Chaos in Küche und Kneipe – Stücke von Volker Ludwig und Kerstin Specht beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Oft ist das Theater seiner Epoche voraus, doch manchmal hat es Mühe, mit dem Lauf der (technischen) Welt Schritt zu halten. Da keimt die Versuchung, Zeitnähe durch Äußerlichkeiten zu bekunden. Nimmt man die Auftakt-Ereignisse des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke 98″ zum Maßstab, so geschieht dies vorzugsweise durch den Bühnen-Einsatz von Mobiltelefonen.

Sowohl in Volker Ludwigs klotzigem Berliner Szene-Musical „Café Mitte“ (Grips-Theater, Regie Rüdiger Wandel) als auch in Kerstin Spechts unaufdringlich frauenbewegtem Küchenmärchen „Die Froschkönigin“ (Staatstheater Stuttgart, Regie Markus Trabusch) zirpen die Handys. Ludwig gewinnt dem Auftritt telefonierender Wichtigtuer die wohl beste Gesangs- und Tanznummer des Abends ab, bei Specht vibriert der schnurlose Quälgeist so unvermittelt, daß manch ein Zuschauer schuldbewußt in die Jackentasche greift.

Trostlosigkeit mit Staubsauger

Lange vor dem Handy ertönt in „Die Froschkönigin“ das Geräusch des Staubsaugers als Signatur trostlosen Hausfrauendaseins. Mutter (Helga Grimme) macht mal wieder sauber. Dann wickelt sie behutsam das Kabel auf, stellt die Küchenstühle zurecht, steigt auf einen hinauf – und legt ihren Hals in einen Strick, der von der Decke baumelt. Doch nicht einmal das klappt.

Das Stück versinkt nun keineswegs im Sumpf der Depression, sondern schnurrt ab wie eine Spieluhr. Gewiß steckt Sarkasmus dahinter, doch leichtfüßig hangelt sich Kerstin Specht an Grimms Märchen vom „Froschkönig“ entlang. Vollends verdichtet wird der Stoff freilich nicht, es bleibt bei schön beiläufig auf gereihten Miniaturen.

Einfach Frau sein ohne Last

Die verwitwete Mittvierzigerin bedient ihre beiden unverschämten Nesthocker-Kinder und jenen Faulpelz Stefan König (Klaus Weiss), der sich bei ihr einnistet. Auf sein Geheiß sorgt sie als Hellseherin fürs Einkommen. Wüßte sie doch auch fürs eigene Leben Rat! Ihr Tagtraum: „einfach Frau sein“ ohne Last. Den erfüllt sie sich am Ende durch beherzte Flucht in eine Versorgungsehe mit Kreditkarten-Zugriff. Wenn schon (anders als im Märchen) das Wünschen nicht mehr hilft, muß frau eben zusehen, wo sie bleibt…

Zuvor hatte man dreieinhalb Stunden in Volker Ludwigs Kneipe „Café Mitte“ zugebracht – oder soll man sagen: vergeudet? Berlin köchelt hier im eigenen MetropoIen-Saft, harmlos und Tourismus-tauglich. Der Autor hat alles zum Chaos verrührt, was im Handbuch wohlmeinender Sozialpsychologen steht: Ossi-Wessi-Reibereien, Punks, Skins, Fixer, Russenmafia, Multikulti-Sehnsüchte und mehr. Das meiste klingt, als sei Ludwig mit den erstbesten Dialogen zufrieden gewesen. Hier gibt s fast alles zum Einstiegspreis.

Eine Botschaft wie von Guildo Horn

Die angejazzte Rockmusik (Uli Buhl), lauer Querschnitt durch diverse Jahrzehnte, kann dem Kuddelmuddel um die Straßenkinder Keule, Schnuffi und Ratte nicht aufhelfen. Hätten ihre Eltern sie nur richtig liebgehabt (so eine fast schon Guildo-Horn-verdächtige Botschaft), dann wären sie allemal glücklicher. Und hätte das Grips-Theater nicht bleibende Verdienste angehäuft, so müßte man auch einige Darsteller schelten. Lassen wir das. Nur dies: Sollte Ludwigs Stück gewinnen, so schicken wir 1999 Bruno Knusts umgekrempelte „Dortmund-Revue“ ins Rennen. Dann rappelt’s im Karton.

