Zwischen Seelentrost und Menschheitsdämmerung – sechs Bücher über beinahe alles

Hier ein Schwung neuerer Bücher, in aller Kürze vorgestellt. Es muss ja nicht immer ein „Riemen“ (sprich: eine ausufernde Rezension) sein. Auf geht’s:

Lebensgeschichten am Sorgentelefon

Mit dieser Idee lassen sich allerlei Themen und Charaktere recht elegant unter ein Roman-Dach bringen: Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ (Dumont, 206 Seiten, 23 Euro) spielt in der Ausbildungsgruppe für ein Sorgentelefon. Da lernen wir beispielsweise eine Theologie-Studentin und eine Sammlerin von Gegenständen aus der DDR kennen, aber auch einen Mann vom Bau, eine Buchhalterin, einen Radioredakteur im Ruhestand – und eine 80-jährige, die als Ich-Erzählerin fungiert. Nicht ganz zu vergessen die Anruferinnen und Anrufer, die sich ans Sorgentelefon wenden. Mit anderen Worten: Der Roman versammelt etliche Biografien, Wirklichkeiten und Perspektiven, sorgsam arrangiert und entfaltet von der Autorin, die hierzulande schlichtweg zu den Besten gehört. Die Lektüre dürfte auch auf ungeahnte Zusammenhänge der eigenen Lebengeschichte verweisen, sofern Lesende es zu nutzen wissen. Nebenbei gesagt: Speziell in Dortmund erinnert man sich gern an die Zeit, in der Judith Kuckart hier die erste „Stadtbeschreiberin“ gewesen ist. Die Lektüre ihres Romans ist in dieser Hinsicht eine angenehme und bereichernde „Pflicht“.

Die Tiere schlagen zurück

Etwas dürr und eindimensional mutet hingegen die Idee an, die diesem Buch zugrunde liegt: Nadja Niemeyer „Gegenangriff. Ein Pamphlet“ (Diogenes, 172 Seiten, 18 Euro) verdient sich den gattungsbezeichnenden Untertitel redlich. Die Handlung ist in der Zukunft angesiedelt, sie setzt im Jahr 2034 ein. Die Dystopie (wie man derart finster wuchernde Phantasien zu nennen beliebt) geht davon aus, dass die Tierwelt der menschlichen Gattung endgültig überdrüssig geworden ist und den zerstörerischen Homo sapiens vom Erdball tilgen will. Der „Gegenangriff“ gelingt total, und die Tiere können danach endlich im naturgerechten Frieden leben. So einfach ist das also. Von Seite 47 bis 54 werden, Zeile für Zeile, lauter Spezies aufgezählt, die der Mensch ausgerottet hat. Auch sonst ähnelt der arg gedehnt wirkende Text zuweilen eher einem aktivistischen Manifest bzw. einer Chronik der Schrecklichkeiten. Geradezu genüsslich werden die finalen Leiden der Menschheit registriert, es rattert die Mechanik der Vernichtung. Ein zorniges Buch, in dem alles Elend der Welt aus einem Punkt kuriert wird. Die Autorin heißt in Wirklichkeit übrigens anders, sie hat ein Pseudonym gewählt, „um nicht an Debatten teilnehmen zu müssen“. Sagen Sie jetzt nichts.

Musiktheorie auf Gipfel-Niveau

Schwere, kaum auszuschöpfende Kost für musikalische „Normalverbraucher“, wahrscheinlich wertvolle Anregung für Spezialisten: Ludwig Wittgenstein behandelt in den „Betrachtungen zur Musik“ (Bibliothek Suhrkamp, 254 Seiten, 25 Euro) musiktheoretische und kompositorische Fragen auf Gipfel-Niveau. Wohl denen, die da in allen Punkten folgen können! Jedenfalls sollte man sich in den Gefilden der E-Musik bestens auskennen, auch sollte das Partituren-Lesen leicht von der Hand gehen. Die aus dem Nachlass zusammengestellten und nach Themen-Alphabet geordneten Texte (Stichworte z. B.: Gesang, Grammophon, Harmonik, Instrumente, Komponisten, Melodie, Stille, Takt, Thema) sind in Satz und Typographie aufwendig aufbereitet, damit man Wittgensteins Arbeitsweise möglichst gut nachvollziehen kann. Ein Buch, das erstmals in solcher Fülle und Breite einen besonderen Werkaspekt des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erschließt. Die Fachwelt wird’s gewiss zu schätzen wissen.

Ein „Ossi“ in Gelsenkirchen

Der mittlerweile bei manchen nicht mehr so wohlgelittene Richard David Precht (in Sachen Corona und Ukraine nicht so recht im Bilde) erzählte einst seine Kindheit bei linken Eltern unter dem Titel „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Beim 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander taucht der russische Revolutionär abermals imaginär in Nordrhein-Westfalen auf, noch dazu mitten im Revier: „Lenin auf Schalke“ (Penguin Verlag, 188 Seiten, 20 Euro) heißt Sanders Roman. Auch so ein „Gegenangriff“, nein, bedeutend einlässlicher: eine Gegen-Beobachtung. Sonst erkühnt sich meist der Westen, den Osten zu schildern und zu deuten. Hier versucht also ein „Ossi“, sich in Gelsenkirchen, also weit im deutschen Westen, zurechtzufinden, was natürlich nicht ohne Komik abgehen kann. Sogar die legendäre „Zonen-Gabi“ feiert Urständ. Gelsenkirchen liegt in allen Wohlstands-Statistiken weit hinten, auch Schalke 04 ist (zum Zeitpunkt der Romanhandlung) zweitklassig. Der Westen im Zustand des Scheiterns. Alles fast so wie im Osten. Aber auch nur fast. Und doch: Gibt es da nicht gewisse Verbindungslinien? Ein Ruhrgebietsroman aus einer etwas anderen Perspektive. Das war doch mal fällig.

