Flimmern der Freiheit – Wuppertaler Retrospektive zur Bewegungs-Kunst des Gerhard von Graevenitz

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit seinem Publikum hat es Gerhard von Graevenitz (1934-1983) nicht leicht gehabt. Er fand es fade, daß sich viele Leute für die elektrische Apparatur hinter seiner Bewegungskunst interessierten. Auch die psychedelische Wahrnehmung seiner Bilder war ihm ein Greuel: LSD-Schlucker, die sich um 1 968 im Rausch vor seine Werke legten und die optischen Effekte als Zutat genießen wollten, konnten ihm gestohlen bleiben.

In der Retrospektive des Wuppertaler Von der Heydt-Museums sind jetzt 72 Bilder und Objekte des oft verkannten Mannes zu sehen, der 1983 bei einem Flugzeugabsturz in der Schweiz ums Leben kam. Schwerpunkte: Op-art-Muster, die durch scharfe Kontraste zwischen schwarzen und weißen Feldern in scheinbare Bewegung geraten, sowie motorisch oder magnetisch betriebene Werke, die sich tatsächlich rühren.

Unterwegs zu anonymen Bildern

Mit seinen frühen zeichnerischen Arbeiten war Gerhard von Graevenitz gegen Ende der 50er Jahre nicht mehr zufrieden, er wollte die persönliche Handschrift überwinden. Er mochte kein Künstler sein wie etwa Picasso, für dessen Deutung es z. B. eine bestimmte Rolle spielt, wann er wie mit welcher Frau gelebt und wie er sich dabei gefühlt hat.

Von Graevenitz hingegen strebte anonyme und objektive Bilder an. Also rief er den Zufall zur Hilfe und würfelte aus, an welchen Punkten er seine weiß in weiß getönten Struktur-Bilder mit Dellen oder kleinen Erhebungen versehen sollte. Das Resultat wirkt zugleich streng und ungeheuer offen. Es sieht aus wie eine Blindenschrift, deren „Zeichenfolge“ sich – so hat man ernsthaft errechnet – möglicherweise sofort, aber auch erst in zigtausend Jahren wiederholen könnte. Man schwimmt also zwischen Augenblick und Unendlichkeit, und das Bewußtsein kommt ob solcher Unfaßbarkeit ins Flimmern wie die Bilder selbst.

Das Sehen selbst wird zum Thema erhoben. Die Bilder und Objekte gleichen kleinen Maschinen, die den Prozeß in Gang setzen. Es war also nur logisch, daß der Künstler seit Beginn der 60er Jahre wirklich Apparate baute, die den schönen Zufall nachstellten. So brachte er auf Quadraten oder runden Scheiben allerlei Stäbe, Kreise und Lamellen an, die unvorhersehbar vor sich hin ruckeln oder plötzlich ausschlagen.

Man kann nichts Falsches denken

Mal meint man, eine Ansammlung verrückt gewordener Uhrzeiger zu sehen, mal ein Gewimmel unterm Mikroskop. Der Flut von Einfällen sind kaum Grenzen gesetzt. Man kann alles denken, aber auch nichts. Eine Meditations-Übung mit ungewissem Ziel. Jede Lesart ist richtig. Freiheit, die man aushalten muß.

Spielerisch leicht und stets mit Eigendynamik überraschend, kann solche Kunst einen schmalen Ausblick in jenes utopische I.and geben, wo alles geht, wie es will.

Gerhard von Graevenitz – Retrospektive. Wuppertal, Von der Heydt-Museum. Turmhof 8. 5. März bis 7. Mai. Katalog 29 DM.




Wenn man dem Glück gar nicht entrinnen kann – Wuppertal stellt den populären Künstler Otmar Alt vor

Von Bernd Berke

Wuppertal. Otmar Alt (53), vielleicht der populärste deutsche Künstler, hat nichts ausgelassen. Er hat praktisch alle Techniken erprobt, mit jedem denkbaren Material gearbeitet und seinen bunten Kosmos in vielerlei Richtung wuchern lassen. Ist er etwa ein Allerwelts-Schöpfer?

Kaum einer seiner Kollegen versteht auch so ausgiebig über die eigenen Arbeiten zu sprechen wie der Mann aus Hamm-Norddinker, dem das Wuppertaler Von der Heydt-Museum jetzt eine Retrospektive widmet. Von der landläufigen Kunstkritik fühlt sich Otmar Alt offenbar verkannt, also muß er sich wohl selbst deuten: „Ich bin keine Märchentante!“ ruft er all jenen entgegen, die sein farbig-fröhliches Kunst-Universum unter dem Etikett „naiv“ abheften wollen. Er selbst sieht sich lieber in der Nachbarschaft eines Paul Klee und eines Joan Miró. Er halte sich ans „positive Denken“, wolle Lust und Freude bei den Menschen wecken.

Bilder und Objekte sehen dich an

Seine Bilder, Skulpturen und Objekte sind dazu angetan, einen mit sprühender Freude zu überfallen. Vielfach sind sie mit Augen oder augenähnlichen Öffnungen versehen, die – so Otmar Alt – „den Kontakt zum Betrachter suchen.“ Nicht nur der Besucher sieht die Bilder, die Bilder „sehen“ auch den Besucher. Mithin: Der Wille zum Glück verfolgt einen sozusagen bis in den letzten Winkel des Museums, man kann ihm gar nicht entrinnen.

Der Rundgang führt durch eine Welt der frohen Fabelwesen, man ist umstellt von Tieren und Clowns, von blühender Vegetation und blühender Phantasie. Von seinem eigenen kleinen Heimzoo (90 Tiere) läßt sich Alt ebenso inspirieren wie von einer Reise nach Bali. Er bemalt Gegenstände aus seinem Leben und überführt sie in die träumerische Kunstwelt: einen Rasierpinsel des verstorbenen Vaters, einen Mörser aus der Apotheke seiner ersten Ehefrau. Alts Kunst lebt nicht von allmählicher Reduktion zum Wesentlichen, sondern aus Wachstum, steter Addition und Zusammenfügung. Auch das ist ein Weg.

Keine nachdrückliche Entwicklung

Die ausgestellten Arbeiten stammen aus den letzten 30 Jahren. Trotz dieser großen Zeitspanne gibt es keine nachdrückliche Entwicklung. Es scheint, als seien die Grund-Elemente ganz plötzlich, etwa ab Mitte der 60er Jahre vorhanden und als seien sie seither vornehmlich in alle Windrichtungen getrieben worden.

Otmar Alt scheut auch nicht vor Massenprodukten zurück. Zu sehen sind etwa Telefonkarten, Schlipse, Aschenbecher, Uhren und CD-Platten, auf denen seine unverkennbaren Motive prangen. Kunst für Millionen.

Otmar Alt spricht Menschen an, die sich nicht verstören lassen wollen. Vielleicht lockt er auch Leute ins Museum, die sonst Schwellenangst haben. Das wäre eine recht ehrenwerte Rolle im Kunstbetrieb, der sich sonst oft arrogant über Alltagsbedürfnisse hinwegsetzt. Und noch etwas zeichnet ihn aus, was den meisten gefallen dürfte: Er legt allergrößten Wert aufs Handwerk. Ganz gleich, ob er Siebdrucke, Radierungen, Lithographien oder Kunst aus Glas und Stahl entwirft – stets arbeitet er eng mit Meistern der jeweiligen Zünfte zusammen.

Am liebsten hat er es. wenn man seine Werke betastet und allseits berührt. Doch das ist im Museum eine heikle Sache. Gern stellt Otmar Alt deshalb auch unter freiem Himmel aus – in der nächsten Woche (ab 27. Juni) beispielsweise im Dortmunder Westfalenpark. Ein passender Ort für sonnige Kunst.

Otmar Alt. Von der Heydt-Museum, Wuppertal. Turmhof 8 (Elberfeld). Ab Sonntag, 26. Juni, bis zum 14. August (Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr), Eintritt 6 DM, Katalog 49 DM (Neu: mit VRR-„Ticket 2000″ halbierter Eintritt).

 




Wuppertal: Museum muß vorerst keine Bilder verkaufen – Ratsbeschluß sorgt nur für vorläufige Entwarnung

Von Bernd Berke

Wuppertal. Vorläufige Entwarnung: Das Ansinnen der Stadt ans Von der Heydt-Museum, zwecks Aufbesserung der Finanzen einige Bilder zu veräußern, ist erst einmal vom Tisch. Dennoch hängt weiter ein Damoklesschwert über dem Museum.

Einstimmig beschloß der Wuppertaler Stadtrat am Montagabend eine Dreipunkte-Erklärung zum bundesweit beachteten Bilder-Streit. Darin heißt es u. a., einen regelmäßigen (!) Verkauf von Kunstwerken zur Etat-Steigerung dürfe es nicht geben. Damit bleibt die Möglichkeit offen, von Fall zu Fall eben doch solche Aktionen ins Auge zu fassen.

Weiter enthält der Ratsbeschluß einen Dank an die Stifter von Kunstwerken, denen man die Sorge nehmen will, die von ihnen zur Verfügung gestellten Werke könnten zur etwaigen Verkaufsmasse gehören. Schließlich wird festgelegt, daß nur die Museumsleitung selbst über eventuelle Verkäufe aus der Sammlung entscheiden dürfe.

So weit, so scheinbar beruhigend für Museumschefin Dr. Sabine Fehlemann. Als Kulturdezernent Heinz-Theodor Jüchter gestern den Ratsbeschluß erläuterte, war sie freilich sichtlich bedrückt. Sie gab denn auch auf Nachfragen zu verstehen, daß sie in Sachen Bilderverkäufe nicht mehr Stellung beziehen wolle. Hat man es ihr etwa untersagt? Sie selbst jedenfalls hatte kürzlich die städtischen Begehrlichkeiten mit einem alarmierenden Kurzinterview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ruchbar gemacht. Gestern aber sagte sie zu der ganzen Angelegenheit kein einziges Wort.

Kulturdezernent spricht von Millionen-Einsparungen

So ergriff denn – annähernd als Alleinredner – der Kulturdezernent die Gelegenheit, die Ratsmeinung zu interpretieren. Das Museum, so Jüchter, bleibe aufgefordert, seine Einnahmen deutlich zu verbessern. Die Stadt könne nicht mehr Geld zuschießen. Im Gegenteil.Er, Jüchter, müsse in den nächsten Jahren enorme Kultur-Sparvorschläge vorlegen, allein beim Theater gehe es um 6 Millionen DM.

Einen ersten Lichtblick für das Von der Heydt-Museum gibt es: Die aus Bukarester Schätzen bestückte Schau „Von Cranach bis Monet“ hat fast 95000 Besucher angezogen. Sonst kommen im ganzen Jahr nicht so viele Kunstinteressenten in das Elberfelder Haus. Der Überschuß der Ausstellung soll nun aber nicht in den Ankaufsetat des Museums gesteckt werden, sondern in Werbekampagnen.

Mit diesen Anstrengungen könnte jedoch ein Teufelskreis des Leistungsdrucks beginnen. Denn der erhöhte Werbeetat muß sich lohnen. Gäbe es Besucherflops, so würden alsbald die Alarmglocken läuten. Museumsleiterin Fehlemann muß nun wohl zusehen, daß ihre Ausstellungen „mehrheitsfähig“ sind. Sie geriete bei Fehlschlägen rasch in Begründungsnot und würde eines Tages doch wieder gedrängt werden, an Bilderverkäufe zu denken.

Übrigens kommen für derlei Verkäufe gerade mal jene sechs Prozent der Wuppertaler Bestände in Frage, die mit städtischen Geldmitteln angeschafft wurden. Es sind vor allem Werke von jungen Künstlern aus der Region, die eh keine großen Erlöse brächten. Der Löwenanteil des Eigenbesitzes stammt aus Stiftungen und wäre bei Verkäufen tabu, wie Kulturdezernent Jüchter versicherte.

 




Zartbitterer Scherz – Alan Ayckbourns „Familiengeschäfte“ zeitweise mit Zuschauern auf der Bühne

Von Bernd Berke

Wuppertal. Das Wuppertaler Stadttheater kann sich keine Schauspieler mehr leisten. Also müssen die Zuschauer auf die Bühne kommen und alles selbst machen.

Gemach, gemach. Ganz so schlimm ist es noch nicht. Doch im Zeichen allfälliger Kultur-Sparmaßnahmen hat das Ensemble zur Premiere von Alan Ayckbourns Komödie „Familiengeschäfte“ schon mal eine Zukunftsschau gewagt: Regisseur Hans-Christian Seeger betrat eine fast ratzekahle Bühne und bat vielmals um Entschuldigung. Doch eine Ausstattung könne man halt nicht mehr bezahlen. Sprach’s und holte – Rolle für Rolle – dreizehn verdutzte Leute aus dem Publikum auf die Bretter. Die sollten nun gefälligst spielen…

Natürlich war’s nur ein zartbitterer Scherz. Die ins Rampenlicht gezogenen Zuschauer durften sich wieder hinsetzen, denn es gab doch noch echte Schauspieler. Und die Techniker durften nun auch das Bühnenbild hereinschieben. Sie trugen übrigens T-Shirts mit Sponsorenaufdruck.

„Ehrlich sein kann doch jeder Idiot“

Das mit 20 Minuten eine Spur zu länglich geratene Vorspiel auf dem Theater war freilich schon der bessere Teil des Abends. Nicht alle Darsteller schlüpften hernach mühelos in ihre Rollen. Ayckbourns launig-sarkastisches Stück handelt von einer mittelständischen Möbelfirma, deren Fundus vom ganzen Familienclan freihändig geplündert wird. Jeder macht seinen Schnitt, denn (Zitat): „Ehrlich sein kann doch jeder Idiot.“ Nur Jack McCracken (Gerd Mayen) spielt anfangs den Moralapostel und verfolgt jede Verfehlung der Familienbande, wie etwa den Ladendiebstahl der Tochter – bis auch er im Morast landet und sogar den Vertuschungs-Mord an einem Detektiv billigt.

Vielschreiber Ayckbourn flaniert auf dem Boulevard. Um im Straßen-Bild zu bleiben: Der Weg führt zwar nicht an luxuriösen Auslagen vorbei, jedoch an einigen attraktiven Sonderangeboten. Allerdings hat das Stück etliche Hohlräume, und es ist ein bißchen geschwätzig. Boulevard Beo, sozusagen.

Man ist in Wuppertal vielleicht nicht zynisch genug, um den Abgründen des Stücks vollends gerecht zu werden. Selbst die Hausfrau als Freizeit-Domina wirkt hier wie eine „Barbie“. Langweilig ist’s nicht gerade, doch die Sache kommt selten über die Puppenstuben-Harmlosigkeit der in vier Zimmerchen geteilten Bühnenaufbauten hinaus. Der Zuschauerblick wandert immer kreuz und quer in diesem doppelstöckigen Karree.

Schwer ist das: Diese Zimmer mit simultaner Komik zu füllen, wo doch meist nur in einem gesprochen wird. Ein Glücksspiel mit gewissen Leerstellen. Im einen Moment gelingt’s, im nächsten weniger.

Nächste Vorstellungen: 6., 10. und 21. April (immer um 19.30 Uhr)




Der kinderleichte Traum von einer besseren Welt – Jean Giraudoux‘ „Die Irre von Chaillot“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein paar Kapitalisten wollen halb Paris abreißen, um vermeintliche Ölquellen auszubeuten. Doch die Erd- und Menschenschinder werden in eine tödliche Falle gelockt – und schon ist die Welt ein für allemal befreit. So simpel geht das in Jean Giraudoux‘ Stück „Die Irre von Chaillot“, das in Wuppertal Premiere hatte.

Selten wird der Zweiakter gespielt. Er ist schwer in den Griff zu bekommen. Ziemlich diffus wirkt das Figureninventar zwischen windigen Geldsäcken und Gestalten aus jener niederen Gegenwelt der Clochards und der „irren“ Frauen. Die sind hier natürlich im höheren Sinn die einzig Vernünftigen, weil am mißlichen Zustand der Welt irre geworden. Das Stück hegt eine verstiegene Hoffnung auf rebellische Randgruppen.

In Wuppertal (Regie: Kresimir Dolencic) verklammert man das Ganze zunächst mit einer Art Revueform samt Gesangsauftritten. Die Atmosphäre: so etwa zwischen Bahnhofs-Wartesaal und „Dreigroschenoper“, also zerfasert. Dennoch gelingt es, das Figurenspektrum in Fassung zu halten. Die Schauspieler stellen auf herrlich leicht scheinende Art zumindest lose, assoziative Zusammenhänge her. Wie hat doch dieses Ensemble im Lauf der letzten Jahre gewonnen!

Von Erich Fried gibt es das Gedicht ,„Die Maßnahmen“. Dort heißt es lapidar: „…Die Feinde werden geschlachtet / Die Welt wird freundlich – Die Bösen werden geschlachtet / Die Welt wird gut.“ Ähnlich kindertrotzig, wundergläubig (und totalitär) geht es zu, wenn die „Irre“ (schmetterlingsbunt: Ingeborg Wolff) ihr Tribunal über die etwas groteske Crew der Kapitalisten abhält und sie mit einem angeblichen Ölvorkommen in die Kanalisation lockt, wo die Herrschaften verenden müssen.

Giraudoux hat das Stück 1943 geschrieben, mitten im Kriege und wohl in wahnwitzig lachender Verzweiflung über die deutsche Besatzung. Daraus mag sich die „irre“ Hoffnung herleiten, die vielleicht auch die Befreiung von den Nazis auf phantastische Weise vorwegnimmt.

So schwebt die ganze Sache denn auch etwas traumverloren dahin. Aber das naive Träumen wird doch gelegentlich noch erlaubt sein. Es könnte dieser Abend recht gut unter biblischem Motto stehen: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder… denn ihrer ist das Himmelreich“.

Tatsächlich befördert die Bühnen-Hydraulik am Ende die irre Weltenretterin samt Anhang in himmlische Höhen, während aus dem Orkus die totgeglaubten Besitzenden doch wieder auftauchen, die Mäuler voller Geld gestopft. Aus der Traum: Hienieden, so muß man fürchten, bleibt Mammon König.

Nächste Vorstellungen: 26. und 28. Dez.; 2.. 9. und 15. Januar.

 




Im Bett mit Karl Marx – „Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Der olle Karl Marx räkelt sich im Ehebett. Neben ihm liegt seine liebe Frau. Sie erdrückt ihn mit ihrer Fürsorge, sie hält ihn dauernd vom Schreiben und – na, sowas! – vom Fremdgehen ab. Und wenn seine Feder doch mal kratzt, ruft sie gleich; .„Was schreibst du da?“ Bedauernswerter Marx? Im Gegenteil.

„Die Verkündigung oder: Friedrich, du bist ein Engel“, jetzt in Wuppertal als deutsche Erstaufführung zu sehen (Regie: Hans-Christian Seeger), zeigt uns Karl Marx zwei, Stunden lang im Nachtgewand, doch nicht im Büßerhemd: Dieser Mann ist, ganz ungebrochen, ein Patriarch, der mit Frau und Geliebter nach männlichem Belieben umspringt.