Ganz anders wird’s am Sonntag zur Sache gehen. Dann gibt es für gestählte Zuschauer Einar Schleefs mit Spannung erwartete fünfstündige Kurzfassung (!) des „Sportstücks“ von Elfriede Jelinek. Die hat soeben den Büchnerpreis bekommen. Legt die Mülheimer Jury vielleicht noch etwas drauf?




Überraschung in Mülheim: Dramatikerpreis an Volker Ludwig für „Linie 1″ – Jury und Publikum votierten für Revue des Grips-Theaters

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Überraschung ist perfekt, doch sie konnte bei Licht besehen gar nicht ausbleiben. So paradox könnte man den Beigeschmack der Jury-Entscheidung bei den Mülheimer Theatertagen „stücke ’87“ umschreiben. Der mit 20.000 DM dotierte Dramatikerpreis geht an Volker Ludwig. Mit diesem Votum für „Linie 1″ (Rock-Revue des Grips-Theaters), wolle man, so die Jury-Begründung, „eine auf deutschsprachigen Bühnen seltene Form des kritischen Unterhaltungstheaters“ fördern.

Das U-Bahn-Stationenstück, so die Jury weiter, verbinde Elemente der musikalischen Revue und des  Sprechtheaters, um „Probleme großstädtischer Lebenswirklichkeit und der Jugendkultur“ zu thematisieren. Gewürdigt werde mit dieser Entscheidung auch „die Kontinuität der Theaterarbeit des Autors Volker Ludwig und des Grips-Theaters“.

Fünf von acht Jury-Experten – drei stimmten für Elfriede Jelineks Vampir-Stück „Krankheit“ – haben damit dem Geschmack der Publikumsmehrheit entsprochen (was in den vergangenen Jahren längst nicht immer der Fall war). „Linie 1″ war der eindeutige Favorit bei den Zuschauern, sowohl, was die Besucherzahlen in Mülheim, als auch, was die Stimmzettel anging.

In der mitternächtlichen Diskussion nach Bekanntgabe des Jury-Entscheids erhoben sich einige Stimmen, die das Urteil für unseriös erklärten, von einem „Wende-Signal“ sprachen oder polemisierten, hier zeige sich eine Tendenz zur flachen Unterhaltung wie im Privatfernsehen.

Es ließen sich tatsächlich stichhaltige Einwände gegen „Linie 1″ erheben, etwa der, daß gesellschaftliche Randgruppen hier auch zum Objekt der Unterhaltung werden. Andererseits stecken in der kalkuliert kitschigen und witzigen Verpackung des Stücks auch kritische Inhalte.

Von einem „Signal“ der Jury kann man tatsächlich sprechen. Ausformuliert und an die Adresse der Theaterautoren gerichtet, könnte es in etwa lauten: „Entfernt euch nicht zu sehr vom Publikum!“ Ein Appell, der mit Blick auf die Gesamtheit der Mülheimer Wettbewerbsbeiträge einiges für sich hat, kam doch vielfach sprachlich überladene, stockdüstere Endzeit-Prosa auf die Bühne, die allenfalls unter dem Aspekt „publikumswirksam“ war, daß sie für Unklarheit in den Köpfen sorgte, was – wie sich in den Mülheimer Diskussionen nach den Aufführungen zeigte – von einigen Theatermachern bereits als das Nonplusultra ihrer Arbeit angesehen wird. Motto: „Was ich verstehe, damit bin ich fertig.“

Als letztes der sechs Stücke wurde am Donnerstag Abend Horst Wolf Müllers „Komarek“ in der Karlsruher Inszenierung von Hagen Mueller-Stahl gezeigt. Die Geschichte eines Arbeitslosen spielt 1932 und soll die Durchdringung des Privaten durch das Politische (Aufkommen des Nationalsozialismus) vorführen. Ob der Text dies leisten kann, ist nach dieser Inszenierung nur sehr schwer zu sagen. In der beinahe naturalistischen Darbietung, die in Mülheim zu sehen war, wird eher eine Vernebelung des Politischen durchs Private daraus. Die Frage bleibt, ob das sprachlich sehr zurückhaltende Stück mit feinem Instrumentarium unterschwellige Vorgänge erfaßt oder ob es einfach nur halbherzig und harmlos ist. Das Stück, dessen Autor übrigens als Angestellter im Bundespresseamt arbeitet, konnte in der gezeigten Darbietung noch nicht den Verdacht ausräumen, daß es eher eine entlastende und versöhnliche Tendenz à la Kempowski als die Schärfe eines Horváth hat.




