Mitten ins Traumreich – Grandioser Überblick zum Surrealismus in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Von Bernd Berke

Der Surrealismus war nicht bloß eine Kunstrichtung. Die Generation, die ihm frönte, hat einen ganzen Kontinent der menschlichen Psyche neu vermessen. Eine phänomenale Ausstellung der Kunstammlung NRW (neuerdings „K 20″ genannt) entwirft nun mit schier unglaublichen 500 (!) Exponaten ein Gesamtbild der Bewegung.

Werner Spies, einer d e r Surrealismus-Experten überhaupt, hat all die Schätze weltweit fürs Centre Pompidou eingesammelt. In Paris kamen rund 500.000 Besucher. Spies findet, die Düsseldorfer Version der Schau sei noch einmal eine Spur schöner geraten. Überhaupt erging man sich gestern bei der Pressekonferenz in Superlativen des Eigenlobs. Das Beste daran: Sie treffen zu!

Keinen bestimmten Stil entwickelt

Die Surrealisten haben keinen bestimmten Stil entwickelt, wie etwa die Im- oder Expressionisten. Die bildnerischen Reisen durch Gefilde des Unbewussten, des Traumes und des Rauschs erlauben so manchen Zugang und Nebenweg. Die Haltung ist wichtiger als die Malweise. Der Leitsatz surrealistischen Bestrebens könnte etwa so lauten: „Du sollst alles zulassen!“ Nämlich jeden noch so wilden Gedanken, sexuelle Urschreie und gewaltsame Wirrungen eingeschlossen, jede noch so abenteuerliche Kombination der Dinge. Legendär die Ansicht des Dichters Lautréamont, gar schön sei die Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch…

Schwellende Akkorde von Max Ernst und Giorgio de Chirico

In Düsseldorf wartet man nun mit Meisterwerken sonder Zahl auf. Überall begegnet der Besucher berühmten Bildem. Chronologisch sortiert, hängt nahezu die komplette „Bestenliste“ an den Wänden. Einen Überblick zu den künstlerisch handelnden Personen verschafft gleich eingangs Max Ernsts Kopf für Kopf nummeriertes Gruppenporträt „Das Rendezvous der Freunde“ (1922), die sich um den oft „päpstlich“-doktrinären André Breton scharen. Zweiter schwellender Anfangs-Akkord: Die Schlagschatten-Welt des Giorgio de Chirico, der sich hier als machtvoller Anreger des Surrealismus erweist. Er hat gleichsam das Tor zum Traumreich aufgestoßen.

Einen grandiosen Auftritt hat der unerschöpflich rätselvolle René Magritte. Geht man über eine Wendeltreppe in den zweiten Stock (wo die ständige Sammlung vorübergehend weichen musste), so tut sich ein atemberaubendes Bilder-Ensemble auf, das fast schon für eine Einzel-Präsentation Magrittes reichen würde. Doch auch die Werkkomplexe von Max Ernst, Picasso und sogar Miró (der ja derzeit „nebenan“ im Kunstmuseum breit vorgestellt wird) sind enorm reichhaltig.

Der Triumph wirkt bedrohlich

Hinzu kommen erhellende Seitenblicke auf Hans Arp, Giacometti und Man Ray. Selbst der oft geschmähte Salvador Dalí erfährt eine Ehrenrettung – zumal mit kleineren, nicht so selbstgefällig auftrumpfenden Arbeiten.

All dies summiert sich fürwahr zu einem „Triumph des Surrealismus“. Just so heißt denn auch 1937 ein Bild von Max Ernst, dessen Phantasiefigur den Betrachter allerdings bedrohlich anspringt; ganz so, als hätte Max Ernst geahnt, dass sich die dunklen Triebe, die von den Surrealisten erkundet wurden, auch in Faschismus und Weltenbrand entladen könnten.

Kunstsammlung NRW / „K 20″. Düsseldorf, Grabbeplatz. Vom 20. Juli bis 24. November. Di bis Fr 10-18 Uhr, 1. Mittwoch im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 7,50 Euro, Katalog 39 Euro. www.kunstsammlung.de




Picasso – der zweite Schöpfungsakt

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Bei manchem Meister der Moderne muß man längst Ausstellungen zu ganz speziellen Werk-Aspekten zusammenstellen, um noch Aufsehen zu erregen. Bei Pablo Picasso (1881-1973) ist die Kunstwelt hingegen immer noch dabei, das immense, ja schier unerschöpfliche Werk überhaupt erst einmal in seiner Breite und Fülle zu sichten.

