Die Heilige Stadt als Ziel der Sehnsucht: Giuseppe Verdis „Jérusalem“ in Bonn

Ein "Mann der Schmerzen": Gaston (Sébastien Guèze), gedemütigt und an den Pranger gestellt. Foto: Thilo Beu

Ein „Mann der Schmerzen“: Gaston (Sébastien Guèze), gedemütigt und an den Pranger gestellt. Foto: Thilo Beu

Noch vor Beginn der Oper erscheint sie: Jerusalem, die Heilige Stadt, die Stadt des Tempels und der zwölf Tore. Das Sehnsuchtsziel von Pilgern aus Judentum, Christentum und Islam, das Ziel des Eifers und der Gier von Kreuzfahrern, die Stadt der Konflikte, aber auch des friedlichen Miteinanders von Religionen. In der Inszenierung von Giuseppe Verdis äußerst selten gespielter Oper „Jérusalem“ in Bonn steht die mittelalterliche Zeichnung der Stadt aber für mehr als einen historischen Schauplatz: Regisseur Francisco Negrin meint das himmlische Jerusalem aus dem 21. Kapitel der Johannes-Offenbarung.

Kein irdisches Ziel also, das Paco Azorin auf den Vorhang seiner Bühne abbildet. Sondern – nach christlichem Verständnis – die Erfüllung der irdischen Pilgerschaft des Menschen überhaupt. Der Ort, an dem Gott „alle Tränen abwischen“ wird, das Zentrum eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“, die Stadt, in deren ewigem Licht auch die „Völker“ einhergehen werden. Der Weg dorthin, so legt es eine auf den Vorhang projizierte Linie nahe, führt durch Vorhölle, Fegefeuer und Hölle. Limbo, Purgatorio und Inferno – da lässt der Regisseur Dantes „Divina Commedia“ grüßen, offenbar eine andere Quelle seiner Inspiration.

Negrin widersteht der Versuchung, Verdi im Sinne eines Historiendramas zu lesen; er vermeidet auch vordergründige Aktualisierung: Es gibt weder Intifada noch Syrienkrieg. Sondern im Zentrum steht der Leidensweg eines jungen Liebespaares, Gaston und Hélène, vor dem gewaltigen epischen Hintergrund des ersten Kreuzzugs (1095 bis 1099), der mit der Eroberung Jerusalems endete.

Das entspricht der Konzeption Verdis. „Jérusalem“ ist seine erste Oper für Paris, eine 1847 uraufgeführte Überarbeitung der vier Jahre zuvor an der Mailänder Scala erschienenen „I Lombardi alla prima crociata“. Verdi hat die Musik stark verändert, den vielfältigeren Möglichkeiten des Pariser Orchesters angepasst und einige Teile völlig neu komponiert. Vor allem hat er die Akzente verschoben: In den „Lombarden“ steht der kriegerische Konflikt des Kreuzzugs stärker im Vordergrund, bildet die Taufe des (muslimischen) Oronte den Knotenpunkt der Dramaturgie.

Von der Erde durch die Hölle zum Himmel: Gaston (Sébastien Guèze) und Hélène (Anna Princeva) in Verdis "Jérusalem" in Bonn. Foto: Thilo Beu

Von der Erde durch die Hölle zum Himmel: Gaston (Sébastien Guèze) und Hélène (Anna Princeva) in Verdis „Jérusalem“ in Bonn. Foto: Thilo Beu

In „Jérusalem“ konzentrieren Verdi und seine Librettisten Alphonse Royer und Gustave Vaëz das Stück auf einen Konflikt im christlichen Lager; der Kreuzzug bildet einen historisch korrekt gestalteten Rahmen. Verdis Intention zeigt sich schon in der ersten Szene, in der er das Paar mit einem intimen, sensiblen Duett und einer Preghiera der Hélène einführt. Dieses „Ave Maria“ ist theologisch präzis angelegt: Es erweitert die individuelle Bitte an Maria („trockne meine Tränen“), verknüpft das Beten um persönliches Glück mit dem allgemeinen Wohl: „Mach, dass der Hass in diesen Mauern erlischt, ebenso wie meine Furcht“.