So nah am gelebten Moment

Zeit für die „Wiederentdeckung“ einer modernen Klassikerin: Clarice Lispector (1920-1977) wird mit 30 gesammelten Erzählungen unter dem Titel „Ich und Jimmy“ (Manesse, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, 416 Seiten, 24 Euro) nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Die gebürtige Ukrainerin, Tochter russisch-jüdischer Eltern, flüchtete mit ihrer Familie vor sowjetischen Pogromen über mehrere Stationen nach Brasilien. Ihre Geschichten bewegen sich ungemein nah am gelebten oder auch versäumten Augenblick. Aspekte des Frauenlebens in allen Altersphasen bilden den Themenkreis. Phänomenal etwa, wie Clarice Lispector quälend Unausgesprochenes im Raum stehen und wirken lässt. Eine der allerstärksten Storys heißt „Kostbarkeit“ und folgt auf Schritt und Tritt den täglichen Wegen einer 15-Jährigen, die sich in jeder Sekunde mühsam behaupten muss. Es ist, als werde man beim Lesen tief ins Innere ihrer Angst geführt. Eine Art Gegenstück ist die peinliche familiäre Versammlung zum 89. Geburtstag einer Altvorderen, die all die Nachgeborenen abgründig verachtet. Andere Texte künden von unbändigem Lebensdurst. Ob er jemals gestillt werden kann?

Atemberaubende Balance

Wenn ein Buch von Yasmina Reza erscheint, ist dies eigentlich schon ein „Selbstläufer“. Auch ihr Roman „Serge“ (Hanser, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, 22 Euro) hat es schnell zur Spitze der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Es gibt nur ganz wenige Autorinnen, die die Erinnerungs-Reise einer jüdischen Familie nach Auschwitz in solch einer atemberaubenden, nie und nimmer abstürzenden Balance zwischen Tragik und Komik halten können. Besonders Yasmina Rezas Dialogführung ist immer wieder bewundernswert. Auch im Hinblick auf neueste Ungeheuerlichkeiten bei gewissen Weltkunstschauen erweist sich dieser Roman als höchst wirksames Antidot. Dabei übt die Autorin sogar deutliche Kritik an Gedenkritualen zum Holocaust. Aber auf das „Wie“ kommt es an. Denn wir reden über Literatur, nicht über Polit-Gehampel.




Mitten im Getümmel das zähe Ringen um Worte – Andrea Breth inszeniert Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ in Berlin

Zwei Paare in ihrem alltäglichen Elend: Szene mit (v. li.) Constanze Becker, Nico Holonics, Judith Engel, August Diehl. (Foto: © Bernd Uhlig / Berliner Ensemble)

Das Berliner Ensemble mausert sich zum Wallfahrtsort für alle Fans der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza: Nach den Erfolgsstücken „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ ist jetzt auch „Drei Mal Leben“ im ollen Brecht-Theater angekommen.

Yasmina Reza beherrscht, wie wohl keine andere Gegenwartsautorin, die Kunst, das Schwere federleicht erscheinen zu lassen, die menschlichen Tragödien ins Absurde zu überführen, die unübersichtliche Komplexität des Lebens transparent zu machen. Ihre Stücke sind kuriose Zimmerschlachten, kommunikative Therapiesitzungen für ein Publikum, das auf der Bühne sich selbst erblickt und über seine eigenen Unzulänglichkeiten befreiend lachen kann: Denn die beiden Paare, die in „Drei Mal Leben“ eine Party feiern wollen und dann ihr alltägliches Elend und verlorenen Träume gleich dreimal durchspielen müssen – das sind ja wir alle, die da in den Spiegel schauen und in heiterer Melancholie uns selbst beim Laufen im täglichen Hamsterrad zuschauen.

Sinnsuche im banalen Alltag

Regisseurin Andrea Breth, weniger für absurde Komik als für sensible Psychologie bekannt, führt Rezas Stück an der kurzen Leine. Die Schauspieler dürfen für Momente ihrem Affen Zucker geben und ausgelassen herumblödeln, schreien, saufen, sich an die Wäsche gehen. Doch dann tritt Breth auf die Bremse, legt kleine Kunst-Pausen ein, lässt die Figuren zu Eis erstarren und in sich hineinhorchen. Auf turbulentes Tohuwabohu folgt gähnende Leere, auf zotige Witzelei zähes Ringen um jedes Wort. Die Regisseurin schürft tief und sucht nach philosophischem Sinn, wo eigentlich nur der Wahnsinn des banalen Alltags wütet. Die Inszenierung hat zu wenig Tempo und Esprit, zu wenig Eleganz und Erotik: Es fehlen Zauber und Poesie.

Es geht einfach immer weiter

Die Darsteller finden nur schwer ins Getümmel der Eheschlachten und Machtkämpfe. Am besten gelingt das Judith Engel (Ines): Wie ihre Gesten von Szene zu Szene immer mehr entgleisen, ihre Grimassen immer mehr verrutschen, wie sie lallend komplizierte Dinge mit entwaffnender Naivität auf den Punkt bringt, ist herrlich. August Diehl (Hubert) bleibt immer nur der aasige Zyniker im schnieken Anzug, der sich im Gestus der eitlen Männlichkeit suhlt. Constanze Becker (Sonja) mutiert im Laufe des Abends von der intellektuell und sexuell unterforderten Ehefrau zum lüsternen Vamp. Nico Holonics (Henri) gibt mal den weinerlichen Waschlappen, mal den brüllender Berserker. Doch es hilft nichts. Das Leben geht einfach immer weiter, und morgen ist wieder ein neuer Tag.

