Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Gewagter Dreiklang: Das Rotterdam Philharmonic Orchestra und Yannick Nézet-Séguin eröffnen die Konzertsaison in Essen

Yannick Nézet-Séguin (l.) und der Pianist Yefim Bronfman. (Foto: Sven Lorenz)

Bemerkenswert früh startet die Philharmonie Essen in die aktuelle Konzertsaison. Noch zeigt das Kalenderblatt nicht September, noch weilt ein Großteil der Mitarbeiter in den Spielzeitferien, da öffnet das Haus bereits seine Pforten, um mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra einen Klangkörper von internationaler Klasse zu präsentieren.

Der Herbst wird weitere illustre Gäste aus dem Ausland bringen: das Mariinsky Orchestra und die St. Petersburger Philharmoniker, das Orchestre des Champs-Elysées, das Mahler Chamber Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra und die Londoner Philharmoniker.

Im Jahr des 100. Geburtstags haben die eingangs erwähnten Musiker aus Rotterdam Grund zu feiern. Andererseits gilt es, Abschied zu nehmen. Das Essener Konzert ist eines der letzten unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin, der das Orchester nach nunmehr zehn Jahren verlässt, um zur New Yorker Met zu wechseln. Sein Nachfolger, der 29-jährige Lahav Shani aus Tel Aviv, wird der bislang jüngste Leiter in der Geschichte des Orchesters.

Yannick Nézet-Séguin dirigiert das Rotterdam Philharmonic Orchestra. (Foto: Sven Lorenz)

Wie ein gewagter Dreiklang scheint die Essener Programmfolge auf den ersten Blick. Haydn, Liszt und Tschaikowsky – kann das denn gut gehen? Muss Joseph Haydns 49. Sinfonie (mit dem Beinamen „La Passione“) nicht erdrückt werden von orchestralen Schlachtrössern wie dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt und der 4. Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky? Droht sie nicht zur bloßen Aufwärmübung zu verkommen, zum kleinen klassischen Pflichtstück vor der großen romantischen Kür?

Gründlich und mühelos beweisen die Gäste aus Rotterdam das Gegenteil. Mit höchster Sorgfalt wird hier musiziert, mit geistsprühender Vehemenz und so feiner Phrasierung, dass Haydns Musik unterhaltsamste rhetorische Qualitäten entfaltet. Der fahle, nahezu ohne Vibrato gestaltete Kopfsatz zeugt von der Kenntnis historischer Aufführungspraxis. Seufzermotive klingen edel, Tonrepetitionen bestechend präzise, das Menuett federnd elegant. Es ist ein Auftakt nach Maß: Mit dieser Haydn-Sinfonie präsentiert sich das Orchester in hervorragender Verfassung und glänzender Spiellaune.

Der Pianist Yefim Bronfman, 1958 in Tashkent geboren, ist heute US-Amerikaner. (Foto: Sven Lorenz)

Aus dem 2. Klavierkonzert von Franz Liszt tönt uns erfrischend wenig Theaterdonner entgegen. Dank Yannick Nézet-Séguin und der Kunst des vorzüglichen Pianisten Yefim Bronfman ist Franz Liszt endlich einmal in kompetenten Händen: Wir hören Opulenz statt Schwulst, Verfeinerung statt Kitsch, Triumphales statt Triviales. Wohl gönnt Bronfman uns donnernde Oktaven, dämonisch grollende Bässe und lichtes Geklingel im Diskant. Aber diese Effekte sind eingebunden in eine sinnstiftende Interpretation, die den oft unterschätzten Komponisten als ebenbürtigen Zeitgenossen von Richard Wagner zeigt. So grüßt aus manch zackig punktiertem Rhythmus, aus mancher schimmernd gebrochenen Akkordfolge die Walküre herüber.