Durch Video-Projektionen in der Bühne (Joan Rodón, Emilio Valenzuela Alcaraz), einer abweisenden, dunkelgrauen, mit unregelmäßigen Öffnungen aufgebrochenen Betonröhre, weckt Negrin den Eindruck einer irrealen Raum-Zeit-Reise. An den Gelenkstellen der Akte rasen Linien auf den Tunnelwänden auf den Zuschauer zu, entwickeln einen Sog in eine unendlich scheinende Ferne.

Der Flug durch die Sphären führt die Menschen in Verdis Oper zu den Orten ihrer Verhängnisse. Gaston, eines Mordversuchs angeklagt und verbannt, wird von den Kreuzfahrern erbarmungslos gedemütigt. Hélène fällt auf der Suche nach ihrem Geliebten dem Emir von Ramla in die Hände, dessen Frauen die schöne Fremde misshandeln. Und Roger, der seinen Nebenbuhler Gaston eines Mordes bezichtigt, zu dem er selbst angestiftet hat, verzehrt sich in Reue und asketischer Entbehrung.

Im Raum-Zeit-Tunnel zu den Stationen des Leidens: Das Bühnenbild Paco Azorins für Verdis "Jérusalem" in Bonn. Foto: Thilo Beu

Im Raum-Zeit-Tunnel zu den Stationen des Leidens: Das Bühnenbild Paco Azorins für Verdis „Jérusalem“ in Bonn. Foto: Thilo Beu

Negrin hat also eher Zustände als konkrete Orte im Sinn, in die das Schicksal – oder theologisch schärfer: die an das Böse verfallene Welt – das schuldlose junge Paar treibt. Gastons Qualen rückt er immer wieder assoziativ in die Nähe der Passion Jesu: Am Ende des ersten Akts drängt die Menge den vermeintlich Schuldigen an eine Wand, an der er mit ausgebreiteten Armen wie ein Gekreuzigter haftet.

Im dritten Akt, als der päpstliche Legat Gaston erbarmungslos demütigt, die Kreuzritter ihm die Insignien ritterlicher Ehre – Helm, Schild, Schwert – zerschlagen, steht er erhöht auf einem Podest wie auf einem Pranger: ein verachteter „Mann der Schmerzen“, eine aus dem Propheten Jesaja vertraute Beschreibung, die Händel in seinem „Messiah“ mit Bezug auf Jesus zitiert. Die Kreuzfahrer mit ihrer wilden Gier auf Hass, Blut und Tod, entfesseln vorher einen Karneval der Grausamkeit. Domenico Franchis Kostüme lassen an spätmittelalterliche Höllenszenen denken – wobei, wenn die Teufel und Dämonen zu konkret ausfallen, die Grenze zum alten Pappmaché-Theater gestreift wird.

Am Ende des Gangs von der Erde durch die Höll‘ zum Himmel wünscht sich der sterbende – vermeintliche – Brudermörder Roger, die Stadt des Herrn zu erblicken. Der Horizont öffnet sich, die Menschen schauen mit ihm ins Licht. Ein transzendierendes Bild: Liebe, Reue und Versöhnung haben sich den Weg zum leuchtenden „Jerusalem“ erkämpft.

Verharrend im Dunkel bleiben in der Lesart Negrins die Führer des Kreuzzugs, der Graf von Toulouse und der päpstliche Legat. Der Führer der mordlustigen, von christlicher Liebe und Barmherzigkeit unberührten Ritterhaufen erweist sich im dritten Akt auch als einer der verblendeten Väter Verdis. Der andere, ein „Vater im Geiste“, ist einer jener harten Priester, die bis in „Don Carlo“ und „Aida“ auftauchen; Vertreter einer herzlosen, juristisch gefassten Buchstabenreligion, die der antiklerikale Verdi so sehr hasste.