Karten unter 030/284 081 55. theaterkasse@berliner-ensemble.de

https://www.berliner-ensemble.de/




So fremd im eigenen Leben – Yasmina Rezas Roman „Babylon“

Manchmal genügt eine kleine Unachtsamkeit, ein Zufall oder ein unbedachtes Wort – und schon lösen sich all unsere Gewissheiten auf, zerbröselt die schöne Fassade des Alltags zu bizarrem Maskenspiel, werden wir heimatlos in unserem eigenen Leben.

Kaum jemand weiß das besser und kann es mit heiterer Melancholie hintergründiger beschreiben als die französische Autorin Yasmina Reza, die international erfolgreiche Theaterstücke („Kunst“, „Drei Mal Leben“, „Der Gott des Gemetzels“) und Prosa („Hammerklavier“, „Im Schlitten Arthur Schopenhauers“, „Glücklich die Glücklichen“) verfasste.

Auch in ihrem neuen Roman „Babylon“ zeigt die Schriftstellerin mit den multikulturellen (jüdischen und iranischen) Wurzeln, dass der Schrecken hinter der nächsten Ecke lauert und die Bedrohung unserer bürgerlichen Idylle allgegenwärtig ist, dass aus geistreichem Geplauder schnell eine böser Beziehungskrieg werden kann, die Wirklichkeit aus löchrigen Erinnerungen besteht und dass vielleicht die Sprache der einzige Ort ist, der uns Heimat, Schutz und Identität gibt.

Sado-Maso und die misslungene Frühlingsparty

Zum Beispiel Elisabeth: Sie ist Anfang 60, arbeitet als Ingenieurin im Patentamt, lebt mit ihrem Gatten ein beschauliches, ruhiges Leben. Ihre Wohnung in Paris ist groß und geschmackvoll möbliert, ihre Ehe ein gut funktionierendes Gebilde ohne Höhen und Tiefen. Doch plötzlich zeigen sich erste feine Risse, drängeln sich unbekannte, geheimnisvolle Bedürfnisse ans Tageslicht. Als ihre Schwester berichtet, dass sie im Internet Männer kennen lernt und sich auf perverse Sado-Maso-Spiele einlässt, wünscht sich auch Elisabeth eine Lederpeitsche.

Um aus dem alltäglichem Einerlei auszubrechen, kommt Elisabeth, die sonst nie Freunde zu sich nach Hause bittet, auf die verwegene Idee, eine Frühlingsparty zu veranstalten und dazu sogar ihren kauzigen Nachbarn Jean-Lino und dessen schrille Gattin Lydie einzuladen. Natürlich besorgt sie zu viele Stühle, Speisen und Getränke, alles wirkt ein bisschen peinlich und verrutscht. Die Gespräche mäandern laut- und lustlos dahin. Fröhliche Frühlingsgefühle wollen nicht aufkommen, auch weil es draußen unerwartet zu schneien beginnt. Dann verheddern sich auch noch Jean-Lino und Lydie in kleine Wortgefechte, streiten über veganes Essen und artgerechte Tierhaltung.

Großer roter Koffer für eine Leiche

Als alles endlich überstanden und Elisabeth schon in ihrem Bett sanft schlummert, klingelt es an der Tür: Jean-Lino hat soeben seine Frau ermordet und bitte Elisabeth um Rat und Hilfe. Soll er sich der Polizei stellen oder lieber die Leiche verschwinden lassen? Elisabeth hat doch diesen riesigen roten Koffer im Keller: Könnte man die Tote nicht vielleicht darin verstauen und wegschaffen?

Was zunächst wie ein absurder Krimi klingt und augenzwinkernd mit Motiven aus Hitchcocks „Immer Ärger mit Harry“ spielt, weitet sich bei Yasmina Reza schnell zu einer garstigen Realsatire über die Unwägbarkeiten des Alltags und den Wahnsinn der Welt. Elisabeth, die Erzählerin dieser leichthändig irrlichternden, mit der Banalität des Bösen jonglierenden Handlungsfäden, spürt deutlich, dass ihr Leben auf der Kippe steht und das Abgleiten in den Abgrund nur einen Augenblick entfernt ist.

Die Echos aus der Kindheit

Immer wieder mischen sich auch Erinnerungen aus der Kindheit in Elisabeths angeschlagene Gemütslage, spürt sie das donnernde Echo ihres strengen, schlagenden Vaters und die Hilflosigkeit ihrer ängstlichen, stillen Mutter, die das drangsalierten Mädchen mit einer Nudelsuppe über die schlimmsten Momente hinweg tröstete.

Das Leben als etwas Fremdes, das Dasein als Exil, das kennt auch Jean-Lino, der zerknirschte Mörder, der sich, während er zusammen mit Elisabeth die tote Lydie in den Koffer quetscht, daran erinnert, wie sein Vater immer wieder dieselben Verse aus dem Buch der Psalmen vorlas: „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“

Ja, das Leben ist eine unablässige Suche nach dem Einssein mit uns selbst, nach einer Heimat, die wir verloren haben, nach der wir ständig Ausschau halten, zum Beispiel in den Büchern von Yasmina Reza, diesen schrecklich humorvollen Weggefährten unserer täglichen ziellosen Odyssee.