Tschaikowskys 4. Sinfonie klingt unter der Leitung des Frankokanadiers eher französisch-elegant als russisch-rau. Machtvolle Fanfaren im Blech, glutvolle Melodik in den Streichern, fein schwebende Holzbläser-Soli zeigen noch einmal das bestechende Können des Orchesters, das Tschaikowskys Sinfonie frei strömen lässt, statt sie blockhaft darzubieten. Freilich klingt uns auch manch extremes Pianissimo, mancher Knalleffekt im Forte entgegen, während die Höhepunkte zwar sehr klangvoll gestaltet sind, jedoch ohne alarmierende oder bestürzende Dramatik. Aber im Allegro con fuoco gibt der sportlich agierende Nézet-Séguin noch einmal ordentlich Gas – und reißt das Publikum damit prompt von den Sitzen.

(Informationen zum Spielplan: https://www.theater-essen.de/philharmonie/spielplan/)




Stell Dich der Klassik! Die neue Dortmunder Konzerthaus-Saison fordert das Publikum heraus

Stell dich der Klassik (verschoben) 1

Das Nashorn, einst nettes Konzerthaus-Wappentier, will nun gezähmt werden. Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt’s mutig an die Kette. Foto: Konzerthaus Dortmund

Beginnen wir mit dem Nashorn. 2002 wurde es in Dortmunds Kulturleben heimisch, als Wappentier des Konzerthauses. Mit großen Ohren, den gewichtigen Attributen des Hörens, und zwei Flügeln. Ein trotz seiner Masse putziges Maskottchen, das durch Musikgenuss offenbar in der Lage sein soll, sich zu neuen Höhen aufzuschwingen. Bald waren in der Stadt diverse, mehr oder weniger geschmackvoll ausstaffierte Nachbildungen zu entdecken.

Doch nun ist Schluss mit niedlich. Im Internet-Trailer, zur Vorstellung der neuen Konzerthaus-Saison (2014/15), bricht das Urviech durch die Kulisse, wie wild geworden, als wollte es uns das Fürchten lehren. Dann taucht in großen Lettern der Satz auf „Stell Dich der Klassik!“. Und mancher im geneigten Publikum, der seine Stars sehen und sich mit gepflegter Musik unterhalten lassen will, dürfte zurückzucken – welche Herausforderung.

Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa, der nun diese neue, seine zehnte Spielzeit vorgestellt hat, unterfüttert die kantige Aufforderung, Stellung zu beziehen, mit weiteren markigen Worten: „Wir machen ein Programm für die Stadt, wollen das Publikum aber auch fordern.“ Es müsse an die Klassik herangeführt werden, doch gelte es zudem, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Soll heißen: „Diese Musik ist komplex. Manches muss man sich erobern.“

Das ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel im Werben um die Hörer/Zuschauer. Denn das Prinzip, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen (ein so anbiederndes wie törichtes Anliegen), verliert nun seine Gültigkeit. Stampa spricht bewusst von einer Kampagne, die über mehre Jahre laufen soll. Die Vermarktung von Komplexität, das sei schließlich auch für den Veranstalter eine Herausforderung. Doch er gibt sich zuversichtlich: „Wir verkaufen Sinnlichkeit und Anspruch. Eine unschlagbare Kombination in der Welt des schnellen Konsums.“ So jedenfalls wird er zitiert, aus seiner Rede während einer Tagung von Konzerthaus-Intendanten in Heidelberg.

Stampa kann sich diese klaren Worte erlauben. Und dem Publikum ein entsprechend exquisites, facettenreiches, auch schwieriges neues Programm zumuten. Denn das Konzerthaus ist eine Größe im Dortmunder Kulturleben. Die Auslastung kreist seit einigen Jahren konstant um die 72 Prozent, die Abos verkaufen sich außergewöhnlich gut, die Reihe „Junge Wilde“ hat die Nachwuchsnische längst verlassen, ist zum Renner geworden. Stampa sagt: „Wir können es uns inzwischen leisten, Künstler und Programm zusammenzudenken.“ Dass also ein „Star“ lediglich das Programm seiner jüngsten CD abspult, dürfte bestenfalls als Ausnahme durchgehen.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt. Foto: Konzerthaus Dortmund

Vom Allgemeinen zum Konkreten, das viel Besonderes in sich birgt: Die neue Konzerthaus-Saison beginnt am 10. September 2014 mit einem Gastspiel der Staatskapelle Dresden unter dem Dirigat Christian Thielemanns. Gleich hier das erste Ausrufezeichen: Gidon Kremer wird das 2. Violinkonzert der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina spielen, einer Avantgardistin, die sich etwa auf Schostakowitsch oder Alfred Schnittke beruft. Und ausklingen wird der Abend mit Bruckners hymnischer, gottesfürchtiger 9. Symphonie.

