Wien an der Ruhr: Konzert der Philharmoniker in Essen und der Symphoniker in Dortmund

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. Foto: Petra Coddington

Der Geiger Andrey Baranov sprang in Dortmund für Patricia Kopatchinskaja ein. (Foto: Petra Coddington)

Wo gibt es das schon, außer in Wien? Die beiden international bekannten Wiener Orchester, die Philharmoniker und die Symphoniker, spielen im Abstand weniger Tage: So geschehen in Essen und in Dortmund. Ein Zeichen für das Kultur-Potenzial des Ruhrgebiets.

Außerdem war es eine spannende Hör-Erfahrung für die, die sich zu beiden Konzerten aufgemacht haben, zumal an beiden Abenden Peter Tschaikowskys Violinkonzert angekündigt war – mit Solisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: in Dortmund die impulsive, temperamentvolle, Patricia Kopatchinskaja, deren unkonventionelle Aufnahme gerühmt wurde. In Essen der meisterliche Klangmagier Joshua Bell, der emotionale Unmittelbarkeit und intellektuelle Durchdringung miteinander verbinden kann.

Leider ohne das „Traumpaar“

Leider machte eine schmerzhafte Entzündung den Auftritt der Geigerin kurzfristig unmöglich. Mit Andrey Baranov sprang ein junger Könner ein, der schon einige renommierte Wettbewerbe für sich entschieden hat. Das „Traumpaar“ Kopatchiskaja – Currentzis, das sich auf den Bildern des Dortmunder Programmhefts so selbstbewusst wie ironisch inszeniert hat, war auseinandergerissen. Baranov bot weniger Event, aber deswegen nicht uninteressantere Musik.

Was der 1986 geborene Russe nicht mitbringt, ist die drahtig gestählte Nervosität der Kopatchinskaja. Er bleibt näher an der „Konvention“; stellt sein individuelles Spiel weniger aus. So scheint auch der Dirigent Teodor Currentzis, Liebling einer nach dem unerhört Anderen gierenden Musikgemeinde, etwas gezügelter zu Werke zu gehen. Mit weit ausholenden Spinnengliedern facht er ein kaltes Feuer an, unfehlbar in der präzisen Rhythmik, punktgenau auch in der Artikulation: Da werden keine Details verhuscht, da sind die Holzbläser des ruhevollen Andante-Beginns im zweiten Satz peinlich genau ausgehört, werden aber auch die Kanten der Kontraste blitzend gewetzt. Currentzis macht aus dem plötzlichen Einbruch der Rasanz in ein extrem langsam geformtes Tempo ein Ereignis, nutzt das Finale zu einer virtuosen Hatz. Die Wiener Musiker folgen dem drängenden Tempo, der gezähmten Dynamik mit einer kaum einmal in Frage gestellten Mühelosigkeit.

Und Baranov? Der steigt in die ersten Takte wie in einen small talk ein, um das Thema dann süß und intensiv im Ton aufzuladen. Auch im schmachtend-zarten zweiten Thema drückt er nicht auf die Bedeutungs-Tube, spielt mit großer, klarer Artikulation und leuchtenden Farben, aber nicht mit innerem Drängen oder mit magischen Momenten der Spannung und Lösung. Die herkömmlichen Floskeln der „Leidenschaft“ sind dieser Jugend fremd geworden, man bleibt perfekt und cool. Baranovs hohe Lagen sind ganz rein und süß, die Flageoletts perfekt. Die Canzonetta kennt keine Gefühlsheroik, sondern nimmt mit zart bebendem, innerlichem Ton gefangen.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. (Foto: Petra Coddington)

Beste Voraussetzungen für Tschaikowskys Vierte Sinfonie im zweiten Teil des Dortmunder Abends: Die Exposition des Materials durchleuchtet Currentzis so klar und folgerichtig wie selten jemand, den Rhythmus lässt er hartnäckig insistieren.

Das quälend Statische der thematischen Verläufe, das die gelehrte Welt früher als Ungenügen qualifiziert hat, entdeckt dieser Dirigent im Sinne des Programms Tschaikowskys als „Fatum“: Biographische Hintergründe spielen eben bei Tschaikowsky eine ganz andere Rolle als etwa bei Beethoven, Mozart oder Brahms. Currentzis hat die Erregungskurve in der Musik im Blick, aber das Fieber vernebelt weder Kontur noch Transparenz. Und der Finalsatz gerät zum verzweifelten Fest. Eine voll und ganz überzeugende Interpretation.

