 1950er-Jahre schuf.

Atkins zeigt diese beeindruckende Arbeit in einem Einzelraum. Wenn er Filme kombiniert, so achtet er auf die Abstimmung von Bild und Ton. Um mit Shakespeare zu sprechen: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Und eine strenge Ordnung. Durch die gläsernen Akustikwände vermeidet Atkins die sinnlose Kakofonie, die so oft durch die räumliche Nähe verschiedener Videos entsteht. Die allzeit sich verändernden Bilder aber und ihre Spiegelungen sind weithin zu sehen – und vom Künstler bewusst arrangiert.

Der Besucher begegnet sich selbst als Spiegelbild oder Schattenriss inmitten der Gesamtkonstellation. Da flimmern die Gefühle wie die Projektionen. Ja, Videokunst ist nicht nett wie die Katzenfilmchen auf Facebook. Sie ist manchmal sogar eine Qual. Aber man kann sich ihr nicht entziehen. Ihre nervöse Flüchtigkeit ist nur eine treffliche Metapher für die Vanitas, in der wir alle leben. Daran ändert auch der Buddha im Garten nichts.

„Generation Loss: 10 Years of the Julia Stoschek Collection“: Bis 10. Juni 2018 an der Schanzenstraße 54 in Düsseldorf-Oberkassel. Geöffnet bei freiem Eintritt jeweils Samstag und Sonntag, 11 bis 18 Uhr. Öffentliche Führungen (Gebühr 10 Euro) gibt es seit dem 11. Juni alle 14 Tage sonntags, jeweils 12 und 15 Uhr. Anmeldung unter www.julia-stoschek-collection.net




Als die Videokunst noch neu und radikal war

Krefeld. Das Problem betrifft beileibe nicht nur Krefeld: Videokunst, seit den frühen 70er Jahren von Museen angeschafft, vergammelt vielfach in den Depots. Die Arbeiten aus der Video-Steinzeit“ müssten eigentlich überall auf neue Formate (derzeit vor allem DVD) umkopiert werden. Man braucht mittlerweile rare historische Geräte, um überhaupt auf die alten Magnetbänder zugreifen zu können.

Selbst in den Krefelder Museen, die um 1970 bundesweit zu den ersten Kunstvideo-Käufern zählten, wurde dieser Eigenbesitz seit Jahrzehnten kaum noch beachtet. Erst kürzlich hat man sich wieder erinnert. So waren denn bis zu 30 (!) Reinigungs-Durchgänge erforderlich, bevor die Filme neu gespeichert werden konnten. Und was ist dabei zum Vorschein gekommen?

Viel experimenteller Zeitgeist aus den Jahren nach 1968. Vorwiegend grobkörniger, schwarzweißer Sehstoff, der oft mit hartnäckigen Wiederholungsmustern die Geduld auf die Probe stellt und klar macht, wie sehr sich die Bilder seither beschleunigt haben. Damals haben die dritten TV-Programme noch Sperriges riskiert, doch selbst sie schreckten bald zurück. Solche quotenfernen Freiheiten hat es auf diesen Kanälen seither nie wieder gegeben.

Den inzwischen berühmten Künstlernamen zum Trotz: Schier endlos die Hand Richard Serras zu sehen, die einen Kreidestrich nach dem anderen zieht – kein reines Zuckerschlecken. Den Bildhauer Ulrich Rückriem ausgiebig dabei zu beobachten, wie er Stein auf Stein auf Stein umkippt – auch kein Thriller.

Da ist man schon dankbar, wenn Joseph Beuys in einem Video Boxhandschuhe anlegt und unentwegt auf ein Fernsehgerät eindrischt. Oder wenn der Pionier Nam June Paik sein Bildmaterial mit damaligen technischen Finessen nach besten Kräften popkünstlerisch verfremdet.

Zuweilen handelt es sich um rührend unbeholfene Versuche mit dem seinerzeit neuen Medium, häufig um radikale Sinnverweigerung oder den heftigen Willen zum unverstellten Blick, zu ungeahnten Perspektiven. Man wollte offenkundig tabula rasa machen und ganz neu anfangen – wie beim allerersten Morgentau. Immerhin finden sich hier auch schon recht inspirierte Urahnen der späteren Videoclips.

Man bekommt nicht nur Videos zu sehen: Tafelbilder u. a. von Größen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke und Andy Warhol bezeugen, wie sehr zu Beginn der 70er das flackernde Zeilenraster der Fernsehoptik die Wahrnehmung in der Malerei geprägt hat.

Wollte man alle Videos jeweils bis zum Ende anschauen, so könnte man mindestens einen ganzen Tag in dieser Schau zubringen. Wer weiß: Vielleicht schlägt das Betrachten irgendwann in Meditation um. Doch fraglos hat es seinen Reiz, den Geist der frühen Jahre gleichsam noch einmal inhalieren zu können.

