Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Musiktheater zur Shoah: Essener Jüdin steht im Mittelpunkt

Als das Unheil begann, Gestalt anzunehmen, wohnte Perl Margulies in Essen. Mit ihrem Mann Benzion (oder eingedeutscht Benno) führte sie ein Geschäft. Eine ganz normale Hausfrau aus der bürgerlichen Mittelschicht wird 2012 zur Protagonistin einer Oper. „Refidim Junction“ heißt das Werk des Jerusalemer Komponistin Magret Wolf. Uraufgeführt wurde das Musiktheater nun in einer beispielhaften Zusammenarbeit von Musikhochschule und Theater Würzburg. Und die Essener Jüdin spielt darin eine Hauptrolle. Sie war eines von Millionen Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

In „Refidim Junction“ stellt Magret Wolf Briefe zweier jüdischer Frauen gegenüber, der Würzburger Dichterin Marianne Rein und der Essenerin Perl Margulies. Beide werden Opfer der Verfolgung: Die junge Lyrikerin wird 1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert: Sie ist vermutlich verhungert oder erfroren. Perl Margulies taucht in Mannheim bei Verwandten unter, nachdem ihr Mann schon 1933 aus Deutschland geflohen ist. Ein quälendes Jahr lang muss sie auf das Visum warten, das ihr und ihren Kindern die Ausreise nach England ermöglicht. „Wir erreichten London am Sonntag, den 12. Mai 1934“, schreibt Perls Tochter, Alice Shalvi, im Programmheft.

Die Zeit dazwischen spiegelt sich in rund einhundert Briefen, aus denen Magret Wolf für ihre „szenisch-dokumentarischen Aktion“ Zitate ausgewählt hat. Es sind keine Briefe über den Holocaust, aber sie lassen in all ihren alltäglichen Bemerkungen, in den beiläufigen Bemerkungen, aber auch in manch verborgenem, bitterem Sarkasmus das Böse mitschleichen. Die allgegenwärtige Bedrohung, die Verfinsterung der Atmosphäre wird greifbar.

„Wir hatten ein sehr kultiviertes Haus“, erinnert sich Tochter Alice. „Ein Grammophon, Aufnahmen mit Beniamino Gigli, Jan Kiepura, berühmte Kantoren, Oper, Kino, Theater.“ Schon 1932 war der antijüdische Reflex – nicht nur in Essen – greifbar: „Eine Aufführung des ‚Kaufmann von Venedig‘ weckte so viel antisemitisches Gift im Publikum, dass meine Eltern aus Angst aus dem Theater flohen“, berichtet Alice Shalvi. Im Juni 1933 durchsuchte die Gestapo die Essener Wohnung der Familie Margulies – in deren Abwesenheit. Benzion Margulies floh nach London.

Die Mutter versuchte, das Geschäft abzuwickeln, litt unter dem alltäglichen Terror der kleinen Nadelstiche. Als polnische Jüdin – geboren 1893 in Galizien – hatte Perl Margulies bis dahin ein Aufenthaltsrecht. Noch 1933 erfolgte die Ausweisung und der Wettlauf mit der Zeit begann. Die Familie tauchte in Mannheim unter; die Verwandten dort behandeln sie verächtlich; der Schmerz schlägt sich in vielen Berichten über verletzende Äußerungen und abwertendes Verhalten nieder. Für Perl Margulies war die Zeit bis zur Ausreise elend und trostlos, geprägt vom schrecklichen Warten und zehrender Ungewissheit.

Zwei Jahre hat Wolf an ihrer „szenisch-dokumentarischen Aktion“ gearbeitet; der Eindruck der Uraufführung war überwältigend: Das liegt sicher auch am Thema, und zwar jenseits politisch korrekter Betroffenheitskultur. Es liegt aber auch an der fordernden Verbindung einer formal ausgereiften, klangstarken Musik mit einem Libretto, das sich vom Erzählen fernhält, das Dokumente sprechen lässt, das den unbeschreiblichen Terror der eiskalt funktionierenden Nazi-Vernichtungsindustrie aus erheblicher Distanz und gleichzeitig tiefster Betroffenheit künstlerisch gegenwärtig setzt.

