Ruhrgebiet, Behörden, Berlin, Humor, Tod und Leben – neue Bücher über (fast) alles

Nicht jedes Buch kann hier ausführlich besprochen, manche können aber empfehlend vorgestellt werden. Also sichten wir mal einen kleinen Stapel:

Wie geht’s weiter im Revier?

Da wäre zunächst die Anthologie „wie weiter – 25 literarische aussichten zum ruhrgebiet“ (eichborn verlag, 222 Seiten, 12 Euro), die freilich nur auf dem Cover die Kleinschreibung pflegt. Der Band enthält satte 25 Beiträge mehr oder weniger prominenter Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Revier auskennen und dieser Region einiges abgewinnen. Stellvertretend genannt seien Frank Goosen, Thomas Gsella, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu und Lütfiye Güzel. Die hier nicht Genannten mögen nachsichtig sein, eine komplette Liste läse sich nicht so prickelnd. Die literarischen Zugriffe sind jedenfalls ausgesprochen vielfältig, womit schon eine Stärke des Buches benannt wäre. Prosa steht neben Lyrik, auch das Genre der Graphic Novel kommt in Betracht, wenn es darum geht, wie wir im Sosein des Hier und Jetzt gelandet sind und wie es nun womöglich weitergehen könnte – nicht nur, aber auch „nach Corona“. Zwischen tiefem Ernst, Satire und freischwebendem Jux gibt es hier ebenso viele Spielarten wie Mitwirkende. Ein allemal anregendes, streckenweise auch aufregendes Kaleidoskop von Revier-Phantasien. Allein schon einige Zwischentitel machen Appetit, zum Beispiel: „Das Leben…ein Hinterhof“, „TikTok Meiderich Süd“ oder „Kurze Abhandlung über das Verschwinden der Dinge“. Geradezu unverschämt hoffnungsvoll klingt Frank Goosens Überschrift: „Alles ist gut und es wird noch besser.“ Echt jetzt?

Funktionierende Verwaltung

Um mal einen herzhaften Kontrast zu setzen, wenden wir uns nun einem Buch übers trocken anmutende Thema Verwaltungshandeln zu – aber was für einem! Der ruhmreiche Soziologie-Professor (und studierte Jurist) Niklas Luhmann ist, wie nicht allgemein bekannt sein dürfte, in jüngeren Jahren in der niedersächsischen Ministerialverwaltung tätig gewesen und hat ab Anfang der 60er Jahre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer gewirkt. Theoretische Durchdringung der Materie und praktische Erfahrungen kommen also zusammen in seiner profunden Untersuchung „Die Grenzen der Verwaltung“ (Suhrkamp Verlag, 254 Seiten,  28 Euro), die selbst heute – rund 60 Jahre nach der Niederschrift – noch erhellende Einsichten bereithält. Allen Wandlungen zum Trotz, gibt es ja einen Kernbestand des Verwaltungshandelns, der sich nicht so rasch ändert. Dass funktionsfähige Verwaltungen auch und gerade gegenwärtig ein virulentes (!) Thema sind, wird wohl niemand bestreiten. Bei Luhmann finden sich dazu beispielhafte gedankliche Grundlagen.

Wilde Hauptstadt

And now to something completely different, wie einst die universell taugliche Überleitungs-Formel von „Monty Python“ lautete. Die Hauptstadt Berlin sieht sich immer mal wieder gern bespiegelt, auch rückblickend gibt sie einiges her. Erfolgsserien wie „Babylon Berlin“ zeugten neuerdings davon. Ebenfalls in den 1920er Jahren, allerdings verfasst aus authentischer Sicht der damaligen Zeit, spielt dieser Roman aus dem Jahr 1929. Yvan Goll: „Sodom und Berlin“ (Manesse, 184 Seiten, 20 Euro). Ein grandioses, herrlich grotesk überzeichnetes Zeitpanorama aus den „wilden Zwanzigern“. Der gebürtige Lothringer Yvan Goll bewegte sich, wann immer es möglich war, geläufig zwischen der französischen und deutschen Kultur und hat diesen Roman auf Französisch geschrieben. Gerhard Meier hat das allseits überbordende, geradezu brodelnde Werk neu übersetzt, das unbedingt eine Wiederentdeckung lohnt. Dafür plädiert auch Hanns Zischler in seinem Nachwort.