Yasmina Reza: „Babylon“. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, München, 224 S., 22 Euro.




Recht viel beachtliches Theater – eine subjektive Bilanz zu den Ruhrfestspielen

Die Ruhrfestspiele neigen sich ihrem Ende entgegen. Isabella Rosselini und die Jungfrau von Orleans werden noch im Großen Haus auftreten, doch die bilanzierende Abschlußpressekonferenz ist bereits angesetzt. Dort wird in Zahlen dargelegt, wie erfolgreich auch in diesem Jahr wieder das Traditionsfestival war – nehmen wir jedenfalls an und behaupten auch nichts anderes. So gilt es nun, die Frage zu stellen: Wie war denn dieses „tête-à-tête“ so? War es überhaupt eins? „Ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“, wie der diesjährige Untertitel der Veranstaltung behauptete?

ICH ICH ICH von Eugène Marin Labiche Premiere am 3. Mai 2015 im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen, Münchner Premiere am 21. Mai 2015 im Residenztheater Mit Markus Hering (Dutrécy), Johannes Zirner (Armand, sein Neffe), Nora Buzalka (Thérèse, seine Nichte), Thomas Gräßle (Aubin, sein Diener), Oliver Nägele (De la Porcheraie, ein Geschäftsfreund), Götz Schulte (Doktor Fourcinier, sein Arzt), Wolfram Rupperti (Fromental, ein Bankier), Thomas Lettow (Georges, Fromentals Sohn), Katharina Pichler (Madame de Verrières, Fromentals verwitwete Tochter) Regie Martin Kušej Bühne Annette Murschetz Kostüme Heide Kastler Musik Bert Wrede Licht Tobias Löffler Dramaturgie Angela Obst v.l.  Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental), Johannes Zirner (Armand)

Türenkomödie vor weißen Stoffbahnen: „Ich ich ich“ von Eugène Marin Labiche mit (v.l.) Katharina Pichler (Madame de Verrières), Thomas Gräßle (Aubin), Nora Buzalka (Thérèse), Markus Hering (Dutrécy), Thomas Lettow (Georges), Wolfram Rupperti (Fromental) und Johannes Zirner (Armand) (Foto: Andreas Pohlmann/Ruhrfestspiele)

Containerbuntes Festspielhaus

Jedenfalls war an Französischem einiges auszumachen im recht opulenten Programm. Das begann schon mit der künstlerischen Ausgestaltung des Festspielhauses durch Daniel Buren, eine hübsche Symbiose aus formalem Minimalismus und Üppigkeit des gestalterischen Eingriffs. Wer weiß, was als nächstes an die Reihe kommt? Der Gasometer in Oberhausen, der Reichstag?

Man muß die Sachen ja nicht unbedingt à la Christo in Stoff packen, man könnte sie auch mit farbigen Flächen restrukturieren. Ist nur so ein Gedanke. Das bunte Festspielhaus war eine gute Idee, hatte bei geringem Betrachtungsabstand die Anmutung eines Containerfrachters, und viele Besucher sind der Ansicht, daß der transparente Glasvorbau des Festspielhauses auch ohne künstlerische Intervention sehr schön ist.

Betuliche Komödie

Mehr als bunte Fassadenkunst interessierte das Kulturvolk natürlich, was hier gespielt wurde. Und sah, beispielsweise, ein Stück von Eugène Labiche unter dem Titel „Ich ich ich“. 1864 war es als „Die Egoisten“ uraufgeführt worden, was auch kein schlechterer Titel gewesen wäre: Eine muntere Türenkomödie in der Regie von Martin Kusej, die weitestgehend ohne Türen auskommen mußte, da sie lange Zeit in einem Halbrund aus Stoff spielte, der sozusagen Türen und Wände ersetzte (Ausstattung: Annette Murschetz). Kann man (frau) machen, allerdings entstand mehrfach der Eindruck, dieses in der Form häufig eher kleine, in Dialogen kammerspielhaft erzählende Stück müsse gegen das große, kalte Bühnenbild anarbeiten und tue sich damit schwer.

Abgesehen davon, kam „Ich ich ich“ sehr brav und betulich daher, man schreit nicht unbedingt nach Fortsetzung. Andererseits jedoch wurde manierlich und humorvoll gespielt, eine nette Komödie, warum auch nicht.

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Gehen, gehen, gehen: Szene aus „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke (Foto: Ene-Liis Semper/Ruhrfestspiele)

Handke-Stück hinterließ starken Eindruck

Ohne Umschweife: Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“, entstanden in einer Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater, war wohl die stärkste Arbeit der diesjährigen Ruhrfestspiele, kongenial in Szene gesetzt von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper, choreographiert von Jüri Nael und von Lars Wittershagen mit einem anmutigen Sound- und Musikteppich unterlegt.

Das Stück aus den 90er Jahren kommt ohne Text aus, es erzählt durch die Menschen, die einen Raum, eine Piazza, einen (französischen?) Boulevard bevölkern, durcheilen, okkupieren. Es bringt Aspekte des Absurden und des Bedrohlichen ein – und ist in seiner genialen sprachlosen Erzählstruktur für manche Menschen offenbar unerträglich. Die Idioten (jawoll: Idioten!) im Publikum, die meinten, das Bühnengeschehen mit ihren dämlichen Kommentaren belegen zu müssen, sollten zu Hause bleiben und Casting-Shows gucken. Ihnen zum Trotz ein toller Theaterabend.

