Vom fernen Freigeist fasziniert – Werner Streletz‘ Versuch über den französischen Dichter Robert Desnos

Man tritt dem Bochumer Autor Werner Streletz wohl nicht zu nahe, wenn man ihn einen fleißigen, produktiven Schreiber nennt.

2011 erschien „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“, 2013 der Roman „Rohbau“, 2014 „Gewaltig endet so das Jahr. Meine Tage mit Georg Trakl“. 2016 folgte wiederum ein autobiographisch getönter Roman: „Rückkehr eines Lokalreporters“.

Im Umkreis des Surrealismus

Und nun liegt, noch 2017 erschienen, ein freilich nur 66 Seiten schmaler Band mit dem Titel „Der freieste aller Dichter vor“, der als Novelle firmiert und in dem Streletz Annäherungsversuche an den französischen Dichter Robert Desnos (1900-1945) unternimmt.

Streletz ist geradezu getrieben vom Impuls, zumal in der Literatur-, Theater-, Film- und Rockmusik-Geschichte Geistesverwandtschaften aufzuspüren oder – wer weiß – vielleicht auch erst zu kreieren. Nun also Robert Desnos, der vor allem als sprühend inspirierter Lyriker im Umkreis der Pariser Surrealisten auftrat, sich aber von deren selbsternanntem „Papst“ André Breton keineswegs vereinnahmen ließ und auch dessen kommunistische Orientierung nicht teilte.

„Der freieste aller Dichter“

Unterdessen verdingte sich Desnos als durchaus fähiger Journalist und „Werbefuzzi“, um mit Streletz zu reden. Das Ehrenzeichen, „der freieste aller Dichter“ zu sein, bekam Desnos vom Schriftstellerkollegen Paul Eluard angeheftet.

Werner Streletz zeigt sich durchweg angetan, ja fasziniert vom französischen Freigeist und imaginiert die eine oder andere Begegnung mit diesem „Sekretär des Unbewussten“ – nach dem Leitmotto „Wenn ich ihn gekannt hätte…“ Es ist, als wolle sich der Bochumer partout eines weiteren Vorläufers oder zumindest Anregers versichern.

Einmal verfassen die beiden sogar quasi ein Gedicht miteinander, genauer: Der Bochumer ermuntert Desnos, in einer schwachen Stunde wieder in seine literarische Spur zu finden. Zuweilen fallen Streletz zu Begebenheiten aus Desnos‘ Biographie eigene Erinnerungen aus der Ruhrgebiets-Kindheit ein. So beispielsweise, wenn es um die Angst vor dem eigenen Vater geht.

Nicht alles will sich zueinander fügen

Doch nicht immer will sich das wirklich zueinander fügen. Manches wirkt eher wie zwanghaft herbeigeschrieben. Die Lebensläufe lassen sich natürlich nicht ohne weiteres miteinander kurzschließen. Und man fragt sich im Lauf der Lektüre, ob Werner Streletz vielleicht gerade auch die Schwierigkeit herausstellen wollte, sich solch einer literarischen Gestalt tatsächlich zu nähern. Der unentwegt betonte Modus des „Es wäre möglich, dass…“ würde sich somit teilweise als illusorisch erweisen.

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes - public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes – public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Es ist eine manchmal geradezu leichtfertige, dann aber auch wieder recht mühselige Annäherung, in deren Verlauf Streletz zuweilen auch sprachlich sehr vorsichtig tastend und manchmal geradezu umständlich zu Werke geht. Hie und da droht er sich in Zeitebenen und konjunktivischen Formen geradewegs zu verheddern. Ein literarischer Draufgänger ist er nicht; eher schon einer, der sich immerzu in Frage stellt.

Tod im KZ Theresienstadt

Etwa in der Mitte des Textes ist es aufs Schrecklichste vorbei mit der einst herrlich behaupteten Freiheit der Kunst und des Künstlers. Die Nazi-Truppen sind in Frankreich einmarschiert und können sich auch auf Denunzianten und Kollaborateure stützen. So kommt es, dass auch Robert Desnos, der für die Résistance im Untergrund gearbeitet und zuvor mit der Japanerin Youki Foujita ein privates, jedoch auch öffentlich zelebriertes Glück gefunden hat, verhaftet und nacheinander in verschiedene Konzentrationslager deportiert wird. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt stirbt Desnos dort unter absurd tragischen Umständen am 8. Juni 1945.

