Im Bannkreis zweier Meister – Münsteraner Ausstellung zeigt Einflüsse Klees und Kirchners auf Fritz Winter

Von Bernd Berke

Münster. Mit vollen Segeln und stolz beflaggt, sticht die Fregatte auf Paul Klees Bild „Abenteuer Schiff“ (1927) in See. Entschieden karger geht es auf dem Gemälde gleich daneben zu. Fritz Winter hat „Das Boot“ (1930) nur mit dem Nötigsten ausgerüstet. Es schaukelt ein wenig träge und traumverloren vor sich hin.

In der neuen Münsteraner Ausstellung „Klee – Winter – Kirchner“ begegnet man immer wieder solchen Doppelungen, die zum direkten Vergleich anregen. Eine Seh-Schule auf hohem Niveau. Die Gegenüberstellungen haben ihre kunstgeschichtliche Basis: Fritz Winter, 1905 in Altenbögge bei Unna als Sohn eines Bergmanns geboren, studierte von 1927 bis 1930 am berühmten Dessauer „Bauhaus“. Sein wohl wichtigster Lehrer war dort Paul Klee. Kein Wunder, dass es hier etliche Einflüsse gegeben hat.

Doch Winter segelte eben nicht nur im Windschatten Klees. 1929 nahm er brieflich Verbindung zu einer völlig anderen Künstlerpersönlichkeit auf – dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner. Man traf und mochte sich gleich. Die Begegnung schlug sich gleichfalls deutlich in Winters Bildern nieder. Der junge Mann war eben noch prägsam.

In den Schattenzonen des Bewusstseins

Den zeitlichen Schlusspunkt setzt die interessante, in München zusammengestellte Schau mit dem Jahr 1934: Damals sahen sich Klee und Kirchner, die einander bis dato schätzten, aber nicht persönlich kannten, zum ersten und einzigen Male im Leben.

Klee ist einer der allergrößten Meister im staunenswert triftigen Einfangen des Ungefähren. In den Schattenzonen des Bewusstseins erfasst er sonst kaum wahrgenommene Unschärfen, Überlagerungen und Schwingungen. „Trauernd“ (1934) scheint sein Frauenbildnis in einem Muster aus Grau- und Rosa-Tönen auf- und abzutauchen; mal tief in sich selbst versinkend, dann neue Hoffnung schöpfend. Ungeheuer weich und fließend lebendig, als seien sie in jedem Augenblicke wandelbar, wirken solche Bilder.

Von derlei flüchtigen Figurationen hat sich auch Fritz Winter seinen Anteil abgeschaut und anverwandelt. Die Vergitterungs-Strukturen auf Klees „Der Tod“ (1927) und auf Winters titellosem Bild von 1929 weisen frappante Ähnlichkeiten auf. Doch bei allem Respekt vor Winter, der bislang eher als Größe der Nachkriegszeit geweitet wurde: Klees Formfindungen wirken allemal noch dringlicher und zwingender.

Die Strömungen und der Umriss

Sodann der zweite, so gänzlich anders gelagerte Einfluss: Im Sog Kirchners werden Winters Linienführungen wieder fester, eindeutiger. Solche Kunst verströmt sich nicht, sie lebt vom Umriss. Doch auch hier können Figuren zeichenhaft abstrahiert werden. Kirchner selbst sprach von bildlichen „Hieroglyphen“.

Zudem entdeckte Winter, von Kirchner darauf aufmerksam gemacht, die kreativen Kräfte des „Primitivismus“. Eine schöne „rohe“ Holzskulptur zeugt davon. Auch hier kann man also die Einwirkung des Arrivierten auf den Adepten bestens nachvollziehen – eine Folge der Hängung, die die Bilder zumeist paar- oder gruppenweise vor Augen führt.

Natürlich wollen wir Winter nicht als bloßen Nachahmer schmähen. Wer derart jung in die Bannkreise zweier Meister wie Klee und Kirchner gerät, muss schon enorme innere Selbstbehauptungs-Kräfte besitzen, um nicht „unterzugehen“. Winters eigener Sinn aber hat sich in diesem hochkarätigen künstlerischen Dreieck gefestigt.

Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 14. Januar (Eröff. 11 Uhr) bis 4. März. Tag. außer Mo 10-18 Uhr, Eintritt 5 DM, Katalog 34 DM.