Autor Milan Uhde ist, politisch besehen, kein Geringer. Er ist tschechischer Parlamentspräsident. Die Handlung seines Stückes fußt auf einer durch die Forschung weitgehend verbürgten Episode: Marx (der im Stück – Scherz, laß nach! – „Karl-Max“ heißt) schwängerte anno 1850 im Londoner Exil seine Haushälterin Helene Demuth (im Stück: Leni), während sein Eheweib, die kränkelnde dreifache Mutter Jenny (hier: Beni), im Nebenzimmer schlief. Genosse und „Geldesel“ Friedrich Engels übernahm offiziell die Verantwortung für das Malheur – nicht aber für das Kind, das flugs weggegeben wurde, sprich: Außen hui mit Befreiung der Arbeiterklasse, drinnen pfui mit sexistischer Unterdrückung. Sozialisten als bürgerliche Unholde. Merke: Das konnte ja nichts werden mit der Utopie, wenn sie schon so begonnen hat.

Traumspiel mit schauriger Komik

Milan Uhde ist zu klug, um diese mißliche Geschichte einfach nachzuerzählen. Er hat ein Traum- und Schauerspiel mit komödiantischen Zwischentönen geschrieben, bei dem sich Leni verzweifelt in der Themse ertränkt und später als Wiedergängerin in Marx‘ verstaubter Armutsbude herumgeistert. Auch erwürgt Marx seine Frau, weil sie einige Manuskripte verbrannt hat. Diese Tat wird ebenfalls von Engels bemäntelt und bleibt folgenlos. Die herzlichste Umarmung des ganzen Abends ist denn auch keine zwischen Mann und Frau, sondern jene männerbündische zwischen Marx und Engels, als die frohe Botschaft vom Generalstreik in der Zeitung steht.

Marx, durch die jüngste Geschichte eh schon ausgezogen bis aufs Hemd, wird noch einmal ganz intim bloßgestellt, einmal schwenkt er gar wie ein Dorftrottel den Nachttopf. Hier und da ist das halbwegs komisch. Aber: War das denn wirklich noch nötig?

Immerhin gibt’s recht schmackhaftes Rollenfutter, angesiedelt irgendwo zwischen Hauptmannschem Ernst und Loriot-verwandter Komik. Viel mehr als die Wuppertaler wird man aus dem Stück wohl nicht herausholen können. Denn sie machen das allesamt recht gut: Gerd Mayen als väterlich sich gebender Märchenerzähler und Lügenbold Marx, mit gelegentlichen Vulgär-Ausbrüchen; Rena Liebenow als praktisch-lebenskluge Ehefrau, aber auch Nervensäge, die sein Theoriegebäude im Nu zerbröseln läßt; Franz Trager als nicht nur vom Rationalismus trunkener Engels und schließlich Andrea Witt als das Liebesgespenst Leni.




Der illusionslose Blick auf die Gewalt – „Violence Report“ von Leon Golub in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Gewalt gibt es immer und überall“, stellt der New Yorker Künstler Leon Golub fest. Was folgt daraus? Sollen wir, um nicht abzustumpfen, die Augen verschließen oder im Gegenteil genauer hinsehen? Golub empfiehlt mit seiner Wuppertaler Ausstellung „Violence Report“ den illusionslosen Blick.

Der Besucher geht wie durch ein Labyrinth, ständig aus dem Tritt gebracht. Denn die 31 großformatigen Bilder hängen nicht etwa an den Wänden, sondern – auf durchsichtige Plastikfolien gebannt – von der Decke herab und mitten in die Räume hinein. Solch direkte Konfrontation erzwingt Umwege. Fast wie bei Skulpturen eröffnen sich beim Umhergehen immer neue Perspektiven auf Vorder- und Rückseiten. Mehr noch: Schon ein leichter Luftzug kann die frei im Raum hängenden Bilder in gespenstische Bewegung versetzen.

Die Transparenz der Fotografien und Gemälde sorgt zudem für Durchsichten und optische Vermischung der einzelnen Motive. Die aus verschiedensten Zusammenhängen isolierten Szenen der Gewalt überlagern einander und addieren, ja multiplizieren sich zum universellen, letztlich zeitlosen Phänomen. Ist das nicht eine gefährliche, zur Resignation führende Sicht der Dinge? Ist Gewalt immer und immer wieder dieselbe, oder gibt es nicht doch Unterschiede?

„Negative Historienbilder“

Tatsächlich versteht documenta-Teilnehmer Golub (71) diese Arbeiten, die er erstmals in Europa präsentiert, als „negative Historienbilder“. Es beginnt zwar nicht mit Kain und Abel, doch eine Gewaltszene aus dem Jahr 630 v. Chr. markiert die geschichtliche Frühzeit. Politische Gewalt, Staatsterror, Folterszenen und straßenkriminelle Brachialakte fächern das Thema auf.

Golub legt Wert darauf, keinen Moment abzubilden, den man ohne weiteres dümmlich-voyeuristisch auskosten könnte. Er sucht in allen Epochen nach jenen häßlichen Schock-Sekunden, die uns womöglich stutzen und innehalten lassen. Der herrisch auf den fremden Körper gestellte Stiefel, die auf den Kopf gesetzte Pistole, das schmerzverzerrte, deformierte Gesicht, die schrecklich verrenkten Gliedmaßen. All das überlebensgroß, monumental.

Wie nehmen wir Gewalt wahr? Golub kann gar nicht anders, als die Verformung der Realität durch die Medien mitzubedenken. Mit Hilfe von Computergraphik hat er Irritationen in seine Bilder eingebaut. Sanfte Verschiebungen und Verrätselungen. Jene Bilder, die er aus Zeitungen entnommen hat, zeigen auf der Folie ihr stark vergrößertes Raster. Durchaus verfremdet kommt uns die Gewalt entgegen. Und durchaus vieldeutig. Derselbe Kopf wirkt aus dem einen Blickwinkel wie der eines rechtmäßig gestellten Verbrechers, aus dem anderen wie der eines schuldlosen Opfers. Unser Blick auf Gewalt kann jederzeit manipuliert werden.

Wer kann sagen, wie eine solche Ausstellung in den Köpfen wirkt? Vielleicht hilft sie ja, Gewalt wirklich einmal hellwach wahrzunehmen, statt sie bedenkenlos zu konsumieren.

Leon Golub: „Violence Report“. Kunsthalle Wuppertal-Barmen. Geschwister-Scholl-Platz. Bis 12. September, Di-So. 10-17 Uhr. Katalogheft 15DM.




Als Natur schon künstlich wurde – Deutsche Graphik der Goethezeit im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Zurück zur Natur!“ rief Jean-Jacques Rousseau. Um 1800, zur vielbeschworenen Goethezeit, folgten auch viele deutsche Künstler dem Appell. Es war fast zu spät, denn am historischen Horizont dämmerte schon die Industrialisierung herauf und drohte die Idyllen zu zerstören. Wie Graphiker des Klassizismus und der Romantik die Natur sahen, zeigt jetzt ein breiter Überblick Im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum. 260 Arbeiten aus Eigenbesitz sind zu sehen.

Das Verhältnis zur Natur muß schon damals oft recht künstlich gewesen sein. Zahllose Ideallandschaften mit all ihren pittoresk drapierten Zutaten hat es so niemals gegeben. Es waren geschönte Postkarten-Ansichten, aus lauter Versatzstücken gefügt. Hier eine antike Säule, dort ein edel, tugendsam oder heroisch aussehendes Menschlein, und im Hintergrund hatten sich derweil Wald und Flur immer hübsch nach dem goldenen Schnitt zu richten. Wirklich zu schön, um wahr zu sein.

Zudem suchten vor allem einige Romantiker in der Natur noch ganz anderes: nationale Identität etwa. Es war die Zeit, in der man z. B. die Alpen als Ort eines vermeintlich sittsamen Lebens entdeckte und in der das deutsche Mittelalter mitsamt Heldensagen in Naturkulissen verpflanzt wurde. Goethe selbst, dem viele Künstler ehrerbietig Arbeitsproben sandten, bewunderte zwar manch ein Blatt in ästhetischer Hinsicht, aber das nationale Gewese wurde dem Dichterfürsten denn doch etwas unheimlich.

Im Klassizismus wurde auch der Wüstling harmlos

Interessante Blätter sind zu sehen. Beispiele: Die „Faust“-Illustrationen des Peter von Cornelius oder die einlullenden Lieblichkeiten des Ludwig Richter. Sodann finden wir Bonaventura Genellis Zyklus ,Aus dem Leben eines Wüstlings“ (im Vergleich zu William Hogarths berühmter Serie „The Rake’s Progress“: klassizistisch geglättet und verharmlost), die idealisierten italienischen Landschaften von Joseph Anton Koch, die schon der Abstraktion zuneigende Naturmystik Philipp Otto Runges – und auch zwei Blätter von C. D. Friedrich.

Thematisch fallen die außerordentlich lebendigen Tierdarstellungen Johann Christian Reinharts etwas aus dem Rahmen. Sie verraten einen sonst seltenen Drang zum Realismus, dessen Arrangements allerdings gelegentlich unfreiwillig komisch wirken, etwa wenn naturgetreu gezeichnete Kühe oder Ziegen versonnen in künstlich hochgezüchtete Landschaften blicken.

Nicht immer ist die Natur dem Menschen gut. Bei Carl Wilhelm Kolbe („Landschaft mit groteskem Eichenbaum“) zeigt sie auch schon mal eine häßliche Fratze. Und Alfred Rethels Totentänze stehen vollends für die Nachtseiten.

Im Obergeschoß hat man eine zweite Ausstellung installiert: Zeichnungen des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Carpeaux (1827-1876), eines Vorläufers von Auguste Rodin. Aufschlußreich der Vergleich mit den Lithographien und Kupferstichen der Goethezeit. Skizzenhaft war Carpeaux‘ Strich, nervös, zuweilen verzerrend bis zur Karikatur. Die Moderne war eben schon zum Anbeginn ein schmerzlicher Abschied von Beschönigungen.

Deutsche Graphik um 1800 – Klassizismus und Romantik / Jean-Baptiste Carpeaux. Von-der-Heydt-Museum. Wuppertal-Elberfeld (Turmhof 8). Bis 12. September. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 28 DM.




Fremdling auf der Erde – Bilder von Auguste Chabaud in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Paris behagte ihm nicht, in der Provence fühlte er sich auch nicht wohl. Auguste Chabaud (1882-1955) war ein Fremdling auf Erden. Jetzt zeigt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum eine große Retrospektive mit 120 Ölbildern und 100 Zeichnungen – Wiederentdeckung einer vergessenen Nuance der Moderne.

Die Franzosen haben den Beginn der Chabaud-Renaissance verschlafen. Zwar richteten sie ihm 1992 in Graveson (bei Avignon) ein Museum ein, doch da hatte längst der Bochumer Galerist Alexander von Berswordt-Wallrabe die Bedeutung Chabauds erkannt und den Anstoß für die jetzige Schau gegeben.

In seinen besten Jahren, etwa um 1907, war Chabaud ein Meister der kühnen optischen Raffung: ein paar Striche, ein Auge – fertig war die Schafherde. Ein roter Hotelflur, zwei Türen, unter denen ein schmaler Lichtstrahl hervorscheint, ein Fuß auf der Treppe – ein Bild der Einsamkeit. Geradezu tolldreist auch die Draufsichten nach Art von Luftbildern, etwa auf Kampfarenen.

1899 war Chabaud aus seiner südfranzösischen Heimat nach Paris gezogen. Die Stadt, von der so viele schwärmen, gefiel ihm nicht. Mächtig muß er sich fortgesehnt haben. Immer wieder malt und zeichnet er jene kleinen und großen Fluchten: abfahrende Züge und in unbestimmte Fernen gleitende Seine-Schiffe, dazu Brücken, die immer aus dem Bild und damit aus der Gegenwart herausführen. Auch das nächtliche Paris mit seinen sexuellen Lockungen hat ihn wohl mehr gequält. Kokotten und Bordellszenen zeigt er in bedrohlich gleißendem Rot.

Und dann Südfrankreich. Welches Lodern, welche Helligkeit haben van Gogh, Matisse oder Bonnard dort gesehen! Nichts davon bei Chabaud. Fast immer lastet ein gewitterschwerer Himmel auf den Szenen des Landlebens, die wenigen Menschen huschen dahin wie Geprügelte.

Vielleicht lag es auch an den Umständen. 1917 hatte sich sein Vater das Leben genommen. Auguste mußte nicht nur den Bauernhof der Familie bewirtschaften, sondem auch acht Kinder ernähren. Als Greis hat er dann seinen Frieden mit der Welt geschlossen. Künstlerisch hat ihm das geschadet. Leider sogar rückwirkend, denn Chabaud machte sich über ältere Bilder her, um sie zu verbessern. Doch er hat sie verwässert.

Auguste Chabaud. Von der Heydt-Museum. Wuppertal (Turmhof 8). 30. Mai bis 18. Juli. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.




Durch die Hölle in das sittsame Leben – Graphik von Hogarth und Chodowiecki in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Tugend kann man den Menschen auf zweierlei Art beibringen: Entweder malt man die Freuden sittsamen Lebens aufs Schönste aus (und flunkert dabei notfalls ein bißchen) – oder aber man läßt die Leute tief in den Höllenschlund des Lasters blicken, auf daß sie womöglich zurückschrecken.

William Hogarth (1697-1764) hat den zweiten Weg gewählt und damit allzeit gute Geschäfte gemacht. Als Raubdrucke seiner Bilder überhand nahmen, setzte er sogar ein frühes Copyright durch.

Nehmen wir Hogarths Radierungszyklus „Die Stufen der Grausamkeit“ als Extrembeispiel. Schon im ersten Bild quälen einige Rabauken Katzen und Hunde. Die weitere Beschreibung ersparen wir uns. Weiter als das vierte Bild gehen wohl auch Horrorvideos nicht. Ein gravierender Unterschied: Hogarth wollte den heilsamen Schock, durch Schreckensbilder wollte er gerade die Moral befördern. Aus heutiger Sicht könnte man argwöhnen: Hier haben einen Künstler schon die ersten Zweifel an der Aufklärung und ihrem Menschenvertrauen beschlichen.

Die Kunsthalle in Wuppertal-Barmen verknüpft ihren Überblick zu Hogarths Graphik mit Blättern von Daniel Chodowiecki (1726-1801), gleichfalls aus Eigenbesitz. Rund 370 „Sittenbilder des 18. Jahrhunderts“ (Titel der Schau) sind zu sehen.

Chodowiecki, gefragter Buchillustrator und mit Goethe bestens bekannt, ist weit weniger drastisch als Hogarth, ja seine Arbeiten wirken vergleichsweise lieblich. Derlei Unterschiede spiegeln nicht zuletzt den Entwicklungsstand der Metropolen London und Berlin. Während an der Themse schon damals ein „heißes Pflaster“ war, ging es an der Spree idyllisch zu.

Zurück zu Hogarth, denn das Laster ist – gestehen wir’s nur – zumindest optisch weitaus ergiebiger. Da wird in einer Blätterfolge etwa der verwerfliche Lebensweg einer Dirne nachgezeichnet, dann der eines unverbesserlichen Wüstlings („The Rake’s Progress“). Drohend reckt sich der Zeigefinger empor: Zum Schluß landen alle diese Sünder(innen) entweder im Gefängnis oder im Irrenhaus, duellieren sich oder verüben Selbstmord.

Ob Saufgelage (Hogarth rät zum Bier, um die Schnapssucht auszutreiben), miese Wahlkampf-Schlacht oder „Unzucht“ mancher Sorte – Hogarth hat bildnerisch wenig ausgelassen. Fast möchte man seine Stiche und Radierungen (in Anlehnung an jenes umstrittene Fernseh-Genre) „Reality-Papers“ nennen. Doch seine Wirklichkeit ist nicht so platt, er hat sie mit zahllosen symbolischen und formalen Querverweisen überhöht. Noch in der wildesten Orgie stecken klassische Bildmuster etwa von Raffael oder Leonardo. Das alles summiert sich oft zu einer barocken Detailfülle. Charakteristisch die fast karikierende Verzerrung, die Hogarth zu einem Vorläufer von Goya, Grosz und Dix macht — und letztlich sogar zu einem der „Väter“ des Comic-Strips.

Auch Chodowiecki war ein Voyeur sondergleichen. Selbst in Gesellschaft zog er sich lieber an den Rand zurück und zeichnete heimlich die Leute, manchmal gar durch Schlüssellöcher. Auch so ein Wirklichkeits-Verrückter also. Doch er bekam natürlich nur zu sehen, was da war: Beinahe rührend anmutende Versuche des Bürgertums, sich tugendsam gegen den verwilderten Adel abzugrenzen.

Erstaunlich übrigens, daß es all diese Arbeiten in Wuppertal gibt. Sie stammen aus Sammlungen örtlicher Bürger. Kürzlich hat das Museum Museum die Bestände ergänzen können.

„Sittenbilder des 18. Jahrhunderts“ (Graphik von William Hogarth und Daniel Chodowiecki). Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz. Bis 11. Juli, Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr.

 




Wenn es den Künstler übermannt – üppige Werkschau über Max Klinger in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Eine Dame liegt nackt am Strand, hingegossen wie auf einer billigen Postkarte. Da kommt Besuch: ein paar Vögel, darunter zwei Marabus, mit langen Schnäbeln und gierig-spöttischem Blick. Da frage jemand, wofür die Schnäbel auf dem Bild „Gesandtschaft“ symbolisch stehen könnten.

Das Pendant sind jene Krebsscheren, die beinahe zärtlich Gegenstände in sich hineinsaugen. Von dieser fiebrig-feuchten Art sind viele Bilder des Max Klinger (1857—1920). Sigmund Freud, des Künstlers Zeitgenosse in einer Epoche sexueller Unterdrückung, ist stets in der Nähe. Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt jetzt einen in Leipzig konzipierten Klinger-Überblick mit Gemälden, Graphik, Zeichnungen und Skulpturen, angereichert um Eigenbesitz.

Es ist ein späte, ja überreife Frucht des einstigen Kulturabkommens zwischen Bundesrepublik und DDR. Der gebürtige Leipziger Klinger wurde dort, auch zu SED-Zeiten, als sächsischer Säulenheiliger hoch in Ehren gehalten. Seine spätbürgerlichen, „dekadenten“ Antriebe (im geistigen Umkreis von Schopenhauer, Wagner, Nietzsche) verdrängte man geflissentlich – und behalf sich mit Klingers Bildern über die Märzrevolution 1848, die man zur proletarischen Parteinahme umlog.

Klinger aber ging es nicht um Politik, sondern um Aufruhr schlechthin, um schäumende Menschenmassen, Gischt der Revolution. Damit wären wir ganz zwanglos bei Klingers Seestücken. Man könnte Grillparzers Titel zitieren: „Des Meeres und der Liebe Wellen“. Hohe Wogen als Überflutung des Bewußtseins. Ob „Venus im Muschelwagen“, ob „Sirene“ oder „Ritt auf dem Hai“ – angesichts von Wasserfluten übermannt es Klinger, da brechen sich sexuelle Angst- und Wunschbilder Bahn. Doch es gibt auch die niedliche Variante mit Amor-Figuren samt Pfeil und Bogen.