Vor zwei Jahren war Picassos plastisches Werk das Ausstellungsereignis in der Düsseldorfer Kunsthalle. Jetzt, wiederum zusammengestellt von Kunstprofessor Werner Spies und wiederum eine Art „Offenbarung“, sind über 200 „Arbeiten auf Papier“ in der Kunstsammlung NRW zu bewundern.

Die unglaubliche Anzahl von etwa 26 000 Picasso-Zeichnungen, Gouachen, Pastellen, Aquarellen und Collagen auf Papier verzeichnen die in internationalen Inventare. Höchst gewagt wäre es also die Behauptung, hier seien, nun wirklich die allerbesten Stücke versammelt. Fest steht, daß Werner Spies Leihgeber in aller Welt bewegen konnte, wirkliche Spitzenstücke schweren Herzens auf die Reise nach Tübingen (190.000 Besucher!) und jetzt – 20 Bilder wurden ausgetauscht – nach Düsseldorf gehen zu lassen. Die Besorgnis ist verständlich: Zeichnungen von Picasso werden auf Werte um 600 000 bis 1 Mio. DM „pro Blatt geschätzt“. Spies konnte nach und nach die Bedenken ausräumen. Das „Musée Picasso“ (Paris) und das „Museum of Modern Art“ (New York) gehören ebenso zu den Leihgebern wie das „Museu Picasso“ in Barcelona. Aus Konservierungsgründen hängen die kostbaren Stücke selbstverständlich unter Glas – den Spiegeleffekt muß man in Kaufnehmen.

Die chronologisch gehängte Ausstellung reicht von ersten Akademiestudien (1894) über Picassos sogenannte „blaue“ und „rosa“ Periode, es folgen die Pionierzeit des Kubismus,, die Rückkehr zu neoklassizistischen Formen, das bisher selten gewürdigte zeichnerische Spätwerk. Ein ganzer Formen-Kosmos entfaltet sich da, ein souveränes Verfügen über zahllose Traditionen und Formen, das immer erkennbar Picassos „Handschrift“‚ trägt, sich aber auf gar keinen Stil festlegen läßt.

Die Papier-Arbeiten können bei Picasso nicht als Nebenwerke gelten, eher ist das Gegenteil der Fall: Da er seine Arbeiten immer in einer durch schöpferische Ungeduld bestimmten Zeitspanne abschloß, hat er die Zeichnungen oft detaillierter ausgeführt als Gemälde.

Ob Picasso durch Verzerrung von Körpern oder durch Farbgebung psychologisiert („Der Verrückte“, „Die Frau mit dem Raben“ – 1904); ob er einfach Freude an Licht und Bewegung ausdrückt („Gauklerfamilie“, 1905); ob er die Figuren kubistisch zerlegt („Stehender weiblicher Akt“, 1909/10) oder schwellend-klassizistische Formen typisierend gestaltet („Sitzende Frau“, 1921) – das Ergebnis wirkt stets „gültig“, fast wie ein – Urtraum des Künstlers – zweiter Schöpfungsakt.

Im zeichnerischen Werk finden sich, in einem „ewigen Experiment“ beinahe unendlich variiert, alle Techniken und Themen Picassos dicht beieinander. Nur, daß der Künstler hier fabulierfreudiger war als im Malerischen. Daraus ergeben sich, insbesondere im Spätwerk, Notate zu Picassos psychischer Befindlichkeit, manchmal gar Seelendramen. Vor allem Atelier-Situationen werden im Spätwerk wieder aufgegriffen: hier das sinnliche Modell, dort der Künstler, offenbar einer ganz anderen Welt angehörend, ganz Aufnehmender, ganz Auge. Oder sogar ein mickriger Voyeur.

14. Juni bis 27. Juli. Wegen des erwarteten Andrangs geänderte Öffnungszeiten: Täglich 10-20 Uhr, montags geschlossen. Katalog (Hatje-Verlag), 39 DM, Plakat 12 DM.