 




Malen als verzweifelte Suche nach einem Ausweg – Arbeiten der früh verstorbenen Eva Hesse im Landesmuseum Münster

Von Bernd Berke

Münster. Die Künstlerin Eva Hesse schrieb 1964 in ihr Tagebuch: „Kein Wunder, daß ich mir Sorgen mache. Ab da zieht es mich immer wieder hinunter: Ich habe etwas an meinem Aussehen, an meiner geistigen Einstellung, an meinen Fähigkeiten auszusetzen, und am Ende bleibt gar nichts mehr von mir übrig.“

Inhalt und Tonfall erinnern ganz stark an depressive Passagen der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath, die sich in jungen Jahren das Leben nahm. Eva Hesse war, als sie die zitierten Zeilen schrieb, eine gut aussehende 28 jährige Frau mit künstlerischer Zukunft. Doch offenbar war sie dem Unglück zugetan. Eine Ausstellung im Landesmuseum zu Münster beweist jetzt die außerordentliche bildnerische Kraft, die sich Eva Hesse selbst nicht zubilligen mochte.

Die 1936 in Hamburg geborene Eva Hesse kam 1939 mit den jüdischen Eltern ins New Yorker Exil. Sie wurde als junge Frau Schülerin des großen Josef Albers, der ihr Wesen zugleich er- und verkannte. Er vermißte das einheitliche Element in ihren Arbeiten, fand alles zu sprunghaft. Die Münsteraner Ausstellung macht deutlich: Gerade das ist eine Stärke von Eva Hesse gewesen, die 1970 mit nur 34 Jahren an einem Gehirntumor starb. Dies zu wissen tut doppelt weh, wenn man ihre Arbeiten sieht. Was hätte diese Frau noch bewegen können!

Stetige Sprünge und Risse im Werk

Die stetigen Sprünge in ihrem Werk bewahrten sie vor künstlerischen Moden. Sie paßt bis heute in keine gängige Kategorie. Eben hat man den Schock fließender Angstgesichter (Ölbilder um 1960) in ungeheuer kühnen Bildschnitten erlebt, da verblüffen (zeitgleich entstandene) Gouachen mit erlesenen Licht- und Schattenwirkungen.

Fast zeitlich parallel verläuft auch jene Phase, in der sie plötzlich so ungestüm und „wild“ malt, wie es andere erst zwanzig Jahre nach ihr – und zumeist schlechter – getan haben. Um 1963 wendet sie sich einer rätselvoll-labyrinthischen Zeichensprache mit Pfeilen und Strecken zu – Suche nach Wegen und Auswegen auf der Leinwand? Maschinenförmige Wesen, die mit pflanzlicher und sexueller Neben-Bedeutung aufgeladen zu sein scheinen, sind Kennzeichen einer weiteren Arbeitsphase.

Viele Bilder wirken, als habe die Künstlerin sie zwischendurch verzagt verworfen und als habe sie dann doch immer wieder neu angesetzt. Das unstete Element schafft nicht nur eine Kluft zwischen Werkgruppen, sondern spaltet schmerzhaft jedes einzelne Werk. Es sind Inbilder der Zerrissenheit.

Spekuliert man zuviel, wenn man sagt: Da hat eine wie besessen gemalt, die im Grunde gar nicht mehr weitermalen wollte, es aber unbedingt mußte? Selten sieht man Kunst, die auf den ersten Blick so zufällig erscheint – und die doch solche Spuren von Lebensnotwendigkeit trägt.

Jede neue Wendung in ihrem Werk ist spannend, auch der allmähliche Eintritt in die dritte Dimension, mit dem die Münsteraner Auswahl schließt. Zunächst ganz vorsichtig tasten sich Tentakel aus den Bildern heraus. Daraus entwickeln sich Skulptur-Objekte von verzweifelter Stille.

Eva Hesse. Bilder und Reliefs. Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 7. August bis 16. Oktober, di-so 10-18 Uhr. Katalog 49 DM.




Boshaftes aus dem Sauerland – Bildsatiren von Jochen Geilen in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Manchmal, so sagt er, schnüre sie ihm schon morgens beim Aufstehen den Hals zu – diese „Unser-Dorf-soll-schöner-werden“-Mentalität im Sauerland. Dabei ist der Künstler Jochen Geilen ein Kind dieses Landstrichs. Geboren in Olsberg, lebt er seit langem in Winterberg. Es scheint, als habe er auch aus Haßliebe zur Region einen Hang zu Spott und Satire entwickelt. Jetzt widmet ihm das Westfälische Landesmuseum in Münster eine Ausstellung mit rund 230 Arbeiten.

Größtenteils arbeitet Geilen in geradezu altmeisterlicher Manier als Kupferstecher. Er brauche diesen beinahe erotischen Widerstand der Kupferplatte, in die er „sich“ und seine Ideen kraftvoll eingraben könne. Doch dann liebe er auch wieder jene Ausbrüche, die er im Medium der Zeichnung ausleben könne.

