Flimmern und flirren

Gepriesen sei ein solches Tauschgeschäft auf Vertrauensbasis: Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt eine Auswahl seines expressionistischen Besitzes im Pariser Musée Marmottan Monet – und hat im Gegenzug leihweise rund 30 Spitzenwerke Claude Monets erhalten. Hinzu kommen passende Ergänzungen aus etlichen anderen Häusern. Grandioser Effekt: Jetzt können in Wuppertal herausragende Beispiele aus allen wesentlichen Werkphasen des berühmten Impressionisten präsentiert werden.

Mit dem Wort „Sensation“ sollte man allzeit vorsichtig umgehen. Doch hier dürfte es angebracht sein. Denn einen vergleichbaren Gesamtüberblick zu Monet hat es – kaum glaublich – in Deutschland noch nicht gegeben.

Gewiss: Das Weltkunstwerk „Impression – soleil levant“ (Impression – Sonnenaufgang) zählt n i c h t zu den Leihgaben. Eine entsprechende Anfrage verstieße gegen alle internationalen Gepflogenheiten unter Museumsleuten. Sie wäre nahezu ein unfreundlicher Akt und hätte vermutlich den sofortigen Abbruch aller weiteren Gespräche zur Folge. Es wäre, als wollte man mal kurzerhand die „Mona Lisa“ haben. Lachhaft! Absolut unmöglich! Übrigens hat das erwähnte Bild bei der anfangs spöttisch gemeinten Namensgebung des Impressionismus sozusagen Pate gehangen. Das Gros der (vielfach bornierten) Kritiker befand seinerzeit, bloße Impression reiche in den Künsten nicht aus.

Für besagte „Ikone“ muss man sich also weiterhin nach Paris bemühen. Doch die wichtigen Serien sind an der Wupper prächtig vertreten. So müsste man sicherlich sehr lange suchen, um an einem Ort drei Monet-Bilder der Kathedrale von Rouen beisammen zu finden. Paris und Wuppertal dürften derzeit die beiden einzigen Orte sein, an denen man diese Ergießungen wandelbaren Lichts genießen kann.

Damit längst nicht genug. Etwa 20 Bilder ranken sich ums legendäre Seerosen-Thema. Zeitweise waren bis zu zehn Gärtner damit beschäftigt, in Giverny (Normandie) ein japanisch inspiriertes, weitläufiges Gärtengelände mit Seerosen für den Künstler anzulegen – nach wohlüberlegtem Muster. So blieb inmitten der Pflanzen eine Wasserfläche frei, in der sich die Wolken spiegeln sollten. Mit höchstem Raffinement hat Monet das schwebend Schwerelose dieser atmosphärischen Erscheinungen eingefangen. Profane Kehrseite: Einige Bauern murrten, weil das (für Seerosen nötige) erwärmte Wasser angeblich ihre Kühe krank machte. Monet zahlte ihnen eine Entschädigung.

Überdies bekommt man in Wuppertal mehrere Gemälde aus der kaum minder bedeutsamen Getreideschober-Serie zu sehen, die einen Betrachter namens Wassily Kandinsky auf den Grundgedanken der Abstraktion gebracht haben, ungefähr so: Wenn etwas so ins irritierende Flirren geraten ist, dass man es als Objekt kaum noch erkennt – warum dann nicht den gänzlichen Abschied vom Gegenstand proben?

Vorwiegend chronologisch geordnet, zudem sinnreich nach Motivgruppen gestaffelt, blättert Wuppertal die Abfolge der meisterlichen Werke auf. Es beginnt mit Karikaturen des jungen Monet und gipfelt beispielsweise in zauberhaft duftigen Landschafts-, Schiffs- und Eisenbahnbildern. Gar manches Gemälde vergeht nahezu vor Zartheit und Zartsinn. Die Stimmungsvaleurs wechselnder Tageszeiten und Lichtreflexionen hat gerade dieser Künstler unendlich differenziert erfasst. Da will man zum flüchtigen Augenblicke sagen: Verweile doch. Hier darf man sich idyllischen Sehnsüchten hingeben. Wer sich daraus ein schlechtes Gewissen macht, dem ist nicht zu helfen.

Monet ging nicht so spontan vor, wie man meinen könnte. Seine Arbeiten verdanken sich oft akribischer Planung. So soll er bewirkt haben, dass ein Zug – nicht nur der schön gekräuselten Rauchfahnen wegen – eigens für die Zeit des Malens angehalten wurde. Ja, er soll sogar, weil er ein winterliches Baumbild nicht mehr rechtzeitig hatte vollenden können, im folgenden Frühjahr veranlasst haben, dass man selbiges Geäst wieder entlaube… Für gutes Geld ging auch das.

Claude Monet wurde erst nach vielen Jahren des Darbens finanzieller Erfolg zuteil. Um 1900 galt er freilich als einer der teuersten Maler seiner Zeit. Vom heute ungeheuren Marktwert seiner Schöpfungen kann man sich eine vage Vorstellung machen, wenn man dies in Rechnung stellt: Monet hat (als er später unter dem Grauen Star litt) viele vermeintlich misslungene Gemälde zerrissen. Ein solches (nachträglich zugeschnittenes und gerahmtes) Fetzen-Relikt wird auch in Wuppertal gezeigt – und auf einen Wert von 300 000 Euro geschätzt. Man stelle sich vor, was für die großen Meisterwerke fällig wäre. In Wuppertal gilt daher Sicherheitsstufe eins plus mit Extra-Wachpersonal und weiteren Maßnahmen, die natürlich niemand verrät.

Auch beim Marketing lässt man wenig aus. Eine Schwebebahn fährt mit schmuckem Monet-Motiv, und bei vielen Bäckereien gibt’s Kuchen mit Seeröschen-Verzierung. 2000 Besuchergruppen haben sich bereits im Vorfeld angemeldet. Man rechnet insgesamt mit mindestens 100 000 Menschen. Eine eher konservative Schätzung. Besucherströme sollen so gelenkt werden, dass sich höchstens 300 Menschen zugleich in der Schau befinden. Andernfalls sähe man oft nur die Hinterköpfe kunstsinniger Leute.

Museumschef Gerhard Finckh ist vom hohen Rang seiner Auswahl überzeugt und stellt kein Licht unter den Scheffel. Auf die Journalisten-Frage, ob die Monet-Ausstellung (bis Ende Februar 2010) touristisch auch vom beginnenden Kulturhauptstadt-Jahr im Ruhrgebiet profitieren könne, meint er halb scherzhaft, es verhalte sich wohl eher umgekehrt: „Vielleicht wird man einmal sagen: Monet war das Allerbeste an der Kulturhauptstadt…“ A la bonheur!

Von der Heydt-Museum, Turmhof 8 in 42103 Wuppertal (Tel.: 0202/563-26 26). Geöffnet bis 28. Februar 2010. Di/Mi 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr, Sa/So 10-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 12 € (ermäßigt 10 €), Familie 20 €, Katalog 25 €, DVD mit Film zur Ausstellung 15 €. Internet: http://www.monet-ausstellung.de




Wo die grinsenden Dämonen wohnen – die Welt des James Ensor in Wuppertal

Schaurig, schaurig: Der belgische Maler James Ensor (1860-1949) hat im menschlichen Antlitz vor allem das Bedrohliche, das Masken- und Fratzenhafte erblickt. Vielfach wanken klapprige Skelette durch seine bizarren Bilder. Auch der Maler selbst hat sich gern mit Totenkopf porträtiert.

Unter dem Titel „Schrecken ohne Ende” zeigt jetzt das Wuppertaler Museum, wie Ensors morbide und groteske Impulse bis in die jüngste Zeit weiter gewirkt haben.

Der stattliche Hagestolz Ensor blieb immer bei Mutter und Schwester. Er heiratete nie, obwohl ihn etliche Damen anhimmelten. Auch suchte er keine Abenteuer auf Reisen. Nur wenige Abstecher führten ihn aus seiner Geburtsstadt Ostende heraus.

Dort, an der grauen, rauen Nordsee hegte der große Einzelgänger schon früh das Gefühl, von der Kunstwelt verkannt zu sein. Doch auf Dauer sprach sich sein spezieller Ruhm eben doch herum – und nicht nur deutsche Expressionisten wie Nolde und Heckel verehrten ihn.

Anreger der Surrealisten

Vor allem den Surrealisten wies seine Kunst Wege in verborgene Seelenwinkel. Auch die zeitkritischen Künstler der 1920er Jahre (Otto Dix, George Grosz usw.) fanden durch Ensor einigen Boden bereitet. Der hatte gleichsam die bildnerischen Ätzmittel für die Darstellung bösartiger Menschengruppen und Massen präpariert. Somit ließen sich später auch die gesellschaftlichen Vorboten des Faschismus grell attackieren.

Bis heute können sich schräge Bildfindungen auf ihn berufen. Beispiel: Neueste Werke der Berliner Gruppe „Bonjour, Monsieur Ensor” verlängern das Werk des Belgiers ins geradezu Comichafte. Dabei wird deutlich, dass Ensor (der im Karneval von Ostende munter mitwirkte) keineswegs nur ein Finsterling war. Auch das fröhlich-bunte Spiel der Masken wusste er subtil einzufangen.

Die Wuppertaler Schau mit rund 220 Bildern (davon etwa die Hälfte von Ensor selbst) beginnt mit seinem künstlerischen Umfeld in Belgien, von dem er sich sehr bald entschieden abhebt – durch thematische Schärfe, aber auch durch eine besonders delikate Malweise. Als Kolorist erzielt er wahrhaft magische Wirkungen.

Masken-Angebot im Laden der Mutter

Von nichts kommt nichts: Im Geschenkeladen seiner Mutter gab es neben Masken auch Muscheln zu kaufen. Ensor hatte dort schon als Kind ausgeholfen und offenbar alle Schattierungen des Lichts in den Regalen studiert. Später hat er jedenfalls die Perlmutt-Töne der Muscheln ungemein feinsinnig zum Leuchten gebracht.

Seine impressionistischen Zeitgenossen waren ihm entschieden zu harmlos. Er wollte dem Bürgertum mehr ans Leder und ans Gemüt. Tatsächlich wirkt es überaus beklemmend, wie er die lastend melancholische Stimmung im bürgerlichen Salon schildert, die gleichsam zwischen den schweren Vorhängen hervorquillt. Depression und Hysterie, wie sie Sigmund Freud einst aufspürte und zu behandeln suchte, sind in solchen Interieurs daheim.

Wahnhafte, grinsend dämonische Seiten findet Ensor auch im Religiösen. Szenen aus der Bibel geraten ihm zur grimassierenden Karikatur – auch dies eine für seine Epoche unerhörte Sichtweise.

Bemerkenswert, wie realistisch Ensor seine Motive zunächst anging. Dann aber wartete er auf den Moment, in dem Figuren und Gegenstände ein Eigenleben entwickelten, in dem die Situation ins flackernd Irreale „umkippte”. An dieser Grenzlinie hat kaum einer so erregende Entdeckungen gemacht wie Ensor. Seine Vexierbilder zwischen Wahn und Wirklichkeit sind beileibe nicht an bestimmte Zeiten gebunden.

„Ensor – Schrecken ohne Ende“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 12. Oktober bis 8. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr.Katalog 25 Euro.

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Der Ruhm kam spät

  • James Ensor wurde am 13. April 1860 in Ostende (Belgien) geboren. Dort starb er am 19. November 1949.
  • Kunststudium 1877-1880, abgebrochen.
  • 1881 erste Ausstellung.
  • Höhepunkt des internationalen Ruhms erst um das Jahr 1920.



Aus der Krise ins gleißende Licht – Wuppertaler Museum vergleicht Auguste Renoir mit Vorbildern und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auguste Renoir? Kennt man doch. Hatte man mal als liebliches Kalenderblatt an der Wand. Duftige Farben, ätherisch zarte Frauen. Auch Wuppertals Museumsdirektor Gerhard Finckh hat sich ganz früher mal Renoir-Reproduktionen hingehängt. Eins dieser Motive kann er jetzt im Original zeigen – und etliches mehr.

Über 50 Bilder des berühmten Franzosen präsentiert das Von der Heydt-Museum. Hinzu kommen rund 50 weitere Werke von Anregern, Freunden und Zeitgenossen des Impressionisten. Fürwahr ein großer Auftritt und viel flutendes, flirrendes Licht!

Doch Finckh behauptet: Eigentlich kennen wir Renoir gar nicht richtig – oder jedenfalls nur einen kleinen, zumeist vor 1881 entstandenen Teil seines Werks. Bis dahin hat Renoir bereits grandiose Bilder geschaffen, doch der große Erfolg bleibt aus. Die führenden Salons lehnen Impressionisten weiterhin ab, Auftraggeber und Käufer halten sich  merklich zurück.

In jener Zeit gerät Renoir in eine schwere Schaffenskrise und pfuscht sich – wie einige Exponate in Wuppertal belegen – zeitweise recht mühselig und ungelenk durch diverse Stilwechsel hindurch. Derlei Anpassung an den Markt ist seine Sache eben nicht.

An der Grenze zur reinen Farbmusik

Erst in den 1890er Jahren findet er wieder in seine Spur zurück. Er verlegt sich auf Landschaften. Doch seine ureigene Stärke blüht erst wieder auf, als er menschliche Figuren mit ihrer Umgebung verschmelzen lässt – bis hin zur Grenze der Abstraktion und der reinen Farbmusik. Wahrscheinlich überschreitet er diese Grenzlinie bewusst nicht. Er sieht sich im Grunde nie als „Revolutionär“, sondern inzwischen gar als Graubart mit Hang zur ehrwürdigen Tradition.

In Wuppertal ist also vor allem das Spätwerk ab 1890 (immerhin noch fast 30 Jahre in Renoirs Leben) zu sehen. Der Künstler zieht sich ins südfranzösische Cagnes zurück, wohnt dort erst in der Post, dann auf einem bäuerlichen Anwesen. Er pflegt regen Austausch mit Kollegen. Henri Matisse, Pierre Bonnard und einige andere Größen besuchen ihn dort. Irgendwann werden auch Kunsthistoriker und Käufer vorstellig, um ihm zu huldigen.

Tragisch genug: Porträtaufträge verbessern nun die finanzielle Lage, doch da erkrankt Renoir an Gicht, die ihn schließlich an den Rollstuhl fesselt. Gar manches kann er nur unter Schmerzen malen. Zusehends künden kleinere Formate von schwindenden Kräften.

Olivenbäume und weibliche Ländereien

Dennoch gelingt ihm nun jenes geheimnisvoll neblige und silbrig schimmernde Licht, das er beim großen Vorbild Camille Corot so bewundert und an dessen Darstellung er sich vorher vergeblich versucht hat. Das Gleißen seiner Olivenbäume muss man gesehen haben, es ist nahezu überirdisch.

Dass Renoir hin und wieder nah an die Gefilde des Weichen und Süßlichen gerät, muss man angesichts solcher Meisterwerke schlicht und einfach verzeihen. Er ist kein Mann der scharfen, folgerichtigen Analyse, sondern ein Schaffender aus Passion.

Für Anregungen bleibt er auch im höheren Alter offen. Unter dem Einfluss von Cézanne vollendet Renoir ein für ihn sonst untypisches Apfel-Stillleben. Die höchst verschiedenen Figur-Auffassungen der Bildhauer Rodin und Maillol (beim einen eher schrundig zerklüftet, beim anderen schwellend und prall) hinterlassen gleichfalls Spuren.

Renoir behandelt seine Figuren fortan mit mehr Raumgefühl. Im Verlauf dieser Entwicklung geraten übrigens auch die Frauengestalten üppiger. Ihr Leiber schmiegen sich fließend in Landschaften ein oder erscheinen gleichsam selbst als „Ländereien“ oder gar Kontinente.

Sie Seitenblicke der Schau auf Vorläufer und Anreger (bis zu Delacroix) sind mithin oft aufschlussreich. Auch lassen einzelne Gemälde der ungefähr gleichaltrigen Mitstreiter (Manet, Monet, Pissarro, Bazille) ahnen, auf welcher ästhetischen Höhe sich Renoir jeweils befunden hat. Mal so, mal so.

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HINTERGRUND

Zunächst eine Lehre als Porzellanmaler

  • Auguste Renoir lebte von 1841 bis 1919.
  • 1854 Lehre als Porzellanmaler. Den Beruf ergreift er nicht, weil neue Verfahren diese Handarbeit überflüssig machen.
  • 1862/63 mit Studienfreunden zur Freiluftmalerei in Barbizon (Wald vonFontainebleau).
  • Um 1869 entstehen in Paris seine ersten impressionistischen Gemälde im eigentlichen Sinne.
  • Um 1881 Schaffenskrise.
  • 1888 bricht die rheumatische Krankheit aus. die seinen rechten Arm und später beide Beine lähmt.
  • Ausstellung: „Renoir und die Landschaft des Impressionismus“. Von der Heydt-Museum (Wuppertal, Turmhof 8). Vom 28. Oktober bis 27. Januar 2008. Di-So 11-18. Do 11-20 Uhr. Eintritt 8 €, Familie 15 €. Katalog 25 €, Tel.: 0202/563-6231.



Im Wettstreit um die Wirklichkeit – Wuppertaler Museum folgt Malern und Fotografen durchs „Abenteuer Barbizon“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Anno 1849 wurde eine neue Eisenbahnlinie von Paris bis in den Wald von Fontainebleau getrieben. Was das mit Kunst zu tun hat? Eine ganze Menge. Denn fortan mussten Maler (und frühe Fotografen) nicht mehr die teuren, noch dazu engen und wackligen Postkutschen nehmen, um mit ihren sperrigen Utensilien in die Natur zu fahren.

In Scharen dampften sie nun mit dem Zug in die noch recht wilden Wälder rund um Paris. Hier im Grünen entstanden bald Künstlerkolonien, in denen man sich vorzugsweise der Freiluftmalerei widmete. Tatsächlich wäre der Impressionismus ohne diese neuen Verhältnisse nicht so entstanden, wie wir ihn kennen.

Wuppertals Von der Heydt-Museum betrachtet nun die Schöpfungen der unmittelbaren Vorläufer, die in der „Schule von Barbizon“ gipfelten. Rund 200 Leihgaben und 50 Exponate aus eigenem Besitz bietet man dafür auf. Museumsleiter Gerhard Finckh hat dem Haus eine neue Abfolge für den Rundgang und somit einen neuen „Rhythmus“ verordnet. Das zahlt sich auch bei „Abenteuer Barbizon“ aus. Trotz der zahllosen Landschaftsbilder wirkt die Schau abwechslungsreich und legt etliche Aspekte des Themas frei.

Fotografie fast gleichwertig vertreten

Werke von sieben Malern (bekannteste Namen: Jean-Baptiste Camille Corot,François Millet) und sieben Fotografen (Gustave Le Gray : u. a.) stehen im Mittelpunkt. Während die Lichtbildnerei sonst meist nur als Anhängsel gezeigt wird, ist sie hier fast gleichgewichtig vertreten. Nur muss man bei den empfindlichen alten Fotos (30 Lux Beleuchtungsstärke) genauer hinsehen als bei den Gemälden (200 Lux).

Fotografen und Maler haben seinerzeit offenbar einen recht friedlichen Wettstreit um die Wirklichkeit ausgetragen. In Barbizon schlossen sie Freundschaften und lernten voneinander. Manche Bildidee, deren Ausführung hernach in Öl prangte, dürfte auf den seinerzeit noch frischen „fotografischen Blick“ zurückzuführen sein. Etliche Maler bedienten sich bereits fotografischer Vorlagen, sie redeten nur nicht so gern darüber. Es hätte vielleicht an ihrem Genie-Status gekratzt.

Als die Realität im flirrenden Licht zerstob

Besonders aufschlussreich ist die Abteilung „Intime Landschaften“: Unter freiem Himmel gemalte Ansichten kommen nicht mehr mythologisch, anekdotisch oder sonstwie „aufgeladen“ daher. Statt dessen dominiert die puristische Nahsicht auf einzelne Phänomene, das Licht fällt natürlicher, stimmiger (und stimmungsvoller) als ehedem beim Nachvollzug im Atelier.

Den Übergang zur nächsten, heute ungleich berühmteren Stilrichtung kann man in Wuppertal bestens nachvollziehen: Denn bei den „Abenteurern“ von Barbizon konnten die Impressionisten anknüpfen. Ihnen zerstob die neu gewonnene Realität schließlich in flirrende Lichterscheinungen.

Barbizon hatte weitere Folgen: Angesichts massiver Waldrodungen für die Bahnstrecken formierten die Maler und Fotografen eine „grüne“ Bewegung. Sie gaben bedrohten Bäumen eigene Namen („Karl der Große“ usw.), um sie – gleichsam als beseelte Persönlichkeiten – zu retten.

