Ein fast schon harmlos wüster Weltenzirkus – Wolfgang Trautwein inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Militär wird der mittellose Mann nach Belieben geschurigelt, die Medizin demütigt ihn mit schäbigen Experimenten, und die dralle Marie hintergeht ihn mit einem strammen Tambourmajor. Geld weg, Frau weg, Ehre weg – der traurigste Blues. Schulbuchhaft gesagt: Georg Büchners „Woyzeck“ ist eine der großen Leidensgestalten unserer Dramenliteratur.

Aufwühlender Stoff also, den sich Wolfgang Trautwein am Dortmunder Schauspiel vornimmt. Blatt- und astlose Baumstümpfe hängen hier vom dunklen Himmel herab, im Hintergrund leuchtet grob skizziertes Liniengeflecht nach Art eines ausweglosen Straßen-Labyrinths (Bühnenbild: Thomas Gruber). Eine abgetötete Welt. Stumme Figuren zeigen anfangs ein Transparent mit unverständlichen Wortfetzen. Eine Welt, gegen die man auch nicht protestieren kann, weil die Sprache zerstört ist.

Dann aber betritt jener Woyzeck (Jürgen Uter) die Szenerie, und man ist erst einmal etwas beruhigt. Der Mann ist doch kein Häufchen Elend, kein Idiot. Der müßte sich doch wappnen können: Gegen den lachhaften Hauptmann (Heinz Ostermann), der ihn aufs geistige Glatteis führen will; gegen den Doktor (Andreas Weißert), der von oben an Schnüren einschwebt und seine höllischen Erbsenfreß-Versuche zu „erklären“ sucht, für die er Woyzeck karg bezahlt; gegen jenen Gockel von Tambourmajor (Thomas Gumpert), der Marie (Wiebke Mauss) mit Liegestützen und Macho-Geschwafel ächzend imponiert.

Ja, man fragt sich: Leidet dieser Woyzeck überhaupt so außerordentlich? Oder erlebt er nicht das normale Elend eines Abhängigen, der halt für seine Groschen manches über sich ergehen läßt? Vielleicht vermag er ja alles zu ertragen, nur bitte nicht den Verlust der Liebeshoffnung.

Überliefertes Volksgut zugleich als Keim und als Deckmäntelchen des Fürchterlichen: Ein groteskes Rumpelstilzchen (Günter Hüttmann) tapert umher, „Ein Jäger aus Kurpfalz“ und „Frau Wirtin“ werden im Wirtshaus gegrölt. Und zu Beginn haben wir das Ammenmärchen vom „Sterntaler“ gehört: Wer alles, alles hergibt, wird am Ende desto reicher belohnt. So nett geht’s nicht zu im wüsten Weltenzirkus, der freilich in Dortmund mit allerlei hübscher Akrobatik und dem Geflatter dressierter Tauben einen beinahe harmlosen Anschein bekommt.

Zwangs-Läufigkeit mal ganz wörtlich ausgelegt

Doch seitwärts hockt ein Soldat, dem beide Beine weggeschossen worden sind. Überhaupt zeigt sich der Anflug des Schreckens in dieser Inszenierung oft am Rande. Man kommt auch ohne das übliche Leidensgebrüll aus. Ein paar nachwirkende Szenen: Etwa jene elend sachliche, in der Woyzeck sich eine Mordwaffe kauft und sich nicht die Pistole, sondern nur das Messer leisten kann („Ein ökonomischer Tod“).

Die Personen verrennen sich immer mal wieder auf vorbestimmten Wegen, als sei die Bühne vielfach verstellt – stimmiger Ausdruck für wortwörtliche Zwangs-Läufigkeit. Eine steil ansteigende Fläche, die an eine Half-Pipe für versierte Skateboarder erinnert, dient mal als kaum übersteigbare gesellschaftliche Barriere, mal als Todes-Rutsche für die vom eifersüchtigen Woyzeck erstochene Marie. Originell auch die Idee, die Gasthaus-Gestalten in vereinzelte Bodenöffnungen zu stellen und dort wie Springteufel ihre Plätze wechseln zu lassen.

Diese unfeine Gesellschaft hat schließlich das Wort, wenn Woyzeck ins Wasser gegangen ist. Den Vorgang nehmen sie alle ungerührt zur Kenntnis. Es schrumpft die Tragödie und bleibt nahezu spurlos.

