Barocke Burleske: Antonio Cestis Karnevalsoper „L’Orontea“ in Frankfurt

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

An Ägyptens Gestaden gestrandet: Alidoro (Xavier Sabata), angehimmelt von Silandra (Louise Alder), aber auch von der Königin Orontea selbst begehrt. Foto: Monika Rittershaus

Wenn’s in Frankfurt mal lustig wird, ist Achtsamkeit angesagt: Mit komischen Opern oder gar Operetten hat Hausherr Bernd Loebe seit Jahren kaum etwas im Sinn. Jetzt erbarmte er sich zur „fünften Jahreszeit“ einmal eines nach Witz und heit’rer Laune gierenden Publikums – aber wenn schon, dann wenigstens barock: „L’Orontea“ hatte rechtzeitig vor den närrischen Tagen Premiere; ein burlesker, geistvoller Spaß aus dem Jahr 1656, geschaffen von einem Franziskanermönch.

Antonio Cesti wusste, wie er sein Zeitalter zu packen hat, und schuf für das Innsbruck Erzherzog Ferdinand Karls zur Karnevalssaison einen handlungssatten Dreieinhalbstünder, an Personen reich, mit Anspielungen und Zweideutigkeiten kräftig gewürzt. Giacinto Andrea Cicognini, der Librettist, verstand sein Handwerk: Er wusste, wie man verwöhnte, von der Oper gesättigte Venezianer professionell zu unterhalten hatte.

Dennoch ist die „philosophisch“-allegorische Einkleidung keine bloße Maskerade, um kulturellem Anspruch zu genügen. Ein Disput zwischen „Filosofia“ und „Amore“ exponiert das Vergnügen und sorgt am Ende für die Raffinesse der Auflösung: Creonte, der alte Philosoph, löst den Knoten der heillos verschnürten Handlungs- und Gefühlsstränge. Mag ja, sein, dass die Liebe die größere Macht über die Menschen hat und ihr Streben und Drängen bestimmt. Aber ohne die lösende Vernunft könnte sie sich aus den eigenen Verstrickungen nicht mehr befreien. Eine weise Lösung nach barocker Art.

Doch zuerst geht’s um den verderblichen Einfluss amouröser Impulse auf ein (scheinbar) vernünftig wohlgeordnetes Gemeinschaftswesen. Orontea regiert als Königin in Ägypten und ist keinesfalls willens, dem triebhaften Unter-Ich zu weichen, das als dickköpfige Amorette durch das Bühnenbild Gideon Daveys geistert. Aber wie das eben so ist: In Gestalt des schönen, an ägyptischen Gestaden gestrandeten Malers Alidoro kommt die Versuchung an, und statt dem Rat des – leider zu spät geborenen – Oscar Wilde zu folgen, sich lieber gleich zu ergeben, müssen sich die zunehmend liebeskranke Regentin und ihr Hof gute drei Stunden in Musik ergießen, bis sich alles im Sinne Amors fügt.

Barocke Fülle der Zeit: 70 Minuten braucht Orontea, bis sie sich zu dem zentralen Schluss durchringt, sie liebe Alidoro. Und erst nach weiteren 130 Minuten setzt sie die Erkenntnis folgerichtig durch. Dazwischen: Rezitative und Arien, einige von entzückendem Reiz, Sehnen, Begehren, Eifersucht, Trunk Travestie und Täuschung, Verzweiflung und Verwechslung, Briefe, Amulette und Piraten: Das ganze Repertoire wird aufgefahren, um Spaß und Spannung der Zuschauer zu erhöhen, bis endlich Creonte – mit der soliden, unfehlbar sitzenden Stimme von Sebastian Geyer – der Liebe freie Bahn gibt.

Regisseur Walter Sutcliffe – er inszenierte in Frankfurt Benjamin Britten selten gespielten „Owen WIngrave“ mit glücklicher Hand – schaut genau hin, auf Lust und Elend körperlichen Begehrens, auf lächerliche und tragikomische Versuche der Figuren, sich dem beliebten oder begehrten Gegenüber interessant zu machen, auf Getändel und Gemütstiefe.