Rock-Revue „Linie 1″ Favorit beim Publikum – Halbzeit des Mülheimer Wettbewerbs „stücke ’87“

Von Bernd Berke

Mülheim. Man könnte es wagen, schon zur „Halbzeit“ den Hauptanwärter auf den Mülheimer Dramatikerpreis ’87 vorherzusagen, wenn es nur nach dem Willen des Publikums ginge: er hieße mit ziemlicher Sicherheit Volker Ludwig.

Seine Rock-Revue von der U-Bahn „Linie l“, eine Stationen-Geschichten aus dem Berliner Untergrund zwischen Bahnhof-Zoo und Kreuzberg, mobilisierte am Wochenende zahlreiche Fans des Grips-Theaters, und deren frenetischer Beifall ließ kaum einen Zweifel daran, daß die Stimmzettel in den Wahlurnen der Stadthalle vielfach auf „gut“ oder „sehr gut“ lauteten.

Doch das gesamte Publikum hat auch bei ..Stücke ’87“ wieder nur eine einzige Stimme, die Theaterexperten der Jury werfen hingegen acht Voten in die Waagschale. Es ist kaum anzunehmen, daß dieses Gremium sich dazu durchringen wird, ein Rock-Musical zum Stück des Jahres zu erklären, das die Szene zwischen Punks, Pennern und Wilmersdorfer Witwen mit Elementen der Typenkomödie sowie einem Schuß Broadway verquickt und überhaupt keinerlei Berührungsscheu erkennen läßt – weder vor Gefühlen, die man landläufig unter Kitschverdacht stellen könnte, noch vor Kabarett- und Slapstick-Einlagen, ja, noch nicht einmal vor einem Happy-End. Das grenzt an Provokation inmitten der vorherrschenden Endzeitstimmung des Theaters.

Ob nun „Linie 1″ als fröhlicher Ausverkauf von gesellschaftlichen Randgruppen oder als populäre Aufbereitung verdrängter Utopien begriffen wird – pralles Theater ist es allemal. Und das liegt nicht nur an der Inszenierung, sondern vor allem am Text, der ja in Mülheim zur Debatte steht.

Zuvor waren zwei Stücke gezeigt worden, die jeweils auf ihre Weise schmerzlich deutlich machten, daß Kultur leider manchmal viel mit Sitzfleisch und mit „aussitzen° zu tun haben kann. Weder Elfriede Jelineks „Krankheit“ (vorgeführt vom Schauspiel Bonn), noch der „Jochen Schanotta“ des DDR-Äutors Georg Seidel (dargeboten vom Baseler Theater) dürften für den Preis in Frage kommen.

Lesbische Vampire kontra faschistoide Machos

Jelineks Stück ist streckenweise immerhin ein beachtliches Sprach-Kunstwerk. Doch Feinheiten gehen in Peter Eschbergs schrill-spekulativer Bühneneinrichtung sowieso den Bach herunter. Außerdem reißt das Stück Bäume aus, wo gar keine sind: lesbische Vampire kontra faschistoid daherbrabbelende Machos, die am Ende alles Weibliche mit der Schußwaffe erlegen – da fühlt man sich auch als Zuschauer leicht wie von Blutsaugern befallen.

Im übrigen haben sich die mit der Brechstange erzeugten Gegensätze des Stücks schnell erschöpft. Daß Frauen mystisch raunen, Männer hingegen nur bramarbasieren, hat man nach wenigen Szenen begriffen. Was sich danach endlos hinzieht, ist nur Wiederholung, ein Kreisen in sich selbst.

Noch strenger nimmt Georg Seidel die Zuschauer mit „Jochen Schanotta“ in die Zucht. Schanotta ist ein 18jähriger DDR-Rebell, der im Labyrinth der kleinen Freiheiten (lange Haare und Disco sind erlaubt) den.verzweifelten und von Anfang an vergeblichen Versuch unternimmt, die wirklichen Glücks- und Freiheitsmöglichkeiten des Individuums auszuloten.

Das diffuse Aufbegehren des jugendlichen Querdenkers wider die starre Erwachsenenwelt des realen Sozialismus mag auf DDR-Bühnen Sprengkraft entwickeln, hier mutet der Rebell ohne Rebellion seltsam gestrig an. Grundierung des Stücks ist das Vakuum der Langeweile, in dem jedes Anrennen zugleich ein Scheitern ist. So sieht man nur eine einzige Dimension, nämlich die schiere Vergeblichkeit auf der Bühne.