Seltene Schostakowitsch-Sinfonie in Essen

In Essen nehmen sich Ingo Metzmacher und die Wiener Philharmoniker Dmitri Schostakowitschs nicht eben häufig gegebene Elfte Sinfonie vor. Gespannte Ruhe. Ferne Glocken. Signale und militärisches Trommeln aus dem Hintergrund: Metzmacher und die Philharmoniker kosten den Adagio-Beginn breit, langsam und unheimlich aus. Fast eine Viertelstunde dauert es, bis das Orchester zum ersten Mal losbricht zu wuchtiger, dicht gestaffelter Attacke, zur brachialen Steigerung und zur Eruption von Blech und Becken.

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. Foto: Sven Lorenz

Solist des Tschaikowsky-Violinkonzerts in Essen war Joshua Bell. (Foto: Sven Lorenz)

Die Elfte, 1957 komponiert zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, gehalten in der Trauer-Tonart g-Moll, will an den Petersburger Blutsonntag 1905 erinnern, an dem zaristische Truppen in eine Demonstration unbewaffneter Arbeiter schossen. Aber, so Schostakowitsch später, auch an den Ungarn-Aufstand von 1956 mit seinen Ausbrüchen mörderischer Gewalt. Bei allem brachialen Einsatz des Riesen-Orchesters: das Monumentale bleibt düster, das Ende holt die leise, unheilvolle Klangfläche des Beginns zurück. Optimismus? Fehlanzeige!

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. Foto: Sven Lorenz

Ingo Metzmacher dirigiert die Wiener Philharmoniker. (Foto: Sven Lorenz)

Metzmacher meidet „russische“ Leidenschaft, besteht auf Transparenz und plastischer Staffelung der Klangmassen selbst im irrsinnigsten Fortissimo. Er hat in den Wiener Philharmonikern Partner, die in Schönheit des Klangs und geschärftem Ausdruck keinen Widerspruch sehen. Die Brutalität des fast opernhaft deutlich geschilderten Geschehens ist bei den Wienern eingekleidet in ihren sagenhaften Streicherklang, in eine ans Wunder grenzende Einheit und Freiheit der Holzbläsergruppe. Und das Blech bleibt bei seinem Höllenritt fest im Sattel. Lärm kann wundervoll sein.

Musikdenker statt Showmaster

Die Musiker von Flöte bis Fagott nehmen auch für sich ein, als sie in Tschaikowskys Violinkonzert als Partner von Joshua Bell die Farben im Orchester auffächern. Bell bietet einen leidenschaftlicheren Zugang zu der hochemotionalen Musik, setzt Pathos und Portamento ein, bindet die Ausdrucksmittel aber stets zurück an den Notentext. So hastig er manchen Lauf absolviert, so souverän modelliert er die Themen, variiert er die Intensität des Tons, gewichtet er in Akzent und Phrasierung. Bewundernswert die gedankenreich gestaltete Kadenz und das sicher ansprechende Flageolett.

Metzmacher verweigert nicht die gewaltig-dramatische Steigerung, das Losbrechen des Polonaisen-Rhythmus im Orchester, aber er opfert nichts auf dem Altar des bloßen Überwältigungs-Klangs. Metzmacher ist eben kein Showmaster, sondern ein Musikdenker – und einer, der die geistige Durchdringung mit eminenter Überzeugungskraft in Klang und Form bringen kann.

Die Wiener Philharmoniker kommen schon bald wieder, diesmal ins Konzerthaus Dortmund am Sonntag, 26. März 2017: Andris Nelsons dirigiert, auf dem Programm Ludwig van Beethovens Sechste und das Cellokonzert Antonín Dvořáks mit Tamás Varga. Tickets unter Tel.: (0231) 22 696 200, Info: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/221357/




Morgenröte der Moderne: Wiener Philharmoniker spielen Bruckners 8. in Essen

Zubin Mehta und die Wiener Philharmoniker in Essen (Foto: Sven Lorenz)

Zubin Mehta und die Wiener Philharmoniker in Essen (Foto: Sven Lorenz)

„Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammerstil die Zukunft gehört“, konstatierte Wiens Kritikerpapst Eduard Hanslick einst verdrossen über die 8. Sinfonie von Anton Bruckner. Er beklagte die vielen Wagner-Reminiszenzen des Werks, seinen scheinbar ordnungslosen Aufbau und seine „grausame Länge“ von rund 80 Minuten.

Die Zukunftsmusik hatte Hanslick indes richtig erkannt: Bruckners harmonische Abenteuer trieben die Loslösung von der Grundtonart voran, deren Absicherung Gustav Mahler und nach ihm Arnold Schönberg schließlich ganz aufgaben.