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Paula Murrihy als Orontea in Antonio Cestis gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Orontea etwa, die Königin, reagiert in „Liebesdingen“ ja nicht wie eine erfahren gereifte Seele. Sie hat den Attacken Amors in etwa so viel entgegenzusetzen wie ein dreizehnjähriger Teenager, reagiert wechselhaft, eifersüchtig, überzogen. Das Kostüm von Gideon Davey verdeutlicht den Fall: Zunächst in einer blauen Robe mit dem Kragen der „jungfräulichen“ Elisabeth Tudor, dann mit den exaltierten Würfen eines barock anmutenden Kleides, das auch ein köstliches Praliné verpacken könnte, schließlich schüchtern-reizstark entblättert schlittert die Königin in den emotionalen Wirrwarr hinein.

Auch andere Personen wechseln äußere Hülle und innere Seelenstimmung: Aristea etwa liefert mit Haut und Pailletten den Nachweis, dass Amor „auch die Alten nicht verschont“. Der Tenor Guy de Mey, der schon in der CD-Aufnahme mit René Jacobs mitgewirkt hat, macht aus der für einen tiefen Alt gedachten Rolle eine groteske, scharfe Travestienummer.

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus "L'Orontea" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Amors Klone übernehmen die Herrschaft. Szene aus „L’Orontea“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Dass Sutcliffes Konzept vor allem im ersten Teil vor der Pause nicht trägt, liegt nicht nur an der Oper selbst, die sehr lange braucht, um alle Charaktere zu exponieren. Es liegt auch an der Distinktion des Regisseurs. Die Szenen ziehen sich, Abstecher ins Derb-Komödiantische oder in den Slapstick machen das Blei der Zeit nur punktuell leichter.

Daveys Bühne lässt barocke Schaulust vermissen: Da sorgt auch grelles Licht auf öde Sanddünen im ersten Akt nicht für Erleuchtung. Und ein hoher roter Raum, mit Büsten ausgestattet wie ein archäologisches Kabinett, bildet auch eher einen Rahmen als ein spielförderndes Element. Die tiefe Ruhe im Zuschauerraum vor der Pause sprach Bände.

Nach der Pause zieht das Tempo an, werden die Szenen burlesker, wenn auch nicht unbedingt belangvoller. „Amore“ behauptet ihre Herrschaft immer unverblümter: Die Putten vervielfachen sich; in Abendkleidern mit speckigen Ärmchen grillen sie Würstchen, schieben Kulissen, lugen hinter allen Kanten hervor. Das erinnert an den bunten, oberflächlichen Bühnen-Trash, mit dem in der Intendanz von Peter Jonas einst David Alden angetreten war, die Münchner zu Händel-Fans zu bekehren.

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Nobler Rahmen, aber wenig spieldienlich: Das Bühnenbild von Gideon Davey. Foto: Monika Rittershaus

Dirigiert hatte diese Münchner Gesellschafts-Divertissements einst Ivor Bolton – und er debütiert in Frankfurt nun mit einer kritisch erarbeiteten Neuausgabe von Cestis Musik, den Streichern des Frankfurter Opernorchester und Solisten aus dem Monteverdi Continuo-Ensemble. Sie steuern die Spezialinstrumente bei: Theorbe, Lirone, Gambe, Trompete, Posaune, Zink, Orgel.

Bolton pflegt nicht die ruppige Ästhetik mancher Originalklang-Ensembles. Er setzt auf einen weich geformten, plastischen Klang, auf behutsame Akzente und federnden statt polternden Rhythmus. Das wirkt überzeugend in den Momenten der Innerlichkeit wie in der Arie „Intorno all’idol mio“, mit der die vorzüglich singende Paula Murrihy die seelische Tiefe der Orontea offenbart. Die burlesken Momente allerdings vertrügen entschlosseneren Zugriff in Artikulation und Rhythmus.