Nehmen wir weitere Herausforderungen: Ivan Fischer und das Budapest Festival Orchestra widmen sich der monumentalen Turangalila-Sinfonie des französischen Mystikers Olivier Messiaen. Oder die beiden Zeitinseln: Die erste gilt dem Russen Sergej Prokofjew. Gespielt werden an einem Abend alle fünf (!) Klavierkonzerte, tags darauf die Oper „Die Verlobung im Kloster“ (konzertant), zum Abschluss die mächtige (Film)-Musik „Ivan der Schreckliche“. Um authentische Wiedergabe werden sich Chor, Orchester und Solisten des Mariinsky-Theaters bemühen, allen vorweg Valery Gergiev. Die zweite Zeitinsel wiederum ist dem Jazzposaunisten Nils Landgren gewidmet.

Natürlich wird dem Publikum Mozart, Beethoven oder Brahms nicht vorenthalten. In den Auftritten des dirigierenden Exklusivkünstlers Yannick Nézet-Séguin erklingen etwa Brahms’ 2. Klavierkonzert (Solist: Lars Vogt) oder dessen 3. Symphonie. Andererseits aber wird, mit dem Konzerthaus-Debütanten namens Philadelphia Orchestra, die Geigerin Lisa Batiashvili das erste Violinkonzert von Schostakowitsch interpretieren (Die bekenntnishafte Musik des Russen steht übrigens nicht selten auf dem Spielplan). Und wenn Nézet-Séguin mit Dortmunder Chören Carl Orffs beliebte „Carmina Burana“ realisiert, steht die etwas sperrige Fassung für zwei Klaviere und Schlagwerk auf dem Programm. Zuvor gibt’s die Sonate für zwei Klaviere und Perkussion von Béla Bartók.

Aug' in Aug' mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev.

Aug‘ in Aug‘ mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev. Foto: Konzerthaus Dortmund

Die Linie also ist klar: Das Konzerthaus will sein Publikum fordern, mit Qualität, berühmten Künstlern und vielversprechendem Nachwuchs. Dabei nimmt es den geneigten Hörer so fürsorglich wie wiederum anspruchsvoll unter seine Fittiche. Etwa mit einer neuen Auflage der Vorlesungsreihe des Dortmunder Musikwissenschaftlers Michael Stegemann, die sich ganz Werken des 20. Jahrhunderts zuwenden wird. Auch hier darf  Intendant Benedikt Stampa durchaus zuversichtlich sein: Stegemanns aktuelle Reihe über das Ende der Klassik, die Romantik und die aufkeimende Moderne läuft blendend – der Saal des Orchesterzentrums ist stets proppevoll.

Noch einmal zum Nashorn: Wenn es sich uns also herausfordernd in den Weg stellt, sollten wir ihm die Stirn bieten. Wie das gelingen kann, zeigt die kernige Werbekampagne mit reizenden Bildern. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt den Dickhäuter einfach an die Kette, Dirigent Valery Gergiev zeigt, mit dem Urviech Aug’ in Aug’, keine Furcht, Yannick Nézet-Séguin wiederum setzt sich drauf zum wagemutigen Ritt. Wenn das keine Vorbilder sind!

