Sinn fürs Absurde: Staatstheater Kassel überzeugt mit Leonard Bernsteins utopischer Satire „Candide“

Die Ouvertüre ist wohlbekannt als funkelndes Konzertstück, die Arie der Kunigunde „Glitter and be gay“ dient mit ihren exaltierten Koloraturen als Schaustück für stimmversierte Soprane. Aber das Ursprungswerk dieser Evergreens, Leonard Bernsteins „Candide“, gehörte bisher eher in die B-Reihe der Repertoire-Lieblinge. Das änderte sich mit dem 100. Geburtstag Bernsteins 2018.

Bunt und absurd: Bernsteins „Candide“ in Kassel. Von links nach rechts: Lin Lin Fan (Kunigunde), Daniel Holzhauser (Maximilian), Philipp Basener (Dr. Pangloss), Belinda Williams (Paquette), Daniel Jenz (Candide). (Foto: N. Klinger)

Plötzlich war die zwischen Oper, Operette und Musical balancierende Voltaire-Vertonung in den Spielplänen präsent. Von Wien bis Weimar, von Berlin bis Bremen häuften sich die Versuche, der Satire mit dem irrwitzigen, messerscharfen Libretto von Hugh Wheeler (1974) oder der Voltaire-Adaption von John Wells (1988) beizukommen. So auch am Staatstheater Kassel, wo sich Regisseur Philipp Rosendahl und die Dramaturgen Maria Kuhn und Christian Steinbock für die Fassung von 1974 entschieden, die am Broadway erfolgreich war und mit Auszeichnungen (Tony Awards, Drama Desk Awards) überhäuft wurde.

Eine Reise durch die „beste aller Welten“

Zu erzählen ist die Reise durch die „beste aller Welten“ – bei Voltaire eine bissige Satire auf Gottfried Wilhelm Leibniz – nicht einfach linear. Denn die Unwahrscheinlichkeiten häufen sich: Candide, ein Provinzbürschlein aus Westfalen (!), gerät unter grausame bulgarische Angreifer, muss das berüchtigte Lissaboner Erdbeben miterleben. Er wird übers spanische Cadiz nach Montevideo geschleust, genießt das sagenhafte El Dorado, strandet auf einer einsamen Insel und dringt nach einem Intermezzo in Konstantinopel zum weisesten Mann der Welt vor. Der ist kein anderer als jener Doktor Pangloss, der ihm schon am Anfang seiner Irrfahrten die These von der „besten aller möglichen Welten“ verkündet hatte.

Bernstein und Wheeler stürzen sich in diesen abenteuerlichen Parcours und schöpfen ihn genüsslich-grotesk aus. Und Philipp Rosendahl macht mit seinem Co-Regisseur Volker Michl das einzig Richtige: Er lässt in einer nach vorne geöffneten, nach High-Tech aussehenden Kuppel auf der Bühne des Teams Daniel Roskamp/Brigitte Schima eine distanzierte, vielfach gebrochene Show ablaufen, die unweigerlich fragen lässt, ob wir es mit Menschen, Marionetten, Cyborgs oder einfach nur einem höheren Kasperltheater mit Kuh und Schafen zu tun haben.

Dass der naive Candide, von Daniel Jenz in köstlicher Mischung aus baritonalem Ernst und aufgedrehter Überzeichnung gesungen, erst einmal einen Schwan erlegt, legt den Rückgriff auf Wagners „reinen Tor“ nahe; dass im Hintergrund der Bühne auf einem runden Bildschirm rätselhafte, graphisch verbildlichte Operationen (Video: Daniel Hengst) ablaufen, deutet an, dass der transzendente Weltschöpfer längst durch undurchschaubare, alles bestimmende Programme abgelöst sein könnte: Garanten für die Sinnlosigkeit der Welt, die als einzige Antwort die ins Surreale gesteigerte Groteske zulässt?