Überflüssig zu sagen, dass eine „Annäherung“ an den französischen Dichter mit dieser Zeit in der Hölle noch unendlich problematischer, wenn nicht vollends unmöglich wird. Was zuvor streckenweise mühselig erschien, wird nun in jeder Hinsicht quälend.

Im letzten Satz der Novelle (wir wollen hier nicht über Gattungs-Definitionen streiten) schwingt denn auch leise Resignation mit: „Seltsam eigentlich, dachte ich: Vielleicht ist das alles doch schon zu lange her.“

Werner Streletz: „Der freieste aller Dichter. Unterwegs mit Robert Desnos“. projekt verlag, Bochum/Freiburg. 66 Seiten. 12,80 Euro.

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Nachspann

P.S.:

Eine heitere Gedichtprobe von Desnos, die in Streletz‘ Buch zitiert wird und von Morgenstern oder Ringelnatz stammen könnte – oder auch von Villon:

Der Pelikan

Der Kapitän Jonathan
Fing schon mit 18 Jahr’n
Eines Tages einen Pelikan
Auf einer Insel im Ozean.

Der Pelikan von Jonathan
Legt morgens ein schneeweißes Ei,
Und daraus schlüpft ein Pelikan
Der ihm erstaunlich gleicht.

Und dieser zweite Pelikan
Legt auch ein schneeweißes Ei,
Aus dem schlüpft unvermeidlich dann
Ein neuer und tut es ihm gleich.

Ich glaub, dass dies so ewig währte,
wenn man sie nicht vorher als Omelett verzehrte.

P.P.S.:

Zufallsfund während der Streletz-Lektüre: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ war – nach dem Urteil von Friedrich Nietzsche – übrigens (auch) Laurence Sterne („Tristram Shandy“), ein unübertroffener Großmeister der Abschweifungen.

P.P.P.S.:

Und noch ein Fund, verzeichnet im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; eine ausgesprochene Rarität, sogar mit Ruhrgebiets-Bezug: Anno 2008 ist in der von Louis Flamel betriebenen Dortmunder edition alicorn ein druckgraphisches Mappen-Buch über Robert Desnos erschienen: „L’étoile de mer oder die Sirene des Schlafs. Robert Desnos & Louis Flamel“. edition alicorn. Trémoigne (= Dortmund) 2008.

 




Zum 40. Todestag des Idols – Vom Erwachen eines Elvis-Fans im Ruhrgebiet

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über den Tod eines Idols vor 40 Jahren:

An jenem denkwürdigen Abend hatte ich lange vor dem Fernseher gesessen, bis zu den Spätnachrichten, die damals ausschließlich aus stummen Schrifttafeln bestanden. Auf einer davon war zu lesen: Elvis Presley, der King of Rock ‘n‘ Roll, ist tot. Anschließend einige dürre Lebensdaten. Ich war wie vom Schlag gerührt. Immerhin war Elvis in meiner Kindheit und Jugend mein absolutes Idol gewesen (mit dem Tophit: Jailhouse Rock).

Nach der ersten Überraschung schob sich jedoch ein gänzlich anderer Gedanke in mein Hirn: Wenn Du jetzt ganz schnell bist, könntest Du der Erste sein, der nach dem Tod von Elvis ein brandneues Buch herausbringt, das ihn zum Thema hat. Ich schrieb damals gerade an der Erzählung „Das erste Erwachen eines Elvis-Fans“.

Der Text war allerdings noch nicht weit gediehen. Doch dann bekam ich Gewissensbisse: Würde ich durch diese hastige Schreiberei den Tod von Elvis nicht schändlich für schlichte und ekelhaft profane Zwecke ausnutzen, würde ich mich mit so einer schnell rausgehauenen Erzählung, nur, um anderen zuvorzukommen, nicht an Elvis versündigen? Ich hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei, als würde ich mit so einem übereilten Text auch meine Hochachtung vor Elvis verraten.