Es hat Klinger offenbar häufig übermannt, nicht selten auf Kosten der Qualität. Er ließ sich, wie in Wuppertal zu besichtigen, von Figuren und Motiven derart mitreißen, daß seine Phantasie die künstlerischen Mittel überstieg. Gelegentlich unbeholfene Raumstaffelung, ungelenke Pinselführung und immer wieder das Abgleiten in läppische Anekdoten, das sind Makel einiger Gemälde.

Zum einen drapierte Klinger, sich aus dem Repertoire bedienend, manche Sachen nur beiläufig mit Jugendstil-Arabesken. Zum anderen produzierte er ziemliche „Schinken“, mit imperialer Gebärde und pompöser Inszenierung. Beispiele: „Christus im Olymp“ oder „Die Kreuzigung Christi“, gar nicht zu reden von seinem Beethoven-Denkmal. Wenn er die Mythen der Antike und des Christentums munter mixt und seiner Zeit anverwandelt, scheint er hin und wieder die Selbstkontrolle außer Kraft zu setzen, auch darin war Klinger ein Vorbote des Surrealismus.

Und doch fragt man sich: Sind dies nun Schmachtfetzen – im Sinne unserer jetzigen Postmoderne, der alles gleichgültig wird und die alles gelten läßt? Oder war Klinger unterwegs zum Gesamtkunstwerk, besonders umtriebig im „Einsammeln“ früherer Stile?

Jedenfalls war er kein Stümper. Aus seinem Unbewußten hat er nicht nur Kitschverdächtiges zutage gefördert. Bei den Gemälden gibt es sehr gelungene Werke wie das berühmte symbolistische Bild „Die blaue Stunde“. Ganz besonders aber im Medium der Graphik, das er wohl auch technisch besser beherrschte als die Ölmalerei, hat Klinger Bleibendes geschaffen. Da deuten manche Traumgesichte auf Max Ernst voraus, andere könnten es mit Blättern von Odilon Redon oder Goya aufnehmen. In Wuppertal gibt man diesem Bereich breiten Raum. Das ist gut so.

Max Klinger. Werkschau. Von der Heydt-Museum, Wuuppertal-Elberfeld, Turmhof 8. Bis 6. September. Di bis So. 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.




So leicht ist „Warten auf Godot“ – jedenfalls in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Im Museum steht ein mit Kinogestühl möblierter Kasten. Darin sitzen zwei schwatzende, brabbelnde Herren. Die Zuschauer nehmen das anfangs durch eine Scheibe wahr, die einer der beiden Männer eifrig glasklar wienert: Keine Unklarheiten also!

Die Herren heißen Wladimir und Estragon, bilden mithin jenes Duo, das in Samuel Becketts Stück so sinn- und endlos auf „Godot“ wartet – eine Tätigkeit, die längst zu einer Vielzahl von (Theater)-Witzen geronnen ist. Zudem hat „Warten auf Godot“ in seiner leerlaufenden Logik gewisse Parallelen zu Komikern vom Schlage eines Karl Valentin. Warum also Beckett nicht als Hochkomiker spielen, statt als Tiefgründler?

So geschieht es in Wuppertal, wo Hans-Christian Seeger das Stück im Forum des Von der-Heydt-Museums inszeniert hat – mitten in der gerade eröffneten Ausstellung „Denk-Bilder“. Szenische Denk-Bilder gibt es auch bei Beckett, doch Seeger hat sie leicht genommen, so leicht wie den berühmten dürren Baum im sonst üblichen Bühnenbild, der hier nur noch ein winziges Bonsai-Exemplar ist. Sieht man etwa auch nur einen Bonsai-Beckett?

Wo nur irgend Komik sich im Text verbergen könnte, wird sie in Wuppertal sogleich ergriffen und rasch ausgespielt. Lachnummern entstehen hier nicht, wie es bei diesem Stück durchaus denkbar ist, aus tiefster Verzweiflung an der Existenz, sondern sind sofort da, Instant-Komik sozusagen. Von Warten kann in dieser Hinsieht keine Rede sein, auch kaum von Tiefsinn.

Doch dann gibt es eine Szene (besser: deren Verweigerung), die nur auf den ersten Blick läppisch wirkt. Nach der Hälfte des Stückes ziehen sich Wladimir und Estragon stumm zurück und lassen die Zuschauer… warten. Und warten. Und warten. Viele Minuten lang. So erfährt jeder einige Momente unerfüllten Wartens — es wirkt womöglich tiefer als bloßes Nachdenken.

Und wie füllen wir heute die Wartezeit, also die Existenz – vielleicht, indem wir uns als Dauer-Konsumenten „zu Tode amüsieren“? Genau darauf könnte die Beendigung der quälenden Wartepause abheben: Regisseur Hans-Christian Seeger, der auch den Wladimir spielt, wird auf einmal zum Muntermacher, verteilt Zeitungen und Getränke an die Zuschauer (beides ist im Eintrittspreis mit drin). So leicht, beinahe wie Äffchen, lassen wir uns also beruhigen?

Der zweite Teil, in dem ja ganz Ähnliches geschieht wie im ersten, wird dann ganz bewußt nur noch wie ein Zitat heruntergespielt. Eigentlich könnte man das ganze Stück zehnmal hintereinander abschnurren lassen, es würde sich nichts ändern am Zustand der Figuren.

Die Darsteller agieren sehr dicht an den Zuschauern; viele Sätze im Stück werden denn auch nach Komiker-Art umgemünzt zur direkten Ansprache ans Publikum. Hans-Christian Seeger und Günther Delarue (Estragon) sind herrlich genau aufeinander eingespiel, man merkt das an vielen Kleinigkeiten, besonders in Slapstick-Szenen. Furios auch Adalbert Stamborskis Auftritt als auf Befehl Pozzos (Gerd Mayen) drauflos „denkende“ Knechtsgestalt Lucky, mit professoral vorgetragenem Schwachsinn.




Poster, Platten und kein Starkult – Besuch im Wuppertaler Institut für Popkultur

Von Bernd Berke

Warum sind amerikanische Rockplakate aus den 60er Jahren meist kleiner als eine durchschnittliche Zeitungsseite? Weil man sie an Telefonmasten heftete. Dafür hatten sie genau das passende Format. Warum entstand und boomte damals die Poster-Industrie? Weil eben jene Plakate haufenweise geklaut wurden und die Fans der Rockgruppen heftig Nachschub verlangten…

Erscheinungsbild der Titelseite der Wochenendbeilage, Westfälische Rundschau vom 2. März 1991. (Plakate aus der Sammlung des „Instituts für Popkultur“, Reproduktionen von Bodo Goeke)

Solch knifflige Fragen kann Uwe Husslein (32) beantworten. Kein Wunder. Er leitet, bislang noch im Einmann-Betrieb, das „Institut für Popkultur“ (Kürzel: „Inpop“) in Wuppertal, eine bundesweit einmalige und auf mittlere Sicht wohl auch beispielhafte Einrichtung. Hier will man Pop und Rock endlich als Kultur wirklich ernst nehmen und wissenschaftlich erforschen.

Das Institut, das im letzten Sommer aus dem Wuppertaler Rockbüro hervorging, sammelt und archiviert praktisch alles, was mit Rock zu tun hat. 40 000 Einzelstücke sind schon beisammen: Natürlich Platten (vom Rock’n’RolI der frühen 50er bis in die Gegenwart – derzeitiger Bestand: ca. 12 000 Vinyl-Scheiben); Rock-Fotos, Filme, Videos, Zeitschriften, Comics und Bücher – und eben Rockplakate, für die auch Pop art-Berühmtheiten wie Andy Warhol Entwürfe lieferten. Folge: Die psychedelische Ästhetik von Plakaten und Plattenhüllen war in den späten 60er Jahren weithin stilbildend; sie prägte auch die gewöhnliche Produktreklame und den Alltag der jüngeren Generation, war also durchaus keine Randerscheinung, sondern gleichsam das „Herz“ der damaligen Kultur.

Staunen darf man in Wuppertal auch: Bei Raritäten wie jenem Originalplakat der Kultgruppe „Grateful Dead‘ mit dem Motiv eines rosenbestreuten Skeletts kommt der wahre Rockfan aus dem „Wow“ und „Yeah“ gar nicht mehr heraus. Übrigens ist mit dem Aufkommen der CD-Platten zwar ein akustischer Gewinn, aber ein optischer Verlust zu vermelden: Die digitalen Silberscheiben haben mangels Größe die Kunst der Plattencover-Gestaltung praktisch aussterben lassen.

Das Thema Rock wird beim Wuppertaler Institut weit gefaßt. Auch gesellschaftliche Bewegungen im Vor- und Umfeld dieser Musik sind wichtig. So kommt es, daß z. B. auch Bücher der aufsässigen Beat Generation, über die Studentenbewegung der 60er Jahre oder über Phänomene wie die „Groupies“ (Mädchen, die den Stars manchmal bis ins Bett folgen) und nicht zuletzt zum Drogengebrauch im Rockbusiness, vorhanden sind. Nur eins will man nicht sein: Ruhmeshalle für Stars. Uwe Husslein: „Reliquien wie John Lennons Brille oder David Bowies Glitzeranzug kommen nicht ins Haus.“

Husslein, der seine umfangreiche Privatkollektion als Grundstock ins Institut einbrachte, hält Eile beim Sammeln für geboten. Er fürchtet eine Parallele zu cineastischen Verlusten: „Auch Kinokultur, die ja aus Tingeltangel hervorgegangen ist, ist früher vernachlässigt worden. Da sind tausende von wichtigen Filmen verlorengegangen.“

Vergleichbares drohe den Dokumenten der Pop-Kultur. Uwe Husslein weiß, daß tatsachlich schon die ersten Nachlässe früh verstorbener Fans auf den Markt kommen. Auch die weltbekannten Auktionshäuser Sotheby’s und Christie’s haben den Braten gerochen und versteigern nicht nur Kunst à la van Gogh, sondern auch Pop-Ikonen zu horrenden Preisen. Dort kann das Wuppertaler Institut nicht mithalten.

Husslein ist auf Glück und Spürsinn angewiesen. Schon oft konnte er rare Stücke bei Streifzügen durch die USA ergattern, so z. B. einen Stapel Underground-Zeitschriften, die heute völlig unerschwinglich wären. Außerdem gibt es da jenes „Netzwerk“ von Rock-Freaks, von denen manche schon seit Jahrzehnten jedes erreichbare Dokument über bestimmte Bands sammeln und die im Wuppertaler Pop-Institut eine Anlaufstelle für den Wissens- und Erfahrungsaustausch bekommen haben.

Eine weitere Quelle der Sammlung hat ernste Hintergründe. Husslein: „Unter Rockfans gibt es viele gescheiterte Biographien, regelrechte Bauchlandungen.“ Muster: Früher den Traum von Love and Peace geträumt, dann hart auf dem Boden der Realitäten gelandet und damit nicht fertig geworden. Solche Leute trennen sich oft in einem Akt der vermeintlichen Selbstbefreiung von allen Relikten ihrer Vergangenheit – so auch von Rock-Kostbarkeiten.

Schon jetzt, da das Archiv wegen fehlender Computer noch gar nicht richtig erschlossen ist, kann man in Wuppertal oft genug als „Auskunftei“ und Recherchier-Dienst in Rockfragen helfen. Außerdem bestückt man Ausstellungen. Bislang größter Erfolg: Jüngst kamen in Hamburg 45 000 Besucher, als das Wuppertaler Institut in der dortigen altehrwürdigen Kunsthalle eine Schau über Andy Warhol und die Gruppe „Velvet Underground“ präsentierte – beste Werbung für die Einrichtung, die noch in den Kin-derschuhen steckt. Denn noch fehlt es an Geld, Personal und Ausstattung. Da ist es schon hilfreich, daß einige Plattenfirmen dem Institut Musterexemplare ihrer neuen Produktionen schenken.

Derweil träumt Husslein schon von einer richtigen Rock-Bibliothek mit Lesesaal und regem Leihverkehr. Wenn es die gibt, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, daß hier die ersten Leute mit klugen Arbeiten beispielsweise über Jimi Hendrix, Janis Joplin, die „Stones“ oder die „Doors“ glänzen können.




Das Ziel der Kunst kann die Reklame sein – Wuppertaler Retrospektive des Konstruktivisten Walter Dexel

Von Bernd Berke

Wuppertal. Reklame war für ihn kein Anhängsel der Kunst, sondern beinahe ihr Ziel: Wie so viele Künstler der ersten Jahrhunderthälfte, hat auch Walter Dexel (1890-1973) mit seinen Arbeiten ins Alltagsleben hineinwirken wollen. Für die Stadt Frankfurt entwarf er gar eine ausgefeilte „Reklame-Ordnung“, die allerlei werbliche Aussagen zum Stadtbild komponieren sollte.

Dexel, an den jetzt mit einer breit angelegten Retrospektive in Wuppertal erinnert wird, war von Haus aus Kunst-Wissenschaftler und zeitweise selbst Ausstellungsmacher mit besten Kontakten zu „Szene“. Es mag sein, daß ihm all sein Hintergrundwissen bei seiner Entwicklung als bildender Künstler zuweilen im Wege gestanden hat, denn der Autodidakt Dexel folgte bis in die 30er Jahre so getreulich den aktuellen Strömungen der Kunst, daß man ihn fast einen ordentlichen Sachwalter der Moderne nennen könnte. Der Eindruck, daß es ihn existentiell zum Schaffen gedrängt hätte, stellt sich nicht ein.

Irgendwann Anfang der 20er Jahre hatte sich sein Werk – beeinflußt von der holländischen De Stijl-Bewegung – auf geometrische Abstraktion und Konstruktivismus „eingependelt“. Es herrschten klare Farben, es dominierten Rechtecke und Quadrate, in immer neue Proportionen und Verhältnisse zueinander gebracht. Dexel entwickelte ein souveränes, hernach schon geradezu routiniertes Raum- und Formverständnis.

Wie fatal solche Verselbständigung der Form sein kann, zeigt sich besonders deutlich anhand einer Porträtserie aus dem Jahr 1933. Diese Prominenten-Köpfe, Gesiechter in Kürzelsprache, sind aus geometrischen und graphischen Elementen aufgebaut. Ganz unterschiedslos und ohne jede erkennbare Emotion hat Dexel z. B. Hitler, Lenin, Brüning, Pressezar Hugenberg und einen Rabbi nebeneinander gesetzt. Alles egal, sobald es nur künstlerische Form angenommen hat? Weit weniger „Bauchschmerzen“ verursachen Dexels Formfindungen, wenn er etwa mit typographischen Elementen arbeitet und einzelne Buchstaben gleichsam zu figürlichen „Hauptpersonen“ von Bildern macht.

Hochinteressant auch seine Bühnenbildentwürfe (u. a. für Bert Brechts „Mann ist Mann“), seine Werbeprojekte („Persil bleibt Persil“), seine auf Breitenwirksamkeit angelegten Vorzeichnungen für Straßenwegweiser oder Planungen für Straßenbeleuchtung. Auch als Plakatgestalter, der ausschließlich mit Schrift arbeitete, überzeugt der gebürtige Münchner.

Bis heute rätselhaft ist das abrupte Abbrechen seiner Produktivität sofort nach 1933. „Vorsichtshalber“ gleich Mitglied der NSDAP, geriet Dexel einige Zeit später doch in deren Visier und wurde 1935 als „unzuverlässig“ aus der Partei ausgeschlossen. Ausgerechnet seine recht maßvoll verfremdete Arbeit „Die Lokomotive“ war dann 1937 Bestandteil der Ausstellung „Entartete Kunst“; erstaunlich, weil solch ein Bild den Nazis kaum zu Denuziationszwecken dienen konnte.

Nach dem Krieg alsbald als NS-„unbelastet“ eingestuft, begann Dexel erst wieder in den 60er Jahren Bilder zu malen. Es sind dies nur noch recht laue Arbeiten, nicht mehr getragen von einer breiten Bewegung wie noch in den 20er Jahren.

Walter Dexel: Bild – Zeichen – Raum. Wuppertal, Von der Heydt-Museum, Turmhof 8 (Elberfeld). 3. Februar bis 17. März. Katalog 38 DM.




Wenn jede Kunst es mit der anderen treibt – Wuppertaler Pop-Institut zeigt in Hamburg Ausstellung über Andy Warhol und „Velvet Underground“

Von Bernd Berke

Hamburg/Wuppertal. Unter der Decke schweben Cassetten-Recorder mit Kopfhörern, beim Aufschlagen eines Buches entfaltet sich eine dreidimensionale Suppendose aus Papier. Fotos zeigen ekstatisch verzerrte Gesichter im Stroboskop-Gewitter, Platten und Plakate animieren zu Rockmusik-Räuschen, es laufen bizarre Filme und Videos. Wohin sind wir denn da geraten? In die ehrwürdige Hamburger Kunsthalle.

Die große Andy Warhol-Ausstellung vor Jahresfrist in Köln war ein Publikumsrenner. In der Euphorie fiel aber kaum auf, daß ein wichtiger Werkaspekt des berühmten Pop-Künstlers total vernachlässigt wurde: seine intensive Beziehung zur Rockszene. Warhol wollte gar, auch weil er auf diesem Feld erhöhte Öffentlichkeit sowie Geschäfte witterte, mit seinen Künstlerkollegen Claes Oldenburg und Jasper Johns selbst eine Rockband gründen, die freilich ein Flop wurde. Seine Zusammenarbeit mit der rockgeschichtlich höchst bedeutsamen Gruppe um Lou Reed und John Cale, „The Velvet Underground“, wurde dann Legende. Genau diesem Thema widmet sich jetzt in der Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung, die als NRW-Export gelten kann und später u. a. nach Köln wandern soll. Die Exponate stammen überwiegend aus dem Wuppertaler Institut für Popkultur („InPop“), einer bundesweit einmaligen Forschungs- und Sammlungs-Stelle.

Es ist eine Ausstellung der Kreuz- und Quer-Verbindungen, deren Knäuel letztlich nur mit Hilfe des Katalogs entwirrbar ist. „Pop goes Art“ (Pop-Musik nähert sich der Kunst) heißt der Titel, er würde auch umgekehrt stimmen: „Art goes Pop“. Noch verzwickter wird die Sache, weil Warhol und „Velvet Underground“ sich Ende 1965 im Zeichen der amerikanischen „expanded cinema“-Bewegung kennenlernten, so daß auch noch das — im Bann von LSD-Erfahrungen — auf Grenzüberschreitung und Bewußtseinserweiterung gerichtete Avantgarde-Kino ins Spiel der Medienvielfalt kommt. Durch die Person John Cale spielten schließlich Einflüsse von dessen Lehrmeister John Cage, also der fortgeschrittenen „E-Musik hinein. Salopp könnte man sagen: Da trieb es jede Kunst fröhlich mit jeder anderen.