Hat der Regisseur also gezeigt, wie man Verdis „Jérusalem“ gleichnishaft und mit christlichem Subtext deuten kann, so hat Dirigent Will Humburg erschlossen, wie ernst Verdis vernachlässigte Werke zu nehmen sind. Denn die Musik dieser Oper, Verdis erster Arbeit für Paris, ist sorgfältig ausgeführt und mit Sinn für expressive instrumentale Details gestaltet. Verdi nahm die Ausdrucksmittel der grand opéra Aubers und Meyerbeers an, gab ihnen aber ein eigenes Gepräge.

Kritiken der Uraufführung sahen darin Schwächen; ihr Urteil setzte sich unglücklicherweise in der Literatur fort. So kam es erst 1995 zur österreichischen Erstaufführung von „Jérusalem“ in Wien. Und in Deutschland war die Bonner Inszenierung die erste szenische Aufführung dieser Oper in französischer Originalfassung! Andere Häuser, die sich einer „Verdi-Pflege“ rühmen, sollten besser schamvoll schweigen: Nicht einmal die Jubiläumsjahre 2001 und 2013 waren ihnen Anlass, einen Blick auf dieses Werk zu werfen.

Chor und Extrachor der Oper Bonn - hier mit Csaba Szegedi als Graf von Toulouse - sind stark gefordert und bewähren sich bravourös. Foto: Thilo Beu

Chor und Extrachor der Oper Bonn – hier mit Csaba Szegedi als Graf von Toulouse – sind stark gefordert und bewähren sich bravourös. Foto: Thilo Beu

Will Humburg, erfahrener Verdi-Dirigent, setzte die Musik in all ihrer Frische und Subtilität um, konnte sich auf ein diszipliniertes und stilistisch aufgeschlossenes Orchester verlassen. Die modernen Sax-Hörner, die Verdi für die Bühnenmusik vorgesehen hatte, waren leider gestrichen, aber das konventionelle Instrumentarium im Graben inspirierte Humburg zum Kontrast von straffen, rhythmisch geschärften Tempi und gelöster, agogisch lockerer Phrasierung. Klangschöne Soli, kompakte Tutti ohne protzige Lautstärken, ein flexibles Metrum fern jeder sich akkurat gebenden, „präzisen“ Steifheit und sorgsam gewählte Farben garantierten eine ausgereifte, spannende und durch und durch stilistisch überzeugende Interpretation.

Beflügelt und mit innerer Energie bei der Sache zeigte sich auch Chor und Extrachor des Theaters Bonn. Der krude Ton der gewalttätigen Kreuzritter, die sehnsuchtsvollen Erinnerungen des Pilgerchores, die gedämpften Klänge der Gebete fordern die Gestaltungskraft der Sängerinnen und Sänger – und der seit dieser Spielzeit amtierende Chordirektor Marco Medved hat sie auf ein Optimum gebracht.

Die Solisten demonstrieren ein weiteres Mal, wie schwer Verdi zu singen ist. Sébastien Guèze, in Bonn und Wiesbaden schon als Offenbachs „Hoffmann“ zu hören gewesen und demnächst auch am Aalto-Theater zu Gast, ist kein genuiner Verdi-Tenor. Zwar verfügt er über Leichtigkeit und Höhe, setzt seine zu weit hinten positionierte Stimme aber zu oft unter Druck, intoniert dann unsauber und hat weder Schmelz noch Passion. Immer wieder verhindert auch ein ausgeprägtes Vibrato einen ausgeglichenen, in ein schönes Legato eingebundenen Ton. Dass Guèze engagiert und musikalisch singt, bleibt außer Zweifel – aber ob Gaston die richtige Partie für ihn ist, muss nach diesem für ihn dennoch sehr erfolgreichen Premierenabend fraglich bleiben.