Andererseits stimulierten gerade die Künstler den Ausflugstourismus mit ihren Bildern, die sie zuweilen im Taschenformat als Souvenirs anboten. Den Mechanismus glaubt man zu kennen: Jemand entdeckt und preist eine Naturschönheit – und leitet damit letztlich auch deren künftige Zerstörung ein.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 6. Mai. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 20 Euro.

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HINTERGRUND

Treffpunkt Gasthaus

  • Feuchtfröhlicher Treffpunkt der Künstler im Dörfchen Barbizon bei Paris war ein Gasthaus, die „Auberge Ganne“.
  • Barbizon wurde zum Muster vieler Künstlerkolonien, die im 19. Jahrhundert entstanden sind.
  • Die sieben wichtigsten Maler wurden „Pléiade“ (Siebengestirn) genannt.
  • Sie wurden in ganz Europa berühmt. Doch als die Impressionisten (Renoir, Manet, Monet usw.) aufkamen, gerieten die Vorläufer in Vergessenheit.
  • Das etwas zwiespältige Verhältnis der damaligen Maler zur 1839 erfundenen Fotografie formulierte der Spätklassizist Dominique Ingres: „Was für eine wunderbare Sache ist doch die Fotografie (…) aber man darf es nicht laut sagen.“

 




Der leuchtende Augenblick – Wuppertaler Museum präsentiert den deutschen Impressionisten Max Slevogt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Jetzt ist das „Dreigestirn“ der deutschen Impressionisten komplett: Nach Ausstellungen über Max Liebermann und Lovis Corinth zeigt Wuppertals Von der Heydt-Museum nun Werke von Max Slevogt (1868-1932), der sonst stets etwas im Schatten der beiden anderen Größen steht.

Man konzentriert sich auf Slevogts „Berliner Jahre“ ab Ende 1901. Der gebürtige Landshuter Slevogt hatte sich in München zunächst an die realistische Sichtweise eines Wilhelm Leibl gehalten, dann aber Bilder wie „Danae“ (eine perspektivisch rigoros gestauchte Nackte) riskiert. In der eher konservativen Bayern-Metropole sah man durch diese respektlose Darstellung den antiken Mythos beschmutzt. Es gab also Ärger.

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Zugleich war just in jenen Jahren Berlin das neue, aufstrebende Kunstzentrum. Slevogt, dem der Ruf besonderer Begabung vorausgeeilt war, erregte dort Aufsehen mit seinen heftigen, unkonventionellen, wenn auch anfangs noch etwas ungelenken Bildern („Der verlorene Sohn“ markiert den Auftakt in Wuppertal). Folge: Max Liebermann lud ihn an die Spree ein, Slevogt ließ sich dort nieder. Ein Beleg für die alte Einsicht: Man muss nur zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute kennen und an den richtigen Ort kommen…

In Berlin entfernte sich Slevogt von seinen vormals traditionalistischen Landschaften. Entscheidend: Zuerst bei einer Paris-Reise, dann durch den Berliner Verleger und Sammler Bruno Cassirer, lernte er die Werke französischer Impressionisten schätzen.

Slevogts Farbpalette hellte sich auf, der Pinselstrich wurde spontaner, freier, energischer. Nun entstanden selbstsichere Bild-Setzungen, im nah besehenen Detail zuweilen fahrig wirkend, im Gesamteindruck von duftig flirrender Atmosphäre beseelt. Manchmal ist’s, als wären feinste Nuancen aus einem Flakon aufgesprüht worden. Oder so, als hätte derMusikkenner Slevogt subtile Notenwerte in Farben umgetupft.

Lebensfrische Bildnisse junger Frauen

Dies gipfelt im triumphalen Rollenbildnis des Opernsängers Francesco D’Andrade (in Mozarts „Don Giovanni“): „Das Champagnerlied“ (1902) lässt die Farben zur Feier des großen Moments perlen und prickeln.

Slevogts Entwicklung lässt sich in Wuppertal anhand von rund 80 Gemälden sowie Zeichnungen und Graphiken eingehend verfolgen. Die aus Museen in ganz Deutschland und mit Raritäten aus Privatsammlungen satt bestückte Schau versammelt beispielsweise etliche Porträts aus der Berliner Gesellschaft. Slevogt verquickt realistische Errungenschaften, psychologische Durchdringung und impressionistischen Hauch zu rauschenden Synthesen. Delikat, zärtlich und ungemein lebensfrisch wirken seine Porträts junger Frauen. Und wenn Slevogt einen Bankdirektor verewigt, stellt sich schon in der Komposition dessen rastlose Ungeduld mit. Der Mann drängt beinahe aus dem Bild heraus, als müsse er eilends zum Termin.

Leoparden mit schimmerndem Fell

Eine Bilderreihe aus dem Frankfurter Zoo zeigt Löwen, Leoparden und Tiger mit schimmernden Fellen. Auch diese Tiergestalten sind also gleichsam bereit fürs impressionistische Leuchten. Spätere Ansichten von einer Ägypten-Reise und Landschaften der Pfalz (wohin sich Slevogt immer wieder zurückzog), runden den Überblick ab.

Schließlich die markanten Selbstporträts, die den Wandel der Selbsteinschätzung ahnen lassen. Auf dem „Selbstbildnis mit Pinsel und Palette“ (1895, Leihgabe aus Dortmund) warten zwei weibliche Modelle schwatzend im Hintergrund, bis sich der noch ungefestigt erscheinende Maler an sich selbst im Spiegel sattgesehen hat. Fürs „Selbstbildnis mit schwarzem Hut“ (1913) tritt Slevogt nicht mehr als Maler im Atelier, sondern als wuchtiger Bürger vor dem Gewimmel einer Berliner Straße auf; ganz so, als wolle er uns mit kaiserzeitlichem Gebaren zurufen: Es ist erreicht!

6. März bis 22. Mai. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Eintritt 5 Euro, Katalog 29 Euro.




Das Glühen der ganzen Welt – Wuppertaler Kandinsky-Schau für viele Bilder eine Deutschland-Premiere

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manchmal fragt man sich, wie die Leiterin Sabine Fehlemann es schafft, im Von der Heydt-Museum beinahe Schlag auf Schlag beachtliche Ausstellungen zu zeigen. Sie selbst hat darauf eine plausible Antwort: Die gut ausgestattete Brennscheidt-Stiftung, die ihrem Haus zuteil wurde, sorgt für komfortable Bedingungen.

Fehlemann: „Der städtische Ausstellungs-Etat ist bei Null angelangt, doch aus den Stiftungsmitteln fließen Jahr für Jahr 250.000 Euro.“ Rundum in der Region dürfte leiser Neid aufkommen, denn mit dem Betrag lässt sich einiges anfangen, was andernorts unmöglich ist.

Neuester Wuppertaler Coup (in Kooperation mit dem Wiener Kunstforum) ist jetzt eine Schau mit Werken von Wassily Kandinsky (1866-1944). Der in Moskau als Sohn eines Teehändlers geborene Künstler, „nebenher“ studierter Jurist, gilt als Pionier der Abstraktion.

Aus Provinzmuseen der früheren Sowjetunion

Über 60 Gemälde, Aquarelle, Holzschnitte und Zeichnungen werden chronologisch präsentiert. Die Exponate stammen vorwiegend aus Provinzmuseen der ehemaligen Sowjetunion (Ekaterinburg, Eriwan, Kasan, Krasnodar, Omsk, Nishni Nowgorod). Etliche Werke waren noch nie in Deutschland zu sehen. Und die kläglich darbenden Institute die fälligen Leihgebühren gewiss gebrauchen.

Das Spektrum beginnt mit Arbeiten um 1900, Landschaften und Stadtansichten zumeist, die noch ganz gegenständlich und recht realistisch erscheinen. Daneben werden Motive aus Märchen, russischer Volkskunst und Volksfrömmigkeit als Inspirationsquellen erkennbar. Sie führten Kandinsky bereits zu einer flächigen, farbbetonten Darstellung.

Der Abschied vom Abbild lag seinerzeit ohnehin „in der Luft“, Doch wohl niemand hat ihn rascher, entschiedener und fiebriger vollzogen als Kandinsky. Um 1908 schwellen die Farbklänge in seinen Bildern machtvoll an. Strahlend gelbe oder lodernd rote Häuser in München bzw. im bayerischen Dörfchen Murnau (wo er mit seiner damaligen Gefährtin Gabriele Münter lebte) setzen fulminante Akkorde. Alsbald ist Kandinsky sozusagen bei einem Glühen der ganzen Welt angekommen. Sommerliche Wiesen etwa wirken wie entflammt.

So und nicht anders hat es wohl werden müssen

In den folgenden Jahren lösen sich solche Farbkompositionen und Improvisationen (bezeichnend, dass man hier gern in musikalischen Begriffen redet) vollends vom Gegenständlichen. Die Genese der Bilder gerät gleichsam zum zweiten, spirituell geleiteten „Schöpfungsakt“, somit zu einer Art Ersatzreligion, die Kandinsky auch in pathetischen Texten zelebrierte. Unvergleichlich jedenfalls seine Art, gänzlich freie und spontane Formfindungen hochkonzentriert auf Papier oder Leinwand zu bannen.

Anhand der „Komposition VII“ lässt sich in Wuppertal der Schaffensprozess nachvollziehen. Vier aufschlussreiche Fotografien (im November 1913 von Gabriele Münter aufgenommen) dokumentieren den rasanten Fortschritt des Bildes, das binnen vier Tagen entstanden ist. Das Gemälde blüht daneben üppig auf, und man ahnt: So und nicht anders hat es wohl werden müssen.

Die Ausstellung setzt im Jahre 1921 den Schlusspunkt. 1922 kehrte Kandinsky, der Deutschland im Ersten Weltkrieg verlassen hatte (und später der Russischen Revolution als Kunst-Experte diente), nach Berlin, Weimar und Dessau zurück. Diese Zeit als Lehrer am ruhmreichen Bauhaus wäre wieder ein ganz anderes Kapitel. Es endete 1933 abrupt, als Kandinsky vor den Nazis nach Frankreich flüchtete.

Wassily Kandinsky: „Der Klang der Farbe (1900-1921). Wuppertal, Von der Heydt-Museum, Turmhof 8. Vom 1. August bis zum 19. September. Katalog 29 Euro.




Die Welt der Sonderlinge – Carl Spitzweg in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Um es nur gleich zu sagen: „Der arme Poet“, jenes millionenfach gedruckte Motiv, fehlt in der Wuppertaler Spitzweg-AusStellung. Wenn ein ambitioniertes Museum auf einen Künstler aufmerksam macht, so will es ja gerade nicht die gängige Sicht bestätigen, sondern möglichst neue Aspekte hervorheben.

Noch dazu ist es schier unmöglich, das verbliebene Münchner Exemplar (eine weitere Fassung wurde in Berlin gestohlen) auszuleihen. Also denn: Kunstkenner mit arroganten Avantgarde-Anwandlungen dürften die Nase rümpfen. Denn Carl Spitzweg (1808-1885) ist heute weithin als harmloser Idylliker des Biedermeier verrrufen, wird aber von vielen (konservativen?) Geistern recht innig geliebt. Hier darf die Betrachterseele ruhen, hier muss sie sich eben nicht mit ausgeklügelten Minimal-Differenzen zwischen monochromen Quadraten und dergleichen modernen Schwierigkeiten plagen.

Das Von der Heydt-Museum zeigt 75 Gemälde und 165 Zeichnungen Spitzwegs. Letztere stammen aus Münchner Privatkollektionen und wurden noch nie in solcher Breite präsentiert. Man gerät somit näher an den Moment der Ideenfindung als bei den sorgsam ausgeführten Ölgemälden. Und die Einblicke in Spitzwegs Skizzen-Werkstatt zeugen allemal von künstlerischer Redlichkeit.

Staunenswerte Akkuratesse

Der Münchner Kaufmannssohn Carl Spitzweg war zunächst wohlbestallter Apotheker. Bei einem Kuraufenthalt überlegte er sich’s anders und fing ein gänzlich neues Leben als Künstler an. Die Grundlagen erarbeitete er sich als Autodidakt, außerdem lernte er manchen Kniff von Malerfreunden wie Moritz von Schwind.

Spitzweg verfügte zweifellos über Talente, die ihn über die meisten Zeitgenossen erhoben. Der Mann konnte beachtliche Landschaften malen, in denen Menschlein nur noch als anekdotische Staffage dienen. Staunenswert auch seine Akkuratesse bei geradezu winzigen Bildformaten. Jedes Detail ist bis aufs Tüpfelchen ausgeführt und durchgestaltet, kleine Charakterstudien sind auf typisierte Weise gültig.

Für heutige Begriffe haltbarer wirken freilich die Werke, in denen es Spitzweg etwas legerer angehen ließ und wo er nicht auf jede Kleinigkeit versessen war. In manchen Partien nähert er sich gar einem nahezu abstrakten Verständnis der Bildfläche, was allerdings noch kein Verdienst an sich ist. Aber es erweitert das Spektrum.

Das Vergnügen kommt ganz leise

Der Rundgang führt, wie kaum anders zu erwarten, vornehmlich durch jene immer etwas versponnene, verschrobene Welt der Sonderlinge, Hagestolze, schrulligen Experten („Käfersammler“) und Einsiedler. Wenn Spitzweg menschliche Schwächen enthüllt, so verzeiht er sie zugleich. Ironie kommt nur in Spurenelementen zum Vorschein, doch gerade dieses unaufdringliche Moment bereitet zuweilen leises Vergnügen.

Fast immer wirken seine Ansichten so naturfriedlich, als hätte sich jemand behaglich aus einem Fenster gelehnt und die Welt mit einigem Wohlgefallen betrachtet. Balsamisch ist’s, man nimmt es leichten Sinnes hin. Unsere Welt ist ja ruhelos genug.

6. Juni bis 25. Juli. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr). Katalog 19,80 Euro.




Luftige Bilder zum Durchatmen – Werke von Max Liebermann in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Pomp und Pathos der Gründerzeit waren ihm wesensfremd. Max Liebermann (1847-1935) stammte aus großbürgerlichem Hause. Von früh auf an gediegenen Reichtum gewohnt, hatte er das Imponiergehabe von nationalistischen Emporkömmlingen eben nicht nötig. Doch den Künstler bewegte das Leben jener Menschen, die mit harter Arbeit ihr kärgliches Dasein fristeten.

Im stilistischen Gefolge der niederländischen Genremalerei (die sich freilich oft in derben Zechgelagen und erotischem Handgemenge genügte), malte Liebermann Bauern, Knechte, Mägde, Korbflechter, Gänserupferinnen, Näherinnen oder Waisenkinder – und zwar keineswegs „von oben herab“.

Keine Sozialkritik, aber auch keine falsche Idylle

Diese zumeist erdfarben dunklen Bilder lassen den einfachen Leuten ihre Würde. Von barscher Sozialkritik sind sie eben so weit entfernt wie von verlogener Idylle. Statt dessen: Realistisch feststellen, was ist! Doch diese Sichtweise reichte schon, um ihn im Kaiserreich als „Apostel der Hässlichkeit“ mit vermeintlich „anarchistischen“ Neigungen zu brandmarken. Jedweder Naturalismus galt als suspekt. Dahinter verbarg sich wohl die Angst vor der schlichten Wahrheit.

Wuppertals Von der Heydt-Museum präsentiert jetzt einen Werk-Überblick mit 120 Liebermann-Arbeiten, darunter etwa 90 Gemälde. „Poesie des einfachen Lebens“ lautet der Titel, der ein Zitat des Künstlers aufgreift. Der französische Impressionismus (vor allem Manet) setzt sich mit den Jahren als prägender Einfluss durch. Liebermanns Palette hellt sich deutlich auf, der Pinselstrich wird freier und freier, bis hin zu pastos verteilten „Farb-Pfützen“.

Das Leben am Strand, im Biergarten, beim Pferdesport

Die arbeitenden Menschen rücken allerdings in den Hintergrund. Jetzt ergeht sich eine damalige, gewiss halbwegs betuchte Freizeitgesellschaft an Stränden (Noordwijk, Scheveningen), in Biergärten (München, Leiden) oder beim gehobenen Pferdesport. Herrlich luftig wirkt etwa das Bild „Polospieler“. Geht man näher heran, so sieht man, dass die durch rasche Bewegung nahezu verwischten Reittiere aus ingeniös dahingetupften Farbflecken bestehen.

Auf stille Art bezwingend auch die stets zurückhaltenden, äußerst subtil charakterisierenden (Selbst)-Porträts. Albert Einstein, Thomas Mann und Ferdinand Sauerbruch haben ihm Modell gesessen. Liebermann mied dabei jegliches optische Auftrumpfen; erst recht bei den späteren, eine abgeschirmte Ruhe beschwörenden Rückzugs-Idyllen aus dem Garten seiner herrschaftlichen Villa am Berliner Wannsee. Bilder zum Durchatmen!

Legendär sein Ausruf, als die Nazis 1933 die Macht an sich rissen und der fassungslose Liebermann die Fackelzüge sah: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte!“ Die NS-Herren verfemten den Maler des liberalen Großbürgertums wegen seiner jüdischen Herkunft als „entartet“. Verbittert ist Max Liebermann gestorben.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). So., 14. März bis 23. Mai. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 34,80 Euro.




Das Geflüster der Dingwelt – Bilder von Giorgio Morandi in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Ich habe das Glück gehabt, ein ereignisloses Leben zu führen.“ Das bilanzierende Zitat in der Wuppertaler Ausstellung über Giorgio Morandi (1890-1964) ist typisch für diesen Mann.

Nur äußerst selten ist der scheue Morandi überhaupt aus seiner Heimatstadt Bologna herausgekommen, und die Annalen verzeichnen lediglich eine einzige Auslandsreise – in die nahe Schweiz. Auch seine malerischen Vorbilder (Cézanne, Vermeer, Velazquez) kannte Morandi nur aus Büchern. Zudem hatte er sein Lebtag keinerlei „Frauengeschichten“, weder ehelich noch sonstwie. Nein, nein: Mit Männern war auch nichts. Er lebte einfach immer mit seinen drei Schwestern zusammen und malte, malte, malte.

Eingesponnen in den eigenen Kokon

Und niemals trumpfte er auf, sondern hielt sich stets an bescheidene Bildfonnate. Es ist ein wahrer Sonderling und Hagestolz der Kunst, den das von der Heydt-Museum jetzt mit 126 Exponaten (Ölbilder, Radierungen, Zeichnungen) präsentiert. Auch in den wirrsten Zeiten blieb er unbeirrbar, eingesponnen in den eigenen Kosmos – oder auch Kokon. Über zwei Weltkriege hinweg hielt er seinem schmalen Motivvorrat die Treue: Flaschen, Vasen, Schalen und dergleichen schlichte Behältnisse „bevölkern“ seine Stillleben.

„Natura morta“ (tote Natur) heißt die ausgesprochen kontemplative Schau mit Leihgaben aus vielen Städten, darunter auch Siegen, wo Morandi 1962 den Rubenspreis erhalten hat.Allein diese Ausstellung würde schon den (arg gekappten) Jahresetat des Wuppertaler Hauses überschreiten – und das bereits im Januar. Die Brennscheidt-Stiftung sorgt dafür, dass der Betrieb mehr als ordentlich weiter geht.

Zurück zu Morandi. 1925 entstanden zwei Selbstbildnisse. Doch der Mann, den wir da sehen, wirkt dermaßen zurückhaltend, als wolle er am liebsten verschwinden und sich ungeschehen machen. Weitere Selbstporträts hat Morandi vernichtet. Fortan schuf er nur noch jene Stillleben, die vor allem in den ruhebedürftigen 50er Jahren hohe Geltung hatten und etwa auf den ersten beiden documenta-Schauen in Kassel gezeigt wurden.

Tagelang die Gefäße ordnen

In Bologna herrscht(e) oft Wolkenwetter. Damit hatte Morandi seine liebe Not, war er doch auf perfekte Lichtverhältnisse aus. Tagelang soll er die Gefäße, die er malen wollte, hin und her geschoben haben, bis alles in seinem Sinne stand und das Wetter „stimmte“. Die Bilder entstanden jeweils ganz rasch. Man sieht’s an den Pinselspuren.

Die scheinbar leblosen Dinge werden in erdhaften Farben ganz leise beredt, als wären es doch (verschlüsselte) Selbstporträts, die uns etwas zuflüstern wollen. Auf jede Lichtschwingung und jeden Schattenhauch kommt es hier an. Mal wirken die Gegenstände plastisch, dann wieder breiten sie sich als reine Malereignisse in der Fläche aus. Mitunter erlangen sie gerade zu mystische Qualitäten. Eine stille Weit als Hallraum für ungeahnte Erscheinungen.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 11. Januar bis 7. März. Katalog 39 Euro.