Szene aus "Refidim Junction" in Würzburg. Foto: Nico Manger

Szene aus „Refidim Junction“ in Würzburg. Foto: Nico Manger

Das ist ein erhebliches Risiko, denn nach Adornos apodiktischer Verweigerung eines ästhetisch-künstlerischen Zugangs zum Ungeheuerlichen (nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch) hat es lange gedauert, bis sich die Kunst an das Thema wagte. Das Tabu nützte denen, die am liebsten alles vergessen und auf sich beruhen lassen würden: Verfemte Komponisten und Werke etwa blieben weiterhin unaufgeführt. Es half aber auch nicht bei dem, zu dem sich Kunst berufen fühlen kann: das Unsagbare, die tiefste Schicht des Entsetzens, aber auch der Scham, der Schuld, des Versagens zu „verdichten“ und damit, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Zwar schließt die zwangsläufige „Ästhetisierung des Grauens“, die Dramaturg Christoph Blitt zu Recht im Programmheft befürchtet und untersucht, die Gefahr ein, Bosheit, Terror und Leid in ihrer unmittelbaren Wucht zu verkleinern (was im Übrigen schon jede „Erzählung“ tut).

Jedoch ist eine künstlerische Bewältigung in der Lage, dem Unbegreiflichen einen Begriff zu geben und es damit in seiner Tragweite, Komplexität und furchtbaren Unmittelbarkeit gegenwärtig und kommunizierbar zu machen. Und ein Medium wie das Musiktheater, das alle Sinne des Menschen anspricht und seine emotionalen Tiefenschichten erreicht, kann unter Umständen eine tiefere Wirkung erzielen als eine nüchtern-kühle, auf den Verstand zielende, scheinbar objektive Dokumentation.

Magret Wolf hat das Dokumentarische und das Theatralische – sie nennt es „Aktion“ –miteinander verbunden und damit gegenseitig erhöht: Die Briefe der jüdischen Frauen sind private Dokumente, in denen die Schrecken der Zeit meist nur in Andeutungen vorkommen, die sich um Alltag und Familie, um Liebe, Zweifel, Angst und Not drehen. Aber wie in diesen oft einfachen Sätzen das Böse mitschleicht, das der einen der Frauen das Leben, der anderen Heimat und Existenz kostet, ist wegen seiner nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Drohung verstörend.

Wolf zieht in das Stück drei Ebenen ein: Die unmittelbarste ist die der beiden Frauen, verkörpert durch je eine Sängerin und eine Schauspielerin. Katja Beer (Sopran) und Charlotte Sieglin (Sprechrolle) sind Marianne – dunkelblonde, lange Haare, hochgewachsene Figur, vermutlich blaue Augen: das „deutsche Mädel“ des Rassenwahns nicht nur der Nazis. Die Sängerin Judith Beifuß und die Schauspielerin Britta Scheerer übernehmen die Rolle der Perl: dunkelhaarig, braunäugig, weiche Formen.

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als "Perl" in "Refidim Junction". Foto: Nico Manger

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als „Perl“ in „Refidim Junction“. Foto: Nico Manger

Für das Quartett bedeutet der Abend pausenlose Hochkonzentration. Kaum ein Moment bleibt ihnen, aus der Präsenz auf der Spielfläche auszubrechen. Schreien, Flehen, Protestieren; Einsamkeit, Angst, Resignation; verhaltene Nachdenklichkeit, flammende Wut, Verletzung und Sehnsucht nach Nähe: die Gefühlslagen der Briefzitate könnten unterschiedlich nicht sein. Aber selbst in der banalsten Bemerkung – Wollsocken anziehen, Unterwäsche suchen – schwingt die Bedrückung der Zeit mit, wird am einzelnen Schicksal greifbar, was es bedeutete, in dieser Zeit zu den Opfern zu gehören.