Auch bei Anna Princeva, seiner Partnerin als Hélène, bleiben trotz ihres glaubwürdig gestaltenden Einsatzes Zweifel: Nicht so sehr in den delikaten Piano-Schattierungen des „Ave Maria“. Auch nicht in der Attacke und in den virtuosen Verzierungen. Eher in der gezwungen wirkenden Tongebung, im scharfen Vibrato und im Mangel an schmiegsamem Legato. Der dritte im Bunde, der auf vielen Bühnen gefeierte Franz Hawlata, führt sich mit einer psychologisch zwischen unerfüllbarer Liebe, tiefer Melancholie und schneidender Rachsucht changierenden Arie ein. Aber der Klang der Stimme bleibt hohl und topfig, einfarbig und in der Höhe dünn. Auch seine grandiose Szene zu Beginn des zweiten Akts kann Hawlata noch nicht genügend mit Farbe und Flexibilität adeln. Erst im Finale läuft der Bassbariton zu großer Form auf, gestaltet einen bewegenden Abschied aus einem bis zuletzt ins Unheil verstricktem Leben.

Priit Volmers rauer Bass entspricht dem Charakterbild des hartherzigen Priesters Adhèmar de Monteil; Giorgos Kanaris gibt dem Emir von Ramla die entschiedenen, aber auch fast zärtlichen Züge eines aufgeklärten Fürsten – szenisch durch Haartracht und Kostüm unterstützt. Csaba Szegedi, eine Stütze des Ensembles der Ungarischen Staatsoper Budapest, entspricht als Graf von Toulouse am ehesten dem Ideal einer geschmeidigen Verdi-Stimme. Alles in allem eine verdienstvolle Tat des Theaters Bonn, das seine Serie entlegener Verdi-Opern in der nächsten Spielzeit mit „Attila“ in der Regie Dietrich Hilsdorfs fortzusetzen gedenkt.

Vorstellung von „Jérusalem“ am 14. und 27. Februar, 10., 18. und 26. März, 2. und 9. April. Karten: (0228) 77 80 08, www.theater-bonn.de




Szenische Ernüchterung: „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels an der Oper Bonn

Nilpferd und Nashorn: Der "Führer" (als Rustan: Endrik Wottrich) traf des "Feindes Macht" und kehrt als "Sieger" heim. Foto: Barbara Aumüller

Nilpferd und Nashorn: Der „Führer“ (als Rustan: Endrik Wottrich) traf des „Feindes Macht“ und kehrt als „Sieger“ heim. Foto: Barbara Aumüller

Wenn der Traum das Leben ist, dann ist dieses Leben ein Alptraum. Walter Braunfels hat sich, im nationalsozialistischen Deutschland aus allen Ämtern entlassen, in der inneren Emigration Franz Grillparzers Märchen „Der Traum ein Leben“ als Opernstoff gewählt und zwischen 1934 und 1937 komponiert. Die romantische Vorlage wird zu einer Parabel über Macht, Moral und Märchenwelten.

Dem jungen Rustan ist die häusliche Idylle mit ihrem Gleichmaß des Tage „schal und jämmerlich“; er fühlt sich zu Größerem berufen. Doch der Traum von großen Rettungstaten und einer verliebten Prinzessin wächst sich zum Alptraum aus: Macht und Ruhm gewinnt sich durch Lüge und Mord. Und Braunfels steigert das Unheimliche in seinem eigenen Libretto noch, indem er die Vorlage Grillparzers zuspitzt: Ist es dort die typisch romantische Polarität einer biederen Existenz mit einer mehrdimensionalen, faszinierenden wie unheimlichen zweiten Realität, dringt bei Braunfels der „Traum“ lebensgefährlich zugespitzt in die Lebenswirklichkeit ein.