Wenn die kulturelle Mischung stimmt – Wuppertaler Ausstellung „Russisch Paris“ häuft Beispiele für internationalen Einfluss an

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen, so können sich die schönsten und buntesten Mischformen ergeben. Das gilt nicht nur unter lebendigen Menschen, sondern auch auf dem Felde der Malerei: „Russisch Paris“ heißt die neue Wuppertaler Ausstellung, die schon im Titel eine neue „Legierung“ schimmern lässt.

Gemeint ist der Einfluss russischer Künstler in der französischen Metropole, welche wiederum die Neubürger prägte. Die Schau erfasst den langen, wechselvollen Zeitraum zwischen 1930 und 1960. Vor allem aus politischen Gründen gab es seinerzeit etliche russische Einwanderungswellen in Paris.

Flucht vor Stalin an die Seine

In den 1930er Jahren lebten über 80 000 Russen an der Seine – darunter zahllose Maler, Bildhauer und Komponisten. Eine kreative Kolonie also. Sie kamen, als der stalinistische Terror tobte, als in der Sowjetunion nur noch „realistisch“ dienstbare Kunst im Sinne des Systems geduldet wurde.

Die selbstbewussten Franzosen haben den ästhetischen Zuwachs lange geflissentlich ignoriert und ihn später als eine erste „Ecole de Paris“ (Pariser Schule) flugs vereinnahmt. So geht’s auch.

Wuppertal ist einzige deutsche Station der mit über 270 Arbeiten sehr umfangreichen Auswahl, die noch nach Bordeaux (aber nicht nach Paris) wandert. Zusammengestellt als Beitrag zu den 300-Jahr-Feiern in St. Petersburg, stammen die Bilder und Skulpturen vor allem aus dem dortigen Staatlichen Russischen Museum. Heute ist man dort also stolz auf Namen wie Kandinsky, Chagall, Gontscharowa, Archipenko, Lipchitz, Poliakoff oder Zadkine; und auf Künstler, die bei uns noch zu „entdecken“ wären, wie z. B. Boris D. Grigorieff. Manchen merkt man die Herkunft nicht namentlich an: Auch die ruhmreiche Sonia Delauney, Schöpferin pulsierender Farbrhythmen, stammte aus Russland.

Sämtliche Exponate sind in Paris entstanden. Die Summe wirkt, trotz Kapitel-Gliederung, etwas diffus und wenig trennscharf. Katalog-Studium tut not.

„Freunde vom Montparnasse“

Fast alle Stilrichtungen sind im Mix der Ungleichzeitigkeiten vertreten –von erzkonventioneller Abbildnerei bis zu entschiedener Avantgarde oder heftiger Provokation (Chaim Soutine: „Schweine“, 1941).

Besonders interessant wird es, wenn just neue Mischungen sichtbar werden, wenn also Russen die französisehen Traditionen oder Atmosphären aufgreifen und sie sich so anverwandeln, dass ein „Drittes“, wahrhaft Übernationales entsteht.

Die anfangs häufig spätimpressionistisch und aus touristischem Blickwinkel dargestellte Stadt wirkt eher fade. Wenn östliche Motiv- und Gefühlswerte einfließen, kann der Zauber walten. Fast eine Regel: Wer immer sich Paris allzu sehr ausgeliefert hat, verlor ebenso an Spannkraft wie alle, die nur auf dem Hergebrachten beharrten. Und die Ausnahme: Marc Chagall, der sich fern der Heimat treu blieb.

1962 malte Maria Marevna ein melancholisches Gruppenporträt zwischen Kubismus und Ikone: „Freunde vom Montparnasse“. Da war die große Zeit der Russen in Paris vorüber. Die Schwerpunkte der Weltkunst lagen bereits in New York.

10. August bis 26. Oktober. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog 29 Euro.




Der Sieg über das Chaos – Wuppertal zeigt Europas erste Werkschau des Amerikaners Adolph Gottlieb

Von Bernd Berke

Wuppertal. Biographischer Zufall bestimmt oft die Wege der Kunst. Beim Amerikaner Adolph Gottlieb (1903-1974) trug es sich so zu: 1937 erlitt er einen Arthritis-Anfall. Auf ärztlichen Rat hin verließ er New York und begab sich ins trockene Klima von Tucson/Arizona. Dort entdeckte er die Kunst indianischer Ureinwohner – und malte fortan ganz anders.

Wuppertals Von der Heydt-Museum widmet ihm eine Retrospektive mit 39 Gemälden, wobei einige Großformate die Logistik des Hauses arg strapazierten. Die Mühe hat sich gelohnt. Fast jedes US-Museum, das auf sich hält, besitzt Gottlieb-Werke, doch in Europa ist es die erste nennenswerte Werkschau überhaupt. Und Wuppertal ist einzige deutsche Station.

Vor allem Deutschland mied Gottlieb, Sohn einer Familie jüdischen Glaubens, die aus der damaligen Tschechoslowakei in die USA ausgewandert war. Zu seinen Lebzeiten, so verfügte er, dürfe es in Deutschland keine Einzelausstellungen mit seinen Arbeiten geben. Verwandte Gottliebs waren im KZ ermordet worden. Da erübrigt sich jede weitere Begründung.

Archaische Zeichen wie im Setzkasten

Museumsleiterin Sabine Fehlemann knüpfte indes Kontakte zur Gottlieb-Stiftung, die sich – Jahrzehnte nach seinem Tod – nicht mehr ans Verdikt des Künstlers gebunden fühlen muss.

Von 1929 bis 1973 reicht der Überblick. Schon mit 17 Jahren war Adolph Gottlieb nach Europa aufgebrochen und hatte in Paris gelebt. Anfangs noch im Bannkreis der klassischen Moderne (Matisse, Picasso, Klee), geraten seine frühen Werke noch nicht sehr charakteristisch, die Entwicklung ist offen. „South Ferry Waiting Room“ (1929) evoziert eine Einsamkeits- und Warte-Stimmung wie gewisse Bilder eines Edward Hopper. Doch diese Linie bricht bald ab.

Gottlieb legt die seinerzeit übliche Strecke vom perspektivisch gerundeten Gegenstand zur abstrahierenden Flächigkeit zurück. Auch erprobt er surrealistische Motive („Box and Sea Objects“), dies freilich in eigener Ausgestaltung und mit spezieller Farbwahl: zunächst erdhaft dunkel, später in äußerst gewagten Zusammenklängen.

Mit dem Rückgriff auf indianische Bildwelten beschreitet Gottlieb vollends andere Pfade. Kunstgeschichtler haben sich auf den Begriff „Piktographien“ geeinigt: Gottlieb „sortiert“ zeichenhafte Kürzel (Spannweite zwischen Schrift und Symbol) wie Zufalls-Fundstücke in eine Gitterstruktur. Es herrscht eine Art Setzkasten-Prinzip. Doch das vermeintliche Ordnungsmuster täuscht, die oft rätselhaften, archaischen und magischen Signale gruppieren sich nach unbewusster, quasi-surrealistischer Kombinatorik – Wegmarken auf der Suche nach dem Ungeahnten.

Kontemplative Sonnenaufgänge

Gottlieb pflog freundschaftlichen Umgang mit Kollegen wie Mark Rothko, Ad Reinhardt und Barnett Newman. Sie standen für ein zunehmend selbstbewusstes Amerika, das besonders nach dem Zweiten Weltkrieg Europa den Rücken kehrte. Sogar in künstlerischer Hinsicht gehörte man damals wohl einer „Siegermacht“ an.

In den Piktographien flackert gelegentlich noch Nervosität. Die späteren „Imaginary Landscapes“ (Imaginäre Landschaften) sind zwar auch sichtlich einer fiebrigen Unruhe abgerungen, wirken aber kontemplativ. Da sehen wir etliche Farb-„Sonnen“ über brodelnden Urgründen aufgehen, als habe der Kosmos das Chaos besiegt und alles Explosive gebändigt. Beruhigt, wie für die Ewigkeit, stehen diese Zentralgestirne weit überm Bildhorizont.

Gottliebs kreativer Drang war schier unstillbar. Rund 3000 Gemälde soll er geschaffen haben. Selbst nach einem Schlaganfall (1970) malte er weiter – vom Rollstuhl aus. Wollte die Hand nicht ruhig bleiben, behalf er sich mit der Tropftechnik. Die Resultate wirken keineswegs hingehudelt, sondern durchaus zwingend. Alles andere als Zufall.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 11. Nov. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 48 DM.




Monumente einer milden Harmonie – Claus Bury zeigt seine architektonischen Visionen in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Es sieht aus wie das Modell einer Stadt für die „Ewigkeit“. Da hat einer allerlei architektonisches Vokabular zwischen Babylon und Altägypten, Azteken-Bauten und so genannter Postmoderne durchgespielt.

Der Modellbauer, dessen Einzel-Entwürfe hin und wieder realisiert werden, heißt Claus Bury, wurde 1946 geboren und lehrt Grundlagen architektonischer Gestaltung an der Gesamthochschule Wuppertal. Jetzt stellt er seine zwischen 1980 und 2001 entstandenen Kreationen im Von der Heydt-Museum aus.

Damit man sich die vom Künstler imaginierten Dimensionen vorstellen kann, stehen im Museum Menschenfigürchen vor und zwischen all den Modellen von Torbögen, Pyramiden, Brücken, Säulen und Treppen. Manchmal wirken diese Menschlein ganz verloren im Monumentalen, oft aber auch gleichsam aufgehoben im großen Ganzen. Vielleicht stehen ja gar religiöse Vorstellungen dahinter. Zumindest spürt man eine Aura, die über den Zeiten und Individuen schwebt. Geometrische Maßverhältnisse wie der Goldene Schnitt oder baulich umsetzbare mathematische Zahlenreihen sind halt nicht an Tag und Stunde gebunden.

Gemeinschaftstaugliche Skulptur

Doch die Visionen sollen auch im Hier und Heute verankert sein: Bury begreift Architektur nicht zuletzt als soziales Phänomen, als gemeinschaftstaugliche Skulptur, die nicht nur frommen, sondern auch nutzen möge. Davon zeugt u. a. das Modell eines in viele Kammern gegliederten Theater- und Kinozentrums, das in Duisburg entstehen könnte. Wer glaubt, Bury ergehe sich in prekärer Imponier-Architektur nach Art des NS-Baumeisters Albert Speer, der irrt. Für friedliche, gelassene Anmutung sorgt schon das Material, nämlich mild duftendes Holz. Das Naturprodukt ist vergänglich, es verwittert. Schon manche Bury-Schöpfung, die sich im Freien erhob, musste alsbald wieder demontiert werden. Also doch kein Ewigkeits-Anspruch…

Überhaupt hat’s Bury auch mit der Natur. Baut er eine Brücke, so denkt er beispielsweise an die Form eines Fisches. Oder er schmiegt seine Konstruktionen in Gartenlandschaften ein. Bury erstrebt eine Kontemplation und Harmonie, die weit über den Moment hinaus weist.

Vom Heuhaufen zur dorischen Säule

Wahrhaft grandios der Eindruck jenes Raumes, in dem die meisten der insgesamt 59 Holz-Modelle (Maßstäbe von 1:10 bis 1:200) den erwähnten Eindruck einer Stadt vermitteln. Da ergeben sich zahllose Blickachsen. Monumentales wirkt bei Bury stets gefällig, niemals aggressiv, verstörend oder auch nur befremdlich. Gerade das macht jene Kunstkenner, die sich gerne irritieren lassen, misstrauisch. Rasch erheben sie den Vorwurf, hier liefere einer lediglich hübsches Design. Schaut man genauer hin, so nimmt man freilich fragile Balancen und Stufungen wahr. Die architektonischen Phantasien erweisen sich denn doch als sinnreich ausgeklügelt.

Auch die Mühen der Vorbereitung werden dokumentiert: Man sieht penible Skizzen sowie Burys Fotografien, die auf einige Inspirationsquellen hindeuten – vom traditionellen bäuerlichen Heuhaufen bis dorischen Säule, vom Schornstein bis zur Pyramide. Wie Burys Arbeiten auf freiem Felde wirken, kann man nun gleichfalls in Wuppertal (Südstraße) ermessen. Hier entstand die dreieinhalb Tonnen schwere, 12 Meter lange Lärchenholz-Brückenplastik „Elastisch – Schwebend“. Sie greift Formen der Umgebung auf und versetzt sie zugleich in ungeahnte Schwingungen.

Claus Bury -Spannungsbogen. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 22. Juli, Di-So11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 48 DM.




Das Niemandsland am Ende aller Träume – Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Kreuz und quer über die Bühne verstreut sieht man Scheußlichkeiten der 50er Jahre. Verschlissenes Mobiliar, ärmliche Plastik-Kultur. Ringsum schaut’s aus wie auf einem billigen Campingplatz.

Oder wie auf einem melancholischen Gemälde von Edward Hopper: Rechts verläuft ein Gleis ins Niemandsland, daneben erheben sich dürre Telegrafenmasten. Wahrlich, es ist die „Endstation Sehnsucht“. Hier leben und leiden die unbehausten Figuren aus Tennessee Williams‘ Stuck.

Im Wuppertaler Schauspielhaus (Regle: Paolo Magelli / Bühnenbild: Cary Gayler) begegnen sich die Schwestern Blanche DuBois und Stella anfangs so, als wären, sie wieder die kleinen Mädchen von damals. Sie balgen, sie kichern und kitzeln einander. Doch es ist nur ein Nachklang früherer Spiele. Inzwischen ist ja längst das Erwachsenen-Leben mit all seinen Zumutungen über sie beide hinweg gegangen, gleichsam schweren Schrittes.

Blanche (Eicke Gercken) sucht bei Stella (Patricia Hermes) letzte Zuflucht: Das einstige Familien-Vermögen schwand dahin, vor allem aber hat sie alle Freunde und fast jede Hoffnung auf Liebe verloren. Sie wirft sich nun jedem hin wie eine Hure und ertränkt ihre wachsende Hysterie in Alkohol.

Mechanik statt Magie des Textes

Stella wiederum ist mit Stanley Kowalski (This Maag) nicht nur verheiratet, nein, sie ist ihm verfallen. Dieser Klotz von einem Kerl säuft und pokert unentwegt. Wenn Stella nicht spurt, schlägt er sie grün und blau. Doch ihr Begehren höret nimmer auf. Stanley wirkt hier gar nicht so animalisch, sondern ist einer von der weinerlich-brutalen Sorte, selbst zutiefst vereinsamt; wie denn überhaupt die Wuppertaler Aufführung mehrerlei Einsamkeiten vor uns ausbreitet. Vom gelingenden Leben dürfen all diese Menschen wohl nicht einmal träumen.

Ganz anders als bei Frank Castorf, der dasselbe Stück in Salzburg (und nun in Berlin) herausbrachte und die Vorlage nach eigenem Gutdünken umstülpte, hat die Wuppertaler Inszenierung großen, vielleicht auch allzu großen Respekt vor dem Original. Man wagt kaum, ihn anzutasten, zu raffen oder zu stilisieren. Sie reichen uns den Text sozusagen Zeile für Zeile dar. Doch obwohl man alles breit ausspielt, bleibt der Ertrag merkwürdig schmal. Wir erleben eher die Mechanik als die Magie des Stückes.

Eine gar zerbrechliche Frau

Längen gibt’s ebenfalls: Schier endlos sitzen Stanley und seine Kumpane am Pokertisch, wir dürfen ihnen beim Biertrinken zusehen. Prost! Aber man nimmt sich auch Zeit, peinigende Sprechpausen wirken zu lassen.

Nachdem das anfängliche hektische Getrappel und Geplapper vorüber und die offensichtliche Nervosität abgelegt ist, gewinnt man dem Text einige Nuancen ab. Besonders Eike Gercken als Blanche vermag ihre Figur anrührend darzustellen, es gibt sogar einige inbrünstige Momente.

Sie mimt zunächst die Tapfere, die „eigentlich ganz patente“ Frau. Doch dazu ist sie viel zu zerbrechlich – und schließlich ganz und gar gebrochen. Am Ende hockt sie da als überschminkte, grässlich rosa gekleidete Barbie-Puppe und lässt sich willenlos wegführen – geradewegs in die Psychiatrie. Das schiere Elend in bonbonbunten Mischlicht-Farben. Doppelt betrüblich.




Als die Zukunft brodelte – Wuppertaler Ausstellung aus dem Umkreis der russischen „Futuristen“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit grell bemalten Gesichtern und in wallenden Phantasie-Gewändern zogen sie durch Moskau oder St. Petersburg. Manche trugen auch schrille gelbe Brillen zur Schau. Wenn sie sich zu Gruppen vereinten, nannten sie sich beispielsweise „Karo Bube“ oder „Eselsschwanz“.

Etwas verrückte „Szenen“ gab es eben schon lange vor unserer Zeit. Besagte Leute waren russische Künstler, Musiker und Dichter um 1910. Mit dem Furor der Jugend forderten sie, die gesamte bisherige, „von Ratten zerfressene“ Kultur müsse erneuert werden. Ganz und gar der Zukunft zugewandt, verstanden sie sich als „Futuristen“ – ein Wort, das in Italien erst später aufkam.

„Die Russen sind da“, verkündet ein großes Transparent vor dem Eingang. Fast klingt’s wie eine Reminiszenz an Ängste aus dem Kalten Krieg. Doch das Wuppertaler Von der Heydt-Museum zeigt nur einen Querschnitt durch das russische Kunst-Schaffen jener bewegten Zeiten nach 1900. Die 155 Werke von 33 Urhebern, vornehmlich aus St. Petersburg geliehen und in dieser Fülle bei uns noch nie gezeigt, fasern freilich im Verbund mit Gebrauchs- und Textilkunst zu einer verwirrenden stilistischen Vielfalt aus. Das Wort „Futuristen“ dient hier nur noch als notdürftige Klammer und umfasst alle, die damals nach vorn schauten.

Keine Verherrlichung des Krieges

Die Namen der meisten Künstler sind bei uns unbekannt. Selbst in ihrer Heimat, wo Stalin sie in den 30er Jahren drangsalierte, sind sie weithin vergessen. Während Italiens Futuristen um den Manifest-Autor Marinetti sich generell an Dynamik berauschten (sei es in Gestalt von Rennautos, brodelnden Großstädten oder Kriegsgetümmel), begriffen die Kunstler aus den weiten russischen Landen den Krieg nicht als stählernes Reinigungsbad. Natalija Gontscharowa ließ auf einer Lithographie von 1914 gar Engel eingreifen, um bedrohliche Flugzeuge am Himmel aufzuhalten…

Auch priesen die Russen die Metropolen keineswegs als einzig wahre Gär-Stätten der Moderne. Ländliche Motive, allerdings formal aufgefächert oder aufgesplittert, kommen hier häufig vor. Wurzeln in der Volkskunst sind unverkennbar, doch zeitgemäße Impulse aus Expressionismus oder Kubismus ließen eine arglose Weltsicht nicht mehr zu. Auch Bauern und Pferde werden vom Gewitter der Formzertrümmerung erfasst.

Das Neue ersehnen oder vor seiner Gewalt erzittern

Einen gewissen Schwerpunkt der Schau bilden Arbeiten von David Burliuk (1882-1967), der zu Beginn des Jahrhunderts an Ausstellungen beim „Blauen Reiter“ in München beteiligt war. Künstlerische Eigenkraft mag man ihm nur bedingt zusprechen. Beflügelt von allgemeiner Aufbruchstimmung, wirken seine in Werke noch vielversprechend, doch später verlieren sie sich in knatschbunt kolorierter Gefälligkeit. Derlei ästhetische Sinkflüge oder gar Abstürze werden in Wuppertal reichlich, wenn auch summarisch (dicht gehängt) abgehandelt.

Doch es finden sich auch etliche Bilder, die seinerzeit als wild empfunden wurden und heute noch beträchtliche Energie ausstrahlen. Einige der stärksten Beiträge stammen von Frauen: Die erwähnte Gontscharowa hat mit dem rasanten „Radfahrer“ (1913) gar eine der Ikonen der Jahrhundert-Frühe gemalt. Elena Guros „Frau mit Tuch“ (1910) ist in kühner Ausschnittwahl und riskanter Farbgebung eines der originellsten Bilder der gesamten Auswahl. Die kubistischen Formfindungen der Vorjahren in Köln schon eingehend vorgestellten Ljubow Popowa halten jeden Vergleich aus.

Höchst einprägsam ist auch Pavel N. Filonows Großformat „Umwandlung des Menschen“ (1914/15). Es handelt natürlich noch nicht von Gentechnik, wohl aber vom seelisch-körperlichen Elend des Proletariats in den wuchernden Städten. Diese Menschen erzittern geradezu vor ragenden Hochhäusern und überhaupt vor der Gewalt des Neuen. Ein erschütternder Blick auf die Kehrseite der Zukunft.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). 17. September bis 26. November. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Die Geburt der Phantome – „Surreale Welten“ im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit großen Namen wartet die neue Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum auf. Nur ein paar Beispiele: Goya, James Ensor, Max Ernst, Magritte, Picasso. Sie alle haben „Surreale Welten“ (Titel der Schau) ins Bild gesetzt. Aber was heißt in diesem Falle „surreal“?

Der Begriff wird hier etwas weiter gefasst. Nicht nur der eigentliche Surrealismus (mit Dalí, de Chirico und Ernst gleichwohl prominent vertreten) gerät ins Blickfeld, sondern auch etliche Vor- und Ausläufer dieser Richtung. Phantome aus Traumgefilden haben schließlich nicht erst in unserem Jahrhundert die Bilder bevölkert.

Die von Hamburg her kommende Auswahl stammt aus der beachtlichen Sammlung eînes ungenannten Hanseaten, der als Banker gutes Geld verdient und es mit viel Sinn und Verstand für Kunst ausgegeben hat. Betrüblich nur, dass er seine Schätze wahrscheinlich einem Berliner Institut vermachen will. Dort haben sie doch schon so viel…

Viele Quellen des Übernatürlichen

Surreale Gestalten, so sieht man nun in Wuppertal, können aus vielem hervorquellen, sie scheinen just zum Ur-Bestand menschlicher Wahrnehmung zu gehören: Und so sprießen sie denn aus architektonischen Erfindungen, aus Tier- und Naturszenen, aber auch aus Maschinenwelten, sozialen Verwerfungen – und aus dem menschlichem Körper mitsamt seiner Geschlechtlichkeit. Davon zeugt vor allem ein verschwiegenes Kabinett mit fleischlichen Phantasien des Hans Bellmer. Wie in einer Schöpfer-Bastelstube werden da die Leiber zerteilt und neu montiert.

Giovanni Battista Piranesi hat zur Mitte des 18. Jahrhunderts visionäre Bilderserien von Kerkern und Verliesen („Carceri“) entworfen. Die Verwirr-Architektur setzt in bedrückend dunklen Labyrinthen geheimnisvolle Figuren frei, die als surreal gelten können –Gefängnisse als Brutstätten fiebriger Kopfgeburten.

Von Francisco de Goya sind einige „Caprichos“ zu sehen: Ein Arzt verwandelt sich unversehens zum Esel; selbst ein Baum nimmt, heftig vom Winde gebeugt, gespenstisch übersinnliches Leben an. Wenn derart die Dinge ins Gleiten geraten, so rücken die Albträume mit ihren Phantasmagorien schon ganz nah. Die um 1865 gefertigten Paris-Ansichten von Charles Meryon wirken zunächst harmlos wie Postkarten. Doch dann sieht man, wie mitten in der Stadt eine Seeschlacht tobt oder fliegende Fische durch die Lüfte segeln.

Als ob ein Loch im Himmel wäre

Auf einmal ist es, als sei ein Loch in den Himmel gestoßen worden, aus dem die „andere“ Wirklichkeit herabstürzt. Doch das Surreale hat viele Facetten, nicht nur bedrohliche: Welten liegen zwischen den düsteren Todesahnungen eines James Ensor, den fast lieblich schwebenden Gestalten des Symbolisten Odilon Redon, den schier unendlichen Metamorphosen bei Max Ernst und Picasso, dem feinsinnigen Humor bei Paul Klee, den subtilen Sinnestäuschungen und Gedankenspielen bei René Magritte und den Formen-Explosionen bei Wols.

So reichhaltig ist diese Schau mit über 250 Werken, dass man eine Entdeckung beinahe versäumt: Der als Schriftsteller berühmte Victor Hugo („Les Misérables“) hat außerordentliche Tuschzeichnungen geschaffen. Am Rande der Abstraktion oszillierend und somit ihrer Zeit ganz weit voraus, sind es zarte „Erscheinungen“ wie aus einer höheren Welt.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Turmhof 8). Bis 3. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 45 DM.

 




Exotische Blüten einer neuen Lust – Noch titelloser Tanzabend * von Pina Bausch mit berauschend schönen Bildern

Von Bernd Berke

Wuppertal. Szene vom Geschlechter-Markt: Eine Frau hält ein Tellerchen hoch, ein Mann legt Münzen darauf. Nun darf er einer anderen Frau in den Haaren wuscheln und wühlen. Es ist eine beinahe rührend hilflose Lust-Gebärde, die aber unterschwellige Aggression enthält.

Doch man blickt hier nicht nur in die Abgründe fluchwürdiger Käuflichkeit, sondern es ist, als eröffne sich hier unversehens ein von falschen Erwartungen entlastetes, freilich höchst unsicheres Experimentierfeld der Sinne. In Pina Bauschs neuem, immer noch titellosen Tanzabend * erklingt gleich zu Beginn ein Popsong mit dem Refrain „There is no love today“ (Es gibt heute/heutzutage keine Liebe). Suggestiv, ja fast einschmeichelnd hört er sich an, der niederdrückende Befund.

Szenen zwischen Trance und Traum

Vielleicht verhält es sich so, bestürzend und verheißungsvoll zugleich: Am Nullpunkt der (romantischen) Liebe angelangt, sind Männer und Frauen frei, alles noch einmal von Grund auf zu erkunden. Sie schreiten gar zu vergleichenden Messungen ihrer Körperteile – Beginn einer vielfältigen Sichtung der erotischen Bestände, der verbliebenen Vorlieben und Rituale, vom ersten Werben bis zur letzten Träne, auf der Suche nach künftigen Horizonten.

Im Hintergrund (Bühne: Peter Pabst) erhebt sich machtvoll eine begrünte Anhöhe, aus der Wasser-Rinnsale tropfen. Später kippt diese Wand nach hinten, wird zum sanfter gewellten Hügel, auf dem ganz am Schluss ein kleines Holzgestell aufragt wie ein begonnener Schiffbau. Ist es eine Arche zum allerletzten Aufbruch vor der Sintflut?

Vom Krauchen bis zum engelhaften Fluge

Mag sein, dass wir uns anfangs im tropischen Gebiet befinden, wo die Lüste irgendwann wie exotische Blüten gedeihen könnten. Hitzig und flirrend lasziv wirken viele der nun in dichter Abfolge oder sogar simultan auf uns einstürzenden Szenenbilder; ein Pandämonium aus Ver- und Entkrampfungen, ein farbenreicher Reigen der Körper zwischen Getriebensein und Befreiungsversuchen, zwischen tierischem Krauchen und engelhaftem Fluge.

Die Geschlechter erproben ihre Posen und Rollen, bis hin zu den Extremen. Beispielsweise von der Hure zur Madonna: Eine Frau wird auf einem Stuhl in die Lüfte gehoben, für Sekunden schwebt sie über allem wie eine heilige Jungfrau. Ein andermal stehen Stühle wie ein Kartenhaus aufeinander, und man zwängt sich mühsam unten hindurch wie durch ein Nadelöhr, damit nichts stürze. Die überlistete Schwerkraft der irdischen Last. Zudem diese grotesken Einsprengsel zwischen Trance und Traum: Ein Einkaufswagen mit Kohlköpfen wird vorüber geschoben, ein Fakir beginnt (für Obdachlose?) zu kochen, ein paar Hühner scharren vor sich hin. Rätsel müssen sein, auf der Bühne wie im Leben.

Die Männer zupfen und zerren an den Frauen, sie wollen sie hierhin und dorthin ziehen. Doch diese sind nicht wehrlos, sie entschlüpfen geschickt, allerdings zu neuen, anderen Näherungen verlockend. Ein schönes, schillerndes Spiel, das sich aus den eher gezackten, kantigen Bewegungen der Männer und den oft schwebenden Figuren der Frauen auf Dauer wie von selbst ergibt. Der Unterschied und seine wundersamen Folgen.

Der fortwährende Tanz des Lebens

Wie sich das fügt: Wie lässig die Frauen es genießen, wenn ihre Gesichter immer wieder mit Wasser übergossen werden, während sie am Boden liegend rauchen. Ein Bild der Erquickung, des Wachstums, gar der Fruchtbarkeit. Südlich warm, einhüllend, fließend, sinnlich. „Liebst du jemanden?“ und „Wie viele Babys habt ihr?“, fragen die Tänzerinnen ins Publikum hinein, mit sanfter Dringlichkeit. Tatsächlich: All das hat mit einem selbst zu tun. So oder so.

Mensch, werde wesentlich: Die grandiose Musikauswahl (Schwerpunkt: südamerikanische Rhythmen) vermittelt eine Ahnung vom Antrieb der Musik überhaupt, vom fortwährenden Tanz des Lebens.

Die oft berauschend artistischen Soli geraten zu Inbildern der Körperlichkeit im Raume und damit des menschlichen Hierseins. Und es gibt wirbelnde, dann aber in der Drehbewegung verhauchende Szenen mit luftig fliegenden Kleidern, fast überirdisch und zum Heulen schön hingetupft. Könnte man’s mit Worten sagen, so müssten sie’s nicht tanzen.

Termine: 9., 10., 12., 13. Mai. Karten: 0202/569-4444.

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Nachtrag: Der Tanzabend bekam später den Titel „Wiesenland“

 




Marionetten der Politik – Sartres Stück „Die schmutzigen Hände“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Brutalstmögliche Aufklärung“ versprach das Premieren-Transparent draußen vor dem Wuppertaler Schauspielhaus. Die Formel des hessischen CDU-Ministerpräsidenten Koch kennt man inzwischen zur Genüge, sie ist zum geflügelten Wort der politischen Sümpfe geworden.

Und was wird unter solchen Vorzeichen in Wuppertal aufgeführt? Jean-Paul Sartres 1948 geschriebenes Stück mit dem vielsagenden Titel „Die schmutzigen Hände“.

Der fiktive Balkanstaat Illyrien ist anno 1943 von Deutschen okkupiert. Die Kommunistische Partei des Landes hat sich gespalten. Die einen setzen auf Partisanenkampf, die anderen auf taktische Kompromisse mit der erzreaktionären Regierung, damit sie schon an den Hebeln der Macht sitzen, wenn einst die Rote Armee einmarschiert.

Wie die Parodie eines Gangsterfilms

Den jungen Intellektuellen Hugo (Thomas Höhne), der bislang nur das Parteiblatt redigiert hat, drängt es aus innerer Leere zur (existenzialistischen) Tat. Er ist „zu allem bereit“, auch zum Mord am führenden Parteifunktionär Hoederer (Siegfried W. Maschek), der sich mit den herrschenden Mächten einlassen will. Hugo wird als Sekretär bei Hoederer eingeschleust, die Pistole steckt im Gepäck.

In Wuppertal (Regie: Volker Lösch) wird der Mord sogleich schon einmal als einmal als Knalleffekt vorweggenommen, ganz plakativ unterm sozialistischen Händedruck-Banner. Sodann müsste die Anatomie der Tat folgen, doch man hat zunächst den Eindruck, hier werde eine etwas alberne Gangsterfilm-Parodie geliefert.

Hoederers Leibwächter ergehen sich in Slapstick-Szenen, ihr Schutzbefohlener hantiert immerzu mit Wodka-Flaschen. Andauernd wird hastig geraucht. Zu all dem erklingt Musik aus Quentin Tarantinos Kinofilm „Pulp Fiction“ – Hinweis auf einen Standpunkt über aller Nervosität, auf einen abgeklärten Umgang mit alltäglich gewordener Gewalt?

Manischer Irrsinn mit Stühlen

Hugo, oft in unechten Posen befangen, und seine Frau Jessica (Tessa Mittelstaedt), ein erotisches Luder, treiben derweil ihr Spielchen mit Bestandteilen des einprägsamen Bühnenbilds (Cary Gayler), das von einem raumgreifenden Konferenztisch-Bogen beherrscht wird. Immer wieder verrückt Jessica die Stühle, und Hugo stellt sie dann wieder in die starre alte Ordnung. Ein Hin und Her der Temperamente, ein manischer Irrsinn.

Die Figuren scheinen überhaupt allesamt Getriebene zu sein, ihrer eigenen Bewegigründe nicht gewiss, geradezu marionettenhaft. Und aus solch unbegriffenem Gefühls-Chaos soll jemals politische Kraft erwachsen?

Nur Hoederer hat das Spiel der Macht durchschaut, aus dem man nicht mit reinen Händen hervorgehen kann. Siegfried W. Maschek zeigt eine facettenreiche Figur: melancholisch, illusionslos, geistig flexibel bis zum Zynismus, den Zwiespalt aller Worte geradezu auskostend. Doch so unabweisbar lebensecht klingen letztlich seine Argumente, dass auch Hugo ihnen erliegt – bis er Hoederer dann doch erschießt, weil jener mit Jessica poussiert, die sich bereitwillig als Trophäe hergibt.

Im Flachland des Hier und Heute

Kein feministisches Frauenbild also. Und kein politischer Mord, sondern eine Tat im Affekt. Vollends verfehlt, weil sich nach der Besatzung just Hoederers Position als Parteilinie durchsetzt. „Nicht verwendbar“, lautet das Urteil der Partei über Hugo, das dieser selbst am Ende hervorstammelt. Er wankt gleichsam ins historische Nichts. Mit dieser „brutalstmöglichen Aufklärung“ hätte es enden können.

Schade nur, dass eine achtbare Aufführung, die denn doch eine Menge Gedankenstoff recht sorgsam aufbereitet, am Schluss noch einmal ins Alberne driftet. Wir sehen den Redner einer hohlen „Neuen Mitte“ aus dem geistigen Flachland des Hier und Heute, er schwafelt von Flexibilität und dergleichen. Ein schneller Lacherfolg. Doch mit Sartre hat dieser flotte neue Typ des Kompromisslers nur noch vage zu tun.

Termine: 22., 23, 25., 29.. 31. März. Karten: 0202/569-4444.




Martin Luther King zwischen Utopie und Personenkult: „I Have A Dream“ – Stück über den Bürgerrechtler in Wuppertal uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Am Anfang war das Wort, also beginnt der Abend mit einem Bibelzitat: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln…“ Viele Dutzend gerahmte Bilder aus dem Leben des legendären schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King (geboren 1929, ermordet am 4. April 1968) zieren die rückwärtige Bühnenwand. Wenn deren vier Segmente sich öffnen, so tut sich in der Mitte eine sinnreiche Kreuzesform auf. Der Freiheitskämpfer war zunächst einmal Baptistenprediger.

Als „Stück für die ganze Familie“ annonciert das Wuppertaler Schauspielhaus Gerold Theobalts „I Have A Dream“. Das Etikett lässt bereits ahnen, dass inhaltliche und ästhetische Wagnisse weitgehend ausbleiben. So ist es denn auch: Der zeitgeschichtliche Rückblick wird – auch in Holk Freytags recht achtbarer Inszenierung – den Ruch braver Belehrung nie ganz quitt. Es bleibt ein Zwitter zwischen maßvollem Problemstück und leichtlebigem Musical.

Arg fahrig wirken die ersten zehn Minuten. Die Musikband übertönt die Worte der Schauspieler. Man fürchtet, Intendant Freytag könne mal wieder auf offener Szene zum Premieren-Abbruch schreiten, doch bald pendeln sich die Dinge sachte ein; nicht nur, was den Lautstärkepegel angeht. Auch das vielköpfige Ensemble findet in besseres Fahrwasser.

Die Aufführung gewinnt mit wachsender Dauer, sie hat ihre stärksten Momente nach der Pause und erreicht einen Gipfel gegen Schluss – mit Martin Luther Kings bewegender „I have a dream“-Rede von 1963. Titeldarsteller Tim Grobe, mit drangvollem Ernst bei der Sache, trägt sie so flammend vor, als werde sie wahrhaftig erst in diesem Moment gehalten. Ihr utopisches Gleichheitsversprechen ist ja bis heute keineswegs eingelöst.

Lehrstoff mit Gospelgesang verabreicht

Nach kurzer Aufwärmphase kann man also dem Geschehen konzentrierter folgen und sich dazwischen im Takt von Gospelklassikern sowie artverwandten Mainstream-Songs wiegen (Hitliste: „When the Saints…“, „Glory Glory Halleluja“, „Oh, Happy Day“, „We Shall Overcome“), die von der farbigen Ronnell Bey hinreißend dargeboten werden. Dafür gibt es Szenenbeifall und am Ende heftige „Zugabe“-Rufe.

In solcher Verpackung werden Wissens-Happen verabreicht. Man erfährt etwas über den familiären und religiösen Hintergrund des Martin Luther King. Schlimme Fälle von Rassentrennung (separate Plätze im Bus usw.) aus den 50er- und 60er-Jahren werden knapp skizziert.

Breiteren Raum nimmt die Gewaltdiskussion ein. King will (nach Gandhis Vorbild und im Sinne der Bergpredigt) den Rassisten friedlich Widerstand leisten („Liebet eure Feinde“) und erliegt dabei vielleicht einer gefährlichen Illusion. Stokeley Carmichael (Torsten Hermentin) und Malcom X (Christian Doll) treten für radikale Lösungen ein. Der Senator und spätere US-Präsident John F. Kennedy (hier mit mafioser Sonnenbrille) spekulierte der Wuppertaler Lesart zufolge anno 1960/61 nur auf schwarze Wählerstimmen, als er King unterstützte.

Das Ganze mündet in eine politisch korrekte Apotheose und damit in eine andächtige „Stillstellung“ der Figur: Martin Luther King wird als weiterer Gründervater der Vereinigten Staaten neben George Washington und Abraham Lincoln inthronisiert, als sei es mit solchem Personenkult ein für allemal getan.

Es reicht auch nicht, die Rassisten vom Ku-Klux-Klan mit kakophonen Klängen als fragloses Schrecknis an die Wand zu malen. Man sollte schon ihre Motive bloßlegen. Etwas weniger wohlfeile Bestätigung und etwas mehr Reibungspunkte täten der Produktion gut. „Oh Happy Day“ ist schön und gut, aber nicht genug.

Termine: 4., 5., 6. Februar. Karten: 0202/569-4444




Verklärter Blick ins Jenseits – Werkschau über den Schweizer Ferdinand Hodler in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wahrheit geht vor Schönheit. So lautete ein Leitspruch des Malers Ferdinand Hodler (1853-1918), doch er hielt sich nicht immer daran. Tatsächlich wirken manche seiner Bilder etwas derb, ja ungeschlacht. Doch mindestens eben so sehr liebte er die andächtigen Motive, den verklärten Blick in ätherische Unendlichkeit. Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt in seiner Werkschau mit rund 140 Arbeiten beide Seiten des Schweizers.

Hodler stammte aus ärmsten Verhältnissen. Vor Beginn seiner Künstlerlaufbahn posierte er für Fotografien im geliehenen Anzug und im kurzzeitig gemieteten Atelier. Beides konnte er sich noch nicht dauerhaft leisten, doch er probte schon mal die großen Gesten eines Arrivierten.

Schon in jungen Jahren Waise geworden, musste er später oft genug erleben, wie der Tod ihm geliebte Frauen, Geschwister oder Kinder wegnahm. Vielleicht hat ihm seine tiefe Frömmigkeit, die sich in etlichen Motiven („Die Andacht“, „Anbetung“) Bahn bricht, darüber hinweg geholfen.

Eine zarte Elegie überstrahlt die großen Gesten

Doch zutiefst empfundene Freude am Hier und Jetzt wird man bei ihm vergebens suchen. In die fünf „Lebensmüden“ (nach 1893) konnte er sich offenbar einfühlen. Überhaupt zielt der Sinn des Malers aufs Jenseitige. Die Landschaftsbilder mit ihren endlos weiten Horizonten lassen es schon ahnen. Gelegentlich deutet Hodler auch die Erdkrümmung an, was wohl bedeutet: Die ganze Welt, das ganze Sein sind hier gemeint. Schwebende Wolken werden oft in regelrechten Flug-Formationen so angeordnet, als stammten sie aus einer besonderen Serien-Herstellung. Natur als künstliches Arrangement. Hodler selbst hat sich als „Symbolist“ begriffen.

Die Trauer um eine verstorbene Schwester hat Hodler im „Bildnis Louise-Delphine Duchosal“ (Schwester eines Freundes) mit eingefangen. Das Mädchen blickt so traumverloren, als schaue es aus dem diesseitigen Dasein hinaus. In der Hand hält sie eine kleine weiße, fast verwelkte Blume. Eine zarte Elegie, die manche allzu großen Gesten („Der Redner“), bei denen übrigens auch NS-Künstler ihre Anleihen machten, still überstrahlt.

Holzfäller-Motiv für Geldscheine

Intim, ohne jedes Auftrumpfen auch dies: Seine französische Geliebte Valentine hat er 1914 auf dem Sterbebett gemalt. Ihr zu Füßen schweben drei Rosenblüten. Ansonsten verblasst das Bild vorwiegend in Kalkweiß, es ist von den Farben des Lebens entleert.

Unter dem Einfluß des Jugendstils hat Hodler seine Kompositionen vielfach ornamental angelegt oder choreographiert wie einen Tanz: Vier emphatisch schreitende Frauen sollen „Die Empfindung“ (1901/02) versinnbildlichen. Man fühlt sich an einen Reigen gefühlsseliger Eurythmie erinnert. Zierde und Geziertheit gehen ineinander über.

Je erfolgreicher Hodler wurde, desto monumentaler seine Motive. Dies wiederum zog offizielle Repräsentations-Aufträge für Wandgemälde nach sich (Beispiel: „Der Auserwählte“ im Hagener Hohenhof).

Hodler entwarf auch Vorlagen für Schweizer Geldscheine: Sein machtvoll mit der Axt ausholender Holzfäller und ein die Sense schwingender Landmann waren allerdings zum Arger des Künstlers auf den Banknoten kaum wiederzuerkennen.

24. Okt. 1999 bis 3. Januar 2000. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 42 DM.




Gebremster Freiheitsdrang – Holk Freytag inszeniert Goethes „Egmont“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Freiheit und Privilegien, Freiheit und Privilegien!“ So skandiert das Volk seine Forderungen. Die drei Darsteller, die es in Wuppertal verkörpern, schlagen dabei rhythmisch auf die Spielfläche. Sie wirken wie infantile Tyrannen. Doch wenn sich Abgesandte, der Obrigkeit blicken lassen, kuschen die Bürger sogleich. Dann pfeifen sie auf die Freiheit, und es bleibt das Bangen um ihre Privilegien.

Solch einen Verrat der Ideale an die Interessen soll’s in der Geschichte des Bürgertums des Öfteren gegeben haben. In Holk Freytags Wuppertaler Inszenierung des Goethe-Klassikers „Egmont“ wird man mit einer Farce daran erinnert. Doch ansonsten geht es gemessener zu.

Die Niederlande ächzen unter spanischer Fremdherrschaft. Statthalter Graf Egmont (historisch: 1522-1568) steht für gewisse Hoffnungen auf Selbstbestimmung. Es gärt im Volk. Doch an Egmont statuiert man ein Exempel: Am Ende wird er auf Herzog Albas Geheiß öffentlich hingerichtet.

Der Wuppertaler Egmont (Martin Bringmann) strahlt kein Charisma aus, er wirkt eher wie ein lavierender Liberaler. Das Volk, das jeder Parole nachläuft, lässt ihn denn auch mit seinem etwas faden Freiheitsdrang sehr bald allein. Trotzdem scheint dieser Egmont kaum Konflikte mit sich auszutragen. Edelmut von Anfang an – nicht sonderlich aufregend.

Kulturelle Dosis mit Beethoven erhöht

Das in ihn verliebte Klärchen (Tessa Mittelstaedt) gebärdet sich naiv, sie achtet wohl mehr auf Egmonts Insignien gräflichen Glanzes als auf seine politischen Worte. Nun die Majestätsbeleidigung: Goethes Stück ergeht sich streckenweise im steifen Austausch von Thesen. Manche Figuren erscheinen wie stillgestellt, von Leidenschaft befreit oder auch geläutert. Einiges von dieser marmornen Glätte bleibt an der Wuppertaler Aufführung haften. Sie ist recht gediegen, stellt den (gekürzten) Text in großer Klarheit vor uns hin, gefällt auch durch solide Sprachbehandlung und prächtige Kostüme. Doch eine Dringlichkeit, diese Tragödie jetzt zu spielen, wird nicht so recht erkennbar.

Auf der schräg in den Raum ragenden Spielfläche (Bühne: Wolf Münzner) prangt das Bild eines namenlosen flämischen Meisters, es zeigt eine spanische Königskrönung. Aus dem Stütz-Gestänge unter dieser großen Platte rappeln sich die Figuren hervor wie aus einem Kellergewölbe der Historie. Später tut sich ein Spalt auf in diesem Bild; ein Riss in der Welt, den man dieser Inszenierung sonst kaum anmerkt.

Die eigentliche Bühne wird eingenommen vom Sinfonieorchester Wuppertal (Leitung: Stefan Klieme). Das erhöht die kulturelle Dosis: Goethes Drama wird – einer früheren Tradition folgend – durch Beethovens „Egmont“-Musik ergänzt und beglänzt. Es erhebt die Seele. Das Freiheitsbegehren scheint in den Tönen inniger aufgehoben als im Text.

Termine: 23., 24.0kt; 15., 17. Dez. – 0202/569 4444.




Pubertäts-Hölle in Rauch und Flammen – Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Tierquälerei, Inzest mit der geistig wirren Schwester, vielfache Brandstiftung, Elternmord. Wenn in Marius von Mayenburgs Stück „Feuergesicht“, das jetzt in Wuppertal Premiere hatte, am Ende alles in Flammen aufgeht, hat die Hauptfigur Kurt ihr Vernichtungswerk getan.

Kurt, dieser Rebell ohne konkreten Grund, findet Welt und Menschen ganz pauschal zum Kotzen. Schon seine Geburt glaubt er als Geisterbahnfahrt erlebt zu haben. Nun, da er seine Pubertät durchleidet, will er sich – typisches Zitat – „rauskappen aus den Verbindungen und einzeln werden, raus mit den fremden Gedanken und alles dicht machen, nach außen keine Fühler mehr, nur noch Waffen, wie eine Qualle…“ Zurüstungen eines Amokläufers.

Mayenburg mag’s sprachlich heftig. Steigt Kurt mit seiner Schwester Olga ins Bett, so sieht er sich gleich „auf dem Matratzenrand detonieren“. Gemach! Von Anfang an steht der Text dermaßen unter Dampf, dass man etliche Ventile öffnen müsste. Mayenburg berauscht sich verbal an Phänomenen und Phantomen der Gewalt. Er scheut indes die Mühen der Herleitung.

Die Eltern sind nur Popanze

Auch fehlt jede ernstliche Gegenkraft. Kurts Eltern sind nur Popanze. Der Vater (Hans Richter) liest sabbernd Hurenmord-Berichte in der Zeitung, die Mutter (Andrea Witt) drischt derweil hohle Sozialhelfer-Phrasen. Kurts Tun verweigert sich jeder Erklärung, doch der Mutter gilt das Feuerlegen als „Hilfeschrei“ des armen, armen Sohnes. Derlei familiäre Karikaturen lassen sich gar leicht denunzieren. Für solche Spiegelfechterei bräuchte man kein schweres Schwert.

Doch Mayenburg (27) gebärdet sich als Wüterich, ständig schreit er Feurio, Zeter und Mordio. Wohl nur ein ganz junges Regieteam wie jetzt in Wuppertal kann dem spatpubertären Furor dieses flackernden Sturm- und Drang-Elaborats halbwegs beikommen. Anja Niemann (Regie) und Birgit Stoessel (Ausstattung) lassen den in Dutzende von Mini-Szenen zersplitterten Text rasant losrattern, so als solle möglichst schnell ein Ende erreicht werden.

Mit Nuancen muß man sich hier eh nicht aufhalten. Der hitzige Sud aus Horror und grauslicher Komik strebt rasch strudelnd dem Ausguss zu. Ein Tisch, ein Tuch, karge Stühle, weiß gestrichene Bierflaschen, leere Papierfetzen – so ist die Vorhölle des Nichts „möbliert“. Bloß keine Umstände.

Vor eine weiße Wand starren

Montiert wird die Szenenfolge nicht mit barschen Blenden, sondern mit geschmeidigen Übergängen zwischen den Sequenzen, durch die jener mit Punkerfrisur versehene Kurt (Christian Doll) selbst etwas ratlos pöbelt und trudelt, während seine in sich gekehrte Schwester (Martina Reichert) ein paar innigere Szenen still rasenden Wahns zeigen darf.

Am Ende ist man weder schlauer noch sonderlich „betroffen“. Man hat nicht tief in den Abgrund geblickt, sondern in sinnlose Leere gestarrt wie vor eine weiße Wand. Auch eine Erfahrung. Aber was kommt danach?

Die nächsten Termine: 15., 19., 22. September im Pavillon der Kulturinsel Kluse (direkt neben dem Schauspielhaus).




Ein Kraftkerl mit empfindlicher Seele – Überblick zum Werk des Malers Lovis Corinth in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Durch eine grüne Tür stürzt „Der geblendete Simson“ auf den Betrachter zu. Seine Hände liegen verkrampft in eisernen Ketten, bis auf einen Schurz ist er elend nackt. Um die Augenpartie klebt ein verschmierter Verband, aus dem Blut rinnt. Eine geschundene Gestalt, die uns die ganze Wucht ihres Schmerzes entgegenschleudert.

Da behaupte noch ein Kunstlexikon, Lovis Corinth (1858-1925) sei Impressionist gewesen; nur deshalb, weil er häufig flirrendes Licht in seinen Bildern flackern ließ oder weil er manchmal unter freiem Himmel gemalt hat. Nein, dieser ausdrucksmächtige Berserker ist, wenn denn schon Stil-Schubladen geöffnet werden müssen, mindestens ebenso sehr Expressionist gewesen. Das belegen die 61 Gemälde und 70 Papier-Arbeiten, die jetzt in Wuppertal zum Werküberblick vereint sind.

Blühende Gärten als Feier des Lebens

Der auch körperlich imposante Kraftkerl war allerdings ein hochsensibler Mensch. Immer wieder hat Corinth seine seelischen Zustände in Selbstporträts fixiert. Anhand dieser gemalten Zwischenbilanzen kann man ihm einige Höhen und Tiefen nachfühlen. Auf dem letzten Selbstbildnis aus dem Todesjahr 1925 ist das Antlitz des Künstlers fast durchsichtig schmal geworden, sein Blick ist gebrochen und nach innen gerichtet. Selbst die Farben (verwaschenes Grau, bleiches Rot) haben alle Kraft eingebüßt.

Völlig anders die Bilder vom Beginn des Jahrhunderts, als der im ostpreußischen Tapiau geborene Corinth nicht nur künstlerisch im Saft stand! 1902 malte er sich selbst mit einer halbnackten, noch etwas scheu dreinschauenden Schönen. Es war Charlotte Berend, erste Elevin in Corinths 1901 gegründeter Berliner Malschule für Damen. Bald darauf wurde sie seine Ehefrau. Als sie, wie man damals wohl sagte, in „gesegnete Umstände“ kam, malte Corinth zur Lebensfeier blühende Gärten und später eine vollkommen zufrieden in sich selbst ruhende „Donna Gravida“, was just „schwangere Frau“ bedeutet.

Vorbilder Frans Hals, Manet und Cezanne

Üppig schwellende „Rubens-Leiber“ hat Corinth mit spürbarer Lust verewigt. Die ungeheure Fleischlichkeit der vierköpfigen „Frauengruppe (Freundinnen)“ von 1904 kündet von Sinnenfreude, die „Salome“ (1900) freilich von gefährlichen Begierden. Höchst delikat in der Farbbehandlung zeigt Corinth die „Dame mit Weinglas“ (1908), eines jener Bilder, die an sein großes Vorbild Frans Hals heranreichen, den er neben Cezanne und Manet am meisten verehrte, während er Monet für „schwächlich“ hielt.

Corinth befand, man dürfe die französischen Impressionisten nicht nachäffen, sondern müsse eine entschieden deutsche Kunst schaffen. Was immer dies sei, hier klingt Corinths Zungenschlag für heutige Ohren ein wenig befremdlich.

Manchmal nah an der Karikatur

Ob nun deutsch oder nicht, seine Bilder überzeugen, ja überwältigen oft – nicht zuletzt durch eine zupackende Charakterisierungs-Kunst, die gelegentlich das Karikierende streift. Angesichts der „Logenbrüder“ (1898/99), dieser trinkfreudigen Versammlung von Freimaurern, wird man schmunzeln – etwa über jenen Versicherungsmakler mit Hang zum Höheren, der verklärt gen Himmel blickt. Auch wirkt auf Corinths Porträt der damals tonangebende Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, der dem Künstler anfangs nicht so gewogen war, ziemlich diabolisch. Und das Bildnis der betagten „Mutter Rosenhagen“ zeigt überdeutlich die Spuren des Alters. Nicht sehr galant. Wer’s idyllisch mag, wird gleichfalls fündig: Corinths Walchensee-Landschaften verströmen ein Behagen vor der Natur, das auch den Betrachter mit Ruhe erfüllt.

Lovis Corinth. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). 1. August bis 19. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 35 DM.




Eingeschnürt ins Korsett der verlogenen Etikette – Frank-Patrick Steckel inszeniert in Wuppertal Molières „Menschenfeind“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Da lächelt man und redet freundlich. Doch kaum macht einer die Tür hinter sich zu, so wird gemein getratscht.Wohlbekannte Muster. Über derlei heuchlerische Verhältnisse regt sich Jean-Baptiste Molières Figur Alceste so fundamentalistisch auf, daß er „Der Menschenfeind“ wird.

Frank-Patrick Steckel hat die wohl allzeit gültige Komödie in Wuppertal inszeniert. Eine Welt, in der unverbindliche Schmeichelei gedeiht: überwiegend bonbonfarbig das Bühnenbild (Sabine Böing), rundum mit Schleifchen wie mit falschen Komplimenten verziert. Doch am Rande der Szenerie hockt als dumpfe Skulptur eine Art Neandertaler. Der von simplen Instinkten geleitete Frühmensch steckt zutiefst auch in den höfischen Kostümen.

Unter lächerlichen Schranzen und gezierten Dämchen leidet jener rabenschwarz gekleidete Alceste, der rigoros Ehrlichkeit und tyrannisch Tugend einfordert. Fünf gerade sein lassen und mit menschlichen Schwächen gelassene Toleranz üben, wie es ihm Philinte (Tim Grobe) dringend rät? Niemals! Alsbald ist ihm keiner mehr gewogen. Das wiederum nährt den Menschenhaß, bis Alceste am Ende auch die flatterhafte, von ihm so ingrimmig geliebte se Célimène von sich stößt. Dem Manne kann auf Erden nicht geholfen werden. Ob er schließlich in die völlige Einsamkeit oder gar in den Freitod wankt, bleibt hier offen wie eine Wunde.

Gesellschaftswesen, manchmal bestürzend allein

Gemessenen Schrittes, in höfisch geprägte Verhaltensweisen geradezu eingeschnürt, kommen und gehen die Personen. Schon am Gang, besonders am Abgang von der Bühne erkennt man diese Leute. Das vielfältige Spektrum reicht von grotesker Zurschaustellung bis in die Nuancen zwischen schalem Triumph, Brüchigkeit und Verzweiflung. In gewissen Momenten staksen und stolzieren diese Gesellschaftswesen sehr für sich allein daher. Da bekommt man noch Mitleid mit dem ärgsten Blödian.

Ebenso feingliedrig die stilisierte Sprachbehandlung. Das in Alexandriner-Versen gedrechselte Stück, im Deutschen zuweilen nach Büttenreden klingend, wird bis zur Neige und bis zur ganz bewußt servierten Schmiere ausgekostet. Das Zeilengeklapper könnte rasch durch Monotonie ermüden, doch hier wird es mit famosem Formgespür und staunenswerter Sprechkultur zum Klingen gebracht. Aus dem Korsett der Worte quillt die Lust am Reim.

Herrlich, wie genau dieses Ensemble die Rollen erfüllt und buchstäblich bis in die Finger- und Zehenspitzen darin aufgeht: Alceste (Martin Bringmann) in seinem finsteren Feuereifer; Célimène (Tina Eberhardt) in meist spieluhrenhaft abgezirkelten Gebärden; ihre Cousine Eliante (Cornelia Schindler) in kreischiger Altjüngferiichkeit; Oronte (Thomas Schrimm), Acaste (Dirk Müller) und Clitandre (Eric van der Zwaag) in gezielt schrillen Typisierungen. Ein Hauptspaß mit Hintersinn.

Großer Premierenjubel für Regieteam und Darsteller. Sie haben ihn allesamt verdient.

Nächste Termine: 2. und 3. März.




Die Farbe Rot ist den Russen heilig – Belegstücke von der Ikone bis zum Stalin-Bildnis in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn die vulgärpsychologische Vermutung stimmt, daß Rot Aggressionen hervorruft – dann aber Vorsicht: Wuppertals Von der Heydt-Museum bestreitet jetzt eine ganze Ausstellung mit der wohl wirksamsten Farbe. Untersucht wird das „Rot in der russischen Kunst“.

Die Belegstücke stammen sämtlich aus dem Russischen Museum zu St. Petersburg, das zumindest aus westlicher Sicht ein Schattendasein neben der weltberühmten Eremitage führt. Doch den Russen selbst liegt das traditionsreiche Haus mit den 400 000 (!) Kunstwerken sehr am Herzen.

Aus einem solch riesigen Fundus 63 Bilder auszuwählen, in denen das Rot vorherrscht, dürfte nicht schwerfallen, zumal man den zeitlichen Rahmen (13. bis 20. Jahrhundert) großzügig steckt.

Außerdem hat gerade in Rußland das Rot von jeher besonders viel besagt. Das Wort „krasnyj“ bezeichnet nicht nur diese Farbe, sein weiteres Bedeutungsfeld umfaßt auch Begriffe wie „gut“, „wichtig“ und „schön“. Wenn man weiß, daß früher mehrere tausend Purpurschnecken herhalten mußten, um ein paar Gramm roter Farbe zu erzeugen, wird man gewiß das Attribut „kostbar“ hinzufügen.

Der Vorrang gilt nicht nur in der russischen Hochkunst bis hin zur Moderne (präsentiert werden Arbeiten von Chagall, Kandinsky, Tatlin und vor allem Malewitsch), er leitet sich aus der frommen Ikonenmalerei und der Gebrauchskunst her, ist also tief verankert. An derlei Gefühle konnten auch die Sowjetkommunisten mit roten Fahnen und Emblemen appellieren.

Manchmal reicht schon ein Tupfer

Aus allen erwähnten Bereichen finden sich in der kompakten Schau exemplarische Stücke. Rot erweist sich dabei meist als Farbton des entschiedenen „Hervortretens“. Werden ein Haus oder eine Figur so markiert, dann scheinen sie aus dem Bild gesondert herauszukommen – mal würdevoll (Fürstinnenporträt, 1772), mal erotisch (F. A. Maljawin „Tanzende Frau“, 1910) oder auch blutig (W. S. Smirnow „Neros Tod“, 1888). In Kasimir Malewitschs „Rotes Quadrat“ (1915) spricht dann die Farbe mit sich selbst.

Doch nicht auf allen Bildern drängt sich das Rot dermaßen auf, manchmal ist es nur ein diskreter Tupfer („Auf der Schaukel“, 1888), der aber auffällt. Auch blasses Rot besitzt noch ungeahnte Kräfte.

Manche freilich mochten sich nicht auf unterschwellige Wirkung verlassen, sie trugen furchtbar dick auf. Nikolaj Christoforowitsch Rutkowski hatte „Stalin am Sarg von… Kirow“ (1934) zu malen. Kirow war bei einem Attentat ums Leben gekommen, vermutlich war Stalin der Drahtzieher. Hier aber läßt er sich als Trauernder darstellen. Die Heuchelei ist ganz in Rot getaucht. Sie borgt sich die Würdeformel von den Ikonen. Verlogener geht’s kaum.

Bis 14. März im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 38 DM.




Normal für alle Ewigkeit – Die Holzskulpturen des Stephan Balkenhol in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wie unhöflich! Gleich die erste Skulptur dreht einem beim Betreten des Museums den Rücken zu. Man muß erst um den „Großen klassischen Mann“ herumgehen, um sein hölzernes Gesicht zu sehen. Doch er blickt keineswegs zurück, sondern schaut in unbestimmte Fernen – und legt dabei den linken Arm so geziert hinter den Kopf, als habe er die Geste bei einer antiken Plastik abgeschaut, sie aber nicht so ganz ernst nehmen können.

Ansonsten sieht die Figur ganz und gar durchschnittlich aus. Braune Hose, weißes Hemd, keine besonderen Kennzeichen. Sozusagen ein „Stino“, also ein Stinknormaler. Nun schweift der Blick zur gleichfalls frappierend gewöhnlichen „Großen Frau mit grüner Hose“, die – entschieden weggerückt vom männlichen Pendant – auf ihrer eigenen Holz-Insel wartet. Auch sie starrt ins Leere und kreuzt die Arme vor der Brust, in altägyptischer Manier. Ein banaler Augenblick, festgehalten wie für die Ewigkeit. Bildnis einer bewegungslosen Zeit und somit vielleicht gar die ideale Kunst zur Ära Helmut Kohl?

Schon endlos lange und für immer scheinen diese Figuren so dazustehen. Sie schauen in doppeltem Sinne „unverwandt“, will heißen: ohne Unterlaß und beziehungslos. Es sind keine Individuen, sondern anonyme, unaufgeregte, ja unangreifbar wirkende Gestalten. Eine Überhöhung alltäglicher Momente? Schmerzlich verfestigte Gesten der Verlegenheit und Entfremdung gar? Von beidem wohl ein wenig. Und gewiß eine vage, aber nachhaltige Irritation. Ohne Pathos, ohne Belehrung.

Splitter und Späne sind noch sichtbar

Stephan Balkenhol, dessen neuere Arbeiten jetzt in Wuppertal zu sehen sind, kann sich mit derlei Skulpturen vor Anfragen kaum retten. Oft produziert er die Nacht durch, gleichsam „just in time“, also zeitlich punktgenau nach Bestellung. Sieht man die Wuppertaler Auswahl, kann man die Interessenten gut verstehen.

Im zweiten Raum vollzieht sich ein stilles Ereignis. Wiederum jeweils aus einem ganzen Holzklotz hervorgetrieben, sind hier „Zehn tanzende Paare“ (1996) kaum bestimmbaren Alters in ihren gemessenen Bewegungen eingefroren. Die Herren allesamt in schwarzen Hosen und weißen Hemden, die Damen in züchtigen Kleidchen eines Standard-Zuschnitts. Von daher erzkonventionell und auch keinem bestimmten Jahrzehnt zuzuordnen. Doch überhaupt nicht geschönt. Denn die bemalten Holzfiguren sind an der Oberfläche roh und rissig, hie und da krümmen sich noch Splitter und Späne.

Es ist auch Kunst zum Schmunzeln

Balkenhols Serie „Architekturskizzen“ nimmt auf groteske Weise architektonisch Maß an der menschlichen Gestalt. Die Vorzeichnungen wirken karikierend, die an den Wänden aufgereihten dreidimensionalen Ausführungen auf kleinen Holzpodesten vor allem in der Summe bizarr: ein immer wiederkehrendes kleines Mannsbild, paßgenau eingefügt in ein gebautes Viereck; oder von einer Säulenordnung eingezwängt wie in einen Schraubstock.

Ein anderer Herr wird von einer Hausform mit Satteldach flunderflach und rücklings auf den Fußboden gedrückt – nur Kopf, Hände und Füße schauen noch her aus, als zappelten sie hilflos. Das Haus ist sein fremdartiger Körper, sein Körper ein Haus. „Architekturmodell Mann“ heißt (mit leicht ironischem Unterton) diese Arbeit, die auch unsere Naturferne betreffen mag. Sollte sie dergleichen tiefschürfende Hintergründe haben, so ist s doch zunächst mal eine Schmunzel-Kunst.

Subtil und zugleich witzig geht Balkenhol auch sonst mit Figürlichkeit um: Man belächelt vier hölzerne Männerakte im Mini-Format, die große Wandtafeln mit gezeichneten Frauenakten zu bewundern scheinen. Und man freut sich über schwebende Holzreliefs von Männerkörpern oder drei pickende Hühner auf einem schraubenförmigen Sockel. All das sieht aus, als sei es auf etwas lachhafte Art fehl am Platze. Und doch möchte man mehr und mehr davon sehen.

Stephan Balkenhol. Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. Bis zum 28. Juni. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr. Katalog 28 DM.




Das beruhigende Gefühl in der Dunkelheit – Die asketischen Arbeiten des Rolf-Gunter Dienst in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Lauter schwarze Bilder. Gut, daß wenigstens die Wände weiß sind. Denn ansonsten werden Besucher im Bürgersaal des Von der Heydt-Museums ringsum von Finsternis umfangen.

Doch Rolf-Gunter Dienst (55), der diese großformatigen düsteren Tafeln schuf, meint es nicht als Ausdruck der Bedrohung. Im Gegenteil: Er jedenfalls fühle sich im Dunkeln wohl, er fühle sich aufgehoben. Auch habe das Dunkel etwas „Egalitäres“ an sich, es mache alle und alles gleich.

Gedichte des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney dienten als Inspiration zur dreizehnteiligen „Schwarzen Serie“, die erstmals das Atelier des Künstlers verläßt. In Heaneys Lyrik, so findet Rolf-Gunter Dienst, könne man die Dunkelheit oft mit Händen greifen. Zitat-Probe: „Aus schwarzem Rachen / Des Torfes zieht sich die scharfe Weide / freundlich zurück…“ Auch von „Höhlendunkel“ oder „Dämmersonnen“ ist in jenen Versen die Rede, die die Phantasie des Künstlers angeregt haben und die auch dem Besucher als vage Assoziations-Hilfe dienen könnten.

Bei näherer Betrachtung der Bilder ist die Schwärze vielfach mit verhalten farbigen Streifen durchsetzt, die wiederum aus feinsten Webmustern bestehen. Mal schimmert es violett, mal erdbraun durch. So entstehen nicht nur belebte Farbflächen, sondern auch imaginäre Räume. Ein einziges grünes Bild hängt noch im zentralen Raum der Ausstellung. Es wirkt, nach der Masse von Schwarz besehen, wie ein blitzheller Schock.

Jede Farbe erzeugt ihre eigene Welt

Die etwas ungünstig auf drei Etagen verteilte Schau zeigt ferner, wie der Künstler seine Ideen auch mit anderen Farbwerten durchgespielt hat. Mal hält er sich im „Bleistiftgebiet“ (Reihentitel) auf, und die winzigen Strukturen flimmern Grau in Grau, dann wieder gibt es Zwölfer-Serien von Aquarellen in Rot, Gelb, Blau und Grün. Jede Farbe erzeugt ihre eigene Welt.

All das aus kleinsten „Zellkernen“ bestehende Gewimmel erinnert an dichten Maschendraht oder an Ansichten unter dem Mikroskop. Die zahllosen gleichförmigen Bild-Elemente von Hand aufs Blatt zu bringen, so denkt man, könnte den Künstler bis dicht vor den Rand des Wahnsinns getrieben haben.

Sind es vielleicht Bilder, die auch aus einem Gefühl von Langeweile und Leere entstehen – oder aus unendlicher meditativer Geduld? Jedenfalls steckt in diesen Arbeiten viel mehr Mühe, als man zunächst vermutet. Und der Künstler selbst versichert, daß er keineswegs mit kühlem Herzen zur Sache geht, sondern sich durchaus von Emotionen tragen läßt.

Im Zeitungsfoto lassen sich diese kargen und asketischen Bilder jedenfalls kaum adäquat wiedergeben, man sollte sie sich schon in Wuppertal ansehen. Es ist übrigens nicht egal, in welcher Stimmung man dies unternimmt: Dem Ruhigen werden diese Bilder zusätzliche Ruhe spenden, den Unruhigen werden sie wohl noch nervöser machen.

Rolf-Gunter Dienst. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen. 11. Januar bis 22. Februar im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld), Turmhof 8. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 30 DM.

 




Blut und Feuer malen – Werkschau in Wuppertal zeigt die Obsessionen des Rudolf Schlichter

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ginge es nur nach dem Themenspektrum, dann hätte der Mann sofort bei einem knallharten Privatsender anfangen können: Allerlei Totschlag und Lustmorde hat er gemalt oder gezeichnet, erhängte Frauen, Transvestiten, Lesben und immer wieder Huren.

Doch die simple Freudenhaus-Szene genügte ihm nicht immer, manchmal mußte es schon ein spektakulärer „Überfall auf ein Bordell“ sein. Auch ein Bildtitel wie „Zusammenkunft von Fetischisten und manischen Flagellanten“ deutet auf grellen Effekt.

Der im württembergischen Calw geborene Maler Rudolf Schlichter (1890-1955), der jetzt mit einer umfassenden Werkschau in Wuppertal präsentiert wird, hat er eine ziemlich rigorose katholische Erziehung „genossen“. Besonderen Ausgleich suchte er schon als Kind in drastisch illustrierten Karl-May-Bänden und – auf Heiligenbildchen.

Begegnung auf dem sexuellen Markt

Indianergemetzel und qualvolles Märtyrertum faszinierten also schon den Knaben. Am liebsten male er „Blut und Feuer“, hat der auch schriftstellerisch höchst produktive Künstler später einmal bekannt. Tatsächlich: Jene Figuren, die die wüsten Geschehnisse auf seinen Bildern überleben, können von Glück reden. Dabei war Schlichter im politischen Sinne Pazifist. Anders als zahllose andere Künstler, hat er sich (durch Hungerstreik) dem Einsatz im Ersten Weltkrieg entzogen.

„Angebot und Nachfrage“ heißt – ganz illusionslos – ein Bild, das einen Freier und eine Dirne auf dem sexuellen Markt der 20er Jahre zeigt. Ein Fall von „Neuer Sachlichkeit“. Dieser Kunstrichtung wurde Schlichter damals zugezählt. In Berlin schloß er Bekanntschaft mit Bert Brecht und anderen linken Intellektuellen. Viele von ihnen hat er porträtiert, meist mit spürbarer Sympathie. Schöner Kontrast; In Wuppertal hängt das Bildnis Brechts (proletarischer Schmalhans mit schwarzer Lederjacke) gleich neben dem des barock-bildfüllenden Schriftstellers Oskar Maria Graf.

In Schlichters Milieu-Studien sind Männer allerdings oft nur nachlässig behandeltes Beiwerk oder klägliche Opfer. Die große Liebe seines Lebens war „Speedy“. Bevor er die erhängten Frauen darstellte, hat er mit seiner Gespielin bizarre, im Katalog fotografisch dokumentierte „Strangulations-Experimente“ veranstaltet. Ein andermal hat er sie als Domina gemalt, die einem lustvoll zitternden Kerlchen den Stiefel ins Genick setzt. Überhaupt hat er Schnürstiefelchen gemocht und sie als erotischen Fetisch immer wieder in seinen Frauenbildern verwendet. Noch so ein armes Mannsbild: Der (gar nicht so) „Schöne Josef“ steht nackt zwischen drei Damen, die feixend Maß zu nehmen scheinen.

Anpassung oder listige Provokation?

Übrigens war es besagte „Speedy“, die Schlichter vom linken Wege abbrachte und zum Katholizismus zurückführte. Um den Lebensunterhalt zu sichern, ging die fromme Frau freilich auch gelegentlich der Prostitution nach – getreu dem Brechtschen Spruch: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“.

In den 30er Jahren, so hat es zumindest den oberflächlichen Anschein, näherte sich auch Schlichter der mal verlogen heroischen, mal gnadenlos kitschigen NS-Ästhetik. Den Schriftsteller Ernst Jünger zeigte er 1937 als ehernen Halbakt in felsig zerklüfteter Landschaft. Und wiederum war es die ausnehmend hübsche „Speedy“, die ihm für das Großbild „An die Schönheit“ (1935) Modell saß, nein lag. Hingegossen auf einen Blütenteppich rekelt sie sich sie da – fast wie von einer Leni Riefenstahl oder einem Arno Breker heraufbeschworen. Doch gerade das hielten die NS-Herrscher, denen Schlichter als „entartet“ galt, für eine besonders hinterhältige Provokation. Vielleicht war’s ja auch eine. Schlichter jedenfalls wurde 1938 gar verhaftet…

Nach dem Krieg fiel er gleichsam aus der Zeit. Er verschrieb sich einer an mittelalterlichen Meistern geschulten Feinmalerei und bekämpfte die damals marktbeherrschende Abstraktion. Ein Lebensabend in Verbitterung.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 1. März 1998. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 49 DM.




Der Abschied vom alten Plunder – „Wien um 1900″ im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf kostbare Art wird man in dieser Ausstellung empfangen. Geht man die Treppe hinauf, schaut man schräg von unten auf ein Damenbildnis: In sattem Purpurrot leuchtet Hans Makarts Porträt der Dora Fournier-Gabillon. Ihr Kleid sieht sündhaft teuer aus. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man aber Risse im Gemälde. Der Künstler selbst hat wütend darauf eingedroschen, als ihn die Dargestellte nicht heiraten mochte.

Wie sich die Kunst. in „Wien um 1900″ (Ausstellungstitel) von solch opulenten Salonbildern zum ornamentalen Jugendstil und schließlich zum Expressionismus entwickelte, das kann man nun im Wuppertaler Von der Heydt-Museum studieren, in einer klug konzentrierten Schau mit Porträts und Interieurs, ergänzt durch kunstvoll gestaltete Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände jener Epoche.

Einmal mehr kann Wuppertal (in Kooperation mit Museen in Wien und Amsterdam) erlesene Namen aufbieten: Klimt, Kokoschka und Schiele sind mit prägnanten Arbeiten vertreten.

Daß es besagter Malerfürst Makart mit praller Fülle hielt, beweist ein Blick in sein Atelier. Eduard Charlemont hat diesen mit allerlei Plunder vollgepfropften Raum um 1880 gemalt. Auch Makarts malerischer Dekorations-Entwurf fürs Schlafzimmer der Kaiserin Elisabeth („Sissi“) ist mit historisierender Prachtentfaltung überladen.

Doch gekrönte Häupter waren schon nicht mehr die einzigen Herrscher. Das bürgerliche Zeitalter hatte längst begönnen. Und so wirkt Gustav Klimts Bild der in hauchzarten Stoff gehüllten Unternehmergattin Sonja Knips (1898) kaum minder kostbar als Makarts monarchische Schwelgereien, wenngleich schon viel klarer im Aufbau.

Malerische Erforschung des Seelenlebens

Ein besonderes Stück ist Broncia Koller-Pinells „Sitzende“ (1907). Die Künstlerin hat diesen Frauenakt ganz ohne laszive Zwischentöne gestaltet, es geht um Körperlichkeit, wie sie eben ist. Eine Besinnung aufs „Eigentliche“.

Nun richtet sich der Blick zunehmend aufs Innenleben. Zunächst erkennt man diesen Perspektivenwechsel auf den Familienbildnissen: Des Künstlers kleine Welt und trautes Heim. Intime Interieurs, zumal die sanft bläulich gehaltenen eines Carl Moll, strömen Ruhe aus.

So friedlich bleibt es nicht. Denn es folgen Selbstbildnisse. Hier schaut man vollends nach innen, in die Untiefen der Seelen. Koloman Moser stellt sich 1916 als Märtyrer dar, was auch genereller Kommentar zur Lage der Künstler sein dürfte. Egon Schiele verleiht dem Verleger Eduard Kosmack (1910), der hypnotisch begabt gewesen sein soll, bereits durch die gepreßte Körperhaltung etwas Explosives, mühsam Gebändigtes.

Richard Gerstls Doppelporträt der „Schwestern Karoline und Pauline Frey“ hat sich weit vom bloßen Abbildungs-Realismus entfernt und wirkt gerade deshalb eindringlich. Mit subtilen Andeutungen hat der Maler die Charaktere der beiden Schwestern bloßgelegt. Erschütternd: Gerstls Selbstbildnis als lachender Mann. Bald darauf hat sich der Künstler das Leben genommen. Was er uns zeigt, ist das letzte Lachen eines Verzweifelten.

Wien um 1900 – Der Blick nach innen“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 5. Oktober. Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 39 DM.

 




Auf der Klippe zum Tod – Die Irland-Bilderzyklen von K. H. Hödicke in der Kunsthalle Wuppertal-Barmen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Grenz-Erfahrungen haben den Maler K. H. Hödicke von jeher inspiriert. Als Berlin noch in zwei Hälften zerfallen war, hatte der renommierte Anreger der „Neuen Wilden“ ein Atelier in einer Stadtwüstenei direkt an der Mauer, so daß er in den Ostteil blicken konnte. Seit 1981 verbringt er jeden Sommer im geteilten Irland. Dort sind jene Bilderzyklen entstanden, die jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum präsentiert.

Was gibt es in der einsamen zerklüfteten Gegend von Connemara im Nordwesten der Insel zu sehen? Nun, der Motivkanon ist auf eine Weise begrenzt, die das innere Erleben bereichert. Gerade in der faszinierenden Kargheit kann sich der Künstler, nicht abgelenkt durch grelle Vielfalt, um so intensiver mit den Nuancen des Sichtbaren und mit dem eigentlichen Malvorgang befassen.

Die Vielfalt der Schafe

Salopp gesagt: Wer beispielsweise immer wieder Schafe zeigt, kann Schafe immer wieder anders zeigen. Die Tiere treten tatsächlich auf etwa der Hälfte der rund 80 ausgestellten Bilder in Erscheinung. Es scheint so, als habe Hödicke die Schwankungen seiner seelischen Befindlichkeit in den wolligen Wesen dargestellt. Mal trotten die Schafe ruhig als Gruppe daher, mal stehen sie einzeln da wie Monumente, oder ihre Gestalt blitzt nur auf wie eine Karikatur des Kreatürlichen. Andere werden zu Markte gebracht und verkauft, wieder andere als blutige Opfertiere dargebracht. Auf einigen Arbeiten rücken die hohlen Schädel toter Lämmer ganz in den Vordergrund und fügen sich zu düsteren Ornamenten an der Grenze zur Abstraktion.

Häufig wiederkehrende Motive in dieser raun (und übrigens völlig frauenlosen) Welt sind auch die Vegetation – und Kneipenszenen, freilich nicht aus touristischem Blickwinkel gesehen, sondern stets existentiell verdichtet. Die Bilder aus den Pubs wirken seltsam dumpf und bedrückend. Hödicke zeigt triste Ansichten des Trunks: Von Wind und Wetter, Lebenssorgen und Alkohol gegerbte Gesichter, einsam aufragende Gläser, eine Anzahl von Beinen auf Barhockern, unter denen ein Hund vor sich hin stiert.

Feuerrote Fuchsien

Ein in seiner ganzen Gestik unterschwellig aggressives Musikanten-Bild aus diesem Zyklus greift – lautmalerisch verballhornt – einen irischen Werbeslogan gegen Alkohol auf, der auch zum Ausstellungstitel wurde: „Havapaintamilkaday“, entzerrt und übersetzt etwa: Trinke täglich einen Pint (ca. einen halben Liter) Milch. Vertrackte Anspielung: „Pint“ wird von den Iren etwa wie wie „Paint“ ausgesprochen – und das wiederum heißt malen. Das tägliche Bild – ein Lebens-Mittel des Künstlers.

In der westirischen Pflanzenwelt haben es Hödicke besonders die feuerroten Fuchsien angetan. Mit ihnen und mit roten Lampions feiert er wahre Orgien glühender Farbigkeit. Eingefaßt in bedrohliches Schwarz, werden die Blüten zu Fanalen eines Lebens auf der Klippe zum Tode. Einer leuchtenden Fuchsienhecke gibt er den Untertitel „Wo sind die Heckenschützen?“ Ganz so, als sei die Naturschönheit durch den (nord)irischen Konflikt vergiftet.

Des weiteren sehen wir Grenzzäune und Pfosten, Stacheldraht, einen bildfüllenden tiefbraunen Torf-Abstich oder zwei Männer, die ein Boot tragen. Einfache Dinge, einfaches Tun. Fast wie in archaischen Zeiten.

K. H. Hödicke – „Havapaintamilkaday“ – Irland-Bilder 1981-1996. Kunsthalle Wuppertal- Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. 20. April bis 1. Juni. Di-So 10-17 Uhr. Katalog 39 DM.




„Die Ermittlung“: Eine Form für das Ungeheuerliche

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dem blauen Bühnenhorizont schälen sich Dia-Projektionen heraus: ein Berg von Brillen, der Weg zu einem Lagertor, Blechdosen mit der Aufschrift „Zyklon B“. Man kann die unbegreiflichen Leiden im KZ nicht wirklich abbilden, man kann aber darauf hinweisen, Zeichen setzen. Man kann? Nein, man muss! Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“, uraufgeführt 1965, bleibt nicht nur ein wichtiges, sondern ein notwendiges Stück.

Weiss (1916-1982) verhandelte in dem dokumentarischen Drama das ungeheuerlichste Verbrechen der Geschichte, den Massenmord in Auschwitz. Hauptsächliche Quelle war der Frankfurter Auschwitz-Prozeß (1963-65), ein literarisches Muster gaben Dantes Gesänge aus dem „Inferno“ der „Göttlichen Komödie“ vor. Eine Form für das Formloseste, was sich denken läßt. Und ein Inhalt, der es sehr schwer macht, überhaupt von theatralischer Umsetzung zu reden.

In Wuppertal, wo man zur Premiere vor beschämend halbleerem Hause spielte, liegen anfangs Dutzende von leeren Stühlen auf der Bühne. Sie werden im Verlauf der zwei pausenlosen Stunden nach und nach aufgestellt und am Schluß wie zu einem Scheiterhaufen geschichtet. Ein Vorgang, der nicht eben zwingend erscheint.

Regisseur Holk Freytag löst den gerichtlichen Zusammenhang des Stückes auf. Alle zwölf Beteiligten (sechs Männer, sechs Frauen) erscheinen in hellen Uniformen, sie gleiten ständig von Rolle zu Rolle: Jeder ist abwechselnd Angeklagter, Verteidiger, Richter oder Zeuge.

Einmal steht auf diese Weise einem Zeugen ein auf vier Sprecher verteilter Lageraufseher Kaduk entgegen, der zudem noch von chronischem Gelächter unterstützt wird. Übermacht der NS-Schergen, auch noch beim Prozeß? Schmerzhaft deutlich wird jedenfalls, auf welcher furchtbar fühllosen Sach- und Detailebene die Schrecken von Auschwitz vor Gericht abgehandelt werden mußten. Das Eigentliche war den weltlichen Richtern der Justiz und ihren Gesetzen nicht zugänglich.

Der Verzicht auf die Tribunal-Situation und die Rollenwechsel lassen freilich eine gewisse Undeutlichkeit aufkommen. Möglich, daß eine allseitige Kumpanei der Verleugnung gemeint ist oder gar der oftmals beschworene „Hitler in uns allen“. Aber Unkundige (speziell jüngere Zuschauer) könnten den fatal falschen Schluß ziehen, Täter und Opfer seien letztlich austauschbar.

Vielfach, besonders zu Beginn, wird im atemlosen Stakkato geredet. Das bringt nicht nur etliche Sprechfehler mit sich, sondern raubt manchem Satz die nötige Wirkungs-Zeit. Der Atem stockt einem allerdings immer dann, wenn die Inszenierung das Tempo verlangsamt, wenn sie auf dem Festhalten von Einzelheiten besteht, die jede noch so monströse Lager-,,Statistik“ übersteigen. Es werden ja in diesem Stück Untaten geschildert, die einem das Bewußtsein zerspalten müßten.

Es ist daher völlig richtig, daß das Ensemble sich am Schluß nicht zum Beifall verbeugt, sondern uns mit dem Schlußbild allein läßt. Hilflos sitzt man da. Und man versteht vielleicht, warum sich auch das Theater diesem Text nur hilflos nähern kann.

Die nächsten Termine erst wieder im Januar: 4., 5.. 8. und 10. Januar 1997.




Wenn die Kindfrau mit ihren Verehrern singt – Gerhart Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ als Rockoper in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Niemand ist vollkommen: Neben Klassikern wie „Die Weber“ und „Die Ratten“ hat Gerhart Hauptmann auch ziemlich verquaste Texte auf dem Kerbholz; zum Beispiel sein theatralisches Glashütten-Märchen „Und Pippa tanzt“ (Uraufführung 1906). Daraus hat man jetzt beim Wuppertaler Schauspiel eine Rock-Oper gestrickt.

Um sich von der bedrohlich flammenden Faszination durch die damals 17jährige Schauspielerin Ida Orloff „freizuschreiben“, hat der 43jährige Ehemann seine wunde Seele dramatisch in mehrere Männerfiguren aufgespalten, die allesamt von der Kindfrau und Tänzerin Pippa magisch angezogen werden. Vier Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: ein bürgerlicher Genußmensch (Glashüttendirektor), ein tierisches Triebwesen (Glasbläser Huhn), ein junger Schwärmer aus treudeutschem Geiste (Wandergesell Hellriegel) und ein mystischer Zauberer (Dr. Wann).

Alles drängt nur noch bebend zum Licht

In Hauptmanns Männer-Phantasien ist Pippa, Mädchen aus Venedig, die wahlweise als verlockendes „Vögelchen“, „Schmetterling“ oder „Motte“ bezeichnet wird, nur Projektionsfläche aller möglichen erotischen und künstlerischen Begierden. Daraus erwächst ein symbolistisches Gewoge, das keine Menschen, sondern stets nur Prinzipien und Traumbilder zueinander treibt.

Nur die derbe Eingangsszene in einer Schenke, wo Pippas Vater wegen Falschspiels erstochen wird, gibt sich noch naturalistisch. Danach wird’s wolkig, und alles drängt nur noch bebend zum Licht, endet aber finster. Kein idealer Stoff für rockmusikalische Zubereitung. Doch auf Hauptmann-Texten lasten keine hinderlichen Rechte mehr, man kann praktisch alles mit ihnen anstellen. Und irgendwann müssen sich die Beteiligten auch gesagt haben: Zum Deibel mit Hauptmann, wir machen unser eigenes Ding!

Dann aber hätten Texter Gerold Theobalt und Gastregisseur Tom Mega, der manchen als Kultrockstar gilt, das Stück auch konsequent durch den Wolf drehen sollen. So schleichen sich jedoch – nicht nur gesanglich – viele schiefe Tonlagen ein, denn manchmal nimmt man das Märchen für bare Münze, dann wieder weiß man offenbar nicht so recht…

Schlichte Farbdramaturgie: Die begehrte Pippa (bestürzend naiv und geheimnislos wirkend: Franziska Becker) kommt ganz in Rot daher, ihre Verehrer schwarz oder weiß, gelegentlich bläulich angestrahlt: schlesisch-nördliche Kälte, die sich nach italienischer Hitze in Literatur und Liebe sehnt. „Brenne, zünd‘ an, loder auf“, heißt es dann brünstig im Text. Dämonisch röhrt solche Zeilen der alte Huhn (Bernd Kuschmann), der schließlich Pippa mit ins Verderben reißt.

Die Reimqualität der Songs erhebt sich nicht allzu weit übers „Herz-Schmerz“ oder „Not-Tod“-Schema. Bekanntlich gibt’s gute Rockmusik mit simplen Texten, doch hier wird die akute Wortschwäche oft nur noch grell ausgestellt.

Dem „Tanz“-Titel zum Trotz wirkt die Aufführung hüftsteif und ungeschickt Die Bühne (Oliver Kostecka) ist unpraktisch vollgestellt, Figuren, die gerade nichts von sich geben, drucksen herum. Die beherzten Griffe zu den Gesangsmikros – zumal vom Sterbelager aus – sorgen für unfreiwillige Komik.

Die Musikstücke selbst, komponiert von Otto Beatus und dargeboten von den Lokalmatadoren „Das Pferd“, sind kreuzbrav, die Melodie-Linien oft bis zur Selbstverleugnung einfach. Das ist auch gut so, denn nicht alle Schauspieler können singen.

Bis zum Saisonende durchgehend im Schauspielhaus Wuppertal. Karten: 0202/563-4444.

 




Bilder einer Schwangerschaft – Großformatige Serie von Norbert Tadeusz in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manchmal ist es schon erstaunlich, wie Künstler über ihre Arbeit sprechen: „Das Malen finde ich nicht so wichtig. Dieses ganze Hin- und Herschieben von Farbe interessiert mich nicht. Ich bin kein ,Malschwein‘. Mir geht es um Bilder.“ Wie meint Norbert Tadeusz das bloß?

Nun, am liebsten umginge er den Prozeß der Herstellung, weil der vielleicht schrundige Spuren auf der Bildfläche hinterläßt. Statt dessen möchte er Werke schaffen, die wirken „wie aus einem Guß, aber noch nicht erkaltet“; als seien sie nicht mühsam geschaffen, sondern gleich fertig vorhanden. Dabei tüftelt er doch an einem Bild oft mehrere Monate lang.

20 großformatige Gemälde des gebürtigen Dortmunders (Jahrgang 1940), der das Handwerk zunächst in seiner Heimatstadt bei Gustav Deppe und dann in Düsseldorf bei Joseph Beuys erlernte, sind jetzt in Wuppertal zu sehen. Die Bilder der 1994 entstandenen Serie behandeln dasselbe Thema und zeigen dasselbe Modell: eine italienische Tänzerin und Choreographin namens Olimpia, die auch während ihrer Schwangerschaft offenkundig voller Bewegungsdrang steckte und fast wie ein Schmetterling durch Tadeusz‘ Atelier geflattert sein muß.

Kopfstand neben dem Konzertflügel

Die werdende Mutter posierte stets nackt, in immer neu schattierten Ansichten, oft wie schwerelos schwebend auf die Rundungen eines Konzertflügels hingegossen, sich bei subtil wechselnden Lichtverhältnissen im Atelier aalend. Einmal verharrte sie gar im Kopfstand, der aus der gleichen bizarren Vogelperspektive beäugt wird, wie das anschließende Abrollen des Körpers. Es mag Menschen geben, die so etwas anstößig finden.

Doch der Leib der Schwangeren ist künstlerisch überhöht, er wirkt wie eine immer wieder von anderen Seiten beleuchtete Skulptur. Vor allem aber kommt in der selbstbewußten Körperlichkeit eine Freude der Frau am entstehenden Leben zum Ausdruck, die jede Prüderie zum Verstummen bringen müßte. Die frohe Erwartung übertrug sich als seelischer und schöpferischer Impuls auch auf Tadeusz. Gern hätte er sein Motiv noch länger behalten, aber: „Sie war eben nur neun Monate schwanger.“ So setzt die Natur auch der Kunst ihre Grenzen.

Norbert Tadeusz: „Olimpia“. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld), Turmhof 8. Bis 14. Juli, Di-So 1017,Do 10-21 Uhr. Katalog 25 DM.




Expedition zu den Grenzen der Farbe – Malerei von Raimund Girke in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manchmal erfaßt den Künstler Raimund Girke (65) eine diebische kleine Freude, wenn er in Biographien gewisser Kollegen solche Sätze liest: „Bekannt durch Installationen. Malt seit 1992 wieder.“ – „Dann lache ich leise in mich hinein“, gesteht Girke. Und warum?

Der Documenta-Teilnehmer ist – durch alle Jahre und Moden hindurch – nicht vom Tafelbild abgekommen. Niemals hat er Installationen oder Objekte verfertigt, obwohl dies auf dem Markt schnellen Gewinn abgeworfen hätte. Nun sind die anderen scharenweise reumütig auf den Pfad der Tradition zurückgekehrt. Auf diesem Königsweg ist Girke den meisten längst enteilt.

Mit welch rarer Konsequenz sich Girke treu geblieben ist, gerade indem er sich mit weiser Selbstbeschränkung weiterentwickelt hat, belegt eine Werkschau mit 43 Arbeiten im Wuppertaler Von der Heydt-Museum.

Leicht konsumierbar sind solche Bilder nicht. Beim raschen Rundgang dürfte man nur Abstufungen von Grau und Weiß wahrnehmen und sich düpiert fühlen.

Tatsächlich ist dieser Künstler ein „Fundamentalist“, der den Schwingungen einiger besonderer Farben und Tönungen ohne Unterlaß nachspürt. Und so entlockt er dem Weiß ungeahnt spirituelle Licht- und Schatten-Wirkungen, führt er das Grau bis an die Grenze beseelter Stille und schichtet Schwarz oder Blau zu lodernden Wallungen.

In der zunächst schlicht scheinenden Reinheit des Malens verbirgt sich meditative Fülle. Girkes Ziel: „Mit ganz wenig Farbe sehr farbig wirken.“ Und: „Dabei lieber auf hohem Niveau scheitern als sich auf niedrigem zufriedengeben.“

Auf einem Bild von 1953, noch aus der Studienzeit, sind spätere Elemente schon beisammen: die vermeintlich frei fließende, aber doch streng gegliederte Fläche; die Pinselführung, die zuweilen an einen Schriftverlauf erinnert; die fernen Anklänge an natürliche Figurationen wie Wellenschlag oder Gesteinsmassen.

Girke arbeitet vorzugsweise seriell, stellt also Gruppen von verwandten Arbeiten zusammen. Wenn sie – wie in Wuppertal – sinnvoll gehängt werden, so ergeben sich optische „Übersprünge“ von Bild zu Bild, als walte da ein Magnetismus. Titel wie „Gleichmaß“, „Schweigen“ oder „Ruhiger Ablauf“ stimmen auf geduldige Betrachtung ein.

Fernöstliche Philosophie (Lao-Tse) ist eine Quelle dieser Kunst. Girke hat sich aber auch eingehend mit Genies der delikaten Farbbehandlung wie Tizian, C. D. Friedrich und Cézanne befaßt. Große Tradition, wenn sie zeitgenössisch anverwandelt wird, geht ihm allemal über Trends. Wer will ihm da widersprechen?

Bis 31. März im Von der Heydt-Museum (Wuppertal, Turmhof 8). Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Im Land der erloschenen Seelen – Zwei Einakter von Tennessee Williams in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wenn Figuren von Tennessee Williams die Bühne betreten, sind ihre Lebens-Hoffnungen meist schon erloschen, und wir erleben nur noch das Nachglimmen ihrer versengten Seelen. „Etwas Unausgesprochenes“ (Stücktitel) lastet dann bleischwer auf den Gemütern.

In Wuppertal hat Regisseur Holk Freytag diesen Einakter mit „Plötzlich letzten Sommer“ verknüpft – ein seit der Doppel-Uraufführung (1958) gängiges Verfahren. So gerät auch der Übergang zwischen beiden Dramen wundersam fließend. Auch das karge, atmosphärisch stimmige Bühnen-Arrangement im Foyer (mit knarzigen Korbstühlen und einer hell angestrahlten Rose) bleibt gleich.

Im Kerzenlicht beginnt „Etwas Unausgesprochenes“, jene Einsamkeits-Etüde für zwei Personen und ein Telefon. Es scheint, als müßten Miss Cornelia Scott (Rena Liebenow) und Grace (Eike Gercken), die seit 15 Jahren zu zweit unter einem Dach wohnen, einander so vertraut sein wie innere Stimmen.

Doch in Wahrheit herrscht knisternde Befremdung zwischen ihnen. In der Schwebe bleibt, ob Cornelia sich einst eine lesbische Beziehung zu Grace erträumt hat. Das ganze Verhältnis ist derart unklar, daß sich all das Verschwiegene in einer nur mühsam gebändigten Aufgeregtheit der beiden Frauen Bahn brechen will. Die eine wirkt dabei burschikos, die andere zerbrechlich wie Glas, doch beide sind nervlich zerrüttet.

Die zwei Schauspielerinnen tupfen das alles sozusagen nur hin, wozu große Disziplin gehört. Nichts wirkt exaltiert, man ahnt nur andeutungsweise die Halbschatten der Seele, die ungesunde Selbstbeschränkung dieser Menschen, die immer etwas ganz heiß herbeiwünschen, es aber zugleich hartnäckig leugnen und verbergen.

Rena Liebenow spielt auch eine Hauptrolle in „Plötzlich letzten Sommer“. Nun ist sie Mrs. Venable, Mutter des verstorbenen Dekadenz-Lvrikers Sebastian, mit dem sie an den elegantesten Orten „wie Skulpturen gemeißelte Tage“ erlebt hat. Sie glaubt zumindest fest daran.

Dramaturgie aus dem Dampfkessel

Das mit den Skulpturen könnte von Rilke stammen, doch ansonsten ist es schwächerer Williams: hitzige Sprachbilder, überfrachtete Psychologie, Dramaturgie im Dampfkessel.

Mrs. Venable ist jedenfalls zutiefst verletzt, weil Sebastian die letzte Sommerreise seines Lebens nicht mit ihr, sondern mit der jungen Catharine (Eike Gercken) gemacht hat. Nun will sie Catharine die Schuld am Tod des Sohnes anlasten, sie sodann für verrückt erklären lassen und einer gefährlichen Hirnoperation bei Dr. Cukrowicz (Hans-Christian Seegcr) zuführen. Schrecklich genug.

Doch was die junge Frau im Diagnose-Gespräch dem Arzt erzählt, ist mindestens ebenso schlimm: Sebastian habe in den Armutsvierteln der Knabenliebe gefrönt und sei am Ende von einer Jungenschar geradezu kannibalisch zerfetzt worden. Ist es Fieberwahn oder Wahrheit?

Die Regie setzt Musikuntermalung (bis hin zur Gregorianik) und schließlich auch Halleffekte ein, um die Weite des Seelenlandes zu ermessen. Sinnfällig wird gezeigt, wie die Figuren auseinanderdriften, jede auf ihren eigenen Stern. Großartig Eike Gercken, deren Schilderungen auch ohne tonale Zutaten bedrückend bildkräftig im Raum stehen.

Termine: 11., 17., 25. Januar, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0202/563 44 44.




Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand – Luigi Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf der Bühne sieht’s ja aus wie in einem Speditionslager. Für Luigi Pirandellos modernen Klassiker „Sechs Personen suchen einen Autor“ (Regie: Paolo Magelli – Bühne: Jean Bauer) hat man in Wuppertal allerlei Gerümpel aus dem Möbel-Fundus in die Szenerie gestellt. Das Theater handelt von sich selbst und führt seine Mittel vor, auch die angestaubten.

In eine Schauspielprobe platzen jene sechs Personen, ein loser Verbund mit skandalös-inzestuöser und selbstmörderischer Vorgeschichte. Irgendein Schriftsteller, dem diese Figuren eingefallen sind, hat sie nicht ins Bühnenleben entlassen wollen. Nun geistern sie herum und wollen ihr Drama auf eigene Faust dem Theater andienen.

Der unnachgiebige Zergliederer Pirandello zeigt das Skelett eines möglichen, jedoch immer wieder in Frage gestellten und letztlich verweigerten Stückes. Im Spiegelkabinett von Schein und Sein glimmt alsbald die betrübliche Erkenntnis auf: Das Leben kann es nicht mit dem Theater aufnehmen, weil es nicht zur fest umrissenen Form findet; und das Theater kann sich erst recht nicht mit dem wahren Leben anlegen, weil es den eigentlich ungestalteten Rohstoff zu sehr auf konstruierten Sinn und Wirkung hin stilisiert.

Kompliziert genug: Schauspieler stellen auf der Bühne eine Handvoll typisierter Schauspieler (Diva, Trottel, Naivchen, Zampano) dar, andere Schauspieler die Gruppe der gespenstischen Lebe-Wesen. Ein Theaterdirektor (Nikolaus Kinsky) versucht das Chaos zu regieren, was sich doch dem künstlerischen Zugriff hartnäckig entzieht.

Für die Zuschauer ist’s ein ständiges Durst-Erlebnis zwischen Lippe und Glasesrand. So trocken kann Theater sich geben, wenn es seine eigenen Grundlagen untersucht, statt buchstäblich wie ums Leben zu spielen, spielen, spielen.

Doch so ausgedörrt wie in Wuppertal müßte es nicht sein. Schon die Eingangsszene, wenn die Schauspieler zur Probe hereinschlendern, wäre gewiß plastischer und auch komischer zu haben. Allem erkennbaren Bemühen und Vermögen der Schauspieler zum Trotz, wirkt das „Geschehen“ (wenn man es denn beherzt so nennen will) über weite Passagen diffus, gelegentlich auch konfus. Es ist aber auch unmenschlich schwer, einen Text zu spielen, der ganz bewußt immerzu kurz vor der Stück-Werdung innehält.

Friederike Tiefenbacher in der Rolle der Stieftochter, die als Hure im Hinterzimmer eines Hutsalons dem Vater (Horst Fassel) als Kunden begegnet, trifft die richtige Melange zwischen lasziver Verdorbenheit und verletzter Tugend. Wenn das Schauspieler-Trüppchen ihre und die weiteren Tragödien nachzustellen sucht, rutscht man freilich – gegen den ausdrücklichen Willen von Signore Luigi Pirandello – zu sehr ins Parodistische ab. Aus der doch so fragilen Bordellszene wird da nahezu ein gestisch angedeuteter Brutalporno. Eine Selbstkritik des Theaters, das heutzutage manchmal mit Schock-Effekten die Leute locken will?

Es gibt aber auch frappierende szenische Einfälle. Beispiel: Wenn etwa eine Passage aus lauter gesprochenen Ziffernfolgen (Sie: „21-22?“ – Er: ,,76!“) entwickelt wird, so spürt man einiges vom typisch theatralischen Schwebezustand zwischen verzweifelter Sinnproduktion und zungenfertig vorgetragener Absurdität.

Termine: 15., 17., 18., 19. und 22. Nov. (letzte Vorstellung), jeweils 19.30 Uhr (Karten: Tel. 0202/5634444).




Die artige Avantgarde – Wuppertals Museum zeigt Ausstellung über Worpsweder Künstlerkolonie

Von Bernd Berke

Wuppertal. Idyllen, wohin man auch blickt: Die Bäuerin stillt am Ackersrande ihr Kind. Der Pfarrer hält eine Andacht im Freien – und alle lauschen demutsvoll. Die alte Märchenerzählerin spinnt Geschichten aus, die Kleinen bleiben ganz brav dabei. Es herrscht, so scheint es, tiefer Frieden im Land.

Der Eindruck von artigen, frommen und tugendsamen Zeiten läßt kaum den Gedanken aufkommen, daß die berühmte Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen, in der solche Bilder entstanden sind, bei den Zeitgenossen als ein Posten der Moderne gegolten hat. Paßt das denn zusammen: heile Welt der Ackerkrume und avantgardistischer Anspruch?

Unverfälschte Natur gesucht

Otto Modersohn, Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler, Fritz Overbeck und Hans am Ende wollten, nach dem Beispiel französischer Freiluftmaler, in möglichst unverfälschter Naturnähe leben und diesem Hochgefühl bildlichen Ausdruck verleihen. Eine in Bremen zusammengestellte, beachtliche Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum erinnert jetzt an diesen Künstlerkreis, der anno 1895 – vor genau 100 Jahren – mit seinen Beiträgen zur Mammut-Ausstellung im Münchner Glaspalast (1931 abgebrannter Prachtbau) den triumphalen „Durchbruch“ erfuhr.

Bemerkenswert: Hätten die Worpsweder damals in München nicht im Kontext von lauter konservativen Akademiemalern ausgestellt, sondern bei der freimütigen „Sezession“, so wäre wohl kaum eine Differenz aufgefallen. So aber bemerkten Kritik und Publikum den Unterschied sogleich und priesen ihn.

Weiterer Coup, um am Kunstmarkt zu reüssieren, waren die Riesenformate, die sogleich alle Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen und auf den ersten Blick imponieren sollten. Fritz Mackensens „Gottesdienst im Freien“ (1895) war beispielsweise so großflächig geraten, daß der Künstler das Bild in der wärmeren Jahreszeit lieber nicht im Atelier ließ, sondern draußen an eine Friedhofsmauer lehnte. In Wuppertal sieht man eine etwas kleinere Vorstudie.

In der eigentlichen Worpsweder Gruppenphase (1894 bis 1899) kamen bei manchen Kunstbetrachtern gewisse Untertöne ins Spiel. Mit „Worpswede“, so befanden sie, schließe man endlich wieder künstlerisch zum Konkurrenten Frankreich auf, dessen Impressionisten die Szene so lange und nachhaltig beherrscht hatten. Manche Leute suchten und fanden bei den Worpswedern etwas Kerniges und „Echtes“, nicht vom französischen Raffinement Verdorbenes. Am deutschen Wesen…

Jenseits der bloßen Idylle

Gegen solche Zuweisungen konnten sich die Worpsweder schlecht wehren. In Wuppertal werden ihre Arbeiten nicht – wie sonst so oft – als Hervorbringungen einer Gruppe behandelt, denn man will die individuellen Unterschiede nicht verwischen. Also wird jedem Künstler eine eigene Raumflucht gewidmet, so daß die stilistischen Eigenheiten jeweils klar hervortreten.

Es wird zum Beispiel deutlich, daß Heinrich Vogeler die entschiedenste Neigung zu floralen Jugendstil-Ornamenten entwickelte oder daß Hans am Ende eine verspielte Vorliebe für Windmühlen-Motive hegte. Auch die Gewichtung von Figuren und Landschaften handhabt jeder ein bißchen anders. Und es gibt herrliche Landschaftsbilder in dieser Schau – mit satten Herbstfarben, geheimnisvollen Mooren und wunderbarem Wolkenspiel. Es ist eben Kunst, die über bloß naive Idyllen hinausweist.

Die Worpsweder Maler. Vom 22. Oktober 1995 bis 14. Januar 1996 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Di bis So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 38 DM.

 




Schattenspiele aus dem Geist der Zeit – Werkschau über Christian Schad in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auch wenn einer seine Künstlerkarriere mit magisch zerrinnenden Bildern wie „Haschisch“ (1913) beginnt, kann er noch zum getreulichen Realisten werden. Derlei Ernüchterung im Lauf der Jahre widerfuhr Christian Schad (1894-1982), den man vor allem als eine Leitfigur der „Neuen Sachlichkeit“ kennt.

Freilich: Etwas schwer zu Fassendes, durchaus Rätselhaftes aus seinen Anfängen hält sich auch später als Unterströmung. Kein platter Oberflächen-Realismus also, sondern einer mit Tiefgang. Davon zeugt nun auch eine Ausstellung in der Kunsthalle Wuppertal-Barmen. Zu sehen sind 107 Arbeiten von Schad: Zeichnungen, Druckgraphik und sogenannte „Schadographien“. Darunter versteht man (vom Dadaismus inspirierte) Experimente mit Gegenstands-Abzeichnungen auf fotografischen Platten und Fotopapier. Es sind Schattenspiele aus dem irrlichternden Geist des technischen Zeitalters.

Viele dieser staunenswerten Zwitter aus menschlicher Inspiration und chemisch-physikalischem Automatismus galten lange als verschollen.

Realismus bis unter die Haut

Man hat die frühesten Schöpfungen im Nachlaß des Dadaisten Tristan Tzara entdeckt, den Christian Schad in seiner Schweizer Bohème-Zeit (um 1915-1918 in einer kriegsfreien . Oase) kennengelernt hatte. In jenen Jahren und in den Zwanzigern entstanden Schads zeichnerische Sozialreportagen aus schummrigen Nachtcafés, Bordellen und Unterwelt-Winkeln. Zumal die Erotik ist hier selten ohne Groteske zu haben. Ein Realismus bis unter die Haut. Doch nie wird Schad so ganz und gar bitterböse wie ein George Grosz oder Otto Dix. Man kann in Wuppertal direkt vergleichen, denn ein Raum mit Eigenbesitz ist eben jenen Zeitgenossen Schads gewidmet.

Die Ausstellung macht einen abrupten Sprung von den späten 20ern mitten in die 50er Jahre. Offensichtlich hat Christian Schad, der vormals in Italien den klaren Blick an Bildern Raffaels geschult hatte, in dieser langen Zwischenzeit einen gewissen künstlerischen Kraftverlust erlitten. Zur NS-Zeit n i c h t als „entartet“ verfemt und gegen seinen Willen gelegentlich sogar als mögliches Vorbild hingestellt, hatte er sich von 1935 bis 1942 völlig aus dem Kunstbetrieb zurückgezogen. Er war Kaufmann, lernte Chinesisch, betrieb Yoga. Erst ein Auftrag der Stadt Aschaffenburg zur Kopie eines mittelalterlichen Madonnen-Bildes von Grünewald, brachte Schad wieder zurück an die Staffelei.

Versuche auf dem neuen Markt

Nach dem Kriege war der mittlerweile auf Abstraktion geeichte Zeitgeist dem Realisten nicht günstig. Schads subtile kleine Porträtskizzen lassen noch den einstigen Stilbildner ahnen. Um 1960 nahm er auch die Produktion von Schadographien wieder auf. Und er stellte 1970 eine Porträt-Bilderserie her, die ganz stark an Andy Warhols Siebdruckreihen erinnert. Es wirkt, als habe er – mehr lustlos denn verzweifelt – Anschluß beim damals Marktgängigen gesucht.

Christian Schad: Zeichnungen, Graphik, Schadographien. Kunsthalle Wuppertal-Barmen (Geschwister-Scholl-Platz), Tel.: 0202/563-6231. Bis 12. November, geöffnet Dienstag bis Sonntag 10-17 Uhr. Katalog (über Schadographien) 28 DM.

 




Sehnsucht nach der Sinnlichkeit des Südens – Barocke Schätze aus Budapest in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Gute Beziehungen zu Osteuropa tragen Früchte, auch kulturelle. Vor Jahresfrist konnte das Wuppertaler Von der Heydt-Museum Bilderschätze aus Bukarest („Von Cranach bis Monet“) zeigen, jetzt prunkt man mit Barock-Gemälden aus dem Budapester Museum der Bildenden Künste.

Wiederum locken ganz große Namen: Rembrandt, Rubens, Van Dyck, Frans Hals. Doch auch von weniger bekannten Künstlern sieht man Erstaunliches.

Aus einem üppigen Budapester Fundus von rund 3000 Gemälden (vor langer Zeit von den Dynastien Esterházy und Habsburg zusammengetragen) hat man 80 kostbare Stücke auf die Reise geschickt. Ohne Konzept wäre es pure Willkür gewesen. Leitlinie der Auswahl: Aus den Bildern soll die brennende Italien-Sehnsucht „nordischer“ Barockmaler sprechen.

Italien war als Vorbild Pflicht

Tatsächlich war es (nicht nur) im 17. Jahrhundert für flämische, niederländische und deutsche Maler Pflicht, entweder in Italien gewesen zu sein oder sich wenigstens an den dortigen Künstlern zu orientieren. Ob sie sich die Anregungen des Südens kraftvoll anverwandelt haben oder ihnen nur aufgesessen sind, daran bemißt sich die Qualität. Die Schau enthält Porträts, Stilleben, pralle Genrebilder aus dem täglichen Volksleben und Landschaften. Etliche Szenen wird man nur mit genauen mythologischen oder biblischen Kenntnissen aufschlüsseln können. Auch wirkt diese oder jene Ideallandschaft für heutige Betrachter vielleicht gar zu idyllisch.

Doch die allermeisten Werke sind von einer aufblühenden Sinnlichkeit, die uns unmittelbar angeht. Nicht nur nebenbei: Antike Mythen und Altes Testament sind aus dem Blickwinkel der Kunst bis zum Bersten mit Erotik angefüllt. Da erweist gar ein Mädchen dem ins Gefängnis gesperrten Vater ihre Tochterliebe, indem sie ihm die entblößte Brust zum Saugen reicht.

Schwarz in vielen Schattierungen

Wer das „Männliche Bildnis“ des Frans Hals sieht, muß sogleich begreifen, warum gerade dieser Künstler berühmt werden mußte. Wenn einer es auf diese Weise vermag, nachtschwarze Töne in verschiedensten Schattierungen erstrahlen, ja geradezu diamantenhaft gleißen zu lassen, gehört er eben zu den Allergrößten seiner Zunft.

Überragende Meisterschaft verrät auch jener „Männliche Studienkopf“ von Peter Paul Rubens, eigentlich bloße Vorübung zu einem größeren Altarbild und doch in sich vollendet. Das zerklüftete Gesicht des Greises tritt in grandioser Lebendigkeit hervor. Und man versteht: Rubens war keinesfalls nur ein Mann der großmächtigen dramatischen Effekte, sondern einer, der auch das intime Detail leuchten lassen konnte.

Rembrandts „Traum des heiligen Joseph“ vergegenwärtigt den Moment, in dem der Engel Joseph zur Flucht nach Ägypten überredet. Das Bild ist, auch wegen einer Anstückelung, inzwischen so fragil geworden, daß es als einziges unter Glas gezeigt werden muß. Dennoch kann man lange darin schwelgen: in den ungeheuer feinen Abstufungen goldbrauner Farbklänge, in der unmittelbar eingängigen Bildkomposition…

Wollust des Farbwechsels

Die italienischen Vorbilder werden freilich bei den weniger prominenten Malern wie Salomon Adler, Johann König, Jacob de Heusch oder Jan Lievens oft deutlicher. Da flammt zum Beispiel eine drastische Genreszene wollüstig in „venezianischen“ Farben auf. da werden komplette Bildschemata von Raffael übernommen und mit anderen Figuren gefüllt, oder es legen sich die harten Schlagschatten nach Art eines Caravaggio auf die Gestalten.

Ja, wenn der Norden den Süden nicht hätte! Dann wären Bilder und Gemüter finsterer.

„Rembrandt, Rubens, Van Dyck… – Italiensehnsucht nordischer Barockmaler“. Von der Heydt-Museum. Wuppertal-EIberfeld (Turmhof 8). 30. Juli bis 24. September, Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 15 DM, Katalog 38 DM.




Flammende Botschaften aus dem Märchenreich – Ausstellung zu Leben und Werk der Else Lasker-Schüler

Von Bernd Berke

Wuppertal. Als Lyrikerin ist Else‘ Lasker-Schüler (1869-1945) weithin bekannt. Aber als Zeichnerin? Man glaubte, höchstens 40-50 Beispiele für diese Zweitbegabung finden zu können, als man vor zwei Jahren mit den Recherchen begann. Doch nun sind es annähernd 150 Kunst-Blätter von Hand der Dichterin, die man in einer großen Wuppertaler Ausstellung sieht.

Wer genügend Muße mitbringt, kann sich in der Barmer Kunsthalle tief ins Leben und Werk der deutsch-jüdischen Autorin versenken. Eine Fülle von Briefen, Tagebüchern, Manuskripten, Fotos und AmtsDokumenten belegt einen unbehausten Weg durch die Zeitläufte – von der Kindheit im Geburtsort Elberfeld (heute Wuppertal) über die wechselhaften Berliner Bohème-Jahre, die Vertreibung aus NS-Deutschland, das Schweizer Exil und schließlich ins einsame Dasein zu Jerusalem, wo sie vor 50 Jahren (22. Januar 1945) völlig verarmt gestorben ist.

Ein fortlaufender Bilder-Fries mit historischen Fotos ruft den geschichtlichen Zusammenhang wach; zudem zieht sich eine Leiste mit knappen lyrischen Lasker-Zitaten durch die Räume – lichterloh flammende Botschaften aus einem Märchenreich, Reaktionen einer äußerst empfindsamen Frau auf die Zumutungen der Welt. Auswahl und Präsentation lassen Emphase spüren. Man will uns gar vieles zeigen. Um so bedauerlicher, daß kein Katalog die Eindrücke bündig bewahrt.

Edler Giselher und Prinz von Theben

In den Zeichnungen und druckgraphischen Arbeiten der Else Lasker-Schüler tut sich eine phantastische kleine Sonderwelt auf. Da firmiert etwa der angehimmelte Gottfried Benn als edler „Giselhe(e)r“, die Dichterin selbst sieht sich in den Rollen „Jussuf“ oder „Prinz von Theben“. Oft ist das erschütternd in seiner Verletzlichkeit: Jussuf, inständig um Weltfrieden bittend. Jussuf, der sich aus Verzweiflung erhängt hat.

Die persönliche Mythologie speist sich aus vielen Quellen: Biblische Themen und Figuren treten hervor, exotische Szenarien und Requisiten indianischen oder orientalischen Ursprungs, auch aus Tibet und Afrika – Motive, die gleichfalls in ihren Gedichten anklingen. Einmal schreibt sie in ihr Tagebuch: „Die kleinen Spatzen sind meine einzige Freude seit sechs Jahren.“ Gedichte und Bilder sind, bei aller kunstvollen Formung, Ausdruck einer bitterlich einsamen Seele, die sich aus realer Bedrängnis ins Sternenweite ergießen will. Wir schauen da in ein Geisterland, bevölkert von traumnahen Wesen, die einander gut sein sollen, jedoch auch von Angst-Gestalten.

Es gab – neben der Ehe mit Herwarth Walden – freundschaftliche Kontakte zu Franz Marc, Karl Schmidt-Rottluff und zum Hagener Christian Rohlfs, von dem ein wundervolles Dichterinnen-Bildnis gezeigt wird. Ihre eigenen Blätter sind denn auch ersichtlich im Umkreis des deutschen Expressionismus entstanden. Manchmal hat sie auch (ähnlich wie der Wiener Gustav Klimt) ihre Bilder mit kleinen Goldauflagen durchwirkt. Sie nahm dazu freilich glitzerndes Bonbon-Papier.

Naive Hoffnung auf Stalin und Mussolini

Kaum minder bewegend sind einige Dokumente: Beispielsweise die um 1919 angefertigten Berichte der schweizerischen Spitzel, die ihr einen Kommunismus-Verdacht anhängen wollten. Sodann ihr (vielleicht nie abgeschicktes) Telegramm an Josef Stalin: „Marschall, ihr seid der gütigste und liebste Mensch der Welt.“ An jeden hat sie halt ihr bißchen Hoffnung geheftet, von dem sie meinte, daß er den deutschen Nazis Einhalt gebieten könnte – sogar an Benito Mussolini.

Traurige Sensation: Erstmals finden sich in dieser Ausstellung Belege für einen bislang bezweifelten Briefwechsel, den sie mit dem italienischen Faschistenführer beginnen wollte. Else Lasker-Schülers naive Hoffnung, nicht von dieser Welt und doch damals von etlichen Juden geteilt: Mussolini sollte Hitler den Antisemitismus ausreden. Statt einer Antwort ließ der „Duce“ über sein Büro der Dichterin am 17.3.1938 „saluti fascisti““ ausrichten – „faschistische Grüße“. Und das zu jenen Zeiten einer Jüdin im Exil…

Else Lasker-Schüler. Ihr Leben, ihr Werk, ihre Zeit. Ab Sonntag (9. April) bis 28. Mai. Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz (Tel. 0202/563 6630). täglich 11-19 Uhr. Eintritt 10 DM. Familienkarte 20 DM, jeweils inklusive Begleitheft. Kein Katalog.




Flimmern der Freiheit – Wuppertaler Retrospektive zur Bewegungs-Kunst des Gerhard von Graevenitz

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit seinem Publikum hat es Gerhard von Graevenitz (1934-1983) nicht leicht gehabt. Er fand es fade, daß sich viele Leute für die elektrische Apparatur hinter seiner Bewegungskunst interessierten. Auch die psychedelische Wahrnehmung seiner Bilder war ihm ein Greuel: LSD-Schlucker, die sich um 1 968 im Rausch vor seine Werke legten und die optischen Effekte als Zutat genießen wollten, konnten ihm gestohlen bleiben.

In der Retrospektive des Wuppertaler Von der Heydt-Museums sind jetzt 72 Bilder und Objekte des oft verkannten Mannes zu sehen, der 1983 bei einem Flugzeugabsturz in der Schweiz ums Leben kam. Schwerpunkte: Op-art-Muster, die durch scharfe Kontraste zwischen schwarzen und weißen Feldern in scheinbare Bewegung geraten, sowie motorisch oder magnetisch betriebene Werke, die sich tatsächlich rühren.

Unterwegs zu anonymen Bildern

Mit seinen frühen zeichnerischen Arbeiten war Gerhard von Graevenitz gegen Ende der 50er Jahre nicht mehr zufrieden, er wollte die persönliche Handschrift überwinden. Er mochte kein Künstler sein wie etwa Picasso, für dessen Deutung es z. B. eine bestimmte Rolle spielt, wann er wie mit welcher Frau gelebt und wie er sich dabei gefühlt hat.

Von Graevenitz hingegen strebte anonyme und objektive Bilder an. Also rief er den Zufall zur Hilfe und würfelte aus, an welchen Punkten er seine weiß in weiß getönten Struktur-Bilder mit Dellen oder kleinen Erhebungen versehen sollte. Das Resultat wirkt zugleich streng und ungeheuer offen. Es sieht aus wie eine Blindenschrift, deren „Zeichenfolge“ sich – so hat man ernsthaft errechnet – möglicherweise sofort, aber auch erst in zigtausend Jahren wiederholen könnte. Man schwimmt also zwischen Augenblick und Unendlichkeit, und das Bewußtsein kommt ob solcher Unfaßbarkeit ins Flimmern wie die Bilder selbst.

Das Sehen selbst wird zum Thema erhoben. Die Bilder und Objekte gleichen kleinen Maschinen, die den Prozeß in Gang setzen. Es war also nur logisch, daß der Künstler seit Beginn der 60er Jahre wirklich Apparate baute, die den schönen Zufall nachstellten. So brachte er auf Quadraten oder runden Scheiben allerlei Stäbe, Kreise und Lamellen an, die unvorhersehbar vor sich hin ruckeln oder plötzlich ausschlagen.

Man kann nichts Falsches denken

Mal meint man, eine Ansammlung verrückt gewordener Uhrzeiger zu sehen, mal ein Gewimmel unterm Mikroskop. Der Flut von Einfällen sind kaum Grenzen gesetzt. Man kann alles denken, aber auch nichts. Eine Meditations-Übung mit ungewissem Ziel. Jede Lesart ist richtig. Freiheit, die man aushalten muß.

Spielerisch leicht und stets mit Eigendynamik überraschend, kann solche Kunst einen schmalen Ausblick in jenes utopische I.and geben, wo alles geht, wie es will.

Gerhard von Graevenitz – Retrospektive. Wuppertal, Von der Heydt-Museum. Turmhof 8. 5. März bis 7. Mai. Katalog 29 DM.