Antikriegslyrik und Totenmesse – Bochums Symphoniker deuten Brittens „War Requiem“

Der Lyriker Wilfred Owen schuf sprachmächtige Gedichte, um vom Elend des Krieges zu zeugen.

Der Lyriker Wilfred Owen schuf sprachmächtige Gedichte, um vom Elend des Krieges zu zeugen. Britten fügte manche in sein War Requiem ein.

1914 – der Kulturbetrieb läuft auf Hochtouren. Zum Zwecke des Erinnerns und Gedenkens, des Forschens, Debattierens und Mahnens. Gewichtige Bücher sind erschienen, um die „Urkatastrophe“ zu schildern und zu erklären. Ausstellungen illustrieren oder dokumentieren die Gräuel jener Zeit, richten den Fokus auf Künstlerschicksale. Und in den Medien vergeht kaum ein Tag, an dem der 1. Weltkrieg kein Thema ist.

Bei alledem ist erstaunlich, dass die Orchester der Region in ihrem Konzertangebot eher wenig Notiz von den Ereignissen nehmen und lieber die übliche Wald-und-Wiesen-Programmatik pflegen. Anders die Bochumer Symphoniker: Sie haben für die nun bald endende Saison eigens eine Reihe erkoren, die Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellt. „Endspiel“ lautet der treffende Titel, denn manche Werke jener Zeit haben durchaus einen katastrophischen Charakter.

Den Schlusspunkt der Reihe hat das Orchester nun aber mit der wirkmächtigen Interpretation einer Komposition gesetzt, die scharfe Antikriegslyrik vereint mit den Worten der lateinischen Totenmesse. In der Bochumer Jahrhunderthalle erklingt Benjamin Brittens „War Requiem“, in Dauer und Besetzung durchaus auf die Requiem-Tradition von Mozart bis Verdi verweisend, in seiner Faktur aber weniger monumental, bisweilen gar kammermusikalisch fragil.

Britten, ein überzeugter Pazifist, schrieb das Werk für die Einweihung der neu erbauten Cathedral Church of Saint Michael in Coventry. Die westenglische Industriestadt steht als trauriges Symbol für die totale Zerstörung durch deutsche Kampfflieger im 2. Weltkrieg (1940). Auch die Kathedrale ging in Flammen auf – die Trümmer sind noch heute zu sehen. Die Uraufführung des Requiems war indes Mahnung und Geste der Versöhnung zugleich.

Winston Churchill besichtigt die im 2. Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Coventry.

Winston Churchill besichtigt die im 2. Weltkrieg zerstörte Kathedrale von Coventry.

Brittens Kunstgriff, sowohl den Requiemtext als auch Gedichte des englischen Lyrikers Wilfred Owen zu vertonen, gibt dem Werk eine besondere Note. Den Dichter umgibt die Tragik, dass er wenige Tage vor Waffenstillstand dem Krieg (1918) zum Opfer fiel. Bis zuletzt sah er seine Aufgabe darin, als Literat Zeugnis abzulegen vom Schießen und Sterben. Mit Sätzen wie „Nur der Gewehre hastig rasches Knattern, Sie stoßen aus ihr flüchtig Requiem“. Oder: „Ich bin der Feind, den Du erschlugst, mein Freund … Lasst uns schlafen nun“.

In Bochums Jahrhunderthalle erklingt diese Lyrik so leidenschaftlich wie erschütternd. John Mark Ainsley (Tenor) und Peter Schöne (Bariton) setzen vor allem fahle Farbgebung ein, um die melodischen Linien, die von Verzweiflung oder Wut künden, zu gestalten. Einen überdramatischen Tonfall versagen sie sich wohl schon deshalb, weil Britten hier zur Instrumentierung auf ein 12köpfiges Kammerensemble zurückgreift, das mehr farbliche und rhythmische denn auftrumpfende Akzente setzt.

Und selbst die Instrumentation des Messtextes geht über den Umfang eines großen romantischen Symphonieorchesters nicht hinaus. Sogar im „Dies irae“ versagt sich Britten eines knalligen, mehrchörigen Blechbläserapparats. Und wenn die Staccato-Stöße von vier Trompeten eben wie Gewehrknattern ertönen, die dumpfen Markierungen der großen Trommel wie Kanonenschläge, dann reicht das zur Illustration des Zornestages völlig aus. Hinzu kommt das gehetzte, abgehackte Sprechsingen der beiden Chöre – wirkend wie pures Erschrecken. Rhythmisch orientiert sich Britten bisweilen an Orff, getragen ist alles von großer Expressivität.