Existenzielle Fragen zwischen Märchen und Groteske

Dabei stellt Candide durchaus die existenziellen Fragen: Ob das Leben nur „happyness“ und wozu die Welt erschaffen sei, was aus dem Schlechten resultiere, ob Güte nur Lüge sei und ob man nur lebt, um zu sterben. Die Antworten bleiben in den irrwitzigen Kurven der imaginären Lebensfahrt stecken, in denen vergewaltigt und gemordet wird, die aber auch wundersamste Errettungen und Wiederauferstehungen parat haben.

Lin Lin Fan als Kunidgunde. (Foto: N, Klinger)

Die Kasseler Inszenierung findet dafür zwischen Märchen und Groteske einen sicheren Pfad, verfremdet die Personen mit hoffmannesker Mechanik, dick aufgetragenen Posen oder ironisch überladenen Show-Gesten.

Dass es für alles unter der Sonne einen Grund gebe, diese Annahme wird mit leichter Hand zur Absurdität erklärt. Zwischen Willkür und Ignoranz, Dummheit und Zufall gibt es keine Spur von Sinn. Auch der Schluss mit seinem naiv hintersinnigen Rekurs auf arkadisch-friedliches Landleben oder Paradiesgärtlein-Visionen unterstreicht nur, dass es diesen Figuren nicht gelingen dürfte, dem Chaos der Welt zu entgehen. Das alles absolut nicht ernst zu nehmen, bleibt die einzige Methode, die Verzweiflung zu vermeiden.

Dank des fabelhaft spielfreudigen Kasseler Ensembles gelingt es, im Unernst die Spannung zu halten und das Absurde unterhaltsam zu präsentieren, ohne in schwere Ernsthaftigkeit abzudriften. Philipp Basener als mal zynisch, mal kokett schnarrender Erzähler – zugleich Pangloss und weisester Mann der Welt – manövriert sich in Leibchen, Corsage und dekonstruiertem Reifrock durch die verrückte Welt. Lin Lin Fan tiriliert sich mit feiner Stimme durch die überdreht kichernden Koloraturen der Kunigunde.

Wandlungsfähige Sänger-Darsteller

Daniel Holzhauer ist als Maximilian ein selbstgefälliger blonder Strahlemann und Belinda Williams kehrt als Paquette ihren abgebrühten Sarkasmus noch mehr heraus als die allfälligen weiblichen Reize. Als alte Dame hat Inna Kalinina mit ihrem Assimilations-Song einen grandiosen Auftritt. Bassem Alkhouri schlüpft in nicht weniger als sieben Rollen, von denen die eindrücklichste wohl die des Königs ist – ein karikiert aufgeblasener Donald Trump. Cozmin Sime als wollüstiger, aber glaubensstrenger Großinquisitor sowie Marc-Olivier Oetterli, Michael Boley und Bernhard Modes in vielfältigen Rollen – alle rücksichtlos quietschfidel kostümiert – halten wandlungsfähig die Spannung auf stets gleicher Höhe.

Ihre ganze Brillanz versprüht die Musik: Alexander Hannemann hat in der Ouvertüre noch Mühe, die Balance zwischen den kräftig besetzten Bläsern und der zu dünnen Streichergruppe herzustellen; das Orchester aus 16 Solisten artikuliert noch weich. Aber die markanten Pointen in Bernsteins Instrumentation brechen sich bald ihre Bahn und die vielfältigen Tanzrhythmen, die herrlich sentimentale Melodie des Duetts Candide-Kunigunde, die krachenden „Carmen“-Anklänge bei der Abfahrt nach Cadiz und der Neue-Welt-Tanzsound für die Südamerika-Szenen fetzen und zünden.

Allein um dieser Musik willen lohnt es sich, dieses Stück auf die Bühne zu bringen; für eine überzeugende Inszenierung braucht es – wie in Kassel zu erleben – den entsprechenden Sinn fürs Absurde und eine von kluger Ironie gewürzte, humorvolle Distanz zum Drang des Erzählens.