MADAME BOVARY von Albert Ostermaier nach dem Roman von Gustave Flaubert in der Übersetzung von Elisabeth Edl Uraufführung am 21. November 2014 im Marstall Mit Sophie von Kessel (Emma Bovary), René Dumont (Charles Bovary), Gabriele Dossi (Madame Bovary), Thomas Grässle (Monsieur Homais), Alfred Kleinheinz (L'abbé Bournisien), Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Wolfram Rupperti (Monsieur Lheureux), Bijan Zamani (Rodolphe Boulanger) Regie Mateja Koležnik Bühne Henrik Ahr Kostüme Alan Hranitelj Musik Mitja Vrhovnik-Smrekar Licht Uwe Grünewald Choreographie Matija Ferlin Dramaturgie Götz Leineweber v.l. Thomas Lettow (Monsieur Léon Dupuis), Sophie von Kessel (Emma Bovary)

Sophie von Kessel ist die unglückliche Madame Bovary. Hinter ihr: Thomas Lettow als Monsieur Léon (Foto: Thomas Dashuber/Ruhrfestspiele)

Die Seele der Madame Bovary

Nina Hoss, in Yasmina Rezas neuem Stück „Bella Figura“ grandios aufspielend, war die eine; die andere große Blonde des deutschen Theaters, und das darf hier wörtlich genommen werden, ist Sophie von Kessel, die im Kleinen Haus als Madame Bovary den Weg auf die Theaterbühne findet.

Albert Ostermaier hat Gustave Flauberts dicken Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert zu einer dramatischen Fassung verknappt, die viel Nebenhandlung, Zeitgeist und ländliches Lokalkolorit wegläßt und gleich mit dem finalen Bankrott der Frau einsteigt. Bankrott und Gifttod, wollen uns Stück wie Inszenierung (Mateja Koleznik) weismachen, sind so etwas wie der logische Schluß einer Kaskade von desaströsen Handlungen, die darauf gerichtet waren, den zwangsläufigen (Frei-) Tod ein ums andere Mal aufzuschieben. Denn tot ist man – eine Interpretation – zu Lebzeiten schon, wenn man existieren muß wie Madame Bovary.

Allerdings bleibt bei dieser Sicht auf die Dinge die Frage weitgehend unbearbeitet, warum die Bovary so ist, wie sie ist. Dem Roman gelang die Beschreibung dieser unbotmäßigen Figur grandios. Auf der Bühne jedoch ist die Gattin des braven Landarztes Bovary nicht mehr als ein Parasit. Nichts ist hier zu spüren vom Versuch, Verständnis und Empathie für die Seele der Unzufriedenen zu entwickeln, für eine Person, die unter Begrenztheit und Dumpfheit einer kleinbürgerlichen, unfreien Existenz leidet, die sich nach leidenschaftlicher Liebe sehnt, wie sie in diesem Milieu unvorstellbar ist.

Vergnügliche Nashörner, nachdenkliche Yasmina Reza

Über weitere Produktionen der Ruhrfestspiele war in den Revierpassagen schon zu lesen gewesen; über Frank Hoffmanns gleichermaßen gelungene wie vergnügliche Inszenierung von Eugène Ionescos „Nashörnern“ mit Wolfram Koch und Samuel Finzi ebenso wie über „Bella Figura“ von Jasmina Reza. So folgt nun der Versuch eines kleinen, subjektiven Fazits.

Wertschätzung für Texte und Darsteller

Mehr noch als in den Vorjahren waren die Ruhrfestspiele 2015 geprägt von konzentriertem Theaterspiel, von Wertschätzung für Texte und Darsteller. Der unbändige Selbstdarstellungsdrang mancher Regisseure (zumal aus dem Stuttgarter Raum) blieb dem Publikum erspart. Allerdings wirkte die eine oder andere Produktion auch etwas blutarm. Ansichtig der Labiche-Komödie zum Beispiel ertappte man sich schon bei dem Gedanken, wie das alles wohl in einer Inszenierung von Robert Wilson ausgesehen hätte. Wie dem auch sei – es bleibt die Gewißheit, in Recklinghausen in den vergangenen Wochen wieder eine Menge gutes Theater gesehen zu haben, wie man es im Ruhrgebiet in dieser Dichte sonst nicht geboten bekommt.




Wenn alle Fassaden einstürzen: Yasmina Rezas „Bella Figura“ bei den Ruhrfestspielen

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Und wieder hat sie es geschafft, uns mit nur wenigen Sätzen mitten hinein zu werfen in das komische, traurige Drama der Bürgerlichkeit, in unser aller Drama: Yasmina Reza, die meistgespielte lebende Theater-Autorin („Kunst“, „Der Gott des Gemetzels“). Ihr jüngstes Stück „Bella Figura“ schrieb sie für die Berliner Schaubühne und für Regisseur Thomas Ostermeier, der es Mitte Mai am Lehniner Platz uraufführte. Nun folgte die Premiere bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Star-Besetzung.

Yasmina Reza habe den mitleidlos-analytischen Blick einer Insektenforscherin, findet Ostermeier und lässt im Hintergrund wieder und wieder Krabbeltierchen projizieren, im Getümmel und in imposanter Nahaufnahme. Sie tun das Unvermeidliche, folgen ihrem Instinkt und machen sich keine Gedanken über Schein und Sein. Ganz anders das Personal auf der Bühne. Knapp zwei Stunden lang ringen sie darum, „Bella Figura“ zu machen, eine gute Figur – dabei greifen sie immer wieder ins Klo, und zwar nicht nur sprichwörtlich.

