Nein, die ausgelutschte Überschrift „Bücher für den Gabentisch“ machen wir aus Prinzip nicht…

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Beileibe keine Stapelware, doch stapelbar: die hier vorgestellten Bücher, unterschiedslos aufgetürmt. (Foto: Bernd Berke)

Das Fest der Bücher naht. Daher hier und jetzt (statt ausführlicher Besprechungen, für die jetzt eh kaum jemand Zeit hat) noch schnell einige adventliche Kurzvorstellungen. Wir beschränken uns ausnahmsweise auf Empfehlungen, „Verrisse“ wird man hier also vergebens suchen. Die gibt’s demnächst wieder. Versprochen. Auf geht’s, zunächst und zuvörderst mit gehobener Belletristik, vorwiegend für versierte Leser(innen):

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Jürgen Becker: „Jetzt die Gegend damals“. Journalroman (Suhrkamp, 162 Seiten, 19,95 Euro). Der gebürtige Kölner, Büchner-Preisträger von 2014, verfasst beileibe keine leichten, aber sehr eindringliche Lektüren. Es ist abermals sein Alter ego namens Jörn Winter, mit dessen Hilfe Jürgen Becker auf produktive Halbdistanz zur eigenen Lebensgeschichte geht. Dabei entsteht erneut jene ganz eigene Prosa, die sich still und leise über etwaige Grenzlinien zwischen Erzählung, Lyrik und Tagebuch hinweg bewegt und in diesem ungesicherten Gelände gar manches aufspürt, was sonst unbeachtet geblieben wäre.

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Noch ein hochdekorierter Autor und ebenfalls ein (auto)biographischer Impuls: Patrick Modiano erhielt 2014 den Literaturnobelpreis. Sein kurzer Roman, im französischen Original just 2014 erschienen, heißt auf Deutsch „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ (Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro). Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. Jean Daragane hat sich in seiner Pariser Wohnung von aller Welt zurückgezogen. Da spürt ihn ein rätselhafter Fremder auf, der einem Mordfall auf der Spur zu sein scheint. So absurd das zunächst anmuten mag, bringt es Daragane doch auf einige längst vergessene Menschen aus seiner Vergangenheit – und auf Schlüsselszenen seines Lebens…

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Jonathan Franzen: „Unschuld“ (Rowohlt, 830 Seiten, 26.95 Euro). Dieser Roman zählt zweifellos zu den Schwergewichten der Saison – in jeglicher Hinsicht. Dass der amerikanische Großautor sich literarisch auch in die DDR und die Zeit des Mauerfalls begibt, darf wahrlich als (riskante) Besonderheit gelten. Zwischen Stasi, Internet und Mutter-Tochter-Drama reißt Franzen ungemein viele Themen und Thesen an, allein die Recherche-Arbeit muss äußerst mühevoll gewesen sein, von der Bändigung des schier ausufernden Materials ganz zu schweigen. Dass der Roman sich freilich weit über thematische Vorgaben erhebt, hat man von diesem Autor nicht anders erwartet. Er wirft Schuldfragen in vielerlei Gestalt auf. Ein souverän konstruiertes Buch, das weite Bögen schlägt und einen lange beschäftigt – nicht nur wegen der Seitenzahl.

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Vladimir Sorokin „Telluria“ (Kiepenheuer & Witsch, 414 Seiten, 22,99 Euro). Eurasien Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Welt, wie wir sie noch zu kennen glauben, ist zerfallen, zwischen Hochtechnologie und Archaik schildert der russische Schriftsteller in staunenswerter Formen- und Stilvielfalt eine (um das Modewort dieser Jahre zu verwenden) grandiose Dystopie, also eine ins negative gewendete Utopie. Im Zentrum der verwirrend unschönen neuen Welt steht eine Glücksdroge, die zu Nägeln verarbeitet und den Menschen in den Kopf gehämmert wird. Und so nennt sich denn auch das achtköpfige (!) Übersetzerteam selbstironisch „Kollektiv Hammer und Nagel“. Ein wahnwitziger Roman in 50 äußerst disparaten Kapiteln.

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Franz Hohler „Ein Feuer im Garten“ (Luchterhand, 128 Seiten, 17,99 Euro). Kurze Erzählungen, die mit wunderbarer Leichtigkeit daherkommen. Abenteuer und Überraschungen wohnen hier gleich nebenan und werden bestaunt wie in Kindertagen. Man kann das nicht schnöde nacherzählen, man muss halt lesen, wie unprätentiös und zugleich virtuos Franz Hohler das gemacht hat.

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Max Goldt „Räusper“ (Rowohlt Berlin, 172 Seiten, 19,95 Euro). Der Titel deutet auf Comics hin. Und tatsächlich: Unter dem Label „Katz & Goldt“ sind in den letzten Jahren herrlich abgedrehte Comics entstanden. Hier lesen wir das, was die Figuren in den Strips sagen, ohne jegliche Bildbegleitung – quasi als Minidramen mit oft abstrusen Dialogen, allerdings gegenüber dem Originaltexten vielfach abgewandelt, denn Mediengrenzen lassen sich nicht einfach mal so überspringen. Die Resultate sind oft verdammt lustig – und doch: Man vermisst die eigentlich zugehörigen Zeichnungen hin und wieder schmerzlich. Mögen Germanistik-Doktoranden dereinst ermitteln, was die reinen Texte an Qualität hinzugewinnen – und um welchen Preis.