Weitere Vorstellungen: 9., 14., 22. Februar; 15., 29., 31. März; 12., 24. April; 2., 24., 29. Mai; 7.,13., 28. Juni 2020. Karten: (0561) 1094 222. Info: www.staatstheater-kassel.de




Große Autoren im kleinen Format, eine Fleißarbeit und ein Ärgernis – Buchvorstellungen, nicht nur für die Weihnachtszeit

Bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit: Es folgen sechs kompakte Buchvorstellungen – vor allem für versierte Vielleser(innen) mit weiter reichenden Interessen und gehobenen Ansprüchen. Es sind übrigens nicht durchweg Neuerscheinungen, denn dieses saisonale Gehechel, bei dem nach einem halben Jahr die allermeisten Bücher schon aufgegeben und als Remittenden behandelt werden, nervt zusehends.

Zu Beginn ein kleines Bekenntnis in Sachen einer gar nicht so bedeutungslosen Äußerlichkeit: Schon immer habe ich das besondere Klassiker-Format des Zürcher Manesse-Verlages gemocht. Die Bände mit den kleinen Maßen 9,8 mal 15,5 Zentimeter liegen wunderbar in der Hand und sind stets solide bis liebevoll ausgestattet.

Von den Texten ganz zu schweigen. Nehmen wir nur die Neuerscheinung von Essays des unsterblichen Dichters Charles Baudelaire. Die von Melanie Walz aus dem Französischen übersetzte Auswahl enthält luzide Ausführungen etwas zur damals noch unerhörten und heftigst umstrittenen Musik Richard Wagners, zu Flauberts Roman „Madame Bovary“, aber auch ganz handfeste „Ratschläge für junge Literaten“ oder eine Abhandlung über Kinderspielzeug – und natürlich ebenso kluge wie sinnliche Gedanken über die Liebe. Das alles in einem funkelnden Stil, der sich auch noch in der deutschen Übertragung mitteilt.

Ein Gipfelglück des Buches ist jener sozusagen süffige Vergleich zwischen zwei Rauschmitteln,  der dem Band den verlockenden Titel gegeben hat: „Wein und Haschisch“. Wir wollen hier nicht verraten, welchem der beiden Mittel Baudelaire den Vorzug gibt. Man kann es sich freilich auch so denken. Und es ist auch beinahe zweitrangig, angesichts der kundigen und inspirierten Beschreibungen von Zuständen, in die einen Wein und Haschisch versetzen können. Baudelaire erweist sich abermals als erfahrene Fachkraft für Räusche aller Art. Auch Wagners Musik zählt ja für ihn gleichsam zu den berauschenden Substanzen.

Das Büchlein macht einen geradezu kostbaren Eindruck, als stamme es aus früheren Zeiten und leicht dekadenten Zusammenhängen, als hätte es gar zu Baudelaires Tagen auf dem oder jenem Tisch liegen können. Der Einband ist tatsächlich mit handschmeichlerischem Samt überzogen, wodurch er freilich auch ein bibliophiler Staub- und Flusenfänger von spezieller Güte ist. Irgend etwas ist halt immer.

Charles Baudelaire: „Wein und Haschisch“. Essays. Übersetzt von Melanie Walz. Nachwort von Tilman Krause. Manesse-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 22,95 Euro.

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Weil ich mich bei der Baudelaire-Lektüre gerade wieder so schön ans Manesse-Format gewöhnt habe, reiche ich gleich noch einen Klassiker nach, der dort (schon vor einiger Zeit) ebenfalls erschienen ist: „Das Buch der Snobs“ von William Makepeace Thackeray, das selbstverständlich in England verfasste, unerreichte Standardwerk zu diesem Thema schlechthin.

Thackeray (1811-1863), bekanntlich auch Autor des einschlägigen Romans „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (und der legendären Satirezeitschrift „Punch“), war ein Meister der trefflich-süffisanten Gesellschafts-Beobachtungen. Und siehe da: So manches, was er den Snobs seiner Zeit abgelauscht hat, findet man – unter veränderten Vorzeichen – auch heute noch wieder. Manches gesellschaftliche Gehabe ist eben nicht nur zeitbedingt, sondern gehört ganz offenkundig zur menschlichen Grundausstattung; zumindest im bürgerlichen Kontext.