Geradezu kultischen Charakter bekam die Mixtur 1966 mit der von Warhol, Velvet & Co. realisierten MultimediaShow „The Exploding Plastic Inevitable“, die u. a. minimalistische Filmtechniken, Diaprojektion und ohrenbetäubende Musik zu einer irrwitzigen Melange verquickte. Die kommerzialisierte Verschmelzung von Pop und PopArt markiert dann jene Ikone der 60er Jahre, Andy Warhols änzüglich-phallisches Bananen-Cover für die LP „The Velvet Underground & Nico“.

Uwe Husslein (31), Leiter des Wuppertaler Pop-Instituts, der in der Hamburger Kunsthallen-Phonothek einen idealen Partner für die Ausstellungspremiere sieht, will zweierlei erreichen: „Rock-Schauen wie diese könnten neue Besucherschichten ins Museum locken“. Andererseits öffne der Name Warhol wie ein Zauberwort dem Rock die Türen etablierter Museen und rücke diese Musik als ernstzunehmendes Kulturphänomen in den Blick.

Trotz des eingangs erwähnten Aufwands läßt die Schau natürlich nur einen Hauch der Aufbruchstimmung aus den 60er Jahren verspüren. Um solchem Mangel abzuhelfen, gehört zum Rahmenprogramm auch eine multimediale (und drogenfreie) „Rausch-Party“ mit der Ruhr-Rock-Siegerband „Rausch“ aus Köln. Ganz spontan im Hier und Jetzt will man dann womöglich den Geist wiederaufleben lassen, der einst Warhol und die „Velvets“ bei ihren Shows beseelte.

„Pop Goes Art“. Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, direkt am Hauptbahnhof. Bis 3. Februar 1991. Katalog-Box mit Mini-CD, Luftballon usw. 45 DM.




Die Leinwand ist der „Tatort“ des Künstlers – Retrospektive über Hann Trier in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Als sein heute hoch gehandelter Schüler Georg Baselitz wegen „obszöner“ Bilder hartnäckig bei der Justiz denunziert wurde, sah Hann Trier buchstäblich „Rot“. Da malte er eine Bilderserie, deren Titel „von Staatsanwälten verstanden werden“ (Trier): „Tatort“, „Lokaltermin“, „In Tateinheit mit Rot“, „Indizienkette“ und „Tatverdacht“. Das war 1963/64, lange bevor es den TV-„Tatort“ gab.

Das Wort weist denn auch weit über kriminologische Bedeutungen hinaus. Hann Trier (75), wichtiger Anreger der Nachkriegskunst im Umkreis des sogenannten „Informel“, nennt die Leinwandfläche eines Bildes überhaupt den „Tatort“ des Künstlers. Bevorzugt beidhändig setzt er dieser Fläche zu. Doch er ist kein Vertreter einer begriffslos zupackenden Aktionskunst, sondern im Gegenteil einer Kunst aus dem Geist der Sprache. Dies macht jetzt mit 75 Exponaten eine Retrospektive in Wuppertal deutlich.

Hann Trier spricht, anders als so viele seiner Kollegen, gut und gern über seine Arbeiten. Kennzeichnend, daß er zwischenzeitlich auf Schrift-Bilder verfiel, in denen einzelne Worte und Ausrufe („Oho!“) sich aus dem abstrakten Urgrund erheben. Doch auch indirekt ist „Schrift“ als Bewegung im Bild präsent. Werke aus den späten 50er Jahren wie etwa „Tageszeitung“ oder „Schlagzeilen“ zeigen Muster, die von fern her an ihre thematischen Ursprünge erinnern. Lineaturen der Schrift, die ja selbst eine hochgradige Abstraktion ist, sind hier zu bildlichen Entsprechungen geronnen.

Anders als die meisten Nachkriegskünstler, bei denen sich die trostlose Trümmerzeit als Finsternis der Farben niederschlug, verfügte Hann Trier schon 1949/50 über eine helle, man möchte beinahe sagen „zukunftsfrohe“ Palette. Dies verstärkte sich, als der Künstler 1952 für einige Zeit nach Kolumbien auswanderte und seine farbenfrohen Bilder vor allem auf Tänze („Mambo I“) bezog. Es sieht aus, als habe der Pinsel Tänze voller Lebenslust vollführt.

Von Schrift und Worten ausgehend, hat Hann Trier die Titel immer sehr bewußt und treffend gewählt: „Augenblick“ (1967) ist tatsächlich ein „überfallartiges“ Bild, das man im Nu ansehen muß, „Aus dem Blick verlieren“ (1967) hat wirklich etwas Abirrendes, beim „Sommernachtstraum“ (1970) taucht eine sündig-rote Augenmaske, bei „Ikaros“ (1982) eine stürzende Flugfigur schemenhaft auf.

Zu den faszinierendsten Bildern zählen eine 1987 entstandene Serie über Figuren der Commedia dell’Arte („Pulcinella“, „Pantalone“ usw.) und das Breitformat „Das Wandern“ (1981). Diese Strecke aus lichten Farbwolken muß man in der Tat abschreiten, um die Wege im Innern des Bildes verfolgen zu können.

Hann Trier. Retrospektive 1949-89. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. – Vom 2. 9. bis 14.10. – Di-So 10-17 Uhr, Do 10-21 Uhr. Katalog 42 DM.




Experten warnen: Auch neue Kunst verfällt schon

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Kunst-Restauratoren schlagen Alarm: Nicht nur Werke alter Meister verfallen, auch moderne und zeitgenössische Arbeiten sind schon bedroht. Das Thema steht bei der Jahrestagung des Deutschen Restauratoren-Verbandes (bis Samstag in der Wuppertaler Stadthalle) auf der Tagesordnung obenan.

Experimentierlust und Geldsorgen moderner Künstler machen den Restauratoren zu schaffen. Manch mittelloser Künstler hat einfach beim Material gespart – mit schlimmen Folgen für die Haltbarkeit. Und: Seit dem Aufkommen neuer Materialien in der Objektkunst (von Plastik-Teilen bis zur berühmten „Honigpumpe“ oder „Fett-Ecke“) laufen die für den Erhalt zuständigen Experten der Entwicklung sowieso hinterher. Man ist gerade erst dabei, einen Katalog der Stoffe, also eine Art Ersatzteilliste zu erstellen.

Manche Gegenwarts-Künstler wollen gar, daß Werke allmählich verwittern und vergehen; es gehört zum Konzept. Wann soll und darf man dem Wunsch zuwiderhandeln? Bei Museums-Stücken ist das keine Frage: Der Direktor kann eine Wiederherstellung des Anfangszustands verfügen, notfalls gegen die Intention des Künstlers. Eigentum geht dann vor Urheberschaft.

Verschleiß im rotierenden Ausstellungsbetrieb

Ganz mißlich wirkt sich nach Auffassung der Restauratoren der rotierende Ausstellungs-Betrieb aus. Verbandsvorsitzender Helmut Reichwald (Stuttgart): „Ausnahmslos jeder Transport ist schädlich“. Um sich am Markt durchzusetzen, schicken Galeristen Arbeiten junger Künstler auf „Tourneen“ mit oft 50 Stationen. Wenn schließlich ein Museum zugreife, sei der „Leidensweg“ noch lange nicht vorbei. Im regen Tauschverkehr zwischen den Instituten – Prinzip: „Nur wenn du mir leihst, leih‘ ich dir“ – würden die Objekte weiter verschlissen.

Ingeborg von Baum, als freie Restauralorin für das Essener Folkwang-Museum und das Wuppertaler Von der Heydt-Museum tätig, kann ein Lied davon singen: „Von bedenklichen Ausstellungs-Projekten erfahre ich meist zu spät“. Nicht selten würden ihre Warnungen dann freundlich überhört. Der Ehrgeiz von Kommunen und Museen, mit Spitzenwerken zu glänzen, ist stärker. So dringen denn die Restauratoren darauf, früher gehört zu werden, um vorbeugen zu können. Wenn man erst reparieren müsse, sei meist nur noch kosmetische Schadensbegrenzung möglich. Ehrlicherweise müsse man oft von Vertuschung reden. Es sei fast wie bei der verschämten „Korrektur“ eines Unfallschadens am Gebrauchtwagen: Welches Museum gibt schon zu, daß seine Exponate eine Wertminderung erlitten haben?

Versicherungen zahlen längst nicht für alle Schäden

Weiteres Problem: Es gebe viele „unsichtbare“ Schäden unterhalb der Versicherungs-Schwelle, die gleichwohl nachhaltig wirken könnten. Bezahlt werde aber praktisch nur für spektakuläre Zerstörungen wie etwa Löcher, tiefe Kratzer und Verätzungen. Für Schäden, die ursächlich mit der Maltechnik zu tun haben, stehen Versicherungen nicht gerade.

Und dann gibt’s noch die Umweltschäden, besonders an Denkmälern, wobei – so die Fachleute – nicht alles mit dem „sauren Regen“ erklärt werden könne. So seien z. B. im 19. Jahrhundert Denkmalschäden häufig mit Zement kaschiert worden. Später habe sich diese Materialwahl als grundfalsch erwiesen. Zement biete dem Regen Angriffsflächen, werde schnell porös.

Selbstbewußter agieren könnten die Restauratoren erst dann, wenn ihr Beruf allseits anerkannt ist. Dieses Verbandsziel sei aber gefährdet. Einerseits dränge das Handwerk laienhaft ins Metier, andererseits gebe es, u. a. in Gelsenkirchen, dreijährige Schnell-Kurse. Etwa sieben Jahre (wie in Köln oder Stuttgart üblich) seien nötig.

Kontakte mit dem DDR-Verband wurden auch schon geknüpft. Akutes Problem dort: West-Firmen wollen jetzt mit – womöglich minderwertigen – Restaurierungen in der DDR die schnelle Mark machen.




Puppenhafte Spiele im goldenen Rahmen – Oscar Wildes Komödie „Bunbury“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein Abend mit Goldrand: Die ganze Bühnenöffnung ist in einen riesigen Bilderrahmen eingefaßt. Unten rechts steht der Titel des ausgestellten Theater-Kunstwerks: „Oscar Wilde: ,Bunbury'“. Die leichtfüßige VerwechslungsKomödie aus der Feder des lässig-eleganten Zynikers – ein museales Stuck? Nun, jedenfalls tut sich vor unseren Augen eine enthobene Kunstwelt auf.

„Bunburysieren“, das heißt bei Wilde: Ausreden erfinden, um sich heimliche Genüsse erlauben zu können. Zwei dandyhafte Junggesellen sind darin Meister: Jack Worthing erfindet einen liederlichen Bruder namens Ernst, den er angeblich immer mal wieder in London zur Tugend ermahnen muß. In Wahrheit erlaubt sich der vom öden Landleben enervierte Jack selbst als jener Ernst Eskapaden in der Großstadt. Sein Londoner Freund Algernon macht’s umgekehrt: Er ersinnt den ständig kränkelnden, hilfsbedürftigen „Bunbury“, um vor dem Zugriff lästiger Verwandtschaft aufs Land flüchten zu können. Daß derlei Idenütäts-Wechsel Verwicklungen zumal erotischer Art mit sich bringen, versteht sich. Doch am Schluß dürfen drei Paare heiraten.

Ungeachtet trefflicher Seitenhiebe gegen die viktorianisehe Gesellschaft, muß man sich mit diesem Stoff weltanschaulich nicht gar zu lange aufhalten. Hauptsache, das Komödien-Uhrwerk schnurrt temporeich ab. Hier wird nahezu alles verziehen, nur Langeweile nicht.

In der Wuppertaler Inszenierung des vielversprechenden Janusz Kica überzeugen schon die Bühnenbilder (Barbara Rückert) auf den ersten Blick. Vor allem aber: Die Geschwindigkeit, mit der den Personen geistreiche Bonmots von den Lippen perlen, stimmt einfach. Da wird leichthin parliert und alles nicht zu ernst genommen. Kein Mitwirkender steht da zurück, allenfalls könnte man Hans-Christian Seeger Jack/Ernst Worthing) als besonders geläufigen Plauderer hervorheben. Etwas überzogen wirkt der Dauergag mit dem tatterigen Butler „Merriman“ (Bernd Kuschmann), der etwa so spielt, als wenn ein gealterter Alfred Biolek in „Dinner for one“ die Rolle des Freddie Frinton übernähme. Da gibt man halt dem Affen kräftig Zucker.

Bester Einfall aber: Eine Art Verselbständigung der Dingweit, die sich hier immer wieder vor und zwischen die menschlichen Beziehungen drängt. So wandern Gegenstände – Golfschläger, Blumensträuße, Teetassen, Regenschirme usw. – nach einem Irrsinns-System von Hand zu Hand; ein unproduktiver Leerlauf, so recht zur Darstellung einer Schmarotzer-Schicht passend.

Das Zwischenmenschliche als „Sport“ nach Regelwerk: Dem Regisseur präzise folgend, agieren hier zappelnde Figuren, keine blutvollen Mensehen. Sie leben nicht, sie spielen nur – wie aufgezogene Puppen, Marionetten ihrer sozialen Rollen. Wie an lockeren Fäden hängen sie zunächst im Halbdunkel; erst das Rampenlicht brennt diesen Selbstdarstellern künstliches Leben ein. Der zweite Teil, wenn alles unaufhaltsam auf die Eheschließungen zuläuft, wird wie nebenher absolviert. Mit der Wunscherfüllung verliert dieses Spiel für die Figuren allen Reiz und Kitzel. Am Ende könnte das nächste beginnen.

Verdient herzlicher Beifall nach unterhaltsamen zweieinhalb Stunden.




Männer als dienstbare Geister der Weiblichkeit – Pina Bauschs Tanzabend „Palermo“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Bevor Pina Bauschs neuer Wuppertaler Tanzabend anfing, betrat Intendant Holk Freytag die Bühne: Man möge keine fertige Inszenierung erwarten, sondern ein „work in progress“, einen Werkstatt-Einblick also. Freytag sprach den Standardsatz dieser Tage ironisch: Es werde auch hier in den nächsten Wochen zusammenwachsen, was zusammengehöre.

Dann die erste Szene. Stille. Lang blicken wir auf eine Mauer, die schließlich mit Getöse in sich zusammenstürzt. Heiterkeit im Publikum. Deutsch-deutsche Anspielungen auch hier? Nun, zwangsläufig wird dieses Bild derzeit so „gelesen“; es steht (und fällt) aber vielleicht eher als allgemeines Zeichen für Durchbruch. Auch sollen wir ja nicht starr nach Deutschland schauen, sondern – dem vorläufigen Arbeitstitel „Palermo“ gemäß – nach Sizilien.

Freilich sind die dort landläufigen Szenerien, die das Wuppertaler Tanztheater bei einer Reise in sich aufnahm, längst durch Gruppendyamik und freie Assoziationen verwandelt (und dem Stil der Pina Bausch anverwandelt). Italien – das ist hier oft nur noch ein ferner, leiser Anklang. Es geht nicht um Reisebilder, sondern um Gefühlsbilder, deren Rätselhaftigkeit wiederum schwerlich in Begriffssprache „rückübersetzt“ werden kann.

Keine Sehnsucht kommt ans Ziel

Die Frauen sind diesmal nicht, wie früher so oft bei Pina Bausch, Opfer männlicher Attacken. Die Männer. zumeist dienstbare Geister, dürfen die weiblichen Körper allenfalls in schöner Schwebe halten oder in Schwung setzen; sie werden von den Frauen fast wie Hündchen herbeigerufen und barsch aufgefordert: „Nimm meine Hand!“ – „Halte mich!“ Doch die Geschlechter stammen „von verschiedenen Planeten“, man(n) kann nichts recht machen, keine Sehnsucht kommt da ans Ziel. Wenn die Männer die Befehle ausführen wollen, nehmen die Frauen sie meist sofort unwirsch zurück.

Überhaupt ist dies erneut eine Abfolge zurückgenommener, abgebremster, „umgebogener“ und „versickernder“ Gestik. Gäbe es eine leibliche Entsprechung zu Stichworten, so könnte man von „Stich-Bewegungen“ sprechen: Chiffren unerfüllten und ungelebten Lebens allenthalben, aber auch immer wieder Versuche, den Körper gestisch ganz neu zu definieren, ihn sozusagen in die Zukunft zu zaubern. Und vielfach ein Aufblitzen von Humor, der vom sehr konzentrierten Ensemble mit todernsten Mienen serviert wird.

Eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt

Zahllose Kürzest-Geschichten könnte man erzählen – und hätte doch nicht das Entscheidende gesagt: Die Frau, die sich Zucker von den Lippen küssen läßt; entwurzelte Bäume, die vor verwaschenem Regenhimmel herabsinken; zwei Schönlinge, die sich Zitronensaft in die Haare träufeln: ein Preisboxer, der sich in eine tuntige Freiheitsstatue verwandelt: eine Frau, die sich – eine ausrinnende Flasche zwischen den Beinen – trotzig-triumphierend erleichtert „wie ein Mann“; eine andere, die ein paar Spaghetti als ihr Eigentum verteidigt. Später wird einer diese spitzen Nudeln wie Dolche gegen seine Brust richten – Beispiel dafür, wie hier beinahe jedes Bild fließende Bedeutung erlangt. Manchmal scheint es, als laufe da eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt und vergehen läßt.

Die Überfülle solcher Geschehnis-Bruchteile hat tatsächlich noch den Charakter einer unfertigen, wenig strukturierten Materialsammlung. Die Reihenfolge der Szenen könnte sich ohne weiteres ändern. Nur der zweite Teil scheint schon stärker durchgearbeitet. Freilich gelingen Pina Bausch, dem Bühnenbildner Peter Pabst und der Tanztruppe auch in diesem Zwischen-Stadium bereits häufig jene starken, fremden und – trotz eines wiedererkennbaren Stils – in ihrer konkreten Gestalt völlig unerwarteten Bildszenen, denen man verfallen konnte. Überdies ist die Musikauswahl – Klänge aus allen Weltteilen – superb.

Der Premierenbeifall (volle „Fankurve“) war grandios.




Grausame Komödie des gescheiterten Widerstands – Joshua Sobols Ghetto-Stück „Adam“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein deutscher Kulturmensch: feingliedrig, fahrig-nervös und etwas gedankenblaß. Später wird er Goethe und Shakespeare geläufig zitieren. Zunächst aber nimmt er, bestens herausgeputzt, in einem Theatersessel Platz. Er will eine Komödie genießen, eine grausame „Komödie der Irrungen“.

Kittel (Daniel Hajdu), so heißt dieser ach so kunstsinnige Mann in Joshua Sobols Stück „Adam“, ist als SS-Kommandant im Ghetto von Wilna (Litauen) Herr über Tod und Leben – in einer innigen Zwangsgemeinschaft von Tätern und Opfern. Das Drama im Drama, über das sich Kittel so köstlich amüsiert, ist der scheiterende Widerstand der Juden und ihrer historisch verbürgten Untergrundorganisation F. P.O.