Nun noch ein paar Sachbuch-Hinweise:

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So vielfältig kann man sich (aus)bilden: Erwin Seitz war zunächst gelernter Metzger und Koch, dann studierte er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er ist also prädestiniert, um die „Kunst der Gastlichkeit“ (Insel Verlag Berlin, 252 Seiten, 22,95 Euro) in Geschichte und Gegenwart aufzublättern. Seitz richtet sein Augenmerk in 22 Kapiteln auf die Entwicklung der Gastlichkeit in Deutschland und somit auf (allzeit brüchige) Kultivierung und Zivilisierung der Menschen, die in den hiesigen Landstrichen gelebt haben. Diese besondere Sittengeschichte zeichnet vielerlei Einflüsse nach, die hier nach und nach auf ganz spezielle Weise zusammengekommen sind. Das Spektrum reicht von klösterlicher Gastfreundschaft über Staatsbankette, bürgerliche Verfeinerung, Menüwahl und Tischsitten bis hin zur Kunst des Tischgesprächs. Ein Buch, das seinerseits zum Tischgespräch werden sollte.

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Basis des Buches „Stulle mit Margarine und Zucker“ (Klartext Verlag, 172 Seiten, 13,95 Euro) sind persönliche Erinnerungen, überwiegend von älteren Ruhrgebietsbewohnern. Vor allem geht es um Kindheit und Jugend im Revier – vom Bombenkrieg bis hin zum Strukturwandel der 70er und 80er Jahre. Damit nicht alles gar zu uferlos mäandert, haben die Historikerinnen Susanne Abeck und Uta C. Schmidt die vielfältigen Erinnerungen sortiert, geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. So kristallisieren sich einige lebensweltliche Erscheinungen heraus, die auch für den allmählichen Mentalitätswandel im Ruhrgebiet stehen. Ein Zeitzeichen unter vielen: Etwa seit den 70er Jahren musste das Lehrlingsgehalt nicht mehr zu Hause abgegeben werden. Kindheit im Revier hatte für lange Zeit ihre Konstanten, war jedoch auf Dauer auch wandelbar. Prägnante Schwarzweißbilder, ein Glossar, ein ausführliches Nachwort und Literaturhinweise runden den Band ab.

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Der ausgesprochen liebevoll gestaltete und illustrierte Band „Botanik für Gärtner“ (DuMont, 224 Seiten, 29,99 Euro) gibt mit mehr als 3000 Stichworten Auskunft über wissenswerte Hintergründe des Metiers. Das aus dem englischen übersetzte Buch von Geoff Hodge ist jedoch nicht alphabetisch aufgebaut, sondern kapitelweise, so dass man sich auch über längere Strecken ein- und festlesen kann. Hier erhält man eben nicht nur Gärtnertipps, sondern erfährt eine Menge über die Grundlagen pflanzlichen Lebens überhaupt, über die Systematik des Pflanzenreichs, Formen des Wachstums, Fortpflanzung, Schädlinge, Krankheiten – und über die Sinneswahrnehmungen der Pflanzen. Ergänzend werden zudem einige berühmte Botaniker und botanische Illustratoren vorgestellt. Grüner geht’s nimmer.

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Mehr für die tägliche praktische Arbeit zwischen Bäumen, Beeten, Sträuchern, Stauden und Hecken gedacht ist „Das Gartenjahr“ (Verlag Dorling Kindersley, 352 Seiten, 19,95 Euro). Der Untertitel weist schon die Richtung: „Die richtige Planung Monat für Monat“. Genau so ist das im besten Sinne übersichtliche wie reichhaltige Buch auch strukturiert – von Januar bis Dezember gibt es nützliche Hinweise, ausgerichtet an den jahreszeitlichen Erfordernissen. Sodann schließt sich noch ein kleines Pflanzenlexikon an. Das Buch von Ian Spence wurde im englischen Original von der „Royal Horticultural Society“ herausgebracht. Es dürfte auf diesem Gebiet schwerlich eine bessere Empfehlung geben.

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Zum guten Schluss ein Kunstbildband: „Welten der Romantik“ (Hatje Cantz, 304 Seiten Großformat, zahlreiche Abb., 45 Euro) gehört als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Wiener Albertina (noch bis zum 28. Februar 2016). Ein opulent illustriertes Buch zum Schwelgen, das seine Tiefenschärfe dadurch gewinnt, dass – grob gesprochen – die protestantische Romantik des Nordens der katholischen Romantik des Südens gegenüber gestellt wird. Ein schlüssiger und vilefach fruchtbarer Ansatz.




Ein russischer Alptraum: Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“

Landarzt Garin kommt einfach nicht vom Fleck. Seine eigenen Pferde sind total erschöpft und machen schlapp. Und der einfältige Brotkutscher Kosma, dessen Gefährt von unzähligen winzigen Pferchen gezogen wird, scheint weder die Gegend noch die einzuschlagende Richtung wirklich zu kennen. Dabei müsste Garin so dringend nach Dolgoje.