Trotzdem versteht sich natürlich längst nicht jede Bemerkung oder Anspielung Thackerays für uns Heutige von selbst. Der von Gisbert Haefs sehr geschmeidig übersetzte Band ist denn auch mit etlichen Anmerkungen versehen, die manchen höheren und tieferen Sinn erst so recht erschließen.

William Makepeace Thackeray: „Das Buch der Snobs“. Übersetzt von Gisbert Haefs. Manesse Verlag, Zürich. 464 Seiten, 22,95 Euro.

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Wenn wir schon mal in Zürich sind, können wir auch gleich „nebenan“ beim Diogenes-Verlag vorbeischauen, der zuweilen ebenfalls das kleine Buchformat pflegt – beispielsweise mit einem jetzt noch einmal in neu bearbeiteter Übersetzung vorgelegten Band von Voltaire. „Stürmischer als das Meer“ versammelt die Briefe des Franzosen aus dem erzwungenen englischen Exil.

Die insgesamt 25 philosophischen und politischen Briefe, in denen Voltaire eine kritische Außenansicht auf Frankreich wagt, wurden in Paris bei Erscheinen in Buchform sofort verboten und verbrannt.

Aus englischer Perspektive, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse seinerzeit schon ungleich moderner waren  als im Ancien Régime, hat Voltaire mit machtvollen Worten an den Grundfesten der französischen Gesellschaft gerüttelt. Es waren nicht zuletzt diese Briefe, die die Französische Revolution geistig angestoßen haben.

Das thematische Spektrum zeugt von Voltaires regem Interesse an mancherlei Phänomenen. So handeln die Briefe vom Regieren, vom Parlamentarismus, von Wirtschaft und vom anglikanischen Glauben, sie befassen sich mit den Ideen von Locke, Descartes, Pascal und Newton, keineswegs nur in geistesgeschichtlicher, sondern auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Tragödie und Komödie im Theater werden ebenso besehen wie die Zustände an den Akademien. Auch hat der umtriebige Denker Voltaire eine briefliche Abhandlung mit dem Titel „Vom Unendlichen und der Zeitrechnung“ verfasst.

Voltaire: „Stürmischer als das Meer“. Briefe aus England. Übersetzung und Nachwort Rudolf von Bitter. Diogenes-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 14,99 Euro.

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Damit wären die buchhändlerischen Kleinformate aber nun abgetan? Nichts da! Auch im Kunstmann-Verlag erscheinen derlei griffige Editionen, zum Exempel Gedichte von F. W. Bernstein, der vor allem mit Robert Gernhardt und F.K. Waechter selig die legendäre „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors bildete. Das grandiose Trio steigerte sich mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, Beilage der Satirezeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, den man bis dahin in Deutschland nicht kannte. Bernstein höchstpersönlich verdanken wir beispielsweise auch den unverwüstlichen Zweizeiler: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“

Als „Mein Programm“ stellt Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) seiner Gedichtsammlung diese Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei Bernstein kommt unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wird nicht geduldet. Kein Thema ist ihm zu gering. Vieles wird auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens liegt dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Unter dem Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke reibt, der nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Rilke wird derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

Der Mann gibt sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mögen. Doch dahinter verbirgt sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch: „Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er kann es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige andächtig still.

F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

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Nun aber zu einem ganz anderen Format, das – rein physisch gesprochen – einiges mehr auf die Waage bringt: „Vagabunden“ von Beate Althammer ist mit eng bedruckten 716 Seiten eine (kultur)historische Fleißarbeit mit umfassendem wissenschaftlichem Anspruch. Dem etwas umständlichen Untertitel zufolge wird die „Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933)“ aufgearbeitet.

Von der Titelseite abgesehen, hat man (leider) auf historische Illustrationen verzichtet, nur ein paar wenige Tabellen lockern den Text unwesentlich auf. Man kann mit Fug von einer „Bleiwüste“ sprechen, die wohl eher ein eh schon fachkundiges Publikum ansprechen wird.

Mobilität gilt heute als eine Voraussetzung für beruflichen Erfolg und Karriere. Hier allerdings geht es um größtenteils erzwungene Mobilität als Armuts-Phänomen, das oftmals kriminalisiert und mit Repression bekämpft wurde.