Der israelische Autor arbeitet seit jeher mit Schocks: In seiner gleichfalls in Wilna spielenden Todesrevue „Ghetto“, zu der „Adam“ gleichsam ein ergänzendes Seitenstück ist, ließ er Musical-Elemente mit dem Leid der Juden kollidieren.  Auch bei „Adam“, jetzt in Wuppertal, ist das Varieté nicht weit: Der grantelnde Sep (Horst Fassel) führt immer mal wieder Zauberkunststückchen vor. Rahmenhandlungen und ein beständiges Gleiten durch die Zeit, Spiel mit Distanz und Nähe: Sep agiert auf der Vorderbühne, die eine Szene im heutigen Israel vorstellt, wo sich Seps Gefährtin Nadya (Stella Avni vom Düsseldorfer Schauspielhaus) ihrer Erlebnisse von „damals“ in Wilna erinnert.

Dahinter tut sich ein „Erinnerungs-Raum“ (Bühne: Jürgen Lancier) auf, eine schräggestellte Arena, in der die Szenen von 1943 spielen. Die alte Nadya, für die die Vergangenheit nicht vorbei ist, tritt mehrfach in diesen Raum ein, richtet das Wort an sich selbst als junge Frau (Friederike Tiefenbacher) oder an ihren damaligen, in Wilna umgekommenen Geliebten Adam (Bernd Kuschmann). Adam wurde seinerzeit von einem Gefolterten an den SS-Kommandanten als Untergrund-Kämpfer verraten. Der SS-Mann stellt dem (jüdischen) Ghetto-Vorsteher Gens, der ständig zwischen den Fronten laviert, ein Ultimatum auf sofortige Auslieferung Adams; sonst werde das gesamte Ghetto „liquidiert“. Soll man einen Mann opfern, um – eventuell – 20 000 Mensehen zu retten? Oder soll man den Aufstand wagen, den kollektiven Selbstmord?

Das Stück in Deutschland aufzuführen, ist höchst schwierig und prekär. Diesen Mut hatte bisher nur das Bonner Theater. Die (Selbst-)Kritik am jüdischen Widerstnd ist sicher wichtig für ein israelisches Publikum; hierzulande könnte sie mißverstanden werden. Auch hat das Stück selbst Schwächen: Vor Augen gestellt, gewinnen die langen Debatten der F. P. O.-Widerstandskämpfer nichts Wesentliches hinzu, was nicht auch in einem Hörspiel vorkommen könnte. Über weite Strecken gerät das in Wuppertal zum steifen Thesen-Austausch. Die Aufführung wirkt da einerseits ungeschmeidig, zeigt aber auch keine wirklichen Ecken und Kanten. Verständliche Scheu: Die Regie wagt kaum, Elemente des Dokumentartheaters und des Varietés schockhafter aufeinander prallen lassen.

Regisseur Johannes Klaus und das Ensemble sind gleichwohl ehrenvoll gescheitert: Spürbar ist eine große Ernsthaftigkeit, mit der man sich des Stoffs angenommen hat. Aber: Wuppertals Ensemble hat zwar Fortschritte gemacht, ist jedoch für eine solch heikle Aufführung noch zu ungleichwertig besetzt.

Normaler Beifall, den auch der anwesende Autor bescheiden entgegennahm.




Über die Revolte wird nur geredet – Roland Gall inszeniert Hauptmanns „Weber“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Unter der gebieterischen Titelzeile „Schluß jetzt mit Hauptmann?“ bezeichnete der Kritiker Peter Iden („Frankfurter Rundschau“) 1987 die Beschäftigung unserer Bühnen mit Gerhart Hauptmanns Dramen als überflüssig. Das sei „totes Theater“, ganz von gestern.

Nun gibt es immer mal wieder Sternstunden, in denen angeblich „unspielbare“ Stücke sich als überraschend spielbar erweisen. Eine solche Sternstunde wurde Wuppertal, wo Roland Gall (1980-84 Dortmunder Oberspielleiter) Hauptmanns „Die Weber“ in Szene setzte, allerdings nicht zuteil.

Die Bühne (Frank Chamier) ist naturalistisch gestaltet, die Dinge bedeuten nur sich selbst: Szenen wie Genre-BiIder, insgesamt zu harmlos. Auch eine Symbolik der Art, daß die Fabrikantenwohnung sich als Luxus-Gehäuse über einer Weberhütte befindet, ist gar zu offensichtlich.

Zudem wird das Elend der schlesischen Weber von 1844 durch die Kostüme (Angelika Uhlenbruch) eher behauptet als im Spiel beglaubigt. Es kommt zu keiner – womöglich erhellenden – Neu-Begegnung mit dem Text, der Zugriff durchdringt das Stück nicht. Kaum wird deutlich, warum man sich gerade für diesen Text interessiert hat.

Gespielt wird in Wuppertal nicht Hauptmanns dialektdurchsetzter Text von 1892, sondern eine hochdeutsche Neubearbeitung von Karl Otto Mühl. Das bedeutet einen Zugewinn an Verständlichkeit, poetisch aber einen Verlust. Man vermißt nicht nur berühmte Seufzer à la „Nu ja ja – nu nee nee!“, sondern vor allern die soziale Differenzierung nach Sprach-Schichten: Je näher einer den Herrschenden steht, desto eher versucht er sich in der Hochsprache. Hier aber redet der Weber fast so wie seine Ausbeuter.

Ein paar Eingriffe hat Roland Gall gewagt: Er verzichtet praktisch ganz auf Massenszenen, ersetzt sie durch skandierte, mit Trommelmusik (Heinrich Huber) untermalte Rebellions-Rufe vom Band – Revolte aus der Konserve? Auch als die Weber ins Haus des Fabrikanten Dreißiger eindringen, schlagen sie nicht etwa alles kurz und klein, sondern erstarren zum Gruppen-Tableau. Somit laufen all die vielen Reden, die rund um die Rebellion geführt werden, ins Leere, beziehen sich auf keine konkrete Tat, nähern sich einern bloßen Revolutions-Geschwätz. Der Aufstand wird nur noch herbeigeredet, nicht wirklich vollführt. Auch auf der Gegenseite steht keine echte Macht: Hans Christian Seeger als Fabrikant Dreißiger ist nur ein Schmalspur-Herrscher und führt eine Ideologie im Munde, an die er wohl selbst nicht mehr glaubt.

Ein Großteil des Ensembles, viele in Mehrfach-Rollen, wirkt mit. Die Leistungen reichen vom gelegentlichen Chargieren über ordentliche „Ablieferung“ der Rolle bis hin zur „Erledigung“ (letzteres im Doppelsinn). Einige schöne Gestaltungen ragen aber doch heraus, zumal in Nebenrollen: Besonders Josef Ostendorf (Reisender, Chirurg) und Karin Neuhäuser (als debiler Webersohn August Baumert), der es für einige Momente gelingt, dem Geschehen einen geradezu idiotischen Schrecken zu verleihen. Auch Dietmar Bär als brutaler Revolten-Karrierist Moritz Jäger und Bernd Kuschmann als Lumpensammler Horig machen ihre Sache recht gut. Horst Fassel (Weber Baumert) und Günther Delarue (Hilse) agieren solide, wie man es von bewährten Stutzen des Ensembles erwartet.

Herzlicher Beifall für die Schauspieler, ein paar zaghafte Buhs für die Regie.




Der dumpfe Untergrund bürgerlicher Spießigkeit – Kotzebues „Die deutschen Kleinstädter“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Goethe, in Weimar auch Theaterdirektor, wußte, warum er mehr Stücke von August von Kotzebue als etwa von Schiller spielen ließ. Weil, so befand Goethe, Kotzebue uns Mittel „in die Hand gegeben hat, die Zuschauer zu unterhalten und der Kasse zu nutzen“.

Das Kassen-Argument wird auch in Wuppertal eine Rolle gespielt haben. Dies ist legitim, aber ist es auch hinreichend, um Kotzebue (1761-1819) heute noch mit Zipfelmützen und Schlafröcken zu spielen, ganz so, als müsse es uns lediglich um „Die deutschen Kleinstädter“ (Stücktitel) von Anno 1800 gehen?

Titelsucht, Prinzipienreiterei, Engstirnigkeit, Kleinigkeitskrämerei, lachhafter (Lokal)-Patriotismus und eine „christliche“ Moral, die man festtags wie eine Monstranz vor sich herträgt, während man alltags als Prozeßhansel um Nichtigkeiten streitet – das alles ist das sprichwörtlich gewordene Städtchen Krähwinkel. Durch Ehrsucht und ein paar schlichte Mißverständnisse halten die Kleinstädter den angereisten Olmers für ein ganz hohes Tier, sie hofieren ihn aufs Unterwürfigste. Zwischendurch wird er als vermeintlich titelloser Scharlatan „entlarvt“; allerdings: man weiß dann doch nicht so recht. Schließlich besitzt er das Empfehlungsschreiben eines Ministers.

Aus all dieser Unentschiedenheit und weil Olmers eigentlich gekommen ist, um die Tochter des Krähwinkler Bürgermeisters zu heiraten, um sie auch so vor einer Zwangsehe mit dem „Riesenbaby“ Sperling zu bewahren, bezieht das routiniert gebaute Lustspiel noch heute wirksame Komik – und da bleibt das Wuppertaler Ensemble vor allem vor der Pause auch kaum etwas schuldig.

Jeder, allen voran Dietmar Bär (Sperling), Gerd Mayen (Bürgermeister) und Rena Liebehow (Großmutter), hat da seine fulminanten Momente. Nur gelegentlich gibt es (Regie: Johannes Klaus) noch kleine Tempoprobleme, „Durchhänger“, Leerstellen. Im komischen Detail und in überlegten Gruppierungen der Schauspieler hat die Aufführung ihre Stärken. Insgesamt aber bleibt sie bieder und kleinmütig, was wohl auch daran liegt, daß Markus Hoffmann (Olmers) zu brav agiert. Sonst nämlich hätte man womöglich die Umstände seiner Eheschließung, die er sich schließlich auch durch Anpassung an die Krähwinkelei erkauft, boshafter hervorheben können.

Kotzebue, 1819 aus politisehen Motiven von dem Studenten Sand ermordet (was eine Art „deutschen Herbst“ nach sich zog), hat an einigen Stellen hellsichtig den dumpfen Untergrund der Spießigkeit und ihren Zwangscharakter erfaßt. Wenn da etwa Krähwinkels Hauptweg „eine anmutige Promenade bis hin zum Galgen“ genannt wird, legt dies eine unbequeme Schärfe nahe, die man in Wuppertal vermißt.

Schon das Bühnenbild (Birgitta Weiss) ließ freilich ahnen, daß man dem Stück nicht biestig zuleibe rücken wollte: ein Podest, mit hellgelbem Stoff ausgeschlagen wie ein heimeliges Körbchen; nur ein paar Schadstellen in der Tapete deuteten vorsichtig auf Risse in der Gemütlichkeit.




Geisterbahn preußischer Geschichte – Heiner Müllers „Leben Gundlings…“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Das Licht im Zuschauerraum ist noch nicht verloschen, da staksen auf der Bühne schon zwei laszive Krankenschwestern herum. Stehen die Handelnden der folgenden Szenen allesamt unter Kuratel, sind sie Insassen eines verrückten Hospitals? Wohl möglich!

Heiner Müllers „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ ist ja eine drastisch-haßgesättigte Psychopathologie des Preußentums, seines Machtgebarens und seiner ohnmächtigen Intellektuellen.

Anfangs ist „Friedrich der Große“ noch klein und trägt kurze Hosen. Die Szenen, in denen sein Vater, Friedrich Wilhelm, dem Knaben jegliche Lust aus- und eiskalte Gewalt eintreibt, könnte man sich als bitterböse Komödie im täuschend leichten Konversationston denken; doch in Wuppertal, wo Hans Peter Cloos das Stück inszeniert hat, befinden wir uns gleich wieder mitten in der Endzeit. Sofort beginnt der (doch etwas nervzehrende) Minimalmusik-Teppich mit „Apokalypse“-Klängen; wie aus einem Volksempfänger ertönt kriegslüsternes Gekrächze, ein Alarmton schnarrt, als sei jetzt die atomare Katastrophe ausgebrochen.

Fortan steht alles „unter Verdacht“: Die Fässer auf der von Jean Haas gestalteten Bühne – sicherlich enthalten sie Gift oder Atommüll; die Kisten – bestimmt ist Munition darin. Ein in die Szenerie gestürztes Flugzeugheck entspricht solchen Ahnungen.

Zu ihren schrecklichen „preußischen Spielen“ erheben sich die Figuren aus dem dumpfen Schlaf der Historie. Wie Zombies bewegen sie sich, ihre Totschlag-Sätze kommen hart und fremd via Mikrophon und Lautsprecher. Später scheinen sie aus allen Ritzen hereinzudrängen. Türen und Durchgänge öffnen sich wie von Geisterhand und geben den Blick frei auf Schreckensszenen vor einer Zerrspiegelwand: Eine Geisterbahn voller Geschichts-Müll, sprich unerledigter Historie. Und dann ist in der Bühnenlandschaft noch jener Durchbruch nach oben, der für ein bedrohliches Aufsteigen dieser Geschichtsreste in die Gegenwart stehen könnte.

Regisseur Cloos ist in Frankreich inzwischen bekannter als bei uns. Vielleicht hat er in Paris auch Varieté schätzen gelernt. Häufig gibt es im „Gundling“ revuehafte Einschübe, Tänze gefrorener Erotik. Ein scharfkantiger, aber wohl bewußt eingesetzter Stilbruch auch, wenn da plötzlich Rockmusik ertönt.

Ein schwieriges Stück in einer oft chaotisch-bildversessenen, „unübersichtlichen“ Inszenierung – das war in Wuppertal, wo man bisher vom Theater kaum auf Heiner Müller eingestimmt war, nicht jedermanns Sache. Dutzende flüchteten, als die Figur „Heinrich von Kleist“ als Transvestit auftrat. Dabei hatte Cloos, ansonsten recht texttreu, diese Stelle eher noch entschärft.

Die Darsteller – die meisten absolvierten mehrere Rollen – agierten ansehnlich. Eike Gercken als kindlicher und erwachsener „Friedrich“ (eine Frau als König – warum eigentlich?) hatte den gichtgeplagten Gang des „Alten Fritz“ perfekt eingeübt und verlieh auch der gealterten Figur einen Stich ins Infantile. Horst Fassel (Friedrich Wilhelm/Irrenarzt/Lessing) fand zur passenden, schneidenden Bösartigkeit. Eine Verstärkung für das Wuppertaler Ensemble: Karin Neuhäuser. Ihr Auftritt im „Irrenhaus“ mit dem Mörderinnenlied war die bewegendste Szene des Abends.




Cleverer Onkel und ein Kultur-Eckchen für die Damen – Carl Sternheims „Tabula rasa“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Diese Farbsymbolik ist schon reichlich dick aufgetragen: Wenn in der Wuppertaler Inszenierung von Carl Stemheims Stück „Tabula rasa“ wirtschaftlich-politische Dinge verhandelt werden, spielen sie sich in Wolf Münzners Bühnenbild auf einer großen grauen Fläche ab, die bis in die Tiefe der Bühne reicht und fast nur den Herren der Schöpfung vorbehalten bleibt.

Für die dienenden Damen gibt’s links vorn, schräg nach hinten gekippt, ein kleines rosarotes „Kultur-Eckchen“ mit Klavier, Staffelei, Ballettstange und Spiegel. Die Verbindung beider Sphären ist denkbar gering und wacklig: Mit einem Bein ragt ein Tisch aus dem grauen in den rosaroten Bereich, nur gestützt von einer winzigen Klassiker-Büste.

An dem Tisch residiert Wilhelm Ständer, Sozialdemokrat auf Abwegen: Heimlich ist er zum Mitaktionär der Rodauer Glasfabriken geworden. Nach wie vor kehrt er den kämpferischen Arbeiter heraus, doch hinter verschlossenen Türen und Vorhängen läßt er sich von einer Magd bedienen und lebt wie ein Bourgeois. Die Geschichte: Um von diesem Widerspruch, der bei einer Generalrevision zum Betriebsjubiläum ans Licht zu kommen droht, abzulenken und schließlich „reinen Tisch“ zu machen (sprich: sein egoistisches Selbst ausleben zu können), setzt er ein Scheingefecht um eine Arbeiterbücherei in Gang und spielt dabei radikale und gemäßigte Sozialdemokraten gegeneinander aus; Revolte und Rückzug halten so einander aufs Prächtigste die Waage und verschaffen Ständer den nötigen Handlungsspielraum.

Das Fatale an Sternheims 1919 uraufgeführtem Stück: Es baut als Gegner Ständers nur kleine Popanze und Phrasendrescher auf, die furchtbar leicht zu überwinden sind – und es billigt Ständers rigorose Selbstverwirklichung; ganz im Sinne Nietzsches.

Satirische Spitzen abgebrochen

Doch wild-entschlossen geht es hier keineswegs zu: In Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung ist Ständer (redlich bemüht wie auch die anderen Darsteller, die alle mehr können, als sie hier zeigen dürfen: Gerd Mayen) alles andere als ein selbstsüchtiger Dämon. Er wirkt wie ein netter, cleverer Onkel, der halt weiß, wie man ans Geld rankommt, und dies dem Publikum augenzwinkernd mitteilt. Diese Haltung billigt sich, weil nett und „harmlos-alltäglich“, noch viel leichter. So hat denn die ganze Sache einen Grundgestus von Versöhnlichkeit, satirische Spitzen sind abgebrochen.

Komik überhaupt stellt sich in dieser – über weite Strecken erschreckend hilflosen – Inszenierung nur in Ansätzen ein (am ehesten noch bei Andreas Peckelsen als gemäßigtem „Sozi“ Artur Flocke), sie bleibt meist äußerlich: Die teilweise abstrusen Kostüme wirken eher wie „Narrenschellen“, die man den Figuren angehängt hat.

Überdies sind Raum- und Zeiteinteilung ungeschickt gehandhabt: Der weitläufige Bühnenraum verlangt unnötig lange Wege von den Schauspielern; dabei wird sinnlos Zeit verbraucht, es entstehen ungefüllte „Textlöcher“, die Aufführung findet keinen Rhythmus. Extrem wird das, wenn ein ganzes Arbeiterstatisten-Heer gemächlich Einzug hält und noch umständlich Stühle bereitgestellt werden. Die nachfolgende Massenszene ist die ärgste des Abends, sie erhebt sich nur wenig über Laienspielniveau.

Nur höflich-wohlwollender Beifall für die letzte Schauspiel-Premiere der Intendanten-Ära Fabritius.




Provokation ohne Ertrag – Franz Xaver Kroetz‘ „Stallerhof“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

In der Geisterbahn bekommt die geistig „zurückgebliebene“ Stallerhof-Tochter „Beppi“ dermaßen Angst, daß ihr etwas höchst Peinliches passiert. Der alte Hofknecht Sepp heißt sie die Unterwäsche ausziehen und beseitigt hilfreich die Spuren des Malheurs. Dann geschieht’s, wie in einem Anfall: „Nimmt sie, entjungfert sie“, heißt es lakonisch in Franz Xaver Kroetz‘ Szenenanweisung.