Eigentlich sollte es ein romantischer Abend in einem teuren Restaurant werden: Boris (Mark Waschke, der neue Berliner „Tatort“-Kommissar) hat seine langjährige Affäre Andrea (Nina Hoss) eingeladen. Doch der Streit beginnt schon auf dem Parkplatz im Auto, einem französischen Kleinwagen, der real auf Jan Pappelbaums Bühne steht: Andrea findet heraus, dass die Restaurant-Empfehlung von Boris‘ verreister Ehefrau stammt. Als das Paar dann auch noch auf Francoise und Eric trifft, die den Geburtstag seiner leicht dementen Mutter Yvonne feiern wollen, ist das Katastrophen-Setting komplett: Francoise (Stephanie Eidt) ist eine alte Freundin der betrogenen Gattin.

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Anstatt sich schnell aus dem Staub zu machen, drängt die labile, tablettensüchtige Andrea aufs Bleiben. Mehrfach an diesem Abend gäbe es potentielle Wendepunkte, Notausgänge für alle Beteiligten. Aber nein: Unausweichlich steuern die vier auf  den Abgrund zu – Spielfiguren, die im Abwärtstaumel immer neue Schlenker nehmen, sich anziehen und abstoßen, neue Konstellationen bilden – und schließlich erschöpft ganz unten ankommen.

Man geht mit Fischmessern aufeinander los, hat Sex auf dem Klo, vergräbt Essen im Blumenkübel und versucht hilflos, sich die strapaziöse Außenwelt mit Mückenspray von Leib zu halten. Man hat gegenseitig in dunkle Abgründe geblickt und kann nicht viel mehr tun als: weitermachen.

Rezas Konversations-Pingpong funktioniert auch diesmal bestens. Wenige Worte legen Anschauungen bloß, die im Alltag tunlichst übertüncht werden. „Soll ich jetzt den modernen Mann geben und deine ekelhafte Emanzipation feiern?“, fragt Boris, als Andrea ihm von einer anderen Liebschaft berichtet. „Man kann deine Mutter nirgendwo mit hinnehmen, ohne dass es ein Drama gibt“, ätzt Francoise. „Bevor du dich in die Garonne stürzt, mein Schatz, könntest du an deinem letzten Abend Bella Figura machen“, wünscht sich Andrea von ihrem Hass-Liebhaber.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Reza hat mit Andrea eine Borderline-Figur geschaffen, die Nina Hoss bewundernswert meistert. Sie ist das Opfer, die auf Distanz und hingehaltene Affäre. Sie ist Verbal-Täterin, die ihren Lover (passiv-)aggressiv angeht. Sie ist liebende Mutter einer Neunjährigen, mit der sie im Laufe des Abends mehrfach telefoniert, und geduldige Ratgeberin der dementen Yvonne (grandios: Lore Stefanek). Sie ist erotisch, aufreizend, Halt suchend auf ihren 480-Euro-Pumps und den vielen Pillen in ihrer Handtasche, aber absolut zerstörerisch in ihrem Drang, schlafwandlerisch genau das Falsche zu tun. Oder ist es am Ende das einzig Richtige, alle Fassaden zum Einsturz zu bringen?

Das Publikum leidet mit und schämt sich fremd, amüsiert und erkennt sich, ist fasziniert und abgestoßen von dieser Figur, die von ihrer Autorin weder erklärt noch bewertet wird. Ein schillerndes Insekt, das am Ende Schein und Sein wunderbar zusammenfasst: „Man bildet sich ein, die Welt zu erobern, aber man verkümmert an Ort und Stelle.“

Weitere Vorstellungen: 29. Mai (20 Uhr), 30. Mai (17 Uhr), 31. Mai (15 und 20 Uhr). Infos: https://www.ruhrfestspiele.de/de/veranstaltungen/veranstaltung_detail.php?ver_id=529&ort=95

(Der Text erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Yasmina Reza, Piccoli, Binoche, Ute Lemper – Frankreich ist Thema der Ruhrfestspiele

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Michel Piccoli, Jane Birkin und Hervé Pierre (von links) tragen Texte von Serge Gainsbourg vor. (Foto: Ruhrfestspiele/Gilles Vidal)

In diesem Jahr soll es unser westlicher Nachbar sein. „Tête-à-tête – ein dramatisches Rendezvous mit Frankreich“ ist das Programm der Ruhrfestspiele 2015 überschrieben, und natürlich erfolgte die thematische Schwerpunktlegung lange, bevor das Land (und seine Kultur) es zu trauriger Aktualität brachten.

Fast wundert man sich, daß Festival-Chef Frank Hoffmann Frankreichs Kultur erst jetzt so entschlossen ins Rampenlicht des Recklinghäuser Festspielhauses rückt, ist er doch als Luxemburger – mit ganz leichter Andeutung eines französischen Akzents, ähnlich seinem Landsmann Jean-Claude Juncker – der französischen (Bühnen-)Kultur schon traditionell recht nahe.

Nein, man muß man nicht befürchten, daß nun ein Gründeln nach französischer Seele oder Ähnlichem einsetzte, wie überhaupt das in dieser unbedingten Art Grundsätzliche eher wohl eine Spezialität von Frankreichs östlichem Nachbarn, vulgo: uns ist.

Hoffmann greift lieber zum Füllhorn und schüttet französisch Gedichtetes, Gefühltes, Inspiriertes und Gesprochenes über seinem Publikum aus, auf daß Nähe sich auf vielfältige Weise herstelle. Das Konzept ist erprobt und funktionssicher, und ein Theater der radikalen Positionen war Hoffmanns Sache sowieso nie. Allerdings erstaunt bei der Sichtung des wieder einmal höchst umfangreichen Programms ein wenig doch die Beliebigkeit der Auswahl. Aber der Reihe nach.