Ein Mann mit gemischtem Temperament also. Mal diszipliniert und gediegen, mal spontan und beinahe wild. Und ein Mann mit Qualitätsschwankungen: Bewegt sich Geilen unmittelbar auf politischen Pfaden, so sind sie oft schon etwas ausgetreten. Seine Politikerportrats übertreffen wohl technisch, aber kaum inhaltlich die Standards der Tageskarikatur: Graf Lambsdorff erscheint da als Herrenreiter, Friedrich Zimmermann hebt die berüchtigte „Schwurhand“, Helmut Kohl wird gekrallt und fortgetragen von einem Adler namens Adenauer, Theo Waigel bleckt als Löwe mit buschigen Augenbrauen die Zähne. Nun ja. Man hat schon Boshafteres gesehen.

Auch zur Stadt Münster fällt Geilen in einer weiteren Bildserie nur Nächstliegendes ein. Da zwingt er etwa Fahrradfahrer und Nonne auf einem Bild zueinander. Wenn das kein Klischee ist. Aber es soll ja Klischees geben, in denen Wahrheit liegt. Doch dies sind Ausrutscher. Geilens Schaffen ist vielfältiger und hat durchaus beachtliche Qualitäten. Eine Serie mit Todesbildern zeigt eine allmähliche, gleichsam organisch wachsende „Politisierung“. Zunächst scheinen diese Blätter allgemein auf Vergänglichkeit abzuzielen, doch plötzlich ist da der totenköpfige „Meister aus D.“, jener NS-Folterknecht nach Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“).

Bemerkenswert auch Geilens Beobachtungen an Haltestellen und Plätzen, wo die Leute beziehungslos herumstehen und achtlos einander verfehlen. In derlei vermeintlich banalen Alltagsszenen lauert bitterer Hintersinn. Schließlich seine Tier-Bilder: Katzen, Mäuse und Maulwürfe in allzu menschlichen Situationen. Da zeigt sich Geilen als inspirierter Fabeldichter mit dem Stichel.

Jochen Geilen – Bildsatiren (Zeichnungen und Druckgraphik). Westfälisches Landesmuseum, Münster (Domplatz). Ab Sonntag, 30. August. Bis 25. Oktober. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 20 DM.




Die Industrie drängt sich ins Bild – Münster zeigt sozialgeschichtlich bedeutsame Privatsammlung

Von Bernd Berke

Münster. Wer kennt schon Leonhard Sandrock, Johan Coenders oder Gottlob Gottfried Klemm? Hauptsächlich Werke wenig bekannter Künstler (rare Ausnahme: Conrad Felixmüller) gehören zu einer dennoch interessanten Sammlung, die lange im Verborgen wuchs und jetzt erstmals öffentlich wird. Es geht um Industrie-Bilder von 1850 bis 1950.

Manche Künstler waren einfach vom Thema fasziniert und haben auf eigene Faust gemalt, andere – formal meist weniger ehrgeizig – illustrierten im Unternehmer-Auftrag. Dabei kam es mitunter zu einer fast „fabrikmäßigen“ Bilderproduktion.

Im Westfälischen Landesmuseum zu Münster wurde jetzt, erst kurz vor Ausstellungs-Eröffnung, das „Geheimnis“ um den Namen des Sammlers gelüftet. Es ist Dr. Ernst Schmacke, heute in Hamburg, früher im Ruhrgebiet (u. a. als Pressesprecher der Firma Demag) tätig. Seit rund 20 Jahren trägt er speziell Industrie-Bilder zusammen.

Sozialkritik allenfalls in harmloser Dosierung

Dieses Genre kommt selten auf Auktionen. Kaufchancen ergeben sich eher durch Beziehungen und Mundpropaganda. Den Beständen sieht man jedenfalls an, daß der Sammler die Unternehmersicht doch einigermaßen verinneriicht hat. Sozialkritik kommt auf den Bildern ganz selten und höchstens in harmlosen Zwischentönen vor. Zudem gibt es hier kaum Spitzenwerke, das allermeiste ist künstlerischer Durchschnitt.