Die Ebene, die Menschen zu Opfern macht, ist in einer Video-Installation präsent. Sandra Dehlers Bühne meidet jede Form von plakativer Unmittelbarkeit. Es rollen einfach die Bestimmungen ab, die zwischen 1933 und 1942 erlassen wurden, um den Juden das Leben erst einzuschränken, dann praktisch unmöglich zu machen und schließlich zu nehmen. Es ist zu lesen, wie furchtbares juristisches Handwerk Zug um Zug Willkür in Gesetzesform gießt – bis schließlich die Züge fahren, nach Riga, nach Stutthof, nach Auschwitz und wie die Orte des Grauens alle heißen. Schreiendes Unrecht wird zu positivem Recht formuliert, hinter dem sich die Täter jahrzehntelang verstecken konnten. Die bürokratisch perfekte Machart lässt einen Kloß im Hals wachsen. An alles war gedacht, selbst an die – untersagte – Tätigkeit jüdischer Schaufensterdekorateure.

Mit dieser Ebene korrespondiert, wie eine Reaktion, ein Gebetstext von Rywka Kwiatkowski aus dem Ghetto Łódż: „Ich habe keine Gebete mehr“. Der Chor zieht eine Zwischenebene ein: Er liest die Namen der 202 Würzburger, die auf der Deportationsliste der Gestapo am 27. November 1941 standen. Schicksale werden benannt, Opfer bekommen einen Namen, Marianne und Perl reihen sich ein in ihren unendlichen Zug.

Das Orchester, das Ulrich Pakusch mit souveräner Übersicht leitet, besteht aus Studierenden der Hochschule. Die übliche Besetzung ist angereichert mit achtfach besetzter Perkussion und Harfe. Cembalo und zwei Akkordeone spielen eine charakterisierende, auf die handelnden Personen bezogene Rolle. Magret Wolf, die in Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft studiert hat, verwendet „patterns“, also motivisch-melodische Bausteine, die sich permanent wandeln; eine zunächst repetitiv anmutende Musik, deren klangliche Variabilität und formale Flexibilität schnell einsichtig wird. Das Orchester agiert hinter dem Projektionsvorhang, der zu Beginn des Stücks einen friedlichen Wald zeigt: eine Naturidylle mit dem Hauch eines Friedhofs, trügerisch und unheilkündend.

Die Inszenierung von Kai Christian Moritz – langjähriges Mitglied des Schauspielensembles des Würzburger Mainfrankentheaters – setzt auf die Spannung von strenger, ritualisierter Bewegung und genau beobachtetem, emotional geladenem Spiel. An ihm liegt es nicht, dass vor allem zum Ende des ersten Teils hin die Spannung zur Anspannung wird und zu reißen droht. Der Versuchung, zu viel in das Stück zu packen, ist Magret Wolf nicht entkommen: Der Zuschauer erlebt das Wachsen des Drucks gleichsam körperlich mit. Doch die Gefahr der Überreizung durch das Trommelfeuer der Emotion ist konkret. Es ist auch Moritz‘ Regie zu verdanken, dass es nicht zum Übersprung von extrem herausgeforderter Betroffenheit zu innerlicher Abstumpfung kommt.

Dem Stück wären weitere Aufführungen zu wünschen; das Thema ist auch 67 Jahre nach dem Ende der Shoah bedrückend aktuell. Und Wolfs Musiktheater ist ein Teil der Erinnerungskultur, die dem Vergessen um der Opfer und der Zukunft willen entgegenwirkt.

Perl Margulies hat Essen nicht mehr wiedergesehen. Vermutlich wollte sie das auch nicht mehr. Sie starb am 21. November 1962 in Jerusalem.

Noch zwei Aufführungen sind in Würzburg geplant am 22. und 24. November. Tickets: (0931) 39 08 124.