Denn in dem kleinen Dorf, das irgendwo in der weiten Steppe Sibiriens liegt, ist eine seltsame Krankheit ausgebrochen, die die Menschen in fleischfressende Zombies verwandelt. Der Landarzt hat das Serum in der Tasche, das man den Infizierten einimpfen muss, um sie vom Werwolfsyndrom zu heilen. Doch Garin und sein Begleiter stecken immer wieder im Schnee fest. Und wenn sie mal vorankommen, dann verlieren sie im unaufhörlichen Schneegestöber die Orientierung. Manchmal kommt es ihnen vor, als würden sie ständig im Kreis fahren, und die Menschen, die sie in den abgelegenen Dörfern treffen, sind auch keine Hilfe.

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Außerdem sehen einige eher aus wie Zwerge, andere gleichen Riesen. Diese Menschen-Mutanten stopfen sich mit Drogen voll und zerren den verwirrten Landarzt ins Lotterbett. Und was machen eigentlich diese arroganten Chinesen hier in Russlands Kältekammer? Wieso verfügen sie über neueste Apparate und technische Wunderwaffen? Haben die Chinesen vielleicht inzwischen die Macht übernommen, ohne dass irgendjemand im fernen Kreml davon etwas mitbekommen hat?

Es ist eine bizarre und skurrile, manchmal auch märchenhafte und unwirkliche Welt, in die Vladimir Sorokin die Leser seines Romans „Der Schneesturm“ entführt. Nicht nur Landarzt Garin, ganz Russland scheint in einer Art Zeitschleife gefangen zu sein. So sehr sich Garin auch bemüht, er erreicht nichts, dreht sich im Kreis, findet einfach nicht den Weg in die Zukunft. Im Gegenteil. Es scheint eher, als führe er rückwärts, immer weiter in eine von Despotismus und Gewalt, von archaischen Riten und absolutistischer Willkür geprägte Vergangenheit.

Sorokin ist ein gewiefter Erzähler und baut ein absurdes Erzähllabyrinth. Stil und Tonfall lassen für Momente vermuten, wir wären im 19. Jahrhundert. Nicht nur der Titel des Romans verweist auf die gleichnamige Novelle von Puschkin, in der ein verzweifelter Bräutigam im Schneesturm die eigene Hochzeit nicht finden kann. Auch die Hauptfigur erinnert stark an jene Landärzte, die Tschechow und Turgenjew beschrieben haben und die für ihren meist aussichtslosen Kampf gegen die Lethargie und Melancholie der Russen berühmt wurden. Für Momente mag man auch glauben, Sorokin, dieser zynische Beobachter und beissende Kritiker der gelenkten russischen Demokratie, die sich immer mehr als Diktatur erweist, sei milde geworden und habe sich in ein vom Schneegestöber bemänteltes Märchenland geflüchtet. Doch weit gefehlt!

Sorokin, der 1955 in Bykowo bei Moskau geborene Autor, der in seiner Heimat angefeindet wird und dessen Bücher von Vladimir Putins Jugendorganisation schon einmal in einem riesigen Klo öffentlich verbrannt wurden, macht da weiter, wo er zuletzt mit „Der Tag des Opritschniks“ und „Der Zuckerkreml“ aufhörte. Diese Romane spielen in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Russland sich vom Westen abschottet und sich in China mit High-Tech-Produkten versorgt – und sich vielleicht auch schon ganz der chinesischen Übermacht ausgeliefert hat. In einem Russland, in dem Mord und Vergewaltigung, Drogenexzesse und Liquidierung der Opposition an der Tagesordnung sind. Diesmal mag das alles etwas versteckter, dezenter, märchenhafter daher kommen. Doch für den, der die Symbolik und den Schnee beiseite räumt, wird die ätzende Systemkritik Sorokins auch am grotesk-imaginär beschrieben Russland deutlich erkennen.

Erst allmählich merkt man: Landarzt Garin muss wieder die Pferde anspannen, weil die Erdölvorkommen versiegt, Autos und Elektroschlitten unbrauchbar geworden sind. Garin kämpft gegen seltsame Krankheiten, weil die Biotechnologie völlig aus dem Ruder gelaufen ist und zu tödlichen Epidemien führt. Arbeitslosigkeit und Armut haben ganze Landstriche entvölkert. In diesen Todeszonen und aufgegebenen Arealen scheinen sich nur noch Mutanten aufzuhalten oder Chinesen, die mit ihren Riesenschlitten durch den Schnee sausen und ihre eigenen Interessen haben. Garin wird dagegen nichts ausrichten können. Eine wilde Liebesnacht, ein ausgeflippter Drogenrausch, das ist alles, was bei seinem Trip durch den Schnee herauskommt. Ein russischer Don Quixote, der gegen die Windmühlen der russischen Diktatur kämpft und in der tödlichen Kälte auch noch seinen Sancho Pansa verliert.

Vladimir Sorokin: „Der Schneesturm“. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 207 S., 17,99 Euro.