Trotzdem befinden sich unter den 65 Exponaten, die noch um zwölf thematisch verwandte Bilder aus Münsteraner Museumsbesitz ergänzt werden, sozialgeschichtliche Fundstücke erster Güte. Beispiel dafür sind Arbeiten des Niederländers Herman Heijenbrock, von dem die meisten Bilder der Schau stammen (und der zur Zeit auch im Dortmunder Hoesch-Museum vorgestellt wird). Der Mann, der auf der Suche nach Industrie-Motiven durch halb Europa reiste, malte um 1908 den „Zug der Kohlenhauer“, der als Reproduktion aus vielen Geschichtsbüchern bekannt ist. Das jetzt gezeigte Originalbild galt indes als verschollen, bis Schmacke seine Kollektion zugänglich machte.

Direktorenvilla, mit Palmzweigen bekränzt

Bemerkenswert auch, wie die Industrie in den frühen Bildern zunächst an den Rändem der noch weitgehend unversehrten Landschaft auftaucht und erst später zunehmend ins Bildzentrum drängt. Auch erkennt man, wie die Unternehmer der Jahrhundertwende versuchen, das Image ihres Gewerbes durch Kunst veredeln zu lassen, etwa indem die religiös vorgeprägte, dreiteilige Altarform des Triptychons bemüht wird, um ein profanes Hamburger Fischtran-Lager darzustellen oder indem eine Direktorenvilla unter einer Art Bethlehem-Stern steht und mit Palmzweigen sowie Blümchen bekränzt wird. Gleich nebenan machen Bilder mit wüst rauchenden Schloten klar, daß es an der Quelle des Reichtums weniger blitzblank und schon gar nicht sakral zuging.

Nicht nur Zechen und Stahlwerke wurden gemalt, sondern u. a. auch Glasbläsereien, Steinbrüche, Eisenbahnen und Bahnhöfe, letztere als besonders dynamische Zeichen der Industrialisierung. Wenn man gezielt Bilder des Ruhrgebiets sucht, kommt man ebenfalls auf seine Kosten. Eugen Brachts Blick auf die „Hochofenanlage des Stahlwerks Hoesch in Dortmund“ (1905), eine Ansicht der Hattinger Henrichshütte oder Heinrich Arnold Tillmanns fabrikdurchsetzte Flußlandandschaft von Hohenlimburg (1887) vermitteln ein Stück Regionalgeschichte. Eine ungefähre Ahnung vom oft düsteren und beengten Alltag der Arbeiter im Revier zeigen derweil Bilder wie Fritz Uphoffs „Trunkene Kumpels“ von 1925.

„Industrie im Bild“. Westfälisches Landesmuseum Münster, Domplatz. 10. Juni bis 19. August, di-so 10-18 Uhr. Katalog 20 DM.




Westfalens Städte anno dazumal – Münster zeigt historische Darstellungen

Von Bernd Berke

Münster. Im Spätmittelalter war Westfalen offenbar tiefste Provinz: Leute aus Nürnberg, die für die „Schedelsche Weltchronik“ auch deutsche Städteansichten sammelten, machten sich im Jahr 1493 gar nicht erst die Mühe der Anreise, sondern zeichneten ein ungefähres Konglomerat aus Kirchen und Burgen, schrieben „Westfalen“ über diesen Allgemeinplatz – und fertig war die Laube.

Wie sich die westfälischen Ortsansichten hingegen bis 1900 zu immer ausgiebigerer Detailfreude entwickelten, zeigt jetzt die Ausstellung „Westfalia Picta“ im Westfälischen Landesmuseum zu Münster (bis 3. Mai). Die Zusammenstellung von rund 180 „Ortsporträts“ zeigt gleichsam nur die Spitze des Eisbergs, ging sie doch aus einem zehnjährigen Projekt gleichen Namens hervor, in dessen Verlauf das kleine Team von Dr. Jochen Luckhardt rund 7500 Illustrationen dokumentieren konnte. Die Ausstellung soll auch „Appetithappen“ für die Buchreihe „Westfalia Picta“ bieten, in der bis 1991 sämtliche vorgefundenen Stadtbilder publiziert werden sollen. Der erste Band liegt seit Dezember 1986 vor.

In erlesenen Beispielen (Gemälde, Graphik, Pläne) aus allen westfälischen Landstrichen zeichnet die Münsteraner Schau die historische Entwicklung nach: Wurden Ortsansichten zunächst vor allem erstellt, um Rechtsunsicherheiten zu klären (Grenzmarkierungen), so dienten sie im Barock eher der selbstbewußten Repräsentation einer mittlerweile gefestigten Adelsherrschaft. Im 18. Jahrhundert stand dann, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, oftmals das Naturerlebnis in Form von Stadt-Idyllen im Vordergrund. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Darstellungen wirklich verläßlich, was schließlich zu einer fast schon photographischen Genauigkeit führt. Vorher konnte es beispielsweise geschehen, daß Kirchen im religiösen Eifer stark vergrößert dargestellt wurden oder daß man – der ästhetischen Wirkung wegen – ganze Straßenzüge vertauschte.

