Spinnenwelt, Kunstbetrieb, Getuschel – Buchtipps vor dem Fest

Es ist mal wieder an der Zeit, in vorweihnachtlichen Tagen ein paar gesammelte Hinweise auf neue Bücher zu geben.

Das große Krabbeln

Zunächst ein Sachbuch-Thema, das viele Leute weniger erquicklich finden dürften. Jan Mohnhaupt, übrigens gebürtiger „Ruhri“ vom Jahrgang 1983, legt sein Buch „Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung“ (Hanser, 255 Seiten, 24 Euro) vor. Schon beim bloßen Titel könnte manche(n) das Gruseln anfassen. Doch nach der Lektüre mögen sich vielleicht etliche Arachnophobiker ein wenig kuriert fühlen. Mohnhaupt hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Spinnenwesen verfasst, wie sie sich auf vielfältige Weise in die Geschichte der Menschheit einbeschrieben hat, so u. a. auch ins Christentum und in verschiedene Epochen, beispielsweise die napoleonische Zeit. Unsere Spezies hatte und hat demnach – auch im positiven Sinne – viel mehr mit den Spinnen zu tun, als wir es uns haben träumen lassen. Der Autor, der zuvor u. a. mit „Tiere im Nationalsozialismus“ aufhorchen ließ, leuchtet so ziemlich alle Aspekte seines Themas gründlich aus – oder soll man sachgerecht und wohlmeinend sagen: er spinnt sie weiter und weiter fort? Schon die reichhaltigen Anmerkungen lassen ahnen, wie intensiv Mohnhaupt recherchiert hat.

Künstler unter Einfluss

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein zeitgenössischer Roman von einigem Kaliber. Als die Handlung einsetzt, ist es November im Jahr 2022. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bestimmt fast alle Debatten. Christoph Peters bricht in seinem Buch „Innerstädtischer Tod“ (Luchterhand, 302 Seiten, 24 Euro) diese weltpolitische Lage höchst plausibel auf die Befindlichkeiten seiner Figuren herunter, besonders auf den Künstler Fabian Kalb, der just seine erste Einzelausstellung in Berlin bekommt und dessen Verwandtschaft dazu aus Krefeld anreist. Kurz vor der Vernissage wird der Onkel des Künstlers, ein Protagonist der „Neuen Rechten“, unangenehm aktiv. Der Vater sucht unterdessen nach Winkelzügen, um weiterhin seine Krawatten nach Russland exportieren zu können. Und der Galerist? Hat offenbar Frauen belästigt. All das überschattet die Karriere-Hoffnungen Fabian Kalbs. Alsbald geht es längst nicht mehr nur um die hehre Kunst, sondern um Untiefen (nicht nur) des Kunstbetriebs. Ein dicht und spannend, dringlich und durchdringend erzählter Roman. Übrigens: Christoph Peters bewegt sich ein- und ausdrücklich auf den literarischen Spuren von Wolfgang Koeppen (siehe weiter unten).

Bauen für die Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

Für Architektur sollten wir uns mehr interessieren, um laufende Planungen kritisch bewerten zu können – erst recht im regionalen und lokalen Umfeld. Dabei könnte jetzt ein neuer Band aus dem Dortmunder Kettler Verlag helfen: Der Titel „Atlas Ruhrgebiet“ (Kettler Verlag, 264 Seiten, Katalogformat, 48 Euro) führt womöglich etwas in die Irre, handelt der Band doch nicht so sehr von der allgemeinen städtischen Topographie, sondern eben von beispielhaften Bauten. Der Untertitel klärt bereits ein wenig den Ansatz: „Von der Arbeitersiedlung bis zum experimentellen Wohnungsbau“. Es geht nicht um anheimelnde Nostalgie, sondern vorwiegend um (einstmals) zukunftsweisende Bauformen. Verantwortlich zeichnen Moritz Henk, Anna Jessen und Ingmar Vollenweider vom Lehrstuhl Städtebau an der TU Dortmund. Tatsächlich ist dies ein fachwissenschaftlich ausgearbeiteter Band, der sehr ins Detail geht – auch mit exakten Planzeichnungen, Grundrissen und Schnitten. Einige Projekte würde man spontan dem Beton-„Brutalismus“ zuordnen wollen, doch wird hier wohl eine Ehrenrettung oder zumindest sachlich-nüchterne Beurteilung solchen Bauens angestrebt, übrigens auch mit Beispielen aus kleineren Revierstädten wie Dorsten und Marl.