Auf dem Wuppertaler Bühnenboden folgt die Andeutung eines hastig-bizarren Beischlafs. Einem praktizierenden Zyniker im Parkett reichte das quicke Tempo noch nicht: „Schneller!“, feuerte er die Darsteller lautstark an. Auch andere wollten es hinter sich haben: Diese Szene der „Stallerhof“Inszenierung (Regie: Ulrich Greiff) sorgte bei der Premiere für einen veritablen Publikums-Exodus. Dutzende verließen zornig das Elberfelder Schauspielhaus. Hier kann Theater noch schockieren.

Der Inhalt des 1972 uraufgeführten Kroetz-Stücks ist rasch erzählt: Besagter Knecht schwängert die debile Beppi; deren Eltern jagen Sepp vom „Stallerhof“ und vergiften seinen Hund. Sie überlegen, ob sie Beppis Leibesfrucht abtreiben sollen (hier flüchteten erneut einige Zuschauer), können sich aber nicht dazu durchringen. Schlußbild: Die Wehen setzen ein.

Das Fatale an der Aufführung ist gar nicht die Drastik einiger Szenen (die schließlich im Text stehen), sondern der geringe künstlerische Ertrag der Provokation. Das Bühnenbild (Rosemarie Krines) zeigt simultan alles her, was zur engen bäuerlichen Welt gehört: Riesenbett mit Kruzifix, Heuballen, Herdstelle samt Eßtisch, ländliches Ausflugslokal.

Bei Kroetz heißt es zum Bühnenbild: „Äußerst sparsam. Nur Versatzstücke“. In Wuppertal wird zu vieles vorgezeigt, beinahe wie in einem Museum bäuerlicher Kulturdenkmale; ganz so, als fürchte man, vor dem Publikum sonst „mit leeren Händen“ dazustehen bzw. als mißtraue man der Phantasie der Zuschauer. Ähnliches gilt für die Musik (Heinz Becker/Karl-Heinz Stegmann), die jedes Körnchen des Geschehens zu Tönen verarbeitet – vom Katzengejammer bis hin zum Jahrmarktsrummel. Und: Die Geisterbahn-Fahrt wird durch albernes Lichtgeflacker „verdeutlicht“.

Auch der Text wird über weite Strecken schlicht ausgebreitet, nicht ausgelotet. Die bayerischen Dialekt-Tupfer vermitteln hier allenfalls blasses Kolorit, nicht aber Schärfe und Kontur. Auch in den langen Redepausen der „sprachenteigneten“ Figuren klingt wenig nach, oft ist es nur die schiere Leere statt gezielt quälender Stille.

Franz Träger und Isabel Zeumer als Stallerhof-Ehepaar vermögen ihren Figuren kaum Tiefenschärfe zu verleihen. Dörte Steindorff (Beppi) und besonders Günther Delarue (Sepp) stehen hingegen für ein paar anrührende Szenen ein, in denen spürbar wird: Es ist zwar eine trostlose Liebe zwischen den beiden. Aber es ist eine Liebe.




„Maria Stuart“ und die Lust an der Buße

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dunklem, augenscheinlich königlich teuren Holz sind die Wände in Maria Stuarts Gefängnis und in den Räumen ihrer Widersacherin, der Königin Elisabeth. Der Vorhang: kostbares violettes Tuch. Die Musik: Streichquartett von Franz Schubert. Durchweg edel eingefaßt wie ein Kleinod, wie ein sorgsam verwahrtes Text-Geschmeide, sieht man in Wuppertal Schillers „Maria Stuart“ – im wahrsten Wortsinn ein Schmuck-Stück.

Adelheid Müthers Inszenierung behandelt die Vorlage äußerst schonend, fast scheu. Rena Liebenow spielt die Elisabeth. Würde oder Herrscherstolz sind bei ihr nur in Ansätzen zu spüren. Auch wird sie gar nicht so sehr von erotischer Frustration umgetrieben, wie dies Text und Aufführungskonvention nahelegen könnten. Nein, eigentlich ist sie – man kann es kaum anders ausdrücken – eine „ganz patente Frau“. Wenn nur die hohe Politik nicht wäre! Auf diesem Felde wird sie zum Opfer ihrer kleinen Unsicherheiten und derer, die diese Schwächen ausnutzen: ihrer Ratgeber bei Hofe.

Elisabeths Gefangene, Maria Stuart (Sabine Schwanz), Konkurrentin in politischer, erotischer und religiöser Hinsicht, wird in dieser Aufführung weitaus mehr stilisiert. Eine religiös Verzückte ist sie, gleich zu Beginn filigrane Fingerbewegungen vollführend wie eine entrückte Prophetin oder Heilsbringerin. Sie wirkt, als sei sie einem alten Gemälde entstiegen, als sei sie längst nicht mehr von dieser Welt. Ihre sinnliche Kraft, ihre Vergangenheit als Verführerin – weit liegt das alles zurück.

Die zentrale Szene, Marias Begegnung mit Elisabeth, ist denn auch vorherbestimmt. Diese Maria hat sich längst innerlich vom Leben gelöst. Wenn sie um Gnade bittet, so fast nur der Form halber. Erst, als sie den Tod vor Augen hat, erglüht sie wieder in Liebe: Angetan mit einem tief dekolletierten roten Kleid schreitet sie in beinahe schon frivoler Büßerinnen-Lust zum Schafott.

Die Inszenierung ist über weite Strecken eher ein Geschehenlassen; weder tritt sie dem Text zu nahe, noch zwängt sie die Darsteller in ein Korsett. Die auf Aktualisierung hindeutende Anspielung im Programmheft, nach der Barschel-Pfeiffer-Affäre verdienten die klassischen Tragödien und Staatsaktionen wieder neues Interesse, ist nur Koketterie.

Grenzen und Beengungen setzt also weniger die Regie, sie liegen hier eher im schauspielerischen Vermögen. Streckenweise erlebt man Aufsagetheater nach altbekanntem Schema: Wer gerade Text hat, tritt vor, spricht, tritt zurück, verharrt still, als habe er/sie nun mit dem Stück nichts mehr zu tun. Die besseren, dichteren Szenen sind daher meist jene, in denen nur eine oder zwei Personen auf der Bühne stehen.

Die Nebenrollen sind in sehr unterschiedlicher Güte besetzt. Die Spannweite reicht von Holger Scharnberg, der mit dem Part des Sekretärs Davison höchst präsent ist, über Publikumsliebling Heinz Voss, der als Shrewsbury einfach bruch- und geheimnislos als der „Gute Mensch von Fotheringhay“ auftritt, bis hin zu Herbert Ecker („Graf von Kent“), der sehr blaß bleibt. Alles in allem war die Ensembleleistung aber passabel.




Überlebende durch Traum und Lüge – Gorkis „Nachtasyl“ an neuer Spielstätte in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Szenen aus der Tiefe“ lautet der Untertitel von Maxim Gorkis Elends-Drama „Nachtasyl“. In Helmut Palitschs Wuppertaler Inszenierung (zeitnahe Übersetzung von Thomas Brasch) wird diese Frühform von „Ganz unten“ wirklich ins Kellergeschoß verlegt.

Die „alte Küche“ unter der Stadthalle am Elberfelder Johannisberg, erstmals als Spielstätte genutzt, ist ein öder, verkommener Raum, rundum mit Kacheln ausgekleidet und wie geschaffen, eine trostlose letzte Zuflucht der Ausgestoßenen darzustellen. Dieser Spielort erspart das Bühnenbild, er ist aussagekräftig genug. Wenige Requisiten, etwa Bierflaschen und Zigarettenkippen, die am Schluß den Boden übersäten, reichen aus. Die Entscheidung für diese Spielstätte ist richtig. Man sollte „Nachtasyl“ nicht im schmucken Schauspielhaus vor gepolsterten Sesseln spielen. Auch daß hier ohne Pause gespielt wird, hat seinen Sinn. Snacks, Sekt und Smalltalk wären fehl am Platze.

Noch eine sinnvolle Entscheidung: Die Inszenierung zeigt das Elend nicht naturalistisch ausgekleidet vor, sie legt es nicht darauf an, beim Zuschauer wohlfeiles Mitleid hervorzurufen, in dem er sich womöglich sogar sonnen könnte. Mindestens so sehr wie um die materielle Verelendung geht es hier um psychische Defekte. Damit liegt Palitsch auf der Linie wichtiger „Nachtasyl“-Inszenierungen der letzten Jahre.

Reste der Arbeitsgesellschaft (im Stück werkelt ein Schlosser vor sich hin) sind getilgt. Die Figur des Kürschners fehlt ganz, der Schlosser (Günter Delarue) putzt – für eine Zukunft, die nie kommen wird – nur noch seine Werkzeuge und trägt sie sinnlos hin und her. Herausgehoben wird denn auch Satins „Tunix“-Utopie, die Vorstellung, alle würden aufhören zu arbeiten.

Überhaupt spielt der Umgang mit Utopien hier eine wichtige Rolle: Betrug und Selbstbetrug sind die – freilich arg beschädigten – Anzeichen einer Vorstellungskraft, die hinaus will. Zugleich hat der laxe Umgang mit der bitteren Wahrheit handfeste Funktion: er sichert das Überleben. Wer aus Lüge und Traum erwacht, ist schon verloren.

Das Handlungsgewoge, in dem mal die Illusionen, mal die unerbittlichen Einsichten die Oberhand gewinnen, wird schauspielerisch auf unterschiedlichem Niveau dargestellt. Manche Szenen (Mord am Nachtasyl-Besitzer) würde ich mir stärker stilisiert wünschen. Zum Glück werden schwächere Leistungen durch Ensemble-Spiel „aufgefangen“. Positiv fallen Wolfgang Packhäuser als Satin und Jochen Fahr in der kleinen Nebenrolle des „Aljoschka“ auf.

Asylherr Kostylew (Herbert Ecker) ist hier nicht ein Vollblut-Ekel, sondern ein schmalbrüstiger Hausmeister; der Pilger „Luke“ (Bernd Kuschmann) wirkt nicht wie ein weiser Greis, sondern wie eine Mischung aus Sozialarbeiter und Aasgeier des Elends, der das Unglück der anderen braucht und immer ein paar humane Sprüche parat hat.

Eindrucksvoll das eher komödiantisch angelegte Paar „Baron“ (Gerhard König) und „Satin“, das von Beckett oder O’Casey stammen könnte. Nur: Die langen und tiefsinnigen Reden am Schluß („Der Mensch ist die Wahrheit“) nimmt man „Satin“ dann nicht leicht ab. Hier hätte man mehr straffen sollen.




Dichtes und konzentriertes Schauspielertheater – Ibsens „Gespenster“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Schon Theatertradition hat die Spöttermeinung, nach der mit dem medizinischen Fortschritt ein Großteil der Konflikte in Henrik Ibsens „Gespenster“-Drama sich von selbst erledigt hätte. Das schlimme Erbteil des alten Lüstlings Alving, der seinem Sohn Osvald Syphillis und Hirnparalyse „vermacht“, hätte quasi ausgeschlagen werden können, und der ganze Familienabgrund, den dieses 1881 uraufgeführte Stück aufrührt, wäre bedeckt geblieben.

Man muß gar nicht an „Aids“ denken, um dem Stück neue Aktualität aufzuzwingen. Es handelt natürlich nur nebenbei auf medizinischer, vor allem aber auf psychologischer und gesellschaftlicher Ebene von den „Gespenstern“ einer Vergangenheit, die „nicht einmal vergangen ist“, mächtig das Heute überschattet und „späte Geburt“ eher zum Fluch macht.

Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung riskiert keine Neudeutung, sie ist konventionell wie ihr Bühnenbild (Rosemarie Krines), das Ibsens Anweisungen sehr getreulich folgt und so ähnlich schon vor Jahr und Tag hätte gebaut werden können. Greiff erliegt diesmal nicht den Versuchungen jener Art von Regietheater, mit dem er schon manches Mal Schiffbruch erlitten hat; er stützt sich hier ganz auf die Schauspieler. Und siehe da: es wird gutes Schauspielertheater, wie man es in dieser Dichte und Konzentration in Wuppertal lange nicht gesehen hat. Guten Gewissens kann man diesmal auch von wirklicher „Sprechkultur“ reden, die die Aufmerksamkeit zusätzlich in Bann schlägt.

In einer langen Reibe von „Aussprachen“ wird der Kampf der tödlichen Wahrheiten wider die verlogenen Ideale ausgetragen, wird das Trugbild der gutsituierten Familie Alving gnadenlos demontiert: Hervorragend Lin Lougear als Witwe Helene Alving, die stets bedrohte Balance zwischen Stolz und Verzweiflung haltend; auch Siegfried Maschek als Osvald hütet sich, die Anzeichen seiner Hinfälligkeit zu sehr zur Schau zu stellen. Günther Delarue als „Tischler Engstrand“ – ein Kabinettstück dummschlauer Verschmitztheit, etwas auch von jener Uneindeütigkeit einlösend, die Ibsen mit seiner legendären Antwort auf die Frage erzielte, ob denn Engstrand das Kinderasyl der Helene Alving in Brand gesteckt habe: „Zuzutrauen wär’s dem Kerl schon!“

Gerd Mayen als „Pastor Manders muß eine schwierige Gratwanderung absolvieren; allzu gestrig wirken die ordnungsfrommen Sittenthesen Kirchenmannes, so daß stellenweise Gelächter im Zuschauerraum aufkommt. Doch es wird auch deutlich, daß Manders ein großes Kind ist, das an Idealen hängt wie an Rockzipfeln; nur sind es die falschen, und der ganze Mann ist bemitleidenswert.

Es gab langen, herzlichen, beinahe erleichterten Beifall. Im Publikum klafften größere Lücken. Haben manche, nach der Kündigung des Wuppertaler Intendanten, das Theater bis auf weiteres aufgegeben?




Plötzlicher Sinneswandel: Wuppertals Intendant Fabritius gibt auf

Von Bernd Berke

Wuppertal. Kehrtwende um 180 Grad: Während noch bei der Spielplan-Pressekonferenz am Mittwoch beim Wuppertaler Theater alles in schönster und stabilster Ordnung zu sein schien (WR berichtete), brach gestern unverhofftes Chaos aus. Generalintendant Jürgen Fabrilius, der am Mittwoch noch in „voller Gewißheit“ (Fabritius) seine Bereitschaft zur Vertragsverlängerung um fünf Jahre angekündigt hatte, warf wenige Stunden später das Handtuch.

In einem gestern bekannt gewordenen Brief an den Kulturdezernenten Heinz Theo Jüchter schrieb Fabritius: „Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich für eine weitere Abstimmung über meine Vertragsverlängerung nicht mehr zur Verfügung stehe.“ Er sehe keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit, weil der Kulturausschuß eine bereits empfohlene Vertragsverlängerung abgelehnt habe.

Anlaß für den urplötzlichen Sinneswandel war eine offenbar turbulente Sitzung des Wuppertaler Kulturausschusses am Mittwoch abend, bei der harte Kritik an Fabritius laut wurde. Die Schelte bezog sich auf die Qualität einzelner Schauspiel-Inszenierungen (vor allem: „Dreigroschenoper“), auf die Stagnation der Besucherzahlen im Schauspiel und auch schon auf den frisch veröffentlichten Spielplan ’87/’88. Der Ausschuß mochte dem Rat nicht empfehlen, Fabritius‘ Vertrag über 1988 hinaus zu verlängern.

Als er von dieser Stimmungslage erfuhr, schrieb der konsternierte (seit 1983 in Wuppertal tätige) Generalintendant des Dreispartentheaters  seine zitierte Absage. Kulturdezernent Jüchter, dem das Schreiben gestern-zuging, trocken: „Ich nehme den Brief zur Kenntnis“. Man werde nicht versuchen, Fabritius zu halten.

Meinungsumschwung im Kulturausschuß „auf kaltem Wege“?

Während Jüchter betont, die Kritik an Fabritius sei quer durch alle Fraktionen (SPD, CDU, FDP, „Grüne“) gegangen, wittert man am Theater das Schlimmste. Fabritius zur WR: Der „erdrutschartige Meinungsumbruch“ im Kulturausschuß müsse „auf kaltem Wege“ zustande gekommen sein. Das Ensemble sei „maßlos überrascht und brüskiert“.

Bühnen-Pressesprecher Hanns-Peter Keßler vermutet gar einen „politischen Deal“, der erst in den letzten Tagen hinter den Kulissen stattgefunden haben könne und die bisherige Mehrheit im Kulturausschuß gekippt habe. Danach hätten nur noch die „Grünen“ hinter Fabritius gestanden.

In der Tat hatte es bis Mittwoch den Anschein gehabt, als sei alles „in trockenen Tüchern“. Die Bühnenkommission hatte dem Intendanten noch im Juli 1986 die Vertragsverlängerung nachdrücklich angetragen. Der hatte sich, um Verhandlungen über den Bühnenetat abzuwarten, Bedenkzeit erbeten. Als sich nun eine Etat-Steigerung abzeichnete, war Fabritius zur Annahme bereit und ging mit dieser Mitteilung am Mittwochmorgen auch an die Öffentlichkeit.

Allerdings: Schien er auch relativ sicher im Sattel zu sitzen, sowar Fabritius doch – wie auch Pressesprecher Keßler einräumen muß – ein durchaus umstrittener Intendant.

Fest steht, daß sich die Wuppertaler eilig auf Intendantesuche begeben. Kulturdezernent Jüchter: „Im Sommer ’87 wollen wir den ,Neuen‘ verpflichten.“ Fabritius schwant Böses: Hoffentlich, so der Noch-Intendant, werde man seinem Nachfolger keine Etat-Verschlankung oder eine Sparteneinschränkung aufnötigen.




Wuppertal: Theater hofft auf Früchte der Beständigkeit – Stabiles Ensemble, zum Bleiben entschlossener Intendant

Von Bernd Berke

Wuppertal. Am Wuppertaler Theater stehen die Zeichen ganz auf Beständigkeit. Generalintendant Jürgen Fabritius will, wie er gestern vor der Presse bekräftigte, seinen Vertrag um fünf Jahre (bis 1992) verlängern, wenn die – fest in Ansicht gestellte – Aufstockung des Bühnenetats um rund 1,2 Mio. DM erwartungsgemäß vom Rat der Stadt gebilligt wird.

Eine bessere finanzielle Polsterung seines (1986 zu 74,8 % „ausgelasteten“) Dreispartenhauses hatte Fabritius zur Bedingung seines Verbleibs gemacht. Weiteres Signal für Kontinuität: Personell gibt es kaum Änderungen, das Schauspielensemble geht gar gänzlich unverändert in die Saison 1987/88. Fabritius äußerte sich befriedigt über diese Stabilisierung, denn in den 70er Jahren habe eine personelle Fluktuation geherrscht, die – mit Ausläufern bis heute – an der künstlerischen Substanz gezehrt habe.