In den Bereich des Kitsches reichen manche Exponate einer Kuriosa-Abteilung der Ausstellung. Hier findet man zum Beispiel Bilder von Hamm (in einem gläsernen Guckkasten), von der historischen Dortmunder Femlinde (auf einem Becher von 1842) sowie Orts-Silhouetten auf Krügen, Pfeifen und Porzellangeschirr. Nicht all diese Dinge sind ganz harmlos: Eine Tabaksdose mit dem Hermannsdenkmal als Etikett deutet auf den aufkommenden Nationalismus aggressiver Spielart hin.

Dokumentation, Ausstellung und Buchreihe haben auch praktischen Nutzen: Die alten Ortsansichten geben neue Aufschlüsse über die Baugeschichte Westfalens. In Einzelfällen konnten sie auch schon Denkmalschützern bei der Rekonstruktion historischer Häuser und Ensembles weiterhelfen.




„Ehrenrettung“ für den Graphiker Marc Chagall – Münster legt Schwerpunkt auf Frühwerk

Von Bernd Berke

Münster. Der im März 1985 verstorbene Marc Chagall hat sich in seinem graphischen Spätwerk oft nur noch spannungslos-süßlich selbst zitiert. Es fällt schwer, dies zu schreiben: Auf seine alten Tage hat Chagall manche Belanglosigkeit zu Papier gebracht. Zudem tauchen immer häufiger „wilde“, nicht autorisierte Nachdrucke auf.

Jetzt präsentiert das Westfälische Landesmuseum in Münster rund 300 graphische Arbeiten Chagalls, und just zu diesem Zeitpunkt steigt ein örtliches Kaufhaus massiv in den Kommerz mit Chagall-Drucken ein.

Chagalls graphisches Spätwerk rangiert im Urteil der Fachwelt niedrig. Gleichviel, ob den Experten vielleicht gerade die außerordentliche Popularität des Chagall’schen Figurenkosmos verdächtig ist – das Landesmuseum versucht sich nun sozusagen an einer „Ehrenrettung“, indem es den Schwerpunkt aufs graphische Frühwerk legt, das noch vor lauter unverbrauchter Fabulierlust sprüht.

Ernst-Gerhard Güse, der die Auswahl für Münster zusammenstellte: „Wir haben viel aussortieren müssen, weil es einfach nicht unseren Qualitätsvorstellungen entsprach.“ Chagall, der Weltkünstler – ein Stümper? Das nun doch nicht! Was für Münster ausgesucht wurde, reicht allemal für einen Platz in der Kunstgeschichte.

Im Mittelpunkt stehen große Graphikzyklen, die zwar nicht vollständig, aber in beachtlichen Anteilen zu sehen sind. Am Beginn: Chagalls Illustrationen zu seiner Autobiographie „Mein Leben“ von 1922, die auf’Anregung des Berliner Galeristen Paul Cassirer entstanden, durch den Chagall überhaupt erst (mit 35 Jahren!) auf die Möglichkeiten der Graphik aufmerksam wurde. Diese Radierungen zeigen noch ganz die dörfliche Welt, in der Chagall aufwuchs. Dichtung und Wahrheit verfließen aufs Herrlichste ineinander. Da sitzt etwa auf dem Blatt „Haus des Großvaters“ selbiger rittlings auf dem Dach – und Chagall behauptete in seiner Biographie, dies sei tatsachlich so vorgefallen.

Der Graphiker Chagall widmete sich vor allem Illustrationen dichterischer Vorlagen, zuerst (1923) zum satirischen Gogol-Roman „Die toten Seelen“. Gogol zeigt sich in diesem Werk als Meister der gekonnten Abschweifung, und Chagall kommt es genau auf jene „Nebensachen“ an, die die Atmosphäre ausmachen. Die Gogol’sche Sozialkritik blendet er allerdings weitgehend aus. Es folgen Illustrationen zu La Fontaines Tierfabeln. Chagall, zuvor mit leichter Linienführung arbeitend, bündelt und schraffiert, findet seinen unverwechselbaren Stil. Zugleich verdeutlicht die La Fontaine-Serie sein Heimischwerden im französischen Kulturkreis. Weiterhin sehenswert: Illustrationen zu „1001 Nacht“(„Arabische Nächte“), Bilder zum Alten Testament und Farblithographien zu Longus‘ klassischem Roman „Daphnis und Chloe“.