Kurzum: Ich habe die Erzählung in aller Ruhe weitergeschrieben, mit Erinnerungen an die 1950er Jahre, an die Kirmes in Bottrop, Halbstarken-Kloppereien und Rock ‘n‘ Roll an der ratternden Raupe. Und fühlte mich moralisch auf der besseren Seite, als kurz nach der Todesnachricht – wie zu erwarten – die Elvis-Erinnerungsbücher den Markt fluteten. Ich jedenfalls hatte mich an diesem kommerziellen Hokuspokus nicht beteiligt!

Die ganze Geschichte nahm später ein unerwartetes, erfreuliches Ende. Die Erzählung vom „Erwachen eines Elvis-Fans“ wurde zunächst von Biby Wintjes in seinem Bottroper Info-Zentrum veröffentlicht. Dort entdeckte sie Carl-Ludwig Reichert, ein Münchner Autor, der gerade eine Anthologie „Fans, Bands, Gangs“ für den Rowohlt-Verlag vorbereitete. In diesem Sammelband erschien das „Erwachen eines Elvis-Fans“ ungekürzt – und in naturgemäß hoher Auflage.

Im Rowohlt-Verlag! Da war ich, damals ein noch relativ junger Autor, wirklich stolz wie Oskar. Und zu Recht, will ich meinen. – Ich sollte wieder einmal Jailhouse Rock auflegen.

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(Elvis Presley * 8. Januar 1935 in Tupelo/Mississippi
† 16. August 1977 in Memphis/Tennessee).




Weil der WDR hohe finanzielle Hürden setzt: Ruhrgebiets-Hörspiele können nicht im Buchhandel verkauft werden

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über eine neue Edition mit Ruhrgebiets-Hörspielen, die allerdings einen Schönheitsfehler hat:

Für mich ist es ein Rücksturz in meine literarische Vergangenheit: „Die Sonne ist nicht mehr dieselbe. Ruhrgebiets-Hörspiele 1960 bis 1990“. So lautet der Titel einer facettenreichen Dokumentation (die beiliegende DVD umfasst nicht weniger als 39 Hörspiele), die jetzt von der Literaturkommission Westfalen veröffentlicht worden ist.

Ruhrgebietsspezifische Hörspiele gab es natürlich von jeher im Programm des Westdeutschen Rundfunks, richtig Fahrt hat diese Sparte allerdings erst aufgenommen, als der aus Bottropstammende Frank Hübner Anfang der 1980er Jahre die Ruhrgebiets-Redaktion beim WDR übernahm.

Heimatdönekes, sofern es sie gegeben hatte, waren passé. Wir, Autoren und Autorinnen aus dem Revier, befassten uns mit gegenwärtigen Themen, orientiert an ambitionierten literarischen Qualitätskriterien. Klingende Autorennamen versammelten sich da: Michael Klaus, Jürgen Lodemann, Monika Littau oder Rolf Dennemann.

Ich für meinen Teil habe versucht, mit Formen der Konkreten Poesie den Ruhrgebiets-Slang zum Tanzen zu bringen. Aufbruchstimmung allenthalben, die im zweijährigen Gruppen-Projekt „Blackbox B 1“ gipfelte.

All das kann man in der neuen Doku nachlesen und -hören, wenn, ja wenn es so leicht wäre, an diese empfehlenswerte Veröffentlichung heran zu kommen. Man muss sich bemühen: Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Edition nicht im Buchhandel erscheinen.

Der Bezug ist nur möglich über die Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38 / Erbdrostenhof, 48133 Münster. Warum das? Der WDR hatte vor den regulären Verkauf der Edition so hohe finanzielle Hürden gesetzt, dass die Herausgeber darauf verzichten mussten. Kein Ruhmesblatt für den WDR!




Der Literaturpreis Ruhr verdient eine Aufwertung – und kein Sparprogramm

Gastautor Werner Streletz, Bochumer Schriftsteller und 2008 selbst Träger des Literaturpreises Ruhr, mit kritischen Anmerkungen zur Zukunft der Auszeichnung:

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Der Literaturpreis Ruhr soll vielleicht nur noch alle zwei Jahre verliehen werden. Das wäre ein herber Einschnitt.