Luba Orgonásová liefert dazu so aufgewühlte wie anrührende Sopranspitzentöne. Bewegend die Einwürfe der vorzüglich singenden Knaben der Chorakademie Dortmund. Auch die Philharmonischen Chöre aus Bochum und Essen sind punktgenau bei der Sache. Das Dirigat wiederum ist geteilt: Steven Sloane leitet die Symphoniker, Svetoslav Borisov das seitlich platzierte Kammerorchester – wunderbar aufeinander abgestimmt. Beide Ensembles künden präzis und pointiert von Schrecken, Verzweiflung – und spenden ein wenig Trost.

 

 




Bildmächtiger Antikriegs-Appell

Der Erfolg des Britten-Zyklus’ am Musiktheater in Gelsenkirchen ist maßgeblich das Werk der Regisseurin Elisabeth Stöppler. Die in Hannover geborene 34-Jährige, die das Regiehandwerk unter anderem bei Götz Friedrich und Peter Konwitschny in Hamburg studierte und einst Assistentin von Johannes Schaaf und Stefan Herheim war, schilderte in „Peter Grimes“ die gnadenlose Hetzjagd auf einen Außenseiter und formte „Gloriana“ zu einer bildstarken und packenden Studie über die Auswirkungen der Macht.

Mit dem Versuch, Brittens „War Requiem“ für die Gelsenkirchener Oper in eine Bühnensprache zu übersetzen, geht Elisabeth Stöppler jetzt einen tollkühnen Schritt weiter. Fasziniert vom aufrüttelnden Antikriegs-Appell dieser Totenmesse, die Britten für die symbolträchtige Einweihung der wieder aufgebauten Kathedrale zu Coventry komponierte, versucht sie dem Werk eine Handlung abzulauschen und seine ohnehin eindringliche Botschaft weiter zu verstärken. Dabei greift sie die dialogische Anlage des Werks auf: So wie Britten den lateinischen Text der Messe mit Berichten des im 1. Weltkrieg gefallenen Frontsoldaten Wilfred Owen verschränkt, so spielen Szene und Videoprojektionen in ihrer Inszenierung ineinander. Die Gesangssolisten verkörpern Einzelschicksale, die Chöre eine anonyme Masse.

Sie alle geraten in einen absurden Kreislauf von Gewalt, als der Krieg über das Fernsehen in die Welt einer kleinen Familie bricht. Ein verletzter Soldat platzt durch den Wandschrank mitten ins Wohnzimmer, wo er vor aller Augen stirbt. Vater, Mutter und die Kinder reagieren darauf nachhaltig verstört. Der eben noch tote Soldat steht wieder auf und erschießt ein Kind. Das Kind steht wieder auf und erschießt seinen Bruder. Der Bruder steht wieder auf und droht seinerseits Amok zu laufen. So geht es fort und fort in der Welt, mit der die Regie uns konfrontiert. Die Opfer stehen auf, um ihrerseits zu Tätern werden.

Es liegt auch am gravitätischen Fluss der Musik, wenn dieser Kreislauf bald ermüdend wirkt. Die von Elisabeth Stöppler für dieses Experiment erfundene Handlung bleibt Stückwerk: Es kommt kein Erzählfluss auf, vielmehr ertrinkt das Bühnengeschehen zunehmend in einer Flut symbolträchtiger Bilder. Manche davon sind auf düstere Weise großartig. Vielfach und namenlos ist das Leid, das die Chöre verkörpern. Elisabeth Stöppler lässt sie auf düsterer Szene schwanken und fallen, als sei Hyperions Schicksalslied grässliche Realität geworden (Bühne und Kostüme: Kathrin-Susann Brose). Rauch steigt auf und weht über Körper. Ob per Video eingespielte Kunstblut-Orgien die Wucht des „Dies Irae“ noch verstärken ist indes eine Frage, zu der es verschiedene Meinungen geben kann. Aus dem grundlegenden Dilemma, dass der Regisseurin mehr nach dem Werk verlangte als das Werk nach einer Regie, gibt es offenkundig keinen Ausweg.

Sängerisch ragt Petra Schmidt aus einem mehr soliden denn glanzvollen Ensemble heraus. Opernchor, Extrachor und Kinderchor des MiR haben maßgeblichen Anteil am musikalischen Erfolg, für den Rasmus Baumann am Dirigentenpult der Neuen Philharmonie Westfalen verantwortlich zeichnet. Der wohlmeinende Versuch des Publikums, die Premiere zum nächsten Erfolg der Regisseurin hochzujubeln, geht indes an der Sache vorbei. Elisabeth Stöppler ist in Würde an einem Experiment gescheitert, das nicht gelingen konnte.

Das Programm des Musiktheater im Revier findet sich unter http://www.musiktheater-im-revier.de