Unter den Sängern profiliert sich Paula Murrihy erneut als eine der leuchtenden Stimmen des sorgfältig gepflegten Frankfurter Ensembles. Ob in den sicher gesetzten verzierten Passagen oder im elegant gebildeten Legato: sie ist höhenschön, sicher in der Stütze und klangvoll im Timbre präsent. Mit schmeichelndem Timbre und geschmeidiger Stimmführung empfiehlt sich der katalanische Counter Xavier Sabata als Alidoro, selbst wenn ihm der virile Nachdruck ein wenig fehlt. Eigentlich war für diese Produktion Franco Fagioli angekündigt, der sich auf seiner Homepage aber mit Verweis auf höhere Gewalt entschuldigte.

Matthias Rexroth und Louise Alder lassen als „niederes“ Paar kaum Wünsche offen. Simon Bailey hat als Gelone die buffoneske Basspartie auszufüllen: Den ständig alkoholisierten, jede Gelegenheit zu Schlaf oder voyeuristischer Neugier nutzenden Diener bringt er mit derbem Charme auf die Bühne, stimmlich hat er mit den geforderten Wechseln ins Falsett seine Probleme – kein Wunder, denn was im 17. Jahrhundert Sache gut ausgebildeter Spezialisten war, kann heute nicht ohne Weiteres von einem Sänger verlangt werden, der von Bach bis Bartók alles singen können soll. Am Ende war der größere Teil des Publikums zu reichlich Beifall aufgelegt.




Im Gespinst des Irrealen: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Phantome in der Oper: In Frankfurt haben sie Fleisch und Bein, wenn auch nur Glasknochen und morbides Gewebe. Im Bockenheimer Depot wehen sie durch Aribert Reimanns „Gespenstersonate“.

Die Kammeroper, 1984 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt, radikalisiert August Strindbergs gleichnamiges Drama mittels einer Musik ohne Grund und Boden: geisterhaft irrlichternde Motivfetzen, schwebende Flageoletts, nebulöse Streicher-Piani, unwirklich schwebende Cluster, dazwischen Fragmente handfest definierter Akkorde, genau umrissene, grelle Bläsereinwürfe, polyphoner Tumult. Und dann die faulige Süße des Harmoniums, ein Ton wie aus dem Geisterhaus im Disneyland.

Reimann setzt diese Mittel virtuos ein: die klanglichen Chiffren des Gespenstischen, des Unheimlichen, wie wir sie aus entsprechenden Filmen kennen. Die Kraft der ins Unendliche geweiteten tonalen und atonalen inneren musikalischen Bezüge. Die immer wieder bezwingende Ausdrucksdichte seiner Erfindung, wie sie von „Lear“ bis „Medea“ seine Opern zu Fixpunkten der Musiktheater-Geschichte der letzten vierzig Jahre macht.

Das Drama – vom Komponisten gemeinsam mit Uwe Schendel eingerichtet – ist ein merkwürdiger Zwitter, erinnert an die psychologisch aufgeladenen Sozialdramen, aber auch an den in Mystizismus und Okkultismus versinkenden späten Strindberg. Die Frankfurter Inszenierung von Walter Sutcliffe leugnet das nicht. Kaspar Glarners Bühne, ein Talboden zwischen den beiden Abhängen der einander gegenübergebauten Besuchertribünen, mimt im kalten Licht Joachim Kleins ständig Realismus – und bricht ihn immer wieder ins Absurde. Die Villa Direktor Hummels steht als fein detailliertes Gebäude da, entlarvt sich aber als abgründiges Modell eines von unwirklichen Gestalten bewohnten Hauses. Sessel und Möbel fahren auf und ab, werden aus dem Untergrund ausgespuckt und verschwinden im Irgendwo. Ein Schrank dient als Habitat, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt; bewohnt wird er von einer „Mumie“. E.T.A. Hoffmann ist amalgamiert mit Maurice Maeterlinck und Alice im Wonderland.

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns "Die Gespenstersonate" an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Schein oder Sein: Die Frage bleibt unbeantwortbar. Das Libretto, eine obskure Geschichte aus gespenstischen Täuschungen, Schein-Realitäten, beziehungsreich verrätselten Erläuterungen, monströsem Trug und symbolistischem Raunen. Die Handlung, eine nicht nacherzählbare Verstrickung der Personen in eine mörderische Vergangenheit, in Unsagbares, Verdrängtes, Irreales, Pathologisches. Die Personen selbst, Untote, Vampire, Wiedergänger, halbreale Irrende zwischen Räumen und Zeiten.