Die einzige nennenswerte Auszeichnung, die das literarische Image des Reviers ein wenig polieren kann, darf nicht in den Schatten des halbwegs Vergessenen versinken. Eine solche Gefahr bestünde, würde der Jahresrhythmus aufgegeben.

Auch angesichts der schnelllebigen Medienwelt ist der bisherige Verleihungstakt anzuraten. Es wäre zudem blamabel, würde sich die Vermutung verbreiten, im Ruhrgebiet (mit immerhin fünf Millionen Einwohnern) seien nicht alle zwölf Monate preiswürdige KandidatInnen zu finden. Oder AutorInnen, die zwar nicht in der Region leben, aber über das Ruhrgebiet schreiben. Das sind die beiden Auswahlkriterien.

Merke: Auch wenn bedeutsame Namen wie der unlängst verstorbene Wolfgang Welt fehlen, die Liste der Ausgezeichneten zählt doch die allermeisten bemerkenswerten SchriftstellerInnen auf, die im Ruhrgebiet wohnen oder über diese Region Literarisches verfasst haben.

Also weiter wie gehabt? Das nicht unbedingt. Anzuraten wäre ein Begleitprogramm zum Preis, das den jeweils Ausgezeichneten (auf einer Lesetour zum Beispiel) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Ein flankierender publizistischer Schub, u.a. von den Ausrichtern der Auszeichnung animiert, könnte dazu beitragen, Preis, Preisträger und die Literaturszene der Region stärker ins Gespräch zu bringen. Man muss es halt nur wollen …

Ich habe mich nach der Preisverleihung (2008) jedenfalls ziemlich alleingelassen gefühlt. Ein rauschendes Fest – danach Stille. Also war Eigeninitiative angesagt. Aber dazu muss ja nicht jeder Preisträger verpflichtet sein…




Was einfach so geschehen ist – Werner Streletz‘ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“

Ja, so waren sie, die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus der 70er und frühen 80er Jahre: Der Linienbus oder die Regional-Bahn dienten an entlegenen Orten als Kurierfahrzeuge für Texte und Bilder, die an der mechanischen Schreibmaschine und in der Dunkelkammer entstanden. Es ging bei weitem noch nicht so gehetzt und getaktet zu wie in den flimmrigen Online-Zeiten.

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Michael, die noch recht junge Hauptfigur in Werner Streletz’ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“, arbeitet in jenen Jahren als Einmann-Redakteur auf einem Außenposten, 40 Kilometer von den Kollegen in der Kreiszentrale entfernt. Stets begleitet ihn die vage Furcht, so ganz auf sich allein gestellt in der „Schlossstadt“, wie sie sich nennt, die riesengroße Nachricht zu verpassen.

Aber gemach! Das provinzielle Kleinstadtleben scheint immerzu seinen gewohnten Gang zu gehen. Größter Daueraufreger sind die Pläne eines Kaufhauses, baulich in die Altstadt einzugreifen. Michael müht sich nach Kräften um eine möglichst objektive Berichterstattung und fühlt sich von Politikern ebenso misstrauisch beäugt wie vom zudringlichen Ralph Kindler, der eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Nur Verfolgungswahn oder zutreffender Befund?

Doch nehmt alles nur in allem: Ist es nicht ein einigermaßen bequemes, ja fast beschauliches Leben mit einem Gerüst aus täglichen Routinen, das Michael dort führt? Hinzu kommt der Charme des Unzulänglichen in den frühen Jahren: Mit seiner Freundin Rosemarie duscht er anfangs noch notgedrungen im Hallenbad, dann ziehen sie in ein kuscheliges Dachgeschoss mit Flokati-Teppich im Badezimmer. Manchmal stellen sich schwebende Momente der Leichtigkeit ein. Doch eigentlich ist Michael ein notorischer Grübler.

Geschildert werden die Ereignisse Jahrzehnte später, aus der Rückschau Michaels, der sich für ein paar Wochen ins Haus eines Freundes zurückgezogen hat, und zwar just im Dunstkreis besagter Schlossstadt. Hier begibt er sich auf Spurensuche – nicht systematisch, sondern eher ziellos schweifend. So scheint auch die Geschichte hierhin und dorthin ins Taumeln und Trudeln zu geraten. Und was ist geblieben von der Vergangenheit?

