Bewegungs-Bilder aus unterirdischer Endzeit – Pina Bauschs Tanzabend II („Viktor“) uraufgeführt
Von Bernd Berke
Wuppertal. Die Erde ist nur mehr ein „umgestürzter Hafen“; Büchners mächtiges Einsamkeits-Wort aus dem „Woyzeck“ wird gesprochen. Die Bühne für Pina Bauschs „Tanzabend II“ („Viktor“) ist Todesstätte. Oder: Katakomben, Ort des allerletzten Überlebens.
Erdwälle ringsum, meterhohe Aufschüttungen; drei Stunden lang wird von droben Erdreich heruntergeschippt. Begräbnis? Wir Zuschauer – eine imaginäre vierte Erdwand liegt hinter unseren Rücken – sind mit drunten, wo „das Ungeordnete“ geschieht, wo das Unbewußte sich Bahn bricht in Wiederholungs-Ritualen aus Kindheit, Alltag und Wahnsinn. Immer wieder werden autistisch in sich selbst rasende Bewegungsabläufe von Hereinkommenden abgebremst, unterbrochen oder allmählich ruhiggestellt, wie von einem Wachpersonal.
Pina Bauschs Körpertheater, dessen „Sprache“ die Beherrschung des Tanzes voraussetzt, unternimmt, dabei oft über Gebühr sich selbst zitierend, einmal mehr alle Anstrengungen, uns fremdeste, uner-„hörte“ Bewegungs-Bilder vor Augen zu stellen. Auch hier wieder Gesten flüchtigen Begehrens, Entblößungs-Posen der Selbstverliebtheit und sexueller Herrschaftsanmaßung, die in einer Flut von Wiederholungssequenzen ausgestellt werden. Nicht auf eine wörtlich zu fassende „Aussage“, sondern auf die Bildlichkeit selbst kommt es da an. Keine zusammenhängende Geschichte, sondern die Entäußerung untergründig wirkender Bewegungs-Strukturen. Um diese Muster herum öffnen sich für den Zuschauer äußerst weite Assoziationsfelder, öffnet sich verstörende Leere, die sich – wenn überhaupt – erst in Kopf und Bauch des Betrachters füllt, die aber auch hilflos, ratlos und aggressiv machen kann.
Der Beginn (am Ende wird diese Szenenfolge wiederholt, ohne an Geheimnis verloren zu haben): Eine Frau betritt die Bühne, im knallroten Kleid, armlos wie eine antike Statue, sie lächelt „wissend“ und herausfordernd ins Publikum. Ein grelles, unerträgliches Bild, eine wohlkalkulierte „Zumutung“, ärger als eine spätere, ausdrückliche Publikums-Beschimpfung („Haut alle ab!“). Dann Teppiche: in den einen rollt man achtlos eine Frau ein, vor dem zweiten wird ein leblos liegendes Paar getraut. Die Hände werden zum Ringtausch zueinander gezwungen, die Gesichter zwecks Kuß zueinander gebogen.
Überhaupt: Tote, Halblebendige. Da versichert sich einer seines Lebensrestes, indem er – Beckett grüßt – seinen bloßen Atemhauch übers Mikrophon abläßt. Die Endzeit ist da: Zwei Steine wie Scheuklappen haltend, irrt eine Frau über die Bühne, regelmäßig hüstelnd, dann markerschütternd schreiend. Eine andere dient (sie speit Sprudel aus, den man ihr eingeflößt hat) als Waschbrunnen, weitere werden begossen wie Pflanzen. Lebendiger scheinen da jene Dinge, die mehrmals in einem irrwitzigen Vermarktungskreislauf „versteigert“ werden.
Das irritierende Stück mit seinen Bildüberblendungen entstand nach einer Rom-Reise des Ensembles. Gruppen-Prozesse haben da sicher eine Rolle gespielt, die der Zuschauer schwerlich nachvollziehen kann. Vor allem italienische Musik der 30er Jahre, „billig“ kreischend wie in einem drittklassigen Lokal, erfüllt den Raum.