Die Zumutungen als wegweisend zu deuten und das Werk trotz sperriger Zerklüftungen zu erschließen, scheint kaum ein Orchester berufener als die Wiener Philharmoniker. Nach seinem Gastspiel im Kulturhauptstadtjahr 2010 kehrte das weltberühmte Orchester jetzt nach Essen zurück. Bruckners so häufig blockhaft gespielte Musik, deren Kraftströme zu einem enervierenden Geziehe und Geschiebe führen können, klingt unter der Leitung von Zubin Mehta überraschend natürlich und melodisch. Keine Messe wird da gefeiert, kein musikalisches Hochamt zelebriert. Unter Mehtas unaufgeregter, ja stoisch beherrschter Stabführung klingt Bruckner nicht bombastisch aufgedonnert, sondern wie ein Naturlaut.

Das Gebirge aus Klang, das uns vom ersten Takt an immer majestätischer entgegen wächst, erhält durch die Horngruppe und vier Wagner-Tuben seine charakteristisch dunkle Färbung. Bei den Wiener Philharmonikern tönen sie wie aus mystischen Abgründen herüber. Von der Milde der Todverkündigung bis zu den Triumph schmetternden Trompetenfanfaren offenbart sich eine Klangkultur, die auf der Welt ihresgleichen sucht: rund und sonor und überströmend farbenreich, auch wenn Mehta das C-Dur in den Schlusstakten fast zu sehr dröhnen lässt. Dafür entwickelt das Scherzo durch seinen stringenten Zugriff einen schlanken Swing. Der Streicherklang schwebt im Adagio scheinbar ohne metrischen Puls im Raum, samtig wie ein Hauch, zuweilen ins Morbide umschlagend. Wie hier alles unmerklich auf einen dramatischen Höhepunkt zutreibt, um endlich in tiefstem Frieden auszuklingen, gehört zu den großen Momenten dieses Abends.

Natürlich finden Wagner-Anhänger eine Fülle bekannter Wendungen und offensichtlicher Entlehnungen. Das Rauschen der Harfen über dumpfen Posaunen-Akkorden, die aufgeregten schnellen Streicher-Tremoli und vor allem die Verwendung der Wagner-Tuben künden vom Einfluss des Meisters.

Bei den Wiener Philharmonikern klingt das erwartungsgemäß luxuriös. Wundersam hingegen wirkt, dass in Mehtas Interpretation bereits der Morgen von Gustav Mahler herauf zu dämmern scheint. Das Gespür für die Brüche im Kraftvollen, für die Fragilität der Schönheit rückt Bruckner auf faszinierende Weise an die Moderne heran. Der beinahe überlaute, 20 Takte währende Schlussjubel in C-Dur, den Hanslick „unmenschlich“ nannte, gleicht an diesem Abend einem Sieg, dem keine Dauer beschieden ist. Die Sinfonie stößt an ihre Grenzen, das Riesen-Werk zeigt Risse. Nicht lange mehr wird bestehen, was Bruckners Welt im Innersten zusammenhält.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen zum Programm der Philharmonie unter http://www.philharmonie-essen.de)




Geschichten vom Herrn Kaum (2)

UNMERKLICHE BEGEBENHEIT

Kaum zu glauben – und seine Frau, Pauline Kaum-Wenig, die mit dabei war, hat’s ja auch nicht gesehen, es, wie sie nachher ihm gegenüber bekannte, überhaupt nicht bemerkt – , aber er, Johannes Kaum, Zwillingsbruder von Hieronymus Kaum, könnte unverzüglich und jederzeit beschwören, dass es genau so war.
Sieht man denn immer nur, fast immer nur, was man selber für möglich hält? –

Am 13. August, am 50. Jahrestag des Ulbrichtschen Mauerbaus, gab es im Großen Festspielhaus in Salzburg die Generalprobe der Wiener Philharmoniker zur für den folgenden Tag vorgesehenen Aufführung von Guiseppe Verdis „Requiem“. Mit dem 2. Satz, dem „Dies Irae“-Satz, stellte sich bei Herrn Kaum für einige Takte das ein, was sich bei ihm bei wirklich großer Musik – zwar leider zunehmend seltener, beglückenderweise gelegentlich jedoch noch immer – einstellt, ein seinen Rücken urplötzlich überlaufender Gänsehautschauer.

Am Ende des auch in der Generalprobe, nicht nur in Anbetracht des zahlreichen Publikums, vollständig aufgeführten Verdischen Kolossalwerkes bedankte sich der Stardirigent Riccardo Muti bei den Solisten, auch bei einigen Orchestermusikern mit Handschlag: Zuerst bei der Sopranistin, dann bei der Altistin. Auch der Tenor stand schon bereit, trat einen kleinen Schritt vor. Aber der Maestro überging ihn, würdigte ihn keines Blickes, ging ostentativ weiter zum 4. Sänger, dem Bariton, und dankte auch ihm äußerst freundlich und wiederum mit Handschlag.