Schon bald wird deutlich, dass – dem vermeintlichen Idyll zum Trotz – „damals“ etwas Düsteres, Schreckliches geschehen sein muss. Doch Genaueres bleibt für eine gewisse Textstrecke im Verborgenen. Wir wollen dieses Spannungsmoment auch hier nicht vollends auflösen und lediglich andeuten, dass Rosemaries Leben im Laufe des Romans auf bestürzend unspektakuläre Weise entgleist – gleichsam wie in Zeitlupe. Zunächst nahezu unmerklich, schleichen sich Depressionen ein, die sodann in unvorhersehbaren Schüben wiederkehren. Und schließlich…

Michael, der ebenso wie Rosemarie unentwegt beim Vornamen genannt und praktisch nie mit dem Personalpronomen „er“ bezeichnet wird (geradezu eine Marotte des Autors), lernt zwischendurch den sinistren Künstler Tobias kennen, der die gewöhnlichen Leute mit ziemlich radikalen und abgründigen Schöpfungen schockiert. Doch Michael weiß den kulturellen Impuls zu schätzen, er fühlt sich angesprochen. Dämmert da aber auch etwas Gefahrvolles herauf? Ist diesem Tobias zu trauen?

Werner Streletz erzählt mit zuweilen etwas umständlich wirkender Sorgfalt, als wollte er kein Detail vergessen, Plaudereien aus dem lokaljournalistischen und kommunalpolitischen Nähkästchen inbegriffen, die den Fortgang der Handlung dann und wann eher aufzuhalten scheinen. Zudem kommen Formulierungen wie „Er hatte sich, solches erahnend…“ ein wenig gestelzt daher.

Nun muss man aber sagen: Der zögerliche, zaudernde Duktus entspricht gewissermaßen der Hauptfigur, die eben alleweil hin und her denkt, sich den Kopf über das eigene Tun und Lassen permanent zerbricht. Mitunter wird da allerdings wohl etwas zu viel und zu restlos erwogen, zu ausgiebig erläutert. Hie und da vermisst man einen Zug oder Sog in der Geschichte, deren Urheber sich gelegentlich sozusagen bereitwillig in unnötigen kleinen Abschweifungen verliert und mehr oder weniger kühne Auslassungen offenbar scheut.

Als erfahrener Schriftsteller verliert Streletz jedoch natürlich nicht den Bauplan seines Romans aus den Augen. Er lässt die vorwiegend melancholisch getönte Erzählung in ein offenes Ende gleiten. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich das Geschehene weder ändern noch wirklich ergründen lässt. Das mag betrüblich sein, doch diese Einsicht birgt wohl auch Trost. Und schuldig ist ohnehin niemand. Es ist passiert. Einfach so. Wie das Leben so ist.

Kleine Anmerkung: Das Buch ist passagenweise etwas nachlässig redigiert worden, da geraten auch schon mal Namen und Zeitenfolgen durcheinander, von einigen Setzfehlern zu schweigen. Nachbesserungen für eventuelle weitere Auflagen wären also ratsam.

Der in Bottrop geborene und aufgewachsene, seit vielen Jahren in Bochum lebende Werner Streletz (Jahrgang 1949) gilt manchen immer noch als „Ruhrgebietsautor“. Streletz selbst, brotberuflich langjähriger WAZ-Kulturredakteur (den ich – der Transparenz halber sei’s erwähnt – aus beruflichen Zusammenhängen persönlich kenne), wendet sich entschieden gegen diese Zuschreibung.

Tatsächlich entfernt er sich gerade mit diesem Roman deutlich von etwaigen Revier-Spezifika. Welche sollten das heutzutage auch sein? Die Chose mit Zechen, Malochern, Fußball, Bier und Stahl ist in dieser einst typischen Mischung längst durch. Und so ist Werner Streletz kein Ruhrgebietsautor, sondern einer, der halt im Ruhrgebiet lebt und schreibt.

Werner Streletz: „Rückkehr eines Lokalreporters“. Roman. Projektverlag, Bochum/Freiburg. 261 Seiten. 13,80 Euro.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.