Krefeld. Museum Haus Lange (Wilhelmshofallee 97). Bis 21. September. Di-So 11-17 Uhr. Tel. 02151/97 55 8-0. Katalog erscheint im August.

(Der Beitrag stand am 25. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Verunglückte Spaziergänge“ und mehr von der Video-Künstlerin Katharina Wibmer im Marler „Glaskasten“

Von Bernd Berke

Marl. Betritt man die Ausstellungsräume im Untergeschoß des Marler Skulpturenmuseums „Glaskasten“, so findet man nahezu völlig leere Flächen vor. Auf der Fensterbank steht ein im Baumarkt gekaufter Gartenzwerg in bunter Reihe mit Hase, Frosch und Huhn – Kitsch aus Keramik. Ansonsten stapeln sich hie und da ein paar Videorecorder und Bildschirme. Öde und langweilig? Abwarten.

Denn wenn die Bildschirme erst einmal zu flimmern beginnen, kommt gespenstisches Leben in die Räume: Katharina Wibmer (31) aus Gräfelfing stellt hier aus. Im Vorjahr hat sie den 7. Marler Video-Kunstpreis bekommen, und es ist gute Tradition, daß der (ansonsten undotierten) Auszeichnung eine Würdigung im ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und eine Einzel-Präsentation im „Glaskasten“ folgen.

Im aus Ziegeln gemauerten Halbrund befinden sich fünf TV-Geräte, an der Stirnwand hängt ein, großer Projektionsschirm. Mitten in dieser Installation sitzend, macht der Besucher Bekanntschaft mit einer verstörenden Fremdheit.

Denn Katharina Wibmer zeigt hier sechs Szenen-Abläufe, in denen sie sich – optisch stark verzerrt – durch eine verfremdete Natur bewegt. Hier erscheint der im Gras absurd auf der Stelle tretende Fuß klumpig-riesengroß, daneben das mit dem Fischaugen-Objektiv aufgenommene, ganz verlegen und verloren wirkende Gesicht oder der ins Monströse angeschwollene Hals. Momente eines gleichermaßen faszinierenden wie erschreckenden Körperteil-Theaters, das vom Unbehagen angesichts des Da-Seins in der verbliebenen Natur zu handeln scheint.

Künstlerin tritt in Distanz zu sich selbst

Die Künstlerin spricht von einer Ansammlung „verunglückter Spaziergänge“. Sie tritt bei solchen Arbeiten in Distanz zu sich selbst, nennt sich als Kunst-Figur „Franzi“ und behandelt sich wie eine Art Puppe oder Marionette. Signale der Entfremdung.

Einige Meter weiter stehen drei Bildschirme nebeneinander. Nun beginnt ein ruckhaftes Erscheinen und Verschwinden der Bilder – ähnlich wie bei jenen Orangen, Zitronen und Erdbeeren in den Sichtfenstern „einarmiger Banditen“. Hier sind es allerdings keine Früchte, sondern das Gesicht der Künstlerin, eine Pistole und eine Narrentröte. Es kommt zu abstrusen (Un-)Gleichzeitigkeiten, Begegnungen und Abstoßungen. Alles wird gerüttelt und geschüttelt. Dazu ertönen knarzende Geräusche. Der ratternde Automatismus wirkt zwischendurch wie Slapstick, man lacht unwillkürlich. Und doch ist auch hier die maschinenhafte Fremdheit und Fremdbestimmung des Körpers unterschwelliges Thema.

Niedliche Natur ist nicht mehr möglich

In weiteren Installationen hetzen diverse Spielzeuge irrwitzig über eine Batterie von Monitoren – oder man kann im „Weltmobil“ selbst mit vielfachem Überschalltempo über einen Bildschirm-Globus sausen. Trotz rasanter Tempi ist für diese auf den ersten Blick unscheinbare Ausstellung Zeit und Muße nötig. Damit die geheimen Strukturen der Arbeiten halbwegs erkennbar werden, muß man erst (anregende) Seh-Arbeit leisten.

Standfotos dokumentieren weitere, in Marl nicht vorgeführte Videoarbeiten. Und der eingangs erwähnte Gartenzwerg in Tierbegleitung? Nun, der flankiert die Arbeit mit den Natur-Spaziergängen und steht wohl für eine naive Niedlichkeit der Naturaneignung, die eigentlich längst nicht mehr möglich ist.

Marl, Skulpturenmuseum „Glaskasten“, Creiler Platz (am Zentrum „Marler Stern“ / Rathaus). Bis 24. August. Di-So 10-18 Uhr. Statt eines Kataloges gibt es für 25 DM eine Videokassette mit Arbeiten der Künstlerin, dazu ein Info-Beiheft.