So mag es sein im TV-Zeitalter. Die Aufführung, durchweg solide, aber kaum einmal ergreifend gespielt, hält zwar eine gewisse Spannung wie kurz vorm Sprung in den Abgrund, dringt jedoch nicht wahrhaft in die Untiefen des Stücks vor. Es ist, als wolle man uns das Allerschlimmste ersparen. Wie fürsorglich!

Termine: 17., 19. Dez. 1997, 15., 16. Jan. 1998. Karten: 0231/163041.




Schaubude des Unglücks – Nicky Silvers „Zwillingsbrut“ als deutsche Erstaufführung in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Was kommt heraus, wenn man bitterernste psychologische Fälle in die Form einer Seifenoper gießt? Nun, zum Beispiel so etwas wie Nicky Silvers US-Stück „Zwillingsbrut“, das jetzt als deutsche Erstaufführung (Regie: Harald Demmer) im Dortmunder Schauspielstudio gegeben wird. Das populäre Genre wird boshaft-lustvoll bedient und zugleich entlarvt.

Bernadette ist eine hysterische Schreckschraube, quasselsüchtig zum Steinerweichen, als nahezu niedliche Neurotikerin gespielt von Wiebke Mauss. Ihr Zwillingsbruder Sebastian (wie von Woody Allen erdacht: Michael Fuchs) betritt als erfolgloser und hochverschuldeter Ostküsten-Intellektueller die bonbonbunte Bühne der Beschädigten.

Bei Mutters Begräbnis, der ein von der Brause katapultierter Duschkopf den Garaus gemacht hat, begegnen sich die Geschwister. Im nervösen Pingpong der Fix-und-Fertig-Dialoge à la TV-Comedy zeigt sich hartnäckiger Hang zum Unglück. Bloß kein beschauliches Leben führen, es wäre ja wohl nicht zum Aushalten, oder?

Ausbruch zwecklos: Bernadettes Mann Kip (Thomas Gumpert), der nicht mehr Zahnarzt, sondern Maler sein und nackend-naturnah in Afrika leben will, ist eine hüftsteife Lachnummer. Für Sebastian hat der ganze Wahn beim Kindergeburtstag mit dem tristen Frohsinnsterror seines Miet-Clowns begonnen; damals, als sich Bernadette die Haare anzündete, weil sie den sengenden Geruch mochte. Jetzt, seit dem elf Jahre zurückliegenden Aids-Tod seines Freundes Simon, hat der schwule Sebastian keinen Menschen mehr richtig berührt. Nur der Briefwechsel mit einem Mörder im Knast (Christoph Schlemmer) hält sein Interesse am Leben halbwegs wach. Lockung des Abgrunds.

Verstorbene Mutter erscheint in Engelsgestalt

Sodann blitzen die Messer: Sebastians erbärmlich einsame Psychologin (Ines Burkhardt) sticht sich in einem Anfall von Gottsuchertum die Augen aus und vegetiert als zerlumpte Büßerin dahin. Ein geldgieriger Stricher schneidet Sebastian beim Oralsex beinahe das Kostbarste ab. Prompt erscheint die verstorbene Mutter in Engelsgestalt dem verwundeten Sohn und enthüllt: Sebastian ist bei einer Vergewaltigung gezeugt worden. Grelle Effekte in dichter Staffelung.

Ein Panoptikum von Schuld, Sühne und Selbstverstümmelung. Schaubude monströsen Unglücks, Verzweiflungs-Comic. Ganz recht also, wenn man das rasierklingenscharfe Stück in Dortmund auch mit den Mitteln der Schmiere ins Schrille schraubt. Beachtliche Schauspieler, die dies vollbringen, ohne daß es peinlich wird.

Und dann gibt es noch jene Traumspiel-Einschübe, in denen die Phantome eines besseren Daseins herumgeistern. Wenn sich Bernadette am Ende von ihrem Mann lossagt, um mit ihrem Baby und Sebastian eine Dreifaltigkeit zu bilden, kann man sich dies freilich nur als minimalen Glücks-Rest vorstellen: als endgültige Flucht in die Regression, in den seelischen Embryonalzustand. Solches Weh erfaßt keine handelsübliche Seifenoper.

Termine: 30. Nov., 1., 5. und 6. Dez., Karten: 0231/16 30 41.