Das komplette Programm für die Saison 2014/15 findet man unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Benvenuto, Claudio Abbado – die neue Konzerthaus-Saison in Dortmund

Der Dirigent Claudio Abbado kommt nach Dortmund. Foto: Harald Hoffmann/DG

Elf Jahre gibt es nun das Konzerthaus Dortmund, die Philharmonie in Essen feiert 2014 ihr Zehnjähriges. Berühmte Namen und vielversprechende Nachwuchskünstler aus Klassik, Pop, Jazz und Weltmusik haben sich in den beiden großen Musikhäusern des Ruhrgebiets bereits die Klinke in die Hand gegeben. Doch nun ist dem Dortmunder Intendanten Benedikt Stampa für die Saison 2013/14 ein beachtenswerter Coup gelungen: die Verpflichtung des italienischen Dirigenten Claudio Abbado.

Erstmals gastiert der einstige Chef der Berliner Philharmoniker im Revier. Abbado, der nur noch wenige Konzerte gibt, kommt mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO), dessen Gründer er ist. Der Abend soll der Höhepunkt der NRW-weiten MCO-Residenz sein, die 2009 begann. Auf dem Programm am 8. November steht neben anderen Werken Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“. Pikantes Detail: Essen, ebenfalls Residenzstätte des MCO, geht in Sachen Abbado-Auftritt leer aus.

Einmal die großen Namen im Blick, verweist Stampa auf die Dortmunder Debüts der Tenöre Rolando Villazón und Klaus Florian Vogt. Neuer Konzerthaus-Exklusivkünstler für die nächsten drei Jahre ist der junge Dirigent Yannick Nézet-Séguin, erstmals tritt die Geigerin Hilary Hahn auf. Neuer Gast im Klassikkarussell à la Westfalen ist das San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas.

Intendant Benedikt Stampa stapelt, all diese Berühmtheiten im Blick, nicht tief. Es sei vielleicht das beste Programm in der Geschichte des Konzerthauses. Darüber ließe sich trefflich streiten. Eine Zeitinsel, die sich mit überwiegend bekannten Werken Antonin Dvoráks beschäftigt, kann mit den vorherigen „Inseln“ der (klassischen) Moderne, mit Kompositionen von Bartók, Messiaen oder Berg, nur bedingt mithalten. Stampa sagt, bei Dvorák käme es auf neue interpretatorische Sichtweisen an. Doch da Deutung sich bei jedem Werk als spannend erweisen sollte, geht das Argument eher fehl.

Indirekt mag Stampa das ähnlich sehen: Schließlich hat das Konzerthaus ein neues Format ins Leben gerufen, das den Titel „Kopfhörer“ trägt. An Hand von Tonbeispielen präsentiert der Musikwissenschaftler Frank Schneider eine kleine Interpretationskunde. Dvoráks berühmteste Sinfonie, die Nr. 9 („Aus der Neuen Welt“), hat er natürlich auch im Gepäck.

Zu der Reihe gesellt sich im übrigen ein gewichtiges Geschwister in Form einer zehnteiligen Vortragsreihe des Musikprofessors Michael Stegemann. „Von Waterloo bis Sarajewo – ein europäisches Jahrhundert im Spiegel der Musik“ wird dann einmal pro Monat aufgeblättert. Solcherart kernige Geisteskost – Ähnliches serviert, wie berichtet, das Essener Aalto-Theater seinem Publikum – ist Teil einer Vermittlungsoffensive, die Benedikt Stampa offenbar besonders am Herzen liegt.

Für ihn bedeutet der kernige Leitsatz „Musik für alle“ nämlich nicht weniger, als das Publikum generationenübergreifend ans Haus zu binden. Besondere Zielgruppe der neuen Education-Reihen seien dabei die Menschen zwischen 35 und 50 Jahren. Stampa ist offenbar überzeugt davon, dass ein alter Werbespruch, hier leicht abgewandelt, noch immer Gültigkeit besitzt: „Man hört nur, was man weiß“.

Nun, das Anliegen ist hehr, und es wird sich zeigen, wieviel Nachfrage besteht in Sachen musikalischer Weiterbildung. Guten Zulauf hat das Konzerthaus indes schon jetzt. Für diese, noch nicht ganz beendete Saison, rechnet Stampa mit einer Auslastung nahe 72 Prozent – eine Quote, die andere Kulturanbieter in Dortmund gerne hätten.

Alle Informationen zum neuen Programm unter www.konzerthaus-dortmund.de