Den „anderen“ Koeppen entdecken


Legendär sind die Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996 – „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“, „Der Tod in Rom“) und dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Immer und immer wieder musste Koeppen den Verleger vertrösten und in andauernder Schreibkrise um Vorschüsse bitten. Doch den großen Roman, den sich die literarische Republik gerade von ihm erwartete, hat er nach den drei oben erwähnten Titeln gleichwohl nicht mehr hervorgebracht. Das heißt aber keineswegs, dass er gar nichts mehr geschrieben hätte.

Zwei weitere Bände der sehr verdienstvollen (von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen) 16bändigen Koeppen-Ausgabe bei Suhrkamp versammeln nun Romanfragmente und Feuilletons. Der Feuilleton-Band enthält Arbeiten von 1923 bis 1948, also nicht die späteren Zeitungsbeiträge, die Koeppen als bereits arrivierter Schriftsteller verfasst hat. Diese finden sich in anderen Bänden der Werkausgabe. Wie sich Koeppen zumal die 30er Jahre erschrieben hat, ist allerdings aufregend genug.

Bei den Romanfragmenten aus einer Zeitspanne von rund 60 Jahren (u. a. „Die Jawang-Gesellschaft“, „Ein Maskenball“, „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs“) handelt es sich um Projekte, die eine beabsichtigte Vollendung zumindest erahnen lassen, aber bislang weitgehend ungedruckt geblieben sind. Auch zahlreiche Notizen und Vorüberlegungen gehören hinzu. Mithin haben wir hier auch sorgsam rekonstruierte Werkstatt-Einblicke, wie es sich bei einem Autor von Koeppens Format gehört.

Die Texte beider Bände werden durch umfangreiche Anmerkungs-Apparate erschlossen. Es sind editorische Glücksfälle für eine fortgeschrittene Leserschaft.
Wolfgang Koeppen: Romanfragmente (Werke, Band 11, 695 Seiten, 58 Euro)
Wolfgang Koeppen: Feuilletons (Werke, Band 13, 721 Seiten, 58 Euro), beide im Suhrkamp Verlag.

Botho Strauß, Tag für Tag

 

 

 

 

 

 

 

„Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.“ Das ebenso hermetisch wie kostbar anmutende Zitat, eines unter vielen von ähnlicher Art, stammt von Botho Strauß, der vor wenigen Tagen (2. Dezember) 80 Jahre alt geworden ist. Im Vorfeld dieses Datums ist sein neues Buch „Das Schattengetuschel“ (Hanser, 230 Seiten, 26 Euro) erschienen. Die Texte des Bandes mäandern durch vielerlei Vorfälle und Zustände, Strauß beginnt mit einer Episode aus dem Leben August Strindbergs (Vater wartet schmerzlich vergebens auf seinen Sohn), blickt zurück aufs alte West-Berlin der 70er Jahre, kündet von Altern, Vergeblichkeit, Entkräftung.

Diese hochreflektierte, zuallermeist ungemein präzise Prosa, durchwirkt mit Partikeln des Theaters und der Mythologie, wird man vielleicht gar nicht in einem Zug durchlesen wollen, obwohl sie einen nicht so leicht loslässt. Denkbar wäre es, dass man das Buch nutzt wie ein Brevier, welches man regelmäßig Tag für Tag aufschlägt und in dosierter Form zu sich nimmt, um etwa die eine oder andere Losung (nicht: Lösung) zu finden. Es sind überwiegend kurze Passagen, ja Miniaturen, die sich zum Schluss aphoristisch verdichten, bis zur Grenze des Verstummens. In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat, das offenbar auf ungeahnte „Erleuchtung“ aus ist: „Es muß etwas geben jenseits von Irrationalismus und Intelligenz – ein drittes Geschlcht des Geistes, die Luziden. Aufklärung brachte nicht genug Licht“. Derlei Sätze werden wahrscheinlich wieder Ärger mit „woken“ Zeitgenossen hervorrufen; wenn die den konservativ gebliebenen, freilich hie und da geläutert erscheinenden Botho Strauß überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wollen.

 

 




Der Mann, der keinen Roman mehr schrieb – Gespräche und Interviews mit Wolfgang Koeppen als Band 16 der Werkausgabe

In der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur dürfte das Phänomen einzigartig sein. Da gab es einen recht prominenten Schriftsteller, der von 1954 bis zu seinem Tod 1996 partout nicht mehr jenen Roman vollendete, den so viele anspruchsvolle Leser dringlichst von ihm erwarteten.

Dennoch fand dieser Autor in Siegfried Unseld (Suhrkamp) einen Verleger, der ihn durch die Jahrzehnte währende Schreibkrise allzeit (auch und gerade finanziell) generös fördernd und mit wahrhaftiger Engelsgeduld begleitete.

Bei all dem weckte der Schriftsteller, gleichsam als lebende Legende, reges publizistisches Interesse. Immer und immer wieder wollten andere Autoren, Kritiker oder anderweitig kultursinnige Journalisten Gespräche mit ihm führen. Wer mit Wolfgang Koeppen gesprochen hatte, sah sich gleichsam in der Zunft geadelt.

Die Liste der illustren Interviewer(innen)-Namen ist lang, es stehen darauf u. a. – hier in alphabetischer Folge: Heinz Ludwig Arnold, Horst Bienek, Volker Hage, Günter Kunert, Angelika Mechtel, André Müller, Karl Prümm, Marcel Reich-Ranicki und Asta Scheib; um nur einige zu nennen.

Wolfgang Koeppen (1906-1996) hatte (nach vergleichsweise eher unscheinbaren Anfängen in den 1930er Jahren) mit „Tauben im Gras“ (1951) und „Das Treibhaus“ (1953) in der noch jungen Bonner Republik zwei höchst bemerkenswerte Romane vorgelegt, die nicht nur zu großen Hoffnungen berechtigten, sondern diese zum gewissen Teil bereits einlösten. Und ein solcher Mann verstummte dann unversehens für alle übrige Zeit – zumindest als Romancier!

Reich-Ranicki wollte endlich mehr Privates erfahren

Eben dieser Umstand hat zahlreiche Gesprächspartner Koeppens wohl besonders gereizt. Sie haben versucht, seinem „Geheimnis“ auf die Spur zu kommen; sie wollten ergründen, warum ein weiterer großer Roman noch und noch auf sich warten ließ und wie das Nicht-Erscheinen allmählich zum anwachsenden Mythos werden konnte.

Geradezu angriffslustig hat vor allem Marcel Reich-Ranicki ihn bedrängt, endlich einmal mehr Privates von sich zu geben. Koeppen wusste sich dem Ansinnen weitgehend und recht elegant zu entziehen. Er blieb dabei ausnehmend freundlich, schließlich war gerade Reich-Ranicki ein entschiedener Befürworter seiner Schreibkunst. Mit einem derart einflussreichen Fürsprech verdarb man es sich tunlichst nicht.

Es ziehen sich also durch Band 16 der von Hans-Ulrich Treichel herausgegebenen Koeppen-Werkausgabe, welcher just Gespräche und Interviews versammelt, bestimmte Themen mit großer Regelmäßigkeit: allen voran eben die fortwährende Schreibkrise und die daraus resultierenden finanziellen Sorgen. Letztere, so Koeppen, hätten sich von selbst erledigt, wäre er ein Erbe gewesen wie etwa Flaubert oder Proust. Angesichts solcher Namen ahnt man: Koeppen hätte eigentlich zu den allerhöchsten Gipfeln streben wollen… Damit es kein Vertun gibt: Wolfgang Koeppen hat nie öffentlich über seine missliche pekuniäre Situation „gejammert“. In früheren Zeiten hätte die Formulierung gelautet: Er hat es mannhaft getragen.

Der Unterschied zwischen Arbeitslager und Arbeitsdienst

Auf Länge gesehen, ergeben sich im Interview-Band durch die Konzentration auf bestimmte Themen einige Redundanzen, freilich nicht nur als bloße Wiederholungen, sondern auch in Form von Widersprüchen. Wolfgang Koeppen, der mit der Zeit seine speziellen Strategien entwickelt hatte, um nicht mehr Wahrheit(en) als nötig preiszugeben, sagt gleichwohl nicht immer dasselbe. Nuancen oder gar diametral entgegengesetzte Angaben lassen Raum für Deutungen und Spekulationen. Ein unerschöpfliches Spielfeld der Literaturwissenschaft.

Immer wieder andere, teils paradoxe Interview-Einlassungen Koeppens haben für Verwirrung gesorgt – beispielsweise darüber, ob, wann, wo und unter welchen Umständen ein früher Roman verschollen sei. Er hat gesprächsweise mal diese, mal jene Variante bevorzugt. Gravierender noch: Stirnrunzeln und Rätselraten rief seine (wider besseres Wissen?) immerzu wiederholte Behauptung hervor, in einer üblen Rezension des Jahres 1934 sei ihm „Arbeitslager“ an den Hals gewünscht worden. Tatsächlich gab es da eine ruchlose Kritik, in der es zum Roman „Eine unglückliche Liebe“ hieß, Koeppen gehöre in den „Arbeitsdienst“, was freilich – speziell für sprach- und geschichtsbewusste Menschen – denn doch einen deutlichen Unterschied zum „Arbeitslager“ ausmacht.

Ein fataler Setzfehler und seine Folgen

Wollte Koeppen sich mit seiner Übertreibung etwa so darstellen, als habe er dem Widerstand gegen die NS-Diktatur angehört? Hat er deswegen so getan, als sei er in eine Traditionslinie mit Thomas Mann gestellt worden, obwohl dessen Name in jener schmählichen Kritik überhaupt nicht genannt wurde? Andere Aussagen sprechen wiederum gegen eine solche Absicht. Da hat Koeppen nicht viel Wesens um seine gar nicht recht einzuordnende Haltung und sein (freiwilliges) holländisches Exil gemacht, das ihm auch finanziell etwas Luft verschaffte. Er war wohl weder im Widerstand, noch war er Kollaborateur.

Weit über Wortklauberei hinaus ging auch die Auseinandersetzung über einen Artikel von Karl Prümm, der 1983 in der (verdienstvollen) Essener Literaturzeitschrift „schreibheft“ erschien. Darin stand gedruckt, Koeppen habe in der NS-Zeit „nationalsozialistische“ Neigungen gehabt. Der ungeheure Vorwurf, der im Gefolge auch den „Großkritiker“ Fritz J. Raddatz zu einer wüsten Attacke auf Koeppen in der „Zeit“ anstachelte, erwies sich als schlimmer Setzfehler, tatsächlich hatte es „nationalistisch“ heißen sollen. Auch nicht eben fein, aber auf der Schändlichkeits-Skala schon ungleich harmloser. „schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr leistete tätige Abbitte, indem er in einer der nächsten Ausgaben Platz für ein begütigendes Interview mit Wolfgang Koeppen freiräumte. Hier war von derlei harschen Vorwürfen gar nicht mehr die Rede, obwohl (oder weil) einer der Interviewer Karl Prümm selbst war.

„Der Schriftsteller (…) ist kein Gewerbetreibender“

Wenn Koeppen ansonsten mit einem Gespräch im Nachhinein, aber vor Drucklegung unzufrieden war, hat er gelegentlich rigide gekürzt, redigiert und streckenweise umgeschrieben, so dass man sich bei Lektüre vereinzelt kaum noch in den Gefilden halbwegs spontaner Äußerungen, sondern doch wieder auf literarischem Gebiet befindet; nicht nur thematisch, sondern auch, was ausgearbeitete Formulierungen anbelangt. Da finden sich hellsichtige, manchmal geradezu visionäre Passagen, in denen Koeppen nicht nur Verhältnisse seiner Zeit auf den Begriff bringt, sondern auch weit ins Kommende zu schauen scheint. Über die stets gefährdete Außenseiter-Rolle des Schriftstellers an und für sich haben wohl nur ganz wenige so nachgedacht wie dieser Mann in seiner permanent durchlittenen Schreibkrise.

In diesem Sinne noch ein bezeichnendes Zitat aus dem Gespräch mit Angelika Mechtel, die ihn – nicht allzu einfühlsam – gefragt hat, ob er sich vorstellen könne, z. B. auf Sachbücher „umzuschulen“, um seine finanzielle Misere zu lindern. Darauf Koeppen, spürbar aufgebracht:

„Umschulung? Welch scheußliches Wort! Es trifft nicht zu. Der Schriftsteller, den ich meine (…), ist kein Gewerbetreibender, auch wenn das Finanzamt ihn so mißversteht. Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“

Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16 (Hrsg. Hans-Ulrich Treichel). Suhrkamp Verlag, 770 Seiten, 48 Euro.

 




Wie die USA vor 50 Jahren waren – Jetzt in der Werkausgabe: „Amerikafahrt“ des Schriftstellers Wolfgang Koeppen

Da ist einer soeben in New York angekommen und schreibt: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, den Broadway lohen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.”

Wann ist das gewesen? Kurz vor oder nach dem 11. September 2001? Weit gefehlt. Es war im Frühjahr 1958. Da hat jemand latente Gefahren gewittert, die in jener Mega-Stadt vielleicht von jeher in der Luft gelegen haben. Der Mann hieß Wolfgang Koeppen und zählte zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach dem Krieg.

Es ist ungemein spannend, jetzt – im Rahmen der höchst verdienstvollen Werkausgabe – wieder zu lesen, was Koeppen damals auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten bewegt hat.

Koeppen lässt eindeutige Vorlieben erkennen: San Francisco und Boston erscheinen ihm wie nahezu himmlische Orte, Salt Lake City und New Orleans hingegen als öde, überhitzte Höllenbezirke auf Erden. Die Fegefeuer der aus Faszination und Furcht gemischten Gefühle brennen in Washington, Texas und Los Angeles. Doch New York ist in jeder Hinsicht ein herausragender Sonderfall.

Mit dem soliden Halbwissen darüber, was mittlerweile aus den USA geworden ist, staunt man als Leser, wie Koeppen offenkundig schon manche Essenzen des Kommenden herausgefiltert hat – schlichtweg durch geduldig teilnehmendes, im besten Sinne subjektiv getöntes Beobachten. Historisch geschärftes Bewusstsein und die Wachhheit eines klugen, hochsensiblen Zeitgenossen vereinen sich hier zur vertrauenswürdigen Zeugenschaft.

Gewiss, man spürt den geschichtlichen Abstand. Gerade das macht einen weiteren Reiz dieses Buches aus. Koeppen spricht durchweg noch – wie damals allgemein üblich – von „Negern”, wenn er Menschen meint, die wir heute politisch korrekt Afro-Amerikaner nennen. Aber: Er begibt sich (anders als damals die allermeisten Weißen) in die Wohnviertel und Kneipen der Farbigen, benennt Symptome und Formen der täglichen Unterdrückung.

Überhaupt nimmt Koeppen Vorgänge wahr, die tiefer reichen und länger währen als kurzatmige Aufregungen der Tagespolitik. Er ist durchaus zur Bewunderung bereit: Beispielsweise preist er die aus vitaler Vielfalt erwachsende, fortwährende Kraft zur Selbsterneuerung, die die Staaten ja jüngst wieder bewiesen haben. Weiterer Befund: In den USA könne sich jederzeit Geld in Geist verwandeln – allerdings auch umgekehrt …

Die Dominanz von Auto und Fernsehen entgeht Koeppen natürlich nicht. Schon 1958 gibt es dort eine TV-Show, die ihm geradezu brutal vorkommt: „Sie waren Leute aus dem Publikum und wurden auf eine Art Thron gesetzt. Dann traten Komiker vor sie hin, freche, mit allen Hunden gehetzte Kerle, die darauf aus waren, die Personen zum Lachen zu bringen.” Und wehe, wenn nicht! – Mal gespannt, welcher Privatsender diese Idee bald aufgreift.

Zielgenau charakterisiert Koeppen die gravierenden Unterschiede zu Europa, seien sie nun klimatischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art. Er hat gar eine spezifisch amerikanische Form menschlicher Einsamkeit entdeckt, die er so bildhaft beschreibt, dass sie geradezu als landschaftlich umrissenes Phänomen greifbar wird. Überhaupt sieht man unentwegt imaginäre Fotografien oder Kinobilder vor sich, wenn man diese famosen Reise-Impressionen liest. Koeppens Stil animiert die Einbildungskraft. Kein Zweifel: große Literatur!

Wolfgang Koeppen: „Amerikafahrt und andere Reisen in die Neue Welt”, Suhrkamp-Verlag, Werkausgabe in 16 Bänden (Band 9), 333 Seiten, 34,80 Euro.

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ZUR PERSON

  • Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren.
  • Unstetes Leben in der Weimarer Republik. Jobs als Platzanweiser, Eisverkäufer, Schiffskoch. Umzug nach Berlin, erste Publikationen.
  • 1934 Romandebüt mit „Eine unglückliche Liebe”.
  • Koeppen verfasst ab 1938 Drehbücher für die Ufa.
  • Ab 1946 Beziehung und später Ehe mit Marion, die zunehmend unter Alkoholismus leidet. Ihr Briefwechsel erschien Anfang 2008: „. . . trotz allem, so wie du bist”, Suhrkamp, 457 S., 32,80 €.
  • Wichtigste Romane: „Tauben im Gras” (1951) und „Das Treibhaus” (1954) über das damalige politische Bonn.
  • Die Reisen nach Russland, Amerika und Frankreich unternahm Koeppen in den 50er Jahren im Auftrag von Alfred Andersch, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
  • Legendär sind Koeppens lang andauernde Schreibkrisen. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sehr viel Geduld mit ihm und half stets mit Vorschüssen. Davon zeugt ebenfalls ein Briefwechsel.
  • Koeppen starb am 15. März 1996 in München.