Ute Lemper for Bauer Verlag/Germany 2013

Ute Lemper hat aus Paulo Coelhos Roman „Die Schriften von Accra“ einen Theaterabend gemacht. (Foto: Ruhrfestspiele/Karen Koehler)

Eugène Labiches Komödie „Moi“ (deutsch: Ich) ist der fulminante Auftakt des Festivals, der Titel wurde, was möglicherweise dem prominenten ersten Platz auf dem Spielplan geschuldet ist, aufgehottet auf „Ich Ich Ich“. Die Inszenierung ist eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Münchener Residenztheater, Regie führt der im Revier bekannte und geschätzte Martin Kusej. Auch unter dem Titel „Die Egoisten“ war das 1864 uraufgeführte Stück schon in den Theaterprogrammen zu finden: Erzählt wird die Geschichte des – eben – habgierigen, egoistischen Monsieur Dutrecy, der hemmungslos trickst und intrigiert und am Ende der Geschichte doch als Verlierer dasteht. Er ist eine, wie das Programmheft nahelegt, typische Figur des Second Empire, der postnapoleonischen Restaurationszeit. Möglicherweise, aber das ist eine spekulative Äußerung, ebnet dieses Stück ein ganz klein bißchen den Weg zu einem besseren Mentalitätsverständnis unserer Nachbarn. Vor allem aber wohl ist es was zum Lachen, was ja auch recht wertvoll ist in zutiefst humorlosen Zeiten wie den unseren.

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Yasmina Reza hat ein neues Stück geschrieben. „Bella Figura“ wird seine Uraufführung bei den Ruhrfestspielen erleben. (Foto: Ruhrfestspiele/Pascal Victor/ArtComArt)

Die zweite große Theaterproduktion des Festivals dürfte Yasmina Rezas neues Stück „Bella Figura“ sein. Reza ist die weltweit wohl erfolgreichste Komödienschreiberin unserer Tage, „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ kennt (behaupte ich einfach mal) jeder Theatergänger.

Auch der Plot des jüngsten Reza-Werks ist auf grandiose Weise wieder angesiedelt auf dem Minenfeld des Alltäglichen: Boris führt seine Geliebte Andrea aus und erwähnt eher aus Gedankenlosigkeit, daß seine Ehefrau das Restaurant für dieses Rendezvous ausgewählt habe; in der Hitze der folgenden Diskussion fährt Boris beim Einparken eine ältere Dame um, und sowieso sind die Grenzen zum final Katastrophalen bald schon überschritten. Wir werden unseren Spaß haben, wenn Yasmina Reza uns den nur geringfügigst deformierenden Zerrspiegel vorhält. Thomas Ostermeier führt Regie in einer Koproduktion mit der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Star des Abends ist fraglos Nina Hoss in der Titelrolle.

Eine weitere Produktion wird groß angekündigt, doch ist sie an zwei Tagen nur dreimal im Programm. Die Bühnenkünstlerin Ute Lemper hat sich das Buch „Die Schriften von Accra“ des Brasilianers Paulo Coelho vorgenommen. Sie habe es, erzählt sie beim Pressetermin, in neun Abteilungen – „9 Geheimnisse“ – aufgeteilt, deren Essenz in Poesie und Musik gefaßt. Schönheit und Harmonie erwarteten nun das Publikum, eine „cinematische Einrichtung“ des Ganzen besorgte Filmregisseur Volker Schlöndorff. Was das Publikum nun genau erwartet, wurde noch nicht recht klar. Zwar fällt es schwer, sich Coelhos komplexe Dichtung in Wohlfühlhäppchen zerlegt vorzustellen, doch wer es genau wissen will, muß eben in die Vorstellung gehen.

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Wolfram Koch in Eugène Ionescos Stück „Die Nashörner“, das Ruhrfestspiele-Hausherr Frank Hoffmann inszeniert. (Foto: Ruhrfestspiele/Bohumil Kosthoryz)

Hausherr Hoffmann inszeniert im Großen Haus Ionescos „Nashörner“, Michael Thalheimer, in Kooperation mit dem Deutschen Theater in Berlin und den Salzburger Festspielen, Schillers „Jungfrau von Orleans“, die bekanntlich in Frankreich wirkte und dort auf einem Scheiterhaufen ihr Leben ließ. Hannelore Elsner liest aus Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Isabella Rosselini ist zweimal mit ihrer vergnüglichen, wenn auch nicht mehr ganz neuen Fortpflanzungsshow „Green Porno“ zu Gast. Liebhaber der Texte von Serge Gainsbourg markieren schon jetzt den 31. Mai, wenn Michel Piccoli (85 Jahre ist er mittlerweile alt!), Jane Birkin und Hervé Pierre Texte von ihm lesen. Musik, Tanz, einige Lesungen und, warum auch immer, etliche Termine mit Peter Handkes 1992 in Wien uraufgeführtem, weitgehend textfreiem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ runden das Programmgeschehen auf der Hauptbühne ab.

Etliche kleinere Produktionen sowie Uraufführungen sind wieder im Kleinen Haus, im Theater Marl und in der Halle König Ludwig zu finden – so in deutscher Erstaufführung und in Regie von Oliver Reese Joel Pommerats Beziehungsdrama „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“. Corinna Kirchhoff und Peter Schröder spielen die Hauptrollen – und mit Korea hat das Stück eigentlich nichts zu tun.

