Komik zwischen Heulen und Zähneklappern – Frank-Patrick Steckels großartige Inszenierung von „Warten auf Godot“

Von Bernd Berke

Bochum. Auf der schmutzigbraunen Halde stehen die zwei berühmtesten Landstreicher der Theatergeschichte. Der eine nestelt an seinem Schuh, er stöhnt und ächzt dabei. Der andere pult geistesabwesend in seiner Nase. Es könnte immer so bleiben. Denn Wladimir und Estragon haben nichts zu tun, nur dies eine: „Warten auf Godot“.

Der Kerl, von dem in Samuel Becketts Stück die Rede 1st, kommt bekanntlich nie. Doch die Theaterzuschauer tun es seit Jahrzehnten den beiden Hauptgestalten gleich. Sie warten immer wieder mit. Vielleicht entschlüsselt sich ja doch eines Tages auf irgend einer Bühne dieser Welt, wer dieser „Godot“ ist?

Diese Hoffnung kann man fahren lassen. Becketts längst sprichwörtlich gewordener Klassiker stellt unablässig Paradoxe auf, revidiert sich ständig selbst, spiegelt sich immer wieder seitenverkehrt. Eindeutigkeit ist hier nicht zu haben. Eher schon unauflösliche Widersprüche, an denen man sich ewig abarbeiten könnte. Ähnliche Denk-Treibsätze gibt es in manchen fernöstlichen Weisheitslehren.

Wenn Hausherr Frank-Patrick Steckel das Stück nun in Bochum auf die Bühne bringt, weiß er natürlich, welch‘ unübertreffliches Material für Schauspieler er da handhabt. Auch der kürzlich verstorbene Heinz Rühmann hat mit diesem Text einen seiner allerbesten Auftritte gehabt.

Inmitten des Elends steckt bei Beckett das Clowneske. Man könnte es vorschnell verschenken und eine Inszenierung aufs rein Komödiantische gründen. Nicht so bei Steckel. Der sucht, wie von ihm nicht anders zu erwarten, die ernste Auseinandersetzung – und kommt schließlich doch bei komischen Momenten an.

Zirkusnummer mit Herr und Knecht

Auch die Herr-und-Knecht-Zirkusnummer mit Pozzo (Wolf Redl) und Lucky (Michael Weber) wirkt zunächst mal todtraurig, ehe sie dann doch grausame Heiterkeit freisetzt. Das Lachhafte wird aber eben nicht schon an der Oberfläche gesucht und gefunden, sondern erst im Bodensatz der Verzweiflung, unter Heulen und Zähneklappern. Das ist diesem Stück angemessen.

Stecke! hat gewissermaßen einige Dehnungsfugen eingebaut, auf daß wir am eigenen Leibe das Warten erfahren. Einmal heißt es im Text: „Laß uns ein wenig schweigen.“ Und dann tun sie es, viele Minuten lang. Ein andermal essen Wladimir (Oliver Nägele) und Estragon (Armin Rohde) ausgiebig ihre absurden gelben Rüben, ohne daß sonst etwas geschieht. Nur allerbeste Schauspieler können solche Szenen in spannender Schwebe halten. Hier geschieht das kleine Wunder.

Inszenierung und Darstellung ergreifen den Text nicht kurzum, sondern umkreisen ihn, pendeln um seinen vielfältigen (Un-)Sinn herum. So erreichen sie weit mehr, als wenn sie schnurgerade den Worten nachliefen.

Körperspiel bis in die Haarspitzen

Bewundernswert auch die Körperbeherrschung der Schauspieler, sie reicht sozusagen bis in die Haarspitzen. Wie etwa „Lucky“ sich durch sein geknechtetes Dasein zittert, wie er als Gedanken-Maschine seine abstrusen Theoriefetzen herausschleudert – das ist kein bloßes Kabinettstück, sondern zuinnerst erfaßt und durchlitten. Wenn Lucky die im Kontext dieses Stückes so sinnlosen Lebens-Tröstungen wie etwa Sport (zumal Tennis) aufzählt, dann ist unsere Fitneß-Gesellschaft ins Mark getroffen.

Die sinnfälligen Kostüme i müssen erwähnt werden, dazu das ebenso aussagekräftige wie spieldienliche Bühnenbild (beides: Susanne Raschig) und jene minimalistische Musik (Carlos Farinas), welche die Szenen kaum merklich einfärbt. Gemeinsam ist allen Be- standteilen: Nichts drängt sich auf; alles existiert einfach, als könne es gar nicht anders sein.