Piraten bei Windstille – Matthias Zschokkes Stück „Brut“ im Dortmunder Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Dortmund. Piraten? Hey-Ho, mit denen geht’s wild übers Meer. Wenn man nur dran denkt, hat die Phantasie schon Wind in den Segeln. Doch was sind das nur für Freibeuter, die wir in der Dortmunder Inszenierung von Matthias Zschokkes Seestück „Brut“ kennenlernen?

Mag sein, daß sie alle möglichen Abenteuer schon hinter sich haben, aber das muß lang her sein. Nun sitzen sie, mitsamt ihrer Kapitänin Tristana Nunez (Ines Burkhardt), die nicht mehr auf blutige Taten, sondern auf passende Worte sinnt, in irgendeinem gottverdammten karibischen Dschungel fest. Wenn sie später doch noch in See stechen, so fahren sie mit ihrem blinden Steuermann Azor (Günther Hüttmann) im Kreise, immer und immer wieder. In ihren Sätzen tauchen Formeln auf wie „Immer dasselbe“ und „Wir sind alle überflüssig“. Folglich sind die ständigen Pläne des Navigators Hornigold Glaser (Andreas Weissert) allemal sinnlos.

Gezückter Dolch und abgebissener Finger

Dabei scheint doch alles zu passieren, was zu einem Piratenstück gehört: Es kommt schon mal ein Sturm auf, es gibt Gefangene wie jenen Dichter Julio Sloop (Michael Fuchs), der an Bord in einen Mastkäfig gesperrt wird. Wir sehen Prügeleien, es werden Dolche gezückt, dem Schiffskoch Caflisch (Heinz Ostermann) wird ein Finger abgebissen, und Ermordete wirft man über die Reling ins Meer. Wie sagt doch das als Jüngling namens Selkirk verkleidete, allseits heillos begehrte Mädchen (Wiebke Mauss): „Ich bin zum Entern hier, nicht zum Denken!“ Na, also.

Aber nichts geschieht hier richtig. Es ist immer nur ein „Als-ob“ und hat keine Konsequenzen. Nicht nur das hölzerne Schiff (Bühne: Karin Fritz), auch die Handlung strudelt im Kreise. Unauflösliches Gemisch widersprüchlicher Emotionen: Es wird nicht etwa geküßt oder geschlagen, man müßte schon paradoxe Worte wie Kußschlagen und Liebmorden dafür erfinden. Und man könnte Zschokkes 1988 uraufgeführten Text als typisches Werk der „Postmoderne“ bezeichnen, sprich: Er besteht vornehmlich aus Mythen-Plünderung, Zitaten und Simulation, es herrscht darin die Windstille am vermeintlichen Ende der Historie.

Beschwörung der ewigen Wiederkehr

In Dortmund kann man dies unerschrocken, streckenweise auch mit Behagen über sich ergehen lassen; als fast filmisch „geschnittene“ Nummernfolge (Regie: Clemens Bechtel), die öfter Witz aus dem Kontrast der Sprachebenen schlägt. Da werden z. B. Piraten-Fragen wie unter Angestellten abgehandelt: Wenn Selkirk das Schlepptau zum Beuteschiff kappt, wird er/sie nicht etwa sieben Tage bei Wasser und Brot an den Mast gehängt, sondern vom Offizier Hallwax (Heinz Kloss) brav gebeten, sich doch nächstens besser mit dem Anführer abzusprechen.

Doch als (wie aus dem Traumreich) eine Fürstin (Siham Mosleh) auf den Planken erscheint, hört man orientalisch-beredsame Schmeichelei. Dann wieder macht sich Beckettsche Sprachlosigkeit breit. Insofern ist’s ein wechselvoller, hin und wieder auch sprachschöner Text. Er gibt sich gelegentlich naiv, ist aber wohl ziemlich durchtrieben. Schon der Titel „Brut“ ist ja nicht eindeutig: Spricht man ihn deutsch aus, so denkt man ans Brüten oder an verhaßte Nachkommenschaft, sagt man’s französisch („brüh“), so bedeutet es „roh“.

Mit seiner Beschwörung ewiger Wiederkehr setzt sich das Stück aber doch frühzeitig selbst matt. Und so bringt es ein engagiertes, aber notgedrungen etwas ratloses Ensemble gerade mal dahin, unser Interesse eben wachzuhalten. Es dämmert halt so dahin. Und dies ist nicht die Schuld der Schauspieler.

Ungewohnt dürrer, rasch verebbender Premierenbeifall.

Termine: 19. April, 4., 5., 8., Mai, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0231 / 16 30 41.