Es ist sicher nicht zu weit gegriffen, die Oper auch im Licht von Braunfels‘ Lebenssituation zu lesen: Etwa wenn Rustans Diener Zanga, der sich als Verführer und Träger des Bösen entpuppt, in einem wilden Lied Sieg und Krieg verherrlicht. Aber auch, wenn Braunfels im Nachspiel die Genien räsonieren lässt: „Schatten sind des Lebens Güter … Die Gedanken nur sind wahr.“ Der Komponist hat es erfahren müssen: 1937 zog er sich mit seiner Familie nach Überlingen am Bodensee zurück, wo er bis Kriegsende „still und abseits“ überlebt hat.

Bei der Neuinszenierung an der Oper Bonn – erst die zweite nach der szenischen Erstaufführung 2001 in Regensburg – vermied Regisseur Jürgen R. Weber die triviale Lösung einer Nazi-Schmonzette. Er setzt auf Märchenhaftes, behutsam verbunden mit Ironie: „Regie – Theater – Vorfreude“ lesen wir über der Bühne noch vor den ersten Klängen aus dem Orchestergraben. Und schauen auf die gezimmerte Tragkonstruktion einer Kulisse, in der Bühnenbildner Hank Irwin Kittel ein Zeit-Tor offen gelassen hat: Ein von steinernem Barock flankierte Portal, darüber eine Uhr und schlafende allegorische Stuckfiguren. Durch diese Öffnung fährt später Rustans Bett ins Reich der Träume. Doch zunächst malt im Vorspiel die verliebte Mirza Blümchen an die Wand, ihr Vater Massud bestreicht einen Türrahmen mit grünen Linien, aus denen sich ein Häuschen formt: Bilder der familiär geordneten kleinen Welt, der unser Held so gern entfliehen würde.

Buntes Märchenland, verspielte Kostüme in "Der Traum ein Leben" von Walter Braunfels an der Oper Bonn. Foto: Barbara Aumüller

Buntes Märchenland, verspielte Kostüme in „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels an der Oper Bonn. Foto: Barbara Aumüller

So weit, so gut. Doch als sich die Bühne für den Traum öffnet, stellt sich schnell szenische Ernüchterung ein. Denn Kittel hat ein Märchenland gebastelt, das weder schrill grotesk noch wahnhaft unheimlich wirkt. Geometrische Strukturen im Hintergrund, die Kontur einer Pyramide, ein aufgerissenes Dämonenmaul, ein paar läppische Videoprojektionen (Marjana Locic) und bunt verspielte Kostüme (Kristopher Kempf) setzen auf einem Niveau an, auf dem einst provinzielle Bühnen ihr weihnachtliches Hänsel-und-Gretel-Pflichtstück abzuliefern pflegten. So bewegt sich auch der Chor, hübsch auf Stichwort, ohne szenisch-psychologische Stringenz.

Wenn dann die Prinzessin Gülnare umspielt von weißen Luftballons einschwebt, der König würdevoll umherstolziert, die Familie des stummen Verbrechenszeugen Kaleb wie Orientalen aus einer miesen „Pilger von Mekka“-Inszenierung umhertrippeln, hat sich Weber endgültig davon verabschiedet, mehr als ein vordergründiges Geschichtchen erzählen zu wollen. Auch die Drei-Wort-Kommentare, die als wohl ironisierender running gag weiter aufs Bühnenportal geworfen werden, retten nichts mehr.

Rosa Herzchen zum Finale: Endrik Wottrich (Rustan) und Manuela Uhl (Mirza). Foto: Barbara Aumüller

Rosa Herzchen zum Finale: Endrik Wottrich (Rustan) und Manuela Uhl (Mirza). Foto: Barbara Aumüller

Wer bei einem solch komplexen Gefüge keine andere Bedeutungsebene als die des simplen Erzählstrangs einzuziehen weiß, verfehlt, was er vielleicht erreichen wollte: Eine Geschichte verstehbar zu machen, die sich in ihrer Hintergründigkeit nicht ohne weiteres erschließt.

Das Nachspiel rückt das Geschehen dann ins Peinliche: Mirza und Rustan haben sich endlich gefunden, weil der Junge in seinem Schrecktraum kapiert hat, dass er brav zu Hause sein Glück findet: Beide malen ein rosa Herzchen an die Wand. Eine Moral, die weder im Sinne Grillparzers noch in der Intention Braunfels‘ liegt. Aber vielleicht darf man ja auch hinter dieser sinnigen Bühnenaktion „Ironie“ vermuten?

Die knapp drei langen Stunden wären noch quälend langsamer vergangen, wenn nicht Will Humburg und das Bonner Beethoven Orchester als engagierte Sachwalter für die Musik aufgetreten wären. Das ist nicht einfach, denn Braunfels verweigert sich fast durchweg dem Kantablen und auch der orchestralen Opulenz. Er setzt zwar leitmotivähnliche Elemente ein, hebt sie aber nicht im Wagnerschen Sinn als prägnante Erinnerungen heraus.

Der über weite Strecken rezitativische Stil, die rhetorische Unmittelbarkeit und eine subtil ausgeformte, nicht selten spröde Klanglichkeit machen es dem Dirigenten und den Musikern nicht leicht, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zumal sich Humburg zurückhält, wo es darum ginge, Akzente zu schärfen oder dramatisch motivierte Klangmomente herauszustellen.

Kindermärchen-Orient: Graham Clark (Kaleb) und Johannes Mertes (Karkhan). Foto: Barbara Aumüller

Kindermärchen-Orient: Graham Clark (Kaleb) und Johannes Mertes (Karkhan). Foto: Barbara Aumüller

Im Ensemble der Sänger hinterlässt Manuela Uhl den besten Eindruck: Die Sängerin, die sich auf die schwierigen Partien in den Opern der Vor- und Zwischenkriegszeit versteht, macht aus dem verträumten Mädchen Mirza und der selbstbewusst agierenden Prinzessin Gülnare durch ihre gewandte Darstellung glaubhafte Figuren, bleibt ihnen auch stimmlich mit einem schlank-brillanten Ton nichts schuldig.

Von Endrik Wottrich als Rustan ist solches leider nicht zu sagen: Mit der rezitativischen Deklamation hat der Tenor keine Probleme, aber die Höhe im Freiheits-Jubel des ersten Aufzugs bleibt stumpf und gaumig. Wottrich legt die Rolle eher im Sinne eines virilen Tatmenschen an; der Aspekt des Träumers erschöpft sich in konventioneller Wahnsinns-Gestik. Rolf Broman ist als Massud/König wenig gefordert; auch Graham Clark, einst in Bayreuth und auf allen großen Bühnen als Charaktertenor gefeiert, bringt als stummer Kaleb nur ein paar Töne ein – dafür aber eine auratische Bühnenpräsenz.

Mit deutlichem Registerbruch bewirbt Anjara I. Bartz als zombiehaftes Altes Weib ihren „schaumigen Saft“, mit dem Rustan den greisen König von Samarkand ums Leben bringen wird. Mark Morouse bringt einen kernigen Bariton ein. An dieser Rolle zeigt sich exemplarisch die kraftlose Ambivalenz der Regie Webers: Morouses Zanga ist frei von den Klischees des Dämonischen. Doch wer er denn dann sei, wird in der Anlage der Rolle nicht klar, die sich eher an drolligen Dienerfiguren als an den zwielichtigen Geschöpfen unheimlicher Zwischenwelten orientiert.

So bleibt als Resümee: Das Theater Bonn hat sich unter seinem neuen Intendanten Bernhard Helmich trotz gekürzter Zuschüsse und einer niederschmetternden kulturpolitischen Situation in der Stadt nicht nur mit dieser mutigen Produktion (der mit Massenets „Thais“ am 18. Mai die nächste Rarität folgt) vorteilhaft positioniert. Mit einer profilierteren Regie wäre dem Experiment sicherlich mehr Erfolg beschieden gewesen.