Inspirierendes Lesebuch

Gerd Herholz, langjähriger Leiter des Literaturbüros Ruhr in Gladbeck und gelegentlich auch Mitarbeiter der Revierpassagen, darf wohl als einer der besten Kenner des Werks von Sigismund von Radecki gelten. Wiederholt und sehr einlässlich hat er sich mit dem Autor befasst, der 1891 in Riga geboren wurde und 1970 in Gladbeck gestorben ist. Jetzt hat Herholz ein „Lesebuch Sigismund von Radecki“ (Aisthesis Verlag, 162 Seiten, 8,50 Euro) herausgegeben, dessen Textauswahl einen inspirierenden Ein- und Überblick zum Oeuvre erlaubt. Herholz‘ ausführliches Nachwort erschließt zudem einige wesentliche Aspekte des gesamten literarischen Schaffens, das in den 1920er Jahren einsetzte. Sigismund von Radecki pflegte zwar eine Freundschaft mit Karl Kraus, er ist aber beileibe kein typischer Vertreter des Literaturbetriebs gewesen. Studierter Ingenieur, schlug er sich als Schauspieler und Porträtzeichner durch, bevor er sich als Journalist und freier Autor verdingte, aber auch (kurz) Forstaufseher auf Usedom war. Seine oft anekdotisch verdichteten, humorvoll zugespitzten und zeitkritischen Alltags-Feuilletons sind vielfach noch heute lesenswert. Gewiss: Der zeitliche Abstand ist nicht zu verkennen, doch man merkt auch, wie pointiert Sigismund von Radecki die Verhältnisse seiner Zeit erfasst und stilsicher aufgezeichnet hat.

Was bleibt

Nach dem Tod ihrer Eltern hat Louise Brown ihr Leben geändert und sozusagen der Vergänglichkeit gewidmet. Sie ist Trauerrednerin geworden und hat sich im Laufe der Jahre eben nicht nur mit dem Tod, sondern gerade auch mit dem Leben und der Sinngebung befasst. In ihrem Buch „Was bleibt, wenn wir sterben“ (Diogenes, 252 Seiten, 22 Euro) versucht sie, Fragen zu den „letzten Dingen“ zu beantworten, die auf eine vertiefte Bejahung des Lebens hinauslaufen. Doch kein billiger, vorschneller Trost wird hier gespendet, sondern es sind offene, ehrliche und einfühlsame Worte, die dann eben doch tröstlich sind. Und schließlich kommt auch in diesem Buch die Trauer „in Zeiten von Corona“ zur Sprache.

 




Allen Leuten gefallen – Ein Buch zur Unzeit: Christa Wolfs „Was bleibt“

Von Bernd Berke

Es geschieht selten, daß ein zehn Jahre zuvor verfaßter Text beim Erscheinen solches Aufsehen erregt. Die Debatte über Christa Wolfs „Was bleibt“ entzündet sich vor allem am Zeitpunkt der Veröffentlichung. Erst nach der DDR-„Wende“ konnte bzw. wollte sie ihre Aufzeichungen von 1979 vorlegen, in denen sie schildert, wie ihr Haus damals einige Wochen lang von der Stasi observiert wurde.

Auch Leute, die sonst abgewogen geurteilt hatten, fallen jetzt über die vermeintliche DDR-„Staatsdichterin“ her, die sie all die Jahre über letztlich doch gewesen sei und die jetzt nur noch späten „Gratismut“ beweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. Walter Jens und Günter Grass nehmen Christa Wolf gegen derlei Vorwürfe in Schutz.

Der Anlaß der Debatten umfaßt nur 108 Seiten. Da ist die literarische Rede vom psychischen Druck auf „Objekte“ staatlicher Beobachtung. Viele Passagen dürften in ihrer Substanz auch auf schlimmere Fälle anwendbar sein. Es ist eine Qualität, daß das Buch am vergleichsweise harmlosen Beispiel das dennoch Zermürbende nachfühlen läßt. Die nach geheimem Plan wechselnden Spitzel-Autos mit geisterhaften „Männern ohne Eigenschaften“ als Insassen, die vor ihrer Wohnung postiert sind – sie schaffen hier keine direkte, konkrete Bedrohung, sondern eine kaum greifbare, kaum mit Worten zu fassende Unwirklichkeit, die in alle privaten Dinge einsickert.

Das Leben wird allmählich vergiftet, vergällt. Mißtrauen wuchert, auch gegen Freunde. Schließlich ist es egal, ob die Autos da sind oder nicht – dieses Gefühl ist immer da: es irrlichtert irgendwo zwischen Unruhe, Fühllosigkeit und allgemeiner Verwunderung. Und schließlich wächst die Bereitschaft zur Resignation: Was bleibt? Gibt es überhaupt Zukunft?

Die Autorin äußert öfters ein merkwürdiges, fürsorgliches Interesse für die Lebensumstände der Stasi-Spitzel, als seien es ihre Schutzbefohlenen. Meist sanftmütig, leise und tastend auch die Sprache. Es läßt sich an Textstellen belegen: Die volle Wahrheit zu offenbaren, spart Christa Wolf sich anno ’79 für später auf – oder überläßt es lieber gleich der nächsten Generation. „Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen“, schilt die Autorin sich einmal selbst. Dies Bedürfnis ist menschlich mehr als verzeihlich, politisch aber naiv. Vielleicht ist es das Hauptproblem der Christa Wolf.

Christa Wolf: „Was bleibt“. Luchterhand, Frankfurt/Main. 108 S., 24 DM.