Sutcliffe bemüht sich um größtmögliche Klarheit, ohne die klebrige Geheimnislast des Gespinstes wegaufklären zu wollen. Absurdes kommt daher, als sei es alltäglich real; banale Vorgänge werden weggesogen in eine unheimliche Sphäre des Irrealen. Als „Mumie“ etwa, im grauen Glanz brüchigen Kleidergespinstes, setzt Anja Silja ihre ganze Bühnenerfahrung ein, changiert zwischen dem erbarmungswürdigen psychischen Elend einer verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn einer Greisin und der schrankenlosen Wahrhaftigkeit eines desillusionierten Lebensrückblicks.

Direktor Hummel, Intrigant, Mörder und Verdränger, erinnert bei dem auch stimmlich großartigen Dietrich Volle eher an die patriarchalischen Sozialstudien Strindbergs aus seiner naturalistischen Phase – mit einem Dreh ins Fantastische, der die unheimlichen Seiten der Figur noch verstärkt. Brian Galliford als Oberst gehört auch in diese Kategorie der Väter, deren wohlanständig gesetzte Fassade Abgründe verdeckt. Martin Georgi (Konsul) und Nina Tarandek (Dunkle Dame) lassen durch ihr überlegtes Spiel im Gespenster-Souper erfahren, dass sie nur noch als geisterhafter Nachhall einer einst gelebten Existenz durch den Raum des Spiels klingen.

Einen dämonischen Zug bringen die „dienstbaren Geister“ mit: Bengtsson, der wissende Bediente des Oberst, aalglatt gespielt und schmierig gesungen von Björn Bürger; Johansson, das unterwürfige Faktotum Hummels, von Hans Jürgen Schöpflin als undurchschaubare Gestalt angelegt; die Köchin, Stine Marie Fischer, die sich als unheilvolle Vampirin als Gegenprinzip zum Leben profiliert, das im „Hyazinthenzimmer“ zaghaft zu keimen versucht. Auch das Milchmädchen, angeblich einst Opfer Hummels, gehört in diese Reihe: Kristina Schüttö gibt es als zerbrechliches Zwischenwelt-Wesen.

Verlorene Zeichen der Hoffnung

Beziehungsreich das Bild des Hyazinthenzimmers im dritten Bild, eine weiße Gitterstruktur, halb Gefängnis, halb Zufluchtsort. Die Blumen, in der herkömmlichen Floral-Symbolik für Lebensfreude, Genuss und Zukunftsglück, stehen hier als verlorene Zeichen einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt. Nicht für das Fräulein, wieder einmal brillant gestaltet von Barbara Zechmeister, das sich nicht aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz lösen kann, ohne sein Leben zu verlieren. Und auch nicht für den Studenten Arkenholz, dessen hybriden hohen Tönen – diese Grenzüberschreitungen der Stimme sind eine expressiv sein wollende Marotte Reimanns – Alexander Mayr sich mit verzweifelt gebildeten Falsett-Bemühungen zu stellen versucht. Der junge österreichische Tenor ist auf den Spuren der alten, vergessenen Technik der „voce faringea“, hat aber ohrenscheinlich ihr Geheimnis noch nicht entschlüsselt.

Das Kammerorchester aus achtzehn Solisten führt Karsten Januschke ebenso wie die Sänger sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Der atmosphärische Klang, das scheinbar improvisierend hingeworfene Detail, die präzise Reaktion auf eine bewusst „unnatürliche“ Phrasierung sind bei ihm in besten Händen. Reimanns „Gespenstersonate“ – in der Region bisher in Köln, Münster und Bonn erschienen – könnte in dem seltenen Genre eine Chance haben, sich auch dreißig Jahre nach der Uraufführung im Repertoire zu verankern – neben Philip Glass „Fall of the House of Usher“, Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ und den leider immer noch unterschätzten frühen Ausformungen der Geisteroper, Heinrich Marschners „Der Vampyr“ und „Hans Heiling“.