Hier ein bißchen Jules Verne, da eine in Kooperation mit der Woche des Sports produzierte „Slapstick Sonata“, dort einige Produktionen des Hamburger St. Pauli-Theaters mit seinem umtriebigen Chef Ulrich Waller – einmal mehr ist das 2015er Programm der Ruhrfestspiele der sattsam bekannte Theater-Bauchladen, der für jeden Geschmack etliches bietet, aber auch die Aura des Beliebigen verströmt. Hier verwundert es daher auch nicht, daß Claus Peymann und sein getreuer Dramaturg Hermann Beil mit der Jahrzehnte alten Burgtheater-Produktion Thomas Bernhards „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ zu Gast sind.

Allerdings scheint der Anteil fremdsprachiger Produktionen 2015 höher zu sein, wenngleich es sie in den Vorjahren auch immer gab. Hier boten sich wohl besonders interessante Koproduktionen, etwa mit dem Festival in Avignon, an. In einer mit Barbican London und Les théâtres de la ville, Luxembourg, koproduzierten „Antigone“ ist Juliette Binoche Englisch sprechend zu erleben, Molières „Eingebildeten Kranken“ gibt es, wenngleich mit deutschen Untertiteln, nur auf französisch. Die Boulevardkomödie „Wind in den Pappeln“ von Gérald Sibleyras gar spielt das Vakhtangov-Staatstheater aus Moskau in Russisch. Nun gut, man erinnert sich, daß die Ruhrfestspiele ja ein internationales Festival sein möchten.

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So sieht es aus, wenn Russen französische Komödie spielen:
Vladimir Simonov, Maxim Sukhanov und Vladadimir Vdovichenkov in Gérald Sibleyras‘ „Wind in den Pappeln“. (Foto: Ruhrfestspiele/Vakthangov-Staatstheater Moskau)

Zahlreich sind die literarischen Lesungen im Programm, das freche Fringe-Festival lockt (nicht nur) Kinder und Jugendliche mit internationalem, kurzweiligem und manchmal atemberaubendem Straßentheater. Dominique Horwitz singt Jacques Brel, Burghart Klaußner Charles Trenet („La mer“). Und am Schluß singt Roger Cicero. Auf der so genannten Comedy-Schiene wird alles aufgeboten, was in Deutschland Rang und Namen hat, Hennes Bender und Max Goldt in trauter Nachbarschaft, und Jochen Malmsheimer ist natürlich auch dabei.

Und wer alles noch genauer wissen will, muß ins Internet gehen: www.ruhrfestspiele.de

 

 




„Der Gott des Gemetzels“: Pas de quatre im offenen Labor

Es gibt allerlei Gründe, ins Theater zu gehen, immer noch. Gott sei Dank, welchem auch immer! Man möchte bekannter Literatur nachspüren, man liebt das Spiel der Schauspieler oder will einen oder eine bestimmte sehen, egal in welchem Stück. Man hat das Gefühl, man müsse was über die Menschen erfahren oder über sich oder seine Partner, man ist mit jemandem auf oder hinter der Bühne verwandt oder hat ein Abonnement.

Im heutigen Fall bittet „Der Gott des Gemetzels“ zur Aufführung in das Dortmunder Schauspiel. Ihm ist also zu danken, dass wir uns ansehen und anhören, wie wir uns gegenseitig verbal metzeln. Die 1959 in Paris geborene Autorin des Stückes, Yasmina Reza, berühmt geworden durch das Stück „Kunst“, weist darauf hin, man möge keinen Realismus verwenden. „Pas du realisme“ heißt es also auf dem T-Shirt des einen Hauptdarstellers in Dortmund, Axel Holst. „Pas du tout“ (überhaupt nicht) füge ich hinzu.

Streit-Schlichtung ohne Gemetzel (Foto:Birgit Hupfeld)

Was macht man also als Regisseur (in diesem Fall: Marcus Lobbes)? Wie sieht Realismus auf der Bühne aus, wenn man diesen vermeiden will oder soll? Zwei Ehepaare streiten
sich. Anlass sind ihre nicht anwesenden Kinder, die einen handfesten Streit hatten. Also: ein verfremdetes Wohnzimmer, eine Wohnung auf einer Schräge mit fliegenden Tassen? Lobbes (Jahrgang 1966) entscheidet sich, zusammen mit Ausstatter Christoph Ernst, für die totale Verfremdung und lässt die Protagonisten auf weißen Stufen agieren, links und rechts flankiert durch übergroße Plüschtiere (Hase und Bär). Es könnte der Eingang zu einem „Museum für triviale Angelegenheiten“ sein. Desweiteren: Styropor, hängende Gärten aus Klopapier, von einer Art Maibaum herabbaumelnd, c’est tout. Weiter entscheidet sich die Regie dafür, die Männer in Röcken und mit Pumps umherlaufen zu lassen. Die Damen (Eva Verena Müller, Friederieke Tiefenbacher) tragen Dreiviertelhosen. Man wickelt sich in weiße Tücher, verklebt sich mit Gaffa-Tape, stolpert, posiert,  Alain (Ekkehard Freye) telefoniert, ohne zu telefonieren. Wenn all das zusammen keine Verfremdung ist, was dann? Regieanweisung also exekutiert.

Die Realität ist eine misslungene Verfremdung

Im Publikum wie auf der Bühne ist es neonhell. Man sieht sich, aber man kommt sich nicht näher. Die Vorlage erlaubt Tiefe und menschliche Begegnung mit sich und der Gesellschaft. Es geht uns also was an und spielt im Hier und Heute der westlichen Welt. Man sitzt aber vor der weißