Schwarze Messe der Entfremdung – Dortmunder Uraufführung: Thomas Strittmatters Fürstendrama „Gesualdo“

Von Bernd Berke

Dortmund. Bloß gut, daß kein Kanzler so spricht wie dieser italienische Renaissance-Fürst Gesualdo: Er sei nichts weiter als „der Herr über ein Loch, gefüllt mit Schlamm und schmutzigem Wasser“. Das Regieren ist ihm eben zuwider. Lieber will er sich den Künsten widmen. Der zerrissene Mensch ist Titelfigur in Thomas Strittmatters Stück „Gesualdo“, das jetzt unter Wolfgang Trautweins Regie am Dortmunder Schauspiel uraufgeführt wurde.

Der sprachlich achtbare Text stammt aus dem Nachlaß des 1995 mit 33 Jahren verstorbenen Autors. Der hat keine Etüde über die Spätrenaissance verfaßt, sondern jene unruhige Epoche als Gleichnis unserer gegenwärtigen, so gerne „postmodern“ genannten Phase aufgefaßt. Zu Gesualdos Zeiten dominierte der Manierismus, oft als Verfalls-Erscheinung begriffen und als wirre Mixtur aus Wahnwitz und Stillstand angefeindet. Erkennen wir uns darin wieder?

In Dortmund blickt man in einen schwarzen Tunnel. Vielleicht ist’s ein Zeit-Kanal für rasante Epochen-Reisen (Bühnenbild: Thomas Gruber). Anfangs ertönen Geisterstimmen, dann gleiten die Figuren seitwärts auf Rollen herein, als seien sie bereits technisch gezeugte Wesen jenseits des Naturzusammenhangs.

Um Naturferne geht s denn auch: Kunst als geradezu wider-natürliche Zumutung, die nicht dem prallen Leben abgewonnen, sondern dem Dasein barsch entgegengesetzt wird – das ist Strittmatters Thema. Bizarres Bild dafür: die Geburt eines „vom Teufel gezeugten“ Lamms mit fünf Köpfen, das für Gesualdos fünfstimmige Madrigal-Kompositionen (seinerzeit eine unerhörte Neuerung) steht.

Nachvollziehbar, daß in dieser Inszenierung keine Renaissance-Musik verwendet wird. Die Münchner Formation „Engel wider Willen“ hat Bruchstücke aus besagten Madrigalen elektronisch „gesampelt“, verfremdet, mit anderem Material versetzt und in tendenziell endlose Tonschleifen überführt. Aparte Verbindung: Dazu erklingt die helle Stimme eines Countertenors (Florian Mayr). Eine gewisse Verwandtschaft zur TechnoMusik ist dennoch kaum zu verkennen. Hört. hört!

Angewidert von „Unzucht“ und Zerstreuung

Gesualdo (1560-1613) ist also der Kultur innig zugetan. Am Hofe gehen – Strittmatter zufolge – ruhmreiche Künstler ein und aus. Zum Beispiel der auch durch Goethes Stück (passend: Dortmunder Premiere am 17. Oktober) bekannte Dichter Tasso (Niklaus Scheibli) und der Maler Caravaggio (Michael Masula). Beim Musiker Nenna (Jürgen Uter) lernt der Fürst Lautenspiel und Komposition. Ringsum aber herrschen Suff, Inzucht (Kathrin Irion als verhurte Ehefrau des Pächters Pinci) und geldgeile Bigotterie (Günter Hüttmann als Padre, der gegen Ablaßgebühr Beichtstunden hält). Und Wüstling Caravaggio ist hinter Knaben her.

Angewidert von all dem, begibt sich der Fürst (zwischen Todernst und Groteske: Thomas Dehler) für ein Jahr in strenge Klausur, um im einsamen Unglück endlich den Gipfel der Kunst zu erklimmen. Seine Gattin (zwischen Edelfrau und Hure: Sandra Fehmer) will keine 365 Tage aufs Vergnügen warten. Sie betrügt Gesualdo mit Nenna. Die Rache des Fürsten wird fürchterlich sein, wenn er aus seinem Eremiten-Dasein wiederkehrt: Laut Historie hat er die beiden abschlachten lassen, im Stück fuchtelt er mit einem Messer, beläßt es aber bei ewiger Verbannung…

Die Dortmunder Umsetzung darf als interessanter Versuch eines gut eingespielten Ensembles gelten, sich dem schwierigen Stück zu nähern. Sie gibt sich hochartifiziell, zuweilen etwas gespreizt. Über weite Strecken wirkt die Veranstaltung wie eine „Schwarze Messe“, eine Liturgie entfremdeter Posen.

Der eine oder andere kleine Klamauk gesellt sich hinzu. Das sorgt für Lacher. Doch es ist ein seltsames Wechselbad. Der Kälte-Wärme-Haushalt dieser Inszenierung stimmt nicht immer. Zudem könnte die Musik – der Handlung gemäß – verstörender, weniger eingängig sein. Doch wer will schon mit allzu gewagten Mißtönen Zuschauer vergraulen?

Termine: 22. Okt, 13. und 14. Nov. – Karten: 0231/50 272 22.




Ein fast schon harmlos wüster Weltenzirkus – Wolfgang Trautwein inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Militär wird der mittellose Mann nach Belieben geschurigelt, die Medizin demütigt ihn mit schäbigen Experimenten, und die dralle Marie hintergeht ihn mit einem strammen Tambourmajor. Geld weg, Frau weg, Ehre weg – der traurigste Blues. Schulbuchhaft gesagt: Georg Büchners „Woyzeck“ ist eine der großen Leidensgestalten unserer Dramenliteratur.

Aufwühlender Stoff also, den sich Wolfgang Trautwein am Dortmunder Schauspiel vornimmt. Blatt- und astlose Baumstümpfe hängen hier vom dunklen Himmel herab, im Hintergrund leuchtet grob skizziertes Liniengeflecht nach Art eines ausweglosen Straßen-Labyrinths (Bühnenbild: Thomas Gruber). Eine abgetötete Welt. Stumme Figuren zeigen anfangs ein Transparent mit unverständlichen Wortfetzen. Eine Welt, gegen die man auch nicht protestieren kann, weil die Sprache zerstört ist.

Dann aber betritt jener Woyzeck (Jürgen Uter) die Szenerie, und man ist erst einmal etwas beruhigt. Der Mann ist doch kein Häufchen Elend, kein Idiot. Der müßte sich doch wappnen können: Gegen den lachhaften Hauptmann (Heinz Ostermann), der ihn aufs geistige Glatteis führen will; gegen den Doktor (Andreas Weißert), der von oben an Schnüren einschwebt und seine höllischen Erbsenfreß-Versuche zu „erklären“ sucht, für die er Woyzeck karg bezahlt; gegen jenen Gockel von Tambourmajor (Thomas Gumpert), der Marie (Wiebke Mauss) mit Liegestützen und Macho-Geschwafel ächzend imponiert.

Ja, man fragt sich: Leidet dieser Woyzeck überhaupt so außerordentlich? Oder erlebt er nicht das normale Elend eines Abhängigen, der halt für seine Groschen manches über sich ergehen läßt? Vielleicht vermag er ja alles zu ertragen, nur bitte nicht den Verlust der Liebeshoffnung.

Überliefertes Volksgut zugleich als Keim und als Deckmäntelchen des Fürchterlichen: Ein groteskes Rumpelstilzchen (Günter Hüttmann) tapert umher, „Ein Jäger aus Kurpfalz“ und „Frau Wirtin“ werden im Wirtshaus gegrölt. Und zu Beginn haben wir das Ammenmärchen vom „Sterntaler“ gehört: Wer alles, alles hergibt, wird am Ende desto reicher belohnt. So nett geht’s nicht zu im wüsten Weltenzirkus, der freilich in Dortmund mit allerlei hübscher Akrobatik und dem Geflatter dressierter Tauben einen beinahe harmlosen Anschein bekommt.

Zwangs-Läufigkeit mal ganz wörtlich ausgelegt

Doch seitwärts hockt ein Soldat, dem beide Beine weggeschossen worden sind. Überhaupt zeigt sich der Anflug des Schreckens in dieser Inszenierung oft am Rande. Man kommt auch ohne das übliche Leidensgebrüll aus. Ein paar nachwirkende Szenen: Etwa jene elend sachliche, in der Woyzeck sich eine Mordwaffe kauft und sich nicht die Pistole, sondern nur das Messer leisten kann („Ein ökonomischer Tod“).

Die Personen verrennen sich immer mal wieder auf vorbestimmten Wegen, als sei die Bühne vielfach verstellt – stimmiger Ausdruck für wortwörtliche Zwangs-Läufigkeit. Eine steil ansteigende Fläche, die an eine Half-Pipe für versierte Skateboarder erinnert, dient mal als kaum übersteigbare gesellschaftliche Barriere, mal als Todes-Rutsche für die vom eifersüchtigen Woyzeck erstochene Marie. Originell auch die Idee, die Gasthaus-Gestalten in vereinzelte Bodenöffnungen zu stellen und dort wie Springteufel ihre Plätze wechseln zu lassen.

Diese unfeine Gesellschaft hat schließlich das Wort, wenn Woyzeck ins Wasser gegangen ist. Den Vorgang nehmen sie alle ungerührt zur Kenntnis. Es schrumpft die Tragödie und bleibt nahezu spurlos.

So mag es sein im TV-Zeitalter. Die Aufführung, durchweg solide, aber kaum einmal ergreifend gespielt, hält zwar eine gewisse Spannung wie kurz vorm Sprung in den Abgrund, dringt jedoch nicht wahrhaft in die Untiefen des Stücks vor. Es ist, als wolle man uns das Allerschlimmste ersparen. Wie fürsorglich!

Termine: 17., 19. Dez. 1997, 15., 16. Jan. 1998. Karten: 0231/163041.