Andererseits prägten gewisse Formen des Vagantentums auch antibürgerliche Freiheitsvorstellungen. Überdies erwies sich das wechselnde Terrain der Vagabunden als weites Feld für frühe sozialpolitische Versuche der Eingrenzung. Dass sich dieser Themenkreis auch heute noch längst nicht „erledigt“ hat, kann man Tag für Tag in unseren Städten sehen.

Beate Althammer ist ausgewiesene Spezialistin auf dem erwähnten Gebiet. Von ihr und Christina Gerstenmayer gemeinsam herausgegeben, liegt – ebenfalls im Klartext Verlag – seit 2013 die Quellenedition „Bettler und Vaganten in der Neuzeit“ (1500-1933) vor. Hier ist das Wort „Gründlichkeit“ wahrhaftig angebracht.

Beate Althammer: „Vagabunden.“ Klartext Verlag, Essen. 716 Seiten, Paperback, 34,95 Euro.

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So. Jetzt haben wir uns mit Klassikern und einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit vorwiegend in der Vergangenheit bewegt. Wie wär’s denn mit noch einigen Prisen Gegenwart, die schon im Buchtitel verheißen werden?

Nun, auch diese Gegenwart ist nur bedingt heutig zu nennen, denn der oft so umstrittene französische Schriftsteller Michel Houellebecq begibt sich diesmal auf eine ziemlich sichere Seite, hat er sich doch mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auseinandergesetzt oder richtiger: Er hat einige von dessen Gedanken nachvollzogen.

Da haben wir also wieder eine womöglich produktive geistige Annährung zwischen  beiden Ländern – weiter oben war von Baudelaire und Wagner die Rede, diesmal sind es eben Houellebecq und Schopenhauer.

Und jetzt wird geschimpft: In dem eh schon sehr schmalen Band stammt geschätzt beinahe die Hälfte des gesamten Textes von… Schopenhauer. Seite um Seite zitiert Houellebecq – kursiv gedruckt – aus dessen Werken und paraphrasiert sodann in vergleichbarer Länge, was der Meister gesagt und gemeint hat. Schön für ihn, wenn er sich auf diese Weise Schopenhauer gleichsam anverwandelt haben sollte. Aber muss er uns so umständlich daran teilhaben lassen? War es wirklich nötig, dass Schopenhauer posthum das Buch von Houellebecq quasi zu großen Teilen honorarfrei vollschreiben musste?

Via Schopenhauer lässt uns Houellebecq u. a. wissen, dass die wahre Kunstbetrachtung stets in interesseloser Kontemplation und Versenkung bestehe. Sicherlich finden sich da auch weitere an- und aufregende oder gar großartige Gedankengänge. Aber sie stammen eben weit überwiegend vom deutschen Philosophen.

Der Aufsatz hätte gut und gern in einer Essay-Sammlung oder dergleichen Platz finden können. Ein eigenes Buchprojekt ist er nicht unbedingt wert. Immerhin bringt einen der Band auf die gute Idee, Schopenhauer mal wieder im Original (ohne mitunter lästige Houellebecq-Unterbrechungen) zu lesen.

Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Verlag, Köln. 76 Seiten, 18 Euro.

 




Am Bande, nicht am Gängelband: „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr erhält Verdienstkreuz und erinnert an Voltaire

SH_83_Cover_300_dpi_b2ffc1e545Jemand mag einen Orden bekommen und doch kann er ein verdienstvoller Mensch sein, heißt es. Ganz sicher trifft dies auf Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr zu, der gestern im Essener Rathaus das „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ erhielt.

Es ist eine Auszeichnung für fast 40 Jahre Entdeckungsreisen in die Literatur der Zeiten und Länder, für Literaturveranstaltungen in Serie, die seit Jahrzehnten das kulturelle Klima der Stadt Essen bereichern. „Literatur im Folkwang“ hießen die zuletzt, bis Folkwang-Chef Bezzola die renommierte Reihe vor die Tür setzte und lieber Kunst ankaufen wollte. Die Reihe aber, das war gestern zu hören, ist wohl gerettet, sie wird unter veränderter Trägerschaft an anderen Orten und unter neuem Namen fortgeführt.

