Neue Gemeinschaft stiften – Jochen Gerz‘ Kunstaktion „Das Geschenk“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Gesichter blicken einen an – und es werden immer mehr. Schon gestern waren es 400 Porträts, die die Wände des Dortmunder Ostwall-Museums zierten. Im August sollen es rund 5000 sein. Der Ankauf für die Sammlung ist bereits beschlossene Sache.

Der mit documenta- und Biennale-Weihen versehene Künstler Jochen Gerz (60) beschert den Dortmundern mit seiner Aktion „Das Geschenk“ ein spezielles Gemeinschafts-Erlebnis.

In der Medienkunst-Schau „Vision Ruhr“ (frühere Zeche Zollern II/IV – die WR berichtete) hat Gerz ein Fotostudio mit moderner Digitaltechnik eingerichtet. Studenten der Dortmunder FH lichten dort kostenlos Besucher ab. Möglichst gefasst sollen sie dreinschauen, niemand soll sich in Szene setzen. Gerade dann tritt die Individualität der Gesiebter (frontal und in Nahsicht) hervor. Im Schnitt haben sich die Macher 8 Minuten Zeit für eine Porträtsitzung gegeben – samt Ausdruck und Rahmung.

Jede(r) Fotografierte darf ein Bild mit nach Hause nehmen, aber nie das eigene. Also trägt man das Bildnis eines oder einer Unbekannten heim, gewährt symbolisch „Gastfreundschaft“. Das eigene Konterfei nimmt wiederum ein „Fremder“ mit. Menschenfreundliche Vision: sich auf den Anderen einzulassen, ohne Ansehen von Herkunft, Beruf und dergleichen.

Inspirieren ließ sich der in Paris lebende Gerz vom Gedanken an die oftmals bewiesene Solidarität der Revier-Bewohner. Vor diesem Hintergrund stiftet sein Projekt eine neue Gemeinschaft. Besonderer Zusatz-Effekt: Man besitzt ein Kunstwerk und ist zugleich Teil von ihm. All das beschränkt sich nicht auf den privaten Raum, sondern greift ins Öffentliche aus: Sämtliche Zweitabzüge gelangen ins Ostwall-Museum, das somit nach und nach ganz gefüllt wird. Frankfurts Schirn-Kunsthalle will die Schau übernehmen.

Die Westfälische Rundschau unterstützt die Aktion auf vielfältige Weise, auch durch Veröffentlichung von Porträtfoto-Seiten (in der Dortmunder WR-Ausgabe). Zur Eröffnung der Ostwall-Schau (heute um 19 Uhr) wird WR-Chefredakteur Frank Bünte mit Jochen Gerz und dem Ausstellungsleiter Axel Wirths über die „Geschenk“-Aktion sprechen.

Jochen Gerz: „Das Geschenk“. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 20. August. Di/Mi/Fr/So 10-18, Do 10-20, Sa 12-18Uhr.

„Vision Ruhr“, Zollern 11/IV, DO-Bövinghausen (Grubenweg). Bis 20. August. Tägl. außer Mo 10-19, Fr 10-22 Uhr.




Im Taumel der Zukunft – Ausstellung „Vision Ruhr“ in Dortmund / Medienkunst erobert früheres Zechengelände Zollern II/IV

Von Bernd Berke

Dortmund. Du gehst die Treppe hoch, in einen dunklen Tunnel hinein. Du läufst dort oben, etwas bang unter dich blickend, über Felder aus Glas. Plötzlich erscheint, wie aus dem Nichts, dein elektronisch erzeugter Begleiter, geheimnisvoll schimmernd. Er reagiert sogar, wenn du stehen bleibst oder dich umdrehst. Da passt er mal wieder, der Slogan: Du bist nicht allein.

Warum diese vertrauliche Anrede? Weil man von solcher Medienkunst ganz direkt „angesprochen“ und geradezu umfangen wird. Immer wieder sieht man sich, beim weitläufigen Rundgang durch die Dortmunder Riesen-Schau „Vision Ruhr“, von ausgeklügelten Apparaturen ertappt oder animiert. Doch vor allem kann man vielfach selbst das Geschehen beflügeln. Es ist ein Abenteuer-Pfad mit vielen Stationen, an dem auch Kinder Vergnügen haben werden.