Auf solch solider Basis also wagt das Schauspiel einen gemäßigt-„modernen“ Spielplan für die nächste Saison, die am 18. September 1987 mit Peter Weiss‘ „Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats…“ eröffnet werden wird. Es folgen: das kinoerprobte Musical-Stück „Cabaret“, für Kinder der unlängst in Dortmund so erfolgreiche „Lebkuchenmann“, Schillers „Maria Stuart“, Lorcas „Bernarda Albas Haus“, sowie im Februar 1988 die Uraufführung von „Tausend Rosen“, eines Beziehungsdramas aus dem Kleinunternehmermilieu – geschrieben vom Österreicher Gustav Ernst.

Außerdem geplant: Shakespeares „Komödie der Irrungen“, O’Neills „Ein Mond für die Beladenen“ und vermutlich eine klassische Komödie. Pina Bauschs Tanztheater, für das so viele Einladungen aus aller Welt vorliegen, daß man beim besten Willen nicht nachkommen kann, arbeitet u. a. an Glucks „Orpheus und Eurydike“. Josephine Ann Endicott gehört dem Ensemble wieder an.

Im Opernbereich tritt in der nächsten Spielzeit die Kooperation mit dem Gelsenkirchener „Musiktheater im Revier“ in Kraft. Die Gelsenkirchener zeigen – im Rahmen des Wuppertaler Abos – die Böll-Oper „Katharina Blum“ von Tilo Medek, im Gegenzug präsentieren die Wuppertaler Volker David Kirchners Auftragswerk „Orestie“ nach Aischylos – in der Saison’88/89.

Weitere neue Musiktheater-Projekte: Franz Schrekers „Spielwerk“, Künneckes „Vetter aus Dingsda“, Cherubinis „Medea“, Mozarts „Zauberflöte“, Massenets „Manon“ und Strauss‘ „Rosenkavalier“.




„Dreigroschenoper“ ohne Zähne

Von Bernd Berke

Wuppertal. War es Lust- oder Hilflosigkeit? Regisseur Brian Michaels jedenfalls hat Brechts „Dreigroschenoper“ in Wuppertal nur „an“-inszeniert und sonst den Dingen freien Lauf gelassen. Hier wurde ein bißchen choreographiert, da etwas verorpert, dort ein wenig verrockt und aufgegagt, aber nichts konsequent durchgehalten. Brechts Stück als Selbstbedienungsregal, wahllos geplündert.

Es fehlen auch Schärfe und Widerspruchsgeist. Letzterer könnte sich ja notfalls auch am Autor selbst reiben. Doch hier wird weder getreulich mit Brecht noch widerborstig gegen Brecht, sondern – und das ist am schlimmsten – ohne Brecht agiert. Daß man auf den revolutionstrunkenen Schlußchoral von 1948 verzichtet, mag angehen. Daß aber sogar die gedämpft aggressive „Abbitte“-BaIlade von Machheath „entfällt, legt den Verdacht nahe, daß hier ein entkernter Brecht „für die ganze Familie“ dargeboten wird. Beredt war in diesem Zusammenhang der Premieren-Versprecher von Gerd Mayen (Macheath), der fälschlicherweise den Einbruch in eine Bank mehr brandmarkt als die Gründung einer solchen (Brecht meinte, auf Ehr‘, das Gegenteil!).

Hinzu kommen Geschmacksverirrungen, besonders bei den Songs. Vieles wird im Entertainer-Stil vorgetragen, was nur in einem tragfähigen Gesamtkonzept schlüssig sein könnte. Unerträglich aber: Macheath stülpt sich zur „Ballade vom angenehmen Leben“ einen Cowboyhut auf und macht einen Country-Heuler daraus.

Macheath steigt anfangs von einem Denkmalssockel herunter. Kaum hat er diesen Schritt ins Bühnenleben getan, zeigt sich auch schon, daß dieser Haifisch keine Zähne hat. Er ist zu abgehalftert, um Unterwelt, Polizei und Damenwelt in Atem zu halten. Siegfried Maschek als Bettlerkönig Peachum macht bessere Figur. Er tänzelt als zynisch-geschmeidiger Impresario durch die Szene, dem das Elend nur als Manövriermasse im Spiel der Macht dient.

Rena Liebenow als Frau Peachum hält sich tapfer, ihre Songs haben zumindest Pfiff. Als naives Püppchen mit Kieksstimme war hingegenWiebke Frost als „Polly“ eine schwache Besetzung. Franz Träger als Polizeichef Brown zeigte nichts von Zerrissenheit, sondern wirkte einfach fahrig. Die Viererbande der Ganoven schlug kaum Funken aus der Hochzeitsszene. Die Huren durften nur seufzen und mit den Pos wackeln. Beste Darsteller waren noch Horst Fassel („Münz-Matthias“), Silvia Kesselheim („Jenny“) und Andrea Witt („Lucy“). Es gab Anstandsbeifall für die Schauspieler und etliche Buhs für die Regie.

An der Wuppertaler Darbietung zeigen sich im nachhinein erst recht die Qualitäten der Essener Inszenierung Hansgünther Heymes (noch auf dem Spielplan). Bei der Essener Premiere war seinerzeit Wuppertals Intendant Jürgen Fabritius zugegen. Jetzt kann er vergleichen.




Konflikte aus der Ferne: Adelheid Müther inszeniert Hebbels „Maria Magdalena“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ ist weniger ein Schau-Spiel als ein Sprach- und Denkstück, das in der stickigen Enge rigoroser Moral nicht theatralisch bildreich erblüht, sondern in oft doppeldeutigen, ja fast sphinxhaften Redefiguren befangen bleibt, die mehr Gefühle verbergen als erhellen.

Auch der Konflikt – eine „Affäre“ mit Schwangerschaftsfolge, aber ohne Ehe-Absicherung bedeutet unweigerlich den gesellschaftlichen Tod – liegt uns fern. Adelheid Müthers sehenswerte Wuppertaler Inszenierung des (klein)-bürgerlichen Trauerspiels läßt denn auch keine falsche Nähe aufkommen. Am Beginn und am Schluß erklingen kurze Opern-Ausschnitte – ein „Rahmen“, der das Stück wie ein museales Bild einfaßt und „wegrückt“. Auch vor dem Pathos tragischer Tode hütet man sich. Gestorben wird da ganz achtlos und beiläufig; ein oder zwei bewußt überkünstelte Gesten, dann ist es geschehen.

Gleich beim ersten Auftritt des strengen Familienvaters und Tischlermeisters Anton (Gerd Mayen) ist das Verhängnis für seine Tochter, die „Sünderin und Büßerin“ Klara (daher das biblische „Maria Magdalena“), absehbar. Mayen spielt einen alten Patriarchen, der sogleich die Stühle im Haus zu fürchterlich steriler Ordnung zurechtrückt. Mit jeder Bewegung schafft er einen Raum und eine Atmosphäre um sich, als befinde man sich schon im Totenreich. Verbliebene Gefühlsregungen (so, wenn er seine Frau und Tochter eigentlich streicheln möchte) verbietet er sich mit ruckhaftem Zurückweichen. Der kümmerliche Rest von Zärtlichkeit verbindet sich mit seiner Handwerksehre: Liebevoll streicht er über den Holztisch, den er selbst angefertigt hat.

Sabine Schwanz als Klara wirkt gerade nicht hinfällig, devot und bußfertig, sondern bis zum Schluß eher gesund, realistisch und entschlußkräftig. Sie geht in den Tod, weil sie sich das genau überlegt hat, nicht kopflos. Ihr Bruder Karl (herausragend: Holger Scharnberg), der aus dem muffigen Elternhaus ausbrechen will, tritt als Mischung aus frühem Aussteiger und „Penner“ mit Weinflasche und zerknittertem Mantel auf. Uns Zweckrationalisten von heute am nächsten steht jedoch der Verführer „Leonhard“ (Gregor D. Höppner), der sonst oft als ausgemachter Schurke die Bühne betrat, hier jedoch durchaus „vernünftig“ für sein Fortkommen sorgt. Nicht abgründig böse ist er, allenfalls angekränkelt von Karriere-Blässe. Nicht nur hier erreicht die Deutung eine zeitgerechte Dimension, und zwar ohne vordergründig-brachiale Aktualisierung.

Die zum Zuschauerraum hin abschüssige, sparsam möblierte Holzdielen-Bühne (Lilot Hegi), auf der der zeichenhaft angedeutete Hauseingang windschief steht, als sei er allen Elementen schutzlos ausgeliefert, ist die schiefe Ebene, auf der gleichsam das Schicksal sich beschleunigen kann.

Es gab verdienten Beifall für Regie und Ensemble.




Wenn die Bundeswehr „Gesellschaft“ spielt – Stefan Dähnerts Stück „Herbstball“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein Theaterstück über die Bundeswehr – das tat wirklich not. Bemerkenswert, daß erst jetzt eins auf die Bühne kommt: „Herbstball“, geschrieben vom 25jährigen Stefan Dähnert, wurde am Samstag gleichzeitig in Wuppertal und Köln uraufgeführt.

Dähnert, Sohn eines Offiziers und selbst als „Kasernenkind“ aufgewachsen, verfährt nach erprobter Manier: Jedwede Ideologie läßt sich am besten da entlarven, wo man die Zügel schießen läßt, nämlich im Freizeitbereich. Also führt er uns auf besagten Herbstball im Offizierskasino, wo Alkohol die Zunge löst und die Gegenwart von Damen auch das „Thema Nummer eins“ ins Spiel bringt.

Bei dieser Festivität kann es natürlich nicht so subtil abgezirkelt zugehen wie etwa im Paare-Passanten-Reigen von Botho Strauß‘ „Trilogie des Wiedersehens“. Dähnerts Militär-Party ist schrill, grell und grotesk; am Ende des zweiten Teils rinnen gar Urin und Erbrochenes über die verheerend zugerichtete Bühne. Die stetige Steigerung des „Säuischen“ bleibt aber eine der wenigen „Entwicklungslinien“ in diesem Stück, das seltsam unstrukturiert und wie in einem Zug hingeschrieben wirkt. Es fehlen einfach die Spannungsbögen, die den Zuschauer drei Stunden lang in Atem halten könnten. Versuche, diesem Mangel (z. B. durch die Jagd auf einen Deserteur) abzuhelfen, bleiben schüchtern.

Der fast aphoristische, knappe Zugriff scheint hingegen Dähnerts Sache zu sein. Einzelne Passagen, messerscharfe Merksätze manchmal, weisen ihn als unerbittlichen Beobachter und Zuhörer aus. Die besten Szenen hat „Herbstball“ im ersten Teil, wenn noch nicht alles unterschiedslos in der Orgie ersäuft, sondern im geläufigen Party-Plausch die latente Gefàhrlichkeit reaktionärer Gesinnungen und Verhaltensweisen gerade erst durchschimmert. Ganz verkorkst ist aber die Schlußszene, in der ein idyllisches „Heimat-Konzept“ (Rekrut sehnt sich nach der Weinlese) als Gegenbild entworfen wird.

So desolat sieht Dähnert die Bundeswehr: Sie ist schizophren, weil auf etwas wartend, was nicht eintreten soll – auf den Ernstfall nämlich. Und: Sie ist immer noch von der Gesellschaft isoliert, quasi in der Wiederbewaffnungs-Zeit der 50er Jahre steckengeblieben. „Gesellschaft“ wird da eben nur gespielt, am deutlichsten bei Gelegenheiten wie diesem herbstlichen Ball. Gerade der enthüllt aber letztlich den Urgrund aus sexueller Verklemmung, Kampflust und Chaos.

Gastregisseurin Barbara Bilabel hat ein Gespür für Dähnerts grelle Bilder. Sie inszeniert in Wuppertal fast „filmisch“, in Totalen und Nahaufnahmen sozusagen: Sie wechselt zwischen dem Blick auf die ganze Party-Gruppe und intimeren Perspektiven, für die jeweils Einzelfiguren und Paare nach vorn „gezerrt“, vorgeführt und schließlich wieder in die Gruppe „zurückgestoßen“ werden. So wird das Stück wenigstens teilweise gerettet. Das gelungene Bühnenbild (Roger von Moellendorf) zitiert mit Clubsesseln und Bartresen die 50er Jahre.

Unter den Darstellem vor allem zwei, die einem den erforderlichen Schauer über den Rücken jagen: Horst Fassel als Oberst und – neu in Wuppertal – Andreas Peckelsen als Major.




Rätselhafte Appelle an die dunkelsten Schichten der Seele – Augusto Boal inszeniert die Uraufführung von Garcia Lorcas „Das Publikum“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Roms Kaiser grunzt und kotzt aus vollem Halse. „Julia“ vergeht nicht vor Liebe, sondern hebt kurzerhand den Rock, windet sich dann in Sturzbächen von Pferde-Urin. Auch „Helena“ ist alles andere als klassisch, sie kommt als verruchte Salondame daher. Irgendwann leiert dann noch der Gekreuzigte seine bekanntesten Bibelsprüche herunter, und zwei elfenhafte Schwuchteln, die auf einem griechischen Säulenstumpf herumturnen, kommen – klar doch! – auch vor.

Befremdliche Dinge begeben sich im „Theater unter dem Sand“, in dem man alle Masken ablegen will, um die Untiefen der Existenz direkt auf der Bühne auszuleben. „Herr Direktor, das Publikum ist da!“ So vermeldet es der „Diener“, schon halb resignierend. Es folgt circensischer Klamauk: Vier Menschenpferdchen tänzeln trompetend herein. Hernach wird jenes „Theater unter dem Sand“ (es ist wohl dem Strand benachbart, der „unter dem Pflaster“ liegt, aber auch nah an Gräbern) entfesselt – in Federico Garcia Lorcas 1930 bis 1936 geschriebenem Stück „Das Publikum“, das jetzt uraufgeführt (!) wurde. Und zwar nicht, wie zu vermuten stünde, beim „Theaterpathologischen Institut“ Roland Rebers in Lünen, sondern bei den Städtischen Bühnen Wuppertal.

Regie (und dies kommt einer Sensation gleich) führt Augusto Boal, brasilianischer Theatermacher im Pariser Exil, bekannt durch sein „Theater der Unterdrückten“ (nicht nur) in den Slums von Sao Paulo, wegen dessen subversiver Wirkung ihn frühere Regimes verfolgten und foltern ließen.

Boal bringt in sieben rätselvollen Bildern ein surrealistisches Kaleidoskop des 1936 im spanischen Bürgerkrieg von den Falangisten erschossenen Lorca auf die Bühne, das an dunkle Tiefenschichten der Seele appellieren will, nicht an den Verstand. Es stelle nur niemand die Bedeutungsfrage, das ist zwecklos, soll zwecklos sein!

Es ist, als taumele man durch ein labyrinthisches Bild von Salvador Dalí. Verwandlungen und Metamorphosen zuhauf. Was ist Wirklichkeit, wieviel davon darf oder muß, zumal in umstürzlerischer Zeit, auf die Bretter des Theaters? Solche Fragen schälen sich immerhin schemenhaft heraus.

Lorcas Wort- und Spielarsenal des Surrealismus wirkt hie und da noch „irgendwie“ poetisch, aber doch auch angestaubt, historisch, zitathaft. Das reicht von der weidlichen Zurschaustellung jeglicher menschlicher Körperausscheidung bis zur Verknüpfung entferntester Gegenstände nach dem surrealistischen Muster jenes notorischen Regenschirms, der einer Nähmaschine auf dem Operationstisch begegnet.

Lorca meinte 1936, Zeit und Publikum seien noch nicht reif für dies Stück. Es sei ein Stück zum Auspfeifen, nicht zum Aufführen. Womöglich ist es so, vielleicht aber auch umgekehrt: Das Stück kommt um Jahrzehnte zu spät. In Wuppertal jedenfalls verließen einige Zuschauer während der Premiere fluchtartig den Raum.

Doch der Uraufführungsehrgeiz hat die Wuppertaler nun einmal geritten: Das Stück fällt ganz aus dem Rahmen des sonst eher gefälligen Schauspielplans, es paßt überhaupt nicht zur bisher erarbeiteten Spielpraxis des Ensembles, das sich denn auch mehrfach in Gefilde platter Komik retten muß. Der Exodus beim „normalen“ Abo-Publikum wird vermutlich noch weit deftiger ausfallen als bei der Premiere. Neben stellenweise aufblitzender Schauspielkunst positiv hervorzuheben: Helio Eichbauers Bühnenbild; einfach, klar, hellsichtig-zeichenhaft.




Bewegungs-Bilder aus unterirdischer Endzeit – Pina Bauschs Tanzabend II („Viktor“) uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. Die Erde ist nur mehr ein „umgestürzter Hafen“; Büchners mächtiges Einsamkeits-Wort aus dem „Woyzeck“ wird gesprochen. Die Bühne für Pina Bauschs „Tanzabend II“ („Viktor“) ist Todesstätte. Oder: Katakomben, Ort des allerletzten Überlebens.

Erdwälle ringsum, meterhohe Aufschüttungen; drei Stunden lang wird von droben Erdreich heruntergeschippt. Begräbnis? Wir Zuschauer – eine imaginäre vierte Erdwand liegt hinter unseren Rücken – sind mit drunten, wo „das Ungeordnete“ geschieht, wo das Unbewußte sich Bahn bricht in Wiederholungs-Ritualen aus Kindheit, Alltag und Wahnsinn. Immer wieder werden autistisch in sich selbst rasende Bewegungsabläufe von Hereinkommenden abgebremst, unterbrochen oder allmählich ruhiggestellt, wie von einem Wachpersonal.

Pina Bauschs Körpertheater, dessen „Sprache“ die Beherrschung des Tanzes voraussetzt, unternimmt, dabei oft über Gebühr sich selbst zitierend, einmal mehr alle Anstrengungen, uns fremdeste, uner-„hörte“ Bewegungs-Bilder vor Augen zu stellen. Auch hier wieder Gesten flüchtigen Begehrens, Entblößungs-Posen der Selbstverliebtheit und sexueller Herrschaftsanmaßung, die in einer Flut von Wiederholungssequenzen ausgestellt werden. Nicht auf eine wörtlich zu fassende „Aussage“, sondern auf die Bildlichkeit selbst kommt es da an. Keine zusammenhängende Geschichte, sondern die Entäußerung untergründig wirkender Bewegungs-Strukturen. Um diese Muster herum öffnen sich für den Zuschauer äußerst weite Assoziationsfelder, öffnet sich verstörende Leere, die sich – wenn überhaupt – erst in Kopf und Bauch des Betrachters füllt, die aber auch hilflos, ratlos und aggressiv machen kann.

Der Beginn (am Ende wird diese Szenenfolge wiederholt, ohne an Geheimnis verloren zu haben): Eine Frau betritt die Bühne, im knallroten Kleid, armlos wie eine antike Statue, sie lächelt „wissend“ und herausfordernd ins Publikum. Ein grelles, unerträgliches Bild, eine wohlkalkulierte „Zumutung“, ärger als eine spätere, ausdrückliche Publikums-Beschimpfung („Haut alle ab!“). Dann Teppiche: in den einen rollt man achtlos eine Frau ein, vor dem zweiten wird ein leblos liegendes Paar getraut. Die Hände werden zum Ringtausch zueinander gezwungen, die Gesichter zwecks Kuß zueinander gebogen.