Offenheit und Wagemut
Norbert Wehr, eher schüchtern als die Öffentlichkeit suchend, bedankte sich artig für all die Unterstützung durch Mitarbeiter, Freunde, Förderer und Familie. Wer die Literaturzeitschrift kennt oder vielleicht sogar liest, die da halbjährlich um die 200 Seiten stark erscheint, weiß oder ahnt zumindest, dass im Zentrum der Redaktionsarbeit, Recherche und Organisation vor allem Wehr selbst steht, ohne den es die Zeitschrift schlicht nicht gäbe – und vielleicht irgendwann auch nicht mehr geben wird. Er ist es letztlich, der trotz gelegentlicher finanzieller Förderung durch Stiftungen, Sponsoren, Geldpreise das finanzielle Risiko zu tragen hat.

Sprachräume ausloten
„Wer gute Lesekondition mitbringt, dem erschließt sich ein Kompendium zeitgenössischer Weltliteratur. Der Leser und Sammler Norbert Wehr überrascht sein Publikum immer wieder mit Neuem, Un-Erhörtem, nie Gesehenem. Literarische Debatten wurden im Schreibheft geführt. Sprachliche Grenzen wurden transzendiert und herkömmliche Gattungsrestriktionen“, schrieb Literaturwissenschaftler Hannes Krauss, als Norbert Wehr für seine Arbeit am Schreibheft den Literaturpreis Ruhr 2010 erhielt.

Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen

Preisträger Norbert Wehr (rechts) und Essens OB Reinhard Paß (Foto: Elke Brochhagen/Stadt Essen)

Standhalten und dichten, berichten
Gestern in Essen griff Wehr in seinen Dankesworten auch den Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo und dessen mögliche Wirkungen auf. O-Ton Wehr: „Ich kann den Orden schwerlich annehmen, ohne zum Schluss mit dem allergrößten Respekt des Muts der Journalisten, Zeichner und Herausgeber von Charlie Hebdo zu gedenken, die in den letzten Jahren, und spätestens nach dem Brandanschlag auf ihre Redaktionsräume im Jahr 2011, unter Lebensgefahr auf der Ausübung ihres republikanischen Rechts bestanden haben – des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit.

Sie schrieben und sie zeichneten in einer Tradition, die bis zu Voltaire zurückreicht, und vor allem zu dessen Mahomet, einer fanatismuskritischen Tragödie, die kein Geringerer als Goethe ins Deutsche übertragen hat. ‚Eure Majestät wissen‘ – schrieb Voltaire 1740 an Friedrich den Großen –, ‚Eure Majestät wissen, welcher Geist mich beseelte, als ich dieses Werk verfaßte. Die Liebe zum Menschengeschlecht und das Grauen vor Fanatismus haben meine Feder geführt.‘

Diese Liebe, gepaart mit dem Grauen – es sind immer noch edle Motive, auch heute, bald 300 Jahre später, für jeden der schreibt und publiziert.

Nicht erst seit einer Woche wissen wir jedoch, wie gefährdet, wie hoch gefährdet diese Haltung mittlerweile ist. Ich fürchte, der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat recht. Am Montag hat er im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gesprächshalber geäußert, ich zitiere: ‚Wer sich die Freiheit nimmt, auf der unsere Kritikfähigkeit beruht, wird sich in Zukunft unter Todesdrohung sehen. Dies auszuhalten und Institutionen zu finden, die diese Freiheit weiterhin beschützen, ist von Stund an die Aufgabe.‘ – Und Bredekamp weiter: ‚Ein fundamentales Umdenken steht uns bevor: Meinungsfreiheit kann Leben kosten. Wir werden sehen, welche Konsequenzen das hat – wird es eine Bildpolitik der Konfliktvermeidung geben? Oder halten wir stand, in den Redaktionen, an den Universitäten, in der Kunst und in der Politik?‘“