Machtvoller und verdienter Premierenbeifall für Darsteller und Regie. Der „Godot“ ist Steckels größte Tat seit Jahren.

Weitere Aufführungen: 19. und 27. Okt, 5. und 6. Nov. (0234/3333-142).




Beschwerlicher Aufstieg im Gebirge der Sprache – Wolf Redl inszeniert Ernst Barlachs Drama „Der Tote Tag“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. „Ich war geringer als ein Gott – und als der Gott vor dem Weibe stand – da war meine Menschlichkeit schuld, daß sie des Gottes wurde.“ – Das ist keine Sprache, die zur Theaterwirksamkeit drängt. Der gewundene Satz ist nicht untypisch für Ernst Barlachs Stück „Der Tote Tag“.

Bochums Theater riskiert eine Aufführung des Sprachgebirges, die erste an einer größeren Bühne seit vielen Jahren. Vielleicht sind solche Wagnisse ja dem Reiz vergleichbar, einen selten bezwungenen Achttausender zu besteigen. Doch die Luft da oben ist dünn.

Das Figureninventar wurzeit in Mythen und vorzeitlichen Archetypen: Mutter und Sohn; Vater als blinder „Seher“, Alb (Verkörperung der Alpträume), Pferd, Gnom („,Steißbart“), Hausgeist mit Wischer-Füßen („Besenbein“). Kern-Geschichte: Die erdhafte Mutter hält den Sohn im finsteren Haus zurück; der Vater – ferne Licht- und Göttergestalt – schickt ein Roß, mit dem der Sohn in die helle Freiheit des Geistes reiten soll, doch die Mutter ersticht das Tier und setzt es dem Sohn als Braten vor. Bevor der nun anbrechende „tote Tag“ zum endlosen Schuld-Martyrium wird, gesteht die Mutter die Tat und erdolcht sich. Der Sohn folgt ihr nach.

Barlach entwarf die Urform des Stücks, als er um das Sorgerecht für einen unehelichen Sohn stritt. Schicht um Schicht hat er über dem Vorgang eine Privat-Mythologie angehäuft; mit Anleihen aus Antike, nordischem Mythos, wohl auch aus christlicher Religion – und doch ganz „eigen“. Naiv-gottsucherische „Kinderfragen“ wechseln mit philosophischen wie sprachlichen Kraftakten. Passagenweise hat das düstere Macht, doch dann wieder schleppt es sich dahin, wirkt verquast und verzwirbelt.

Schattengestalten führen Gespenster-Gespräche

Schwer lastende, riesige Balken durchstreben die Bochumer Kammerspiel-Bühne, Dunkel und Dämmer umhüllen die Figuren, nur eine Tür führt ins Freie. Es ist wie im Innern der Erde oder wie in Platos Höhlengleichnis: Als sähen die Menschen nur die Schatten der Dinge, als seien sie selber Schattengestalten, die Genspenster-Gespräche führen.

Regisseur und Bühnenbildner Wolf Redl hat, sich offenbar an Barlachs Lithographien zu dem Stück orientierend, die Szene karg gelassen; von Akt zu Akt verschieben sich Balken und Treppen, verzieht sich die Perspektive – ein ins Irreale weisender Raum, passend für ein Denk- und Kopfdrama wie dieses. Redl läßt karg, tastend und behutsam, dabei wunderbar detailsicher und formbewußt in der Personenführung spielen. Dem Text werden keine Deutungen aufgepfropft, vor allem keine Verweise auf inzestuös-sexuelle Nebenbedeutungen.

Dennoch wird das Stück dem Theater nicht triumphal zurückgewonnen, man arbeitet sich an ihm ab. Von diesem Text können sich die Schauspieler nicht „tragen“ lassen, sie müssen gleichsam gegen ihn anspielen. Sie tun es mit allem Bemühen, suchen auch – mit wechselndem Erfolg – den Text zu gliedern, ihn überhaupt sprechfähig zu machen.

Hildegard Kuhlenberg (Mutter) verleiht ihrer Figur überdies eine interessante Brüchigkeit, sie verkörpert keine reine Furie oder Megäre, sondern spielt menschliche Not und Angst vor Einsamkeit immer mit. Ivo Dolder (Sohn), ansonsten passabel, neigt gelegentlich zum Nuscheln. Großartig Oliver Nägele (Alb), der auch mit dem Text am besten zurechtkommt.

Beflissener Beifall, in den sich zur Premiere weder Buhs noch Bravos mengten.




„Romeo und Julia“: Die Liebe zwischen Schlafwandlern – Wolf Redls Inszenierung zum Saisonstart in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ein gigantisches Viereck lastet schwer über der Szene. Es ist dunkelrostrot besprenkelt. Längst eingetrocknetes Blut? Zeichenspur einer Gewalt, die sich seit altersher eingerichtet und unüberwindbar verewigt hat? Dann wäre die Tragödie von „Romeo und Julia“ nur eine unter vielen und man müßte nicht gar so viel Aufhebens darum machen. In diese Richtung scheint denn auch Wolf Redls vierstündige Bochumer Inszenierung des Shakespeare-Klassikers zu zielen.

An „Romeo und Julia“ haben sich in den letzten Jahren kaum noch große Bühnen gewagt. Das wird wohl seine guten Gründe haben. Tatsächlich gibt es hier ja zahlreiche Klischee-Klippen. Über die Abfolge von Selbstmordmonologen und -vollzügen muß man sich erst einmal mit Anstand hinwegretten.

Für Bochumer Verhältnisse und Erwartungshaltungen ist es eine sehr konventionelle Inszenierung geworden, die sich eher in Zurücknahme und Reduktion gefällt als darin, Überraschendes aus dem Stoff hervorzutreiben. Selbst die zahlreichen Degenfecht-Szenen werden in keiner Weise stilisiert, sondern nach „alter Schule“ vorgeführt.

Schon die Musikbegleitung deutet auf „Sparflamme“ hin: eine Art Minimal-Musik vom orgelstimmigen Sythesizer, ein stetes An- und Abschwellen, hier und da mit Geräuschen elektronischer Apokalypse angereichert. Sanfte Bedrohung und ein Hauch von schlechter Ewigkeit.

Auch die Gefühlslage ist kaum einmal leidenschaftlich oder gar hitzig. Es scheint, als sei man unschlüssig, ob man (noch oder wieder) die „ganz großen“ Emotionen riskieren soll und darf. Romeo (Thomas Wittmann) ist kein glühender Liebhaber, sondern ein schlafwandlerischer Jüngling, der gleich in seiner ersten Szene wie zwischen Watte gepackt und wie auf einer Wolke „hereinschwebt“. Ein somnambuler Märtyrer, der nichts bewirken wird. Wenn er plötzlich mit zwei Degen auf Tybalt losstürmt, wirkt dieser Furor wenig glaubhaft. Ähnliches gilt für Capulets unvermittelten Wutausbruch gegen seine Tochter Julia. Auch diese Julia (Micheline Herzog) ist eher ein seelisches Leichtgewicht; sie wird eben erst 14 Jahre alt. Mitleidig und nachsichtig, nicht aufgewühlt sieht man Ihrer Tragödie zu.

Schlüsselfigur dieser Inszenierung ist der Fürst Escalus (hier von einer Frau, Hildegard Kuhlenberg, gespielt). Kein machtvoller Souverän, der die verfeindeten Familien Montague und Capulet zur Versöhnung drängen könnte. Eher schon eine schwarze Klagegestalt, die die offenbar immer schon unvermeidlichen, furchtbaren Ereignisse lediglich schaudernd konstatiert und Strafen nur noch der „Ordnung“ halber zumißt.

Die Versöhnung der Grafen Montague und Capulet angesichts der Selbstmorde Romeos und JUlias wirkt denn auch eher wie eine Pflichtübung. Kurz, beinahe achselzuckend wird der Tod der jungen Liebenden bedauert. Dann gehen die beiden Grafen ab, als wollten sie nunmehr ihre Untaten gemeinsam ins Werk setzen.

Dankbare Nebenrollen: Stefan Hunstein (Mercutio) und Hedi Kriegeskotte (Julias Amme) bekamen den meisten Premierenbeifall. In der Tat schienen die Nebenrollen schlüssiger besetzt als die tragenden Parts.

Fazit: Halbwegs gutes Stadttheater (ohne Herablassung gesagt), aber gewiß keine Aufführung, die den – doch wohl noch vorhandenen? – Bochumer Anspruch einlöst, zu den „ersten“ Häusern der Republik zu gehören.