Überhaupt: Tote, Halblebendige. Da versichert sich einer seines Lebensrestes, indem er – Beckett grüßt – seinen bloßen Atemhauch übers Mikrophon abläßt. Die Endzeit ist da: Zwei Steine wie Scheuklappen haltend, irrt eine Frau über die Bühne, regelmäßig hüstelnd, dann markerschütternd schreiend. Eine andere dient (sie speit Sprudel aus, den man ihr eingeflößt hat) als Waschbrunnen, weitere werden begossen wie Pflanzen. Lebendiger scheinen da jene Dinge, die mehrmals in einem irrwitzigen Vermarktungskreislauf „versteigert“ werden.

Das irritierende Stück mit seinen Bildüberblendungen entstand nach einer Rom-Reise des Ensembles. Gruppen-Prozesse haben da sicher eine Rolle gespielt, die der Zuschauer schwerlich nachvollziehen kann. Vor allem italienische Musik der 30er Jahre, „billig“ kreischend wie in einem drittklassigen Lokal, erfüllt den Raum.




Der „Weg nach Mekka“ führt durch einen bizarren Garten der Symbole – Arno Wüstenhöfer inszenierz Athol Fugards neues Stück

Von Bernd Berke

Wuppertal. „In unserem Alter brauchen wir frisches Gemüse … Nein, nein. Sie brauchen es nicht zu waschen!“ Bemerkenswerte Bühnensätze in diesen „strahlenden“ Tagen, die vom Publikum teils mit bitterem Gelächter quittiert wurden. Die Sätze stehen, natürlich nicht auf Tschernobyl gemünzt, in Athol Fugards Stück „Der Weg nach Mekka“, das jetzt in Wuppertal seine deutschsprachige Erstaufführung erlebte (Regie: Arno Wüstenhöfer).

Eine Pyramide von Spiegeln und glitzernde Glassplitter an der rückwärtigen Wand, davor Batterien von leeren Flaschen und Legionen von Kerzen, die das Ganze beizeiten illuminieren. Der Blick nach „draußen“ weist in einen bizarren Skulpturengarten, in dem morgenländische Weise, Meerjungfrauen und ein Hahnen-Mann, der mit lüstern gesenktem Schnabel seine Hose rauf- oder runterzieht, ihr steinernes Wesen treiben. Dieter Flimms beeindruckend wucherndes Bühnenbild steht über die volle Distanz des Dreipersonen-Zweiakters für das Innenleben der alten Witwe „Miss Helen“ (Ursula von Reibnitz).

Helen führt in dem südafrikanischen Halbwüsten-Nest New Bethesda seit vielen Jahren ein einsames Außenseiterleben. Ihre quer stehende Existenz paßt den calvinistisch-bigotten Buren ganz und gar nicht ins Einheitsbild. Zumal sie, mit ganzer Seele ihren „Weg nach Mekka“ suchend, eine ureigene „Religion“ hat.

Besuch kommt aber doch. Zunächst „Elsa“, junge Lehrerin aus dem fernen Kapstadt. Eine „Liberale“, die wegen ihrer Kritik an der Apartheid ständig Ärger mit der Schulbehörde hat und die in Miss Helens Leben mit Inbrunst ein politisches Widerstands-Fanal sehen möchte. Und Pfarrer Marius Byleveld (Heinz Voss), der Helen den Umzug ins Altenheim nahelegt. Ob aus Sorge um ihr Befinden oder als ausführendes Organ ihrer Gegner, bleibt in der Schwebe.

Während der Südafrikaner Fugard rassistische Herrschaft in „Master Harold und die Boys“ noch ins Zentrum rückte, liegt diese Problematik nur noch am äußersten Rand des „Wegs nach Mekka“. Freilich: Quasi-religiöse Transzendenz und entschiedene Überhöhung des Sichtbaren dominieren hier wie dort. Diesmal sind es besonders die Kerzen, deren Licht-Symbolik in immer neuen; manchmal altbacken wirkenden;Reden wortreich strapaziert wird. Sie stehen etwa dafür, daß man „sein Licht leuchten läßt“, ganz „man selbst ist“ und aus dem Dunkel findet. Mitunter wähnt man sich da in einer Selbsterfahrungsgruppe od&r in einem symbolschweren Stück von Ibsen, Strindberg oder Noren.

Die meisten dieser Klippen werden in der Wuppertaler Inszenierung glücklich umschifft. Arno Wüstenhöfer (1963-70 Intendant in Wuppértal, dann in Bremen „Entdecker“ der Tanztheater-Leitsterne Pina Bausch und Reinhild Hoffmann) erreicht dies durch eine unaufdringliche, sinnvolle Figurenführung, die auch über Längen hinwegträgt. Hervorragend die Darsteller, allen voran Ursula von Reibnitz, die es fertigbringt, die Wunschweit des „kleinen Mädchens“ in der alten Helen aufscheinen zu lassen. Dann Heinz Voss, der mit einem Schuß Komödiantik den Zwiespalt offen hält, in dem der Pfarrer steckt. Schließlich: Antje Birnbaum als zornige junge Frau „Elsa“ mit einem Anflug früher Gebrochenheit.




Wechselbäder zwischen Revolte und Schunkellied – Lokalrevue „Oh, du mein Wuppertal“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Oh, du mein Wuppertal“ heißt die Revue. „Ach, du meine Güte!“, könnte man antworten. Denn schier alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde für diese (andernorts kaum nachspielbare) Uraufführung im Wuppertaler Schauspielhaus gleichsam „eingemeindet“. Stellenweise wuchs sich das zu einem monströsen Panoptikum der Beliebigkeit aus.

Worauf herauf? Sollte es eine Polit-Revue sein – mit jenen Texten von Ernesto Cardenal (dessen Bücher in einem Wuppertaler Verlag erscheinen) und Heinrich Böll (der 1966 die Eröffnungsrede im Wuppertaler Schauspielhaus hielt)? Oder ein Abend mit karnevalsreifen „Vertällches“, dargeboten vom Orts-Original Hans „Ötte“ Geib? Oder gar doch ein poetischer Abend mit Lyrik der Wuppertalerin Else Lasker-Schüler? Oder eine trunkene Liebeserklärung an Stadt und Region mit dem „Bergischen Heimatlied“ und Songs à la „Mädel, fahr mit mir Schwebebahn“? Ja, das alles, auf Ehr‘, das gab es – und noch mehr.

Sicher: In einer Revue mag es drunter und drüber gehen. Aber irgend ein lenkender Sinn und Fingerspitzengefühl sollten doch erkennbar sein. Cardenals Revolutionsgedichte, ein Punk-Ballett („Schade, daß Beton nicht brennt“) – und dann ein Schunkellied zum Mitsingen, das geht einfach nicht zusammen. Das sind mehrere Programme. So gemixt, wird das Ernste schnell harmlos, das Heitere infam.

Die Textsammler Wolf Jürgen Brehm, Ulrich Greiff (auch Regie) und Lothar Schwab mochten, so scheint es, kein Archiv auslassen. Fleißig haben sie noch den letzten Winkel nach lokal Verwertbarem durchkämmt. Sicherlich habensie noch Funde in petto, die der Revue aufhelfen können. Es gab nämlich auch so schon durchaus gute Ansätze. Besonders vor der Pause ließen einige geschickt zusammengestellle Texte aufhorchen. Goethes Besuch in Elberfeld etwa (1774 beim Literaten Jung-Stilling) und des „Dichterfürsten“ vernichtende Kritik an pfäffischer Frömmeiei daselbst. Sodann der erhellende Bezug zu einem Brief von Friedrich Engels, der sich exakt demselben Thema widmete. Zuvor, auch dies eine Funken schlagende Zusammenfügung, Immermanns Notiz über Pferde, die seinen „Hamlet“ störten, sowie die Überleitung zu den heutigen Tierversuchen eines Chemieriesen am Ort.

Die Umsetzung: Schwierig, weil Ulrich Greiff so vieles, was auseinanderstrebte, Schlag auf Schlag auf die Bühne bringen mußte. Ein Wechselbad. Die Technik mußte sozusagen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Massenbilder (bühnenfüllend: Wuppertaler Jugend) wechselten abrupt mit intimen Szenen. Notdürftige Klammer war das Anfangs- und Schlußbild (Bühne: Rosemarie Krines) mit Showflitter auf Schwebebahnmasten. Sechs Profi-Schauspieler „vertrugen“ sich recht gut mit Tanzgruppe und Laiendarstellern Die Musik-Band gehörte zu den Pluspunkten.

Übrigens: Von einem aus Wuppertal stammenden Kanzlerkandidaten war auch die Rede. Der, niemand anders als der bibelfeste Johannes Rau, saß im Publikum und nahm vergnügt die (auf Bonn gemünzten) Ratschläge aus den Büchern „Salomo“ und „Jesus Sirach“ zur Kenntnis.




Horváths Nazis als Hampelmänner

Von Bernd Berke

Wuppertal. Das Stammlokal der Republikaner ist Schauplatz politischer Machtkämpfe. Die NS-Horden haben hier schon mehr als nur den Fuß in der Tür. Ausgerechnet hier wollen sie ihren „Deutschen Tag“ begießen. Noch dazu an }enem Abend, an dem auch die „Italienische Nacht“ der Demokraten steigen soll. Besorgt um seinen Schweinebraten-Absatz, gibt der Wirt allen eine Zusage.

Kaum haben die Nazis ihre Krüge geleert, heißt es also hastig die Tischfähnchen auswechseln (schwarzweiß-rot raus, schwarz-rotgold rein) – und schon wiegen sich die Demokraten in der Illusion, es „denen wieder mal gezeigt zu haben“.

Ödön von Horváths „Italienische Nacht“, uraufgeführt 1931, gehört auf die Spielpläne. Marx ohne Freud ging schon damals nicht mehr: Das Stück erhellt die innige Verschränkung von Politik und Privatleben; es spürt im Freizeitbereich politisch bestimmte Strukturen, in der Politik wiederum das Wirken der Sexualtriebe auf, stellt auch noch die Volksfrontidee sowie die Unterdrückung der Frauen zur Diskussion – und bleibt bei all dem unterhaltsam.

In Petra Dannenhöfers Wuppertaler Inszenierung werden die sieben Szenen so statuarisch durchgespielt, als müsse man illustrierend nachstellen, was eigentlich ganz fern ist. Vielleicht gäbe das ein Zeichen für gesellschaftliche Erstarrung, wären da nicht das gefällige Bühnenbild (Alois Galle), in das sich sogar die NS-Embleme eher dekorativ einfügen, und die durchweg etwas brave Spielweise.

Nur in der ersten Szene (da spielen die Republikaner selbstzufrieden Karten – und sitzen im Keller, während droben die Nazis marschieren) wird nennenswerte Bedrohung spürbar. Die Nazis erweisen sich nachher als lächerliche, offenbar gar nicht so gefährliche Hampelmänner, die etwa mit heruntergerutschter Hose dem Kaiserdenkmal einen „deutschen Gruß“ entbieten. So preiswert ist Klamauk zu haben.

Möchtegern-„Führer“ allenthalben, auch auf der Gegenseite. So wollte es wohl auch Horváth. Ob deshalb aber der Proletarier Martin (Gregor Höppner) gleich ein solches Arbeiterdenkmal von anno dazumal abgeben muß? Die Hände stets tief in die Taschen versenkt, nur die Daumen draußen, einwärts zur Körpermitte weisend – wenn das keine sexuelle Nebenbedeutung hat! Dazu, schon glaubhafter, der Stadtrat als protzender Schwächling (Gerd Mayen) und der drauflos philosophierende „Betz“ (Günther Delarue).

Das meiste wirkt auf mich entschärft, geglättet, letzten Endes versöhnlich. Besonders einige Paar-Szenen, über Gebühr ins „Intime“ abgehoben, haben etwas von schmachtender Penetranz.

Von zahlreichen Schlußvarianten hat man diese gewählt: Als Antwort auf die selbstgefällige Behauptung, die Demokratie könne nunmehr wieder „ruhig schlafen“, ertönt ein ironisches „Gut‘ Nacht“! Aber auch das klingt hier, als wolle man den Zuschauern eine gute Heimfahrt und angenehme Bettruhe wünschen.




„Hohn der Angst“: Gag-Potential weidlich ausgeschöpft

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auf die rundum weiß verhangene Bühne wird ein gigantischer Lastwagen (Marke: Fiat) gewuchtet. Das Riesenspielzeug enthält sämtliche Bühnenaufbauten für die kommenden Szenen. So gebiert der Blech-„Bauch“ des Konzerns die ganze Farce.

Um Fiat-Boß Agnelli geht es in Dario Fos „Hohn der Angst“. Scheinbar von Terroristen entführt, ist Agnelli ausgerechnet von einem seiner stramm kommunistischen Arbeiter, Antonio, gerettet und in der Klinik abgeliefert worden. Während Antonio sich aus Angst vor allgemeiner Hatz versteckt, wird das zur Unkenntlichkeit zerschundene Gesicht Agnellis nach dem Paßbild des Arbeiters chirurgisch modelliert. Das Foto steckte in der Jacke, die Antonio ihm vor dem Krankenhaus überwarf. Der Herr als Doppelgänger des Knechts – das Verwechslungsspiel kann beginnen.

In der Wuppertaler Aufführung (Regie: Helmut Palitsch) wird das kaum zu verfehlende Gag-Potential weidlich ausgeschöpft. Das Unterhaltungspensum, kein Zweifel, wird absolviert. Leider nicht immer im wünschenswerten Wahnsinns-Tempo, sondern gelegentlich breit und genüßlich auswalzend. Immerhin gelingen besonders nach der Pause einige Szenen, in denen heller Irrsinn wetterleuchtet.

Auf Sparflamme flackert hingegen das Feuer politischer Provokation. Wir sind eben nicht im Italien des Jahres 1981, als Fos Stück nach dem Mord an Aldo Moro die Gemüter erhitzte. Wir sind auch nicht auf dem Volksfest oder im Kneipensaal, den eigentlichen Orten für Fos dröhnenden Klamauk. Und wer macht sich denn noch, im ordentlich bestuhlten Stadttheater, so viele Illusionen, daß es nötig erscheint, mehrfach die Fiktion des Theaters zu betonen, wie dies hier geschieht (die Souffleuse kräht extra laut das Stichwort heraus, demonstrativ wird aus leerer Flasche eingeschenkt).

Bernd Kuschmann ist letztlich in jeder Rolle jungenhaft sympathisch. So auch hier als Antonio und „Doppelgänger“ Agnelli, die er zu undeutlich voneinander absetzt. Das Ensemble chargiert nach Kräften, die freilich nicht allen in gleichem Maße gegeben sind. Viele Faxen bleiben purer Selbstzweck.




Kultur soll die Städte retten – 28 NRW-Kommunen starteten Kampagne „Kultur 90″ mit Expertenanhörung

Von Bernd Berke

Essen. Die 90er Jahre könnten, wenn nicht rechtzeitig und entschlossen gegengesteuert wird, unerquicklich werden: Immer mehr Technik, immer mehr Umweltgifte, immer mehr Fernsehkanäle – und immer weniger Arbeitsplätze.

Vor diesem düsteren Szenario wollen sich unter anderem jene 28 NRW-Städte zwischen Aachen und Bielefeld retten, die sich gestern bei einem Hearing (Anhörung) auf dem Essener Messegelände von Experten – mehrheitlich Professoren verschiedenster Fachrichtungen – den Ist-Zustand erläutern und Zukunftsperspektiven abstecken ließen.

Die erhofften Retterinnen“ vor den kommenden Übeln sinnentleerter Freizeit und bedenkenlosen Konsums heißen „Kultur“ und „Kreativität“. So firmierte das gestrige Hearing denn auch unter dem Motto „Kultur 90″. Es war der Auftakt zu einer Vielzahl von Veranstaltungen und Aktionen in den beteiligten Städten, von denen man sich eine Beispielsammlung für künftige Kulturarbeit erhofft. 1987 sollen die Ergebnisse der Kultur-Kampagne bei einer weiteren Anhörung in Essen ausgewertet werden.

Die in ihrem Umfang wohl beispiellose (wenn auch bislang zwangsläufig wenig konkretisierte) Unternehmung, die vom in Wuppertal ansässigen Kultursekretariat koordiniert wird, fährt sozusagen zweigleisig: Einerseits soll mit wissenschaftlicher Rückendeckung den kommunalen Entscheidungsträgern die Dringlichkeit höherer Kulturetats vor Augen geführt werden (zum Vergleich: in Frankfurt sind derzeit rund 11 Prozent des Stadtsäckels für Kultur bestimmt, im Revier zwischen 2,8 und 4,6 Prozent).

Neben der finanziellen Ausweitung des Sektors soll überhaupt der ganze Kulturbegriff erweitert werden: Nicht nur „Repräsentations“- und „Alternativ“-Kultur spielen da eine Rolle, sondern es sollen z. B. auch kulturträchtige Aspekte von Umwelt, Spiel, Sport und Gesundheit ebenso einbezogen werden wie Medien, Technik, Wirtschaft(sförderung), Mäzenatentum und Vereinswesen.

Die einzelnen Themen (Muster: „Kultur & Technik“, „Kultur & Jugend“ usw.) wurden mittlerweile auf die Städte verteilt, deren Kulturämter bei der Auswahl mitwir,kten. BeispieIe: In Dortmund soll man sich vorrangig ums Generalthema „Kultur & Alltag“ kümmern, Unna zeichnet für „Kultur & Kleinstadt“ verantwortlich, Hagen widmet sich dem Bereich „Kultur & Spiel, Sport“, Siegen hat sich „Kultur & Freie Gruppen“ ausgesucht, Witten erkundet Zusammenhänge zwischen „Kultur & Gesundheit“, in Köln sollen Wechselwirkungen zwischen „Kultur & Geld“ dingfest gemacht werden, Bochum sondiert unterdessen das verwandte Thema „Kultur & Wirtschaft“.

Einstweilen liegen nur grobe Leitlinien, aber keine detaillierten Pläne für einzelne Veranstaltungen vor, die diesen Erkundungen dienlich sein sollen. Auch die Finanzierung des Großprojekts ist noch nicht ganz geklärt. Ratsentscheidungen in den einzelnen Städten sind abzuwarten. Das Wuppertaler Kultursekretariat wird gewiß sein Scherflein beisteuern, außerdem will man bei bestimmten Themen die einschlägigen Landesministerien ansprechen.

Ein Kraftakt also, von dem man allerdings nur in Umrissen weiß, wie er sich entwickelt. Dr. Karl Richter, Leiter des Kultursekretariats, bemühte denn auch den Begriff der „Utopie“: Man befinde sich nun „im Vorfeld der Möglichkeiten“. Schon jetzt aber müßten die Kommunen begreifen, daß die Kultur „ins Zentrum der Politik rücken“ müsse.