Virtuelle Reisen durch eine Welt der geisterhaften Bilder

„Vision Ruhr“ dürfte die umfangreichste Dortmunder Ausstellung aller Zeiten sein. Mit Hilfe etlicher Förderer hat man rund 6,5 Millionen DM aufgebracht. 25 Künstler bzw. Künstlergruppen (u. a. aus den USA und Japan) „bespielen“ die ehemalige Zeche ZollernII/IV im Ortsteil Bövinghausen mit avancierter Medienkunst. 15 Projekte sind eigens für Dortmund entstanden, zwölf Arbeiten werden in der Stadt bleiben – vielleicht als Grundstock für ein künftiges Museum der Medienkünste?

Spannungsreich sind die Kontraste zur alten Architektur, die ja – als Westfälisches Industriemuseum – selbst schon für Krise und Neubeginn steht. Nun aber tauchen die Bauten vollends ein in die zuweilen so schrecklich schöne neue Medienwelt, von der man sich im Revier entscheidende Zukunftsimpulse erhofft. Die Künstler freilich beschwören nicht nur Paradiese“ herauf, sondern spüren auch Erschütterungen nach.

Und so betritt man denn den oft schwankenden Boden der Bedeutungen. Vielleicht sind es der Taumel und das Schwindelgefühl der Zukunft, die man da verspürt. Beispielsweise, wenn man jenen Globus auf einer Leinwand berührt und sich so quer durch unsere Welt zoomt, auf den Spuren des Internet rasend; oder wenn man sich in einer Rotunde virtuell an markante Stätten des Reviers „beamt“; oder wenn man mittels rostiger Zechen-Hebel Computer steuert und damit geisterhaft „unter Tage“ umher schweift.

Jim Campbell projiziert in der ehemaligen Lohnhalle eine kleine Taschenuhr in gigantischer Vergrößerung über die Köpfe. 13 Kameras erfassen Menschen, die durch die Halle schreiten, und blenden ihre Bewegungen ins Zifferblatt ein. Verstreichende Zeit, unaufhörliches Wandeln.

Spielerisch und doch hintergründig geht es bei Perry Hoberman und seiner Installation „Workaholic“ zu. Mit Haar-Fönen können Besucher ein Pendel bewegen, in dem ein Scanner steckt. Der wiederum erfasst Strichcodes (wie an der Supermarktkasse) und verwandelt sie – immer wieder anders – zu flackernden Bildern.

Nächste Verblüffung, beschert von Jill Scott: Indem man Hände, Füße oder den ganzen Körper in Holzvorrichtungen zwängt, kann man gezielt Video-Tanzszenen auslösen. Der eigene Leib als Programmgestalter, verquickt mit Bildern – die etwas andere Körper- und Medien-Erfahrung.

Nachhaltiger „erwischt“ einen die Arbeit des „Studio Azzurro“. Gegen transparente Automatik-Schiebetüren rennen und springen projizierte Menschenfiguren an wie gegen eine Gefängniswand. Man selbst schreitet unbehelligt durch diese Pforten – und auf einmal sieht man einen dieser Menschen unter sich liegen, als habe man ihn selbst niedergetreten. Wo sonst erzeugt medial vermittelte Gewalt sofort ein schlechtes Gewissen?

Doug Hall sorgt in der Schachthalle für gewaltige elektrische Entladungen, die gar einen brenzligen Geruch hinterlassen. Geleitet wird die Energie auf zwei Stühle hinter Gittern. Muss man an eine Hinrichtung denken? Oder nur an entfesselte Kräfte?

„Vision Ruhr“. Zeche Zollern II/IV, Dortmund-Bövinghausen (Grubenweg 5). 14. Mai bis 20. August. Di/mi/Do/Sa/So 10-18, Fr 10-20 Uhr. Eintritt 15 DM, Familie 30 DM, Katalog 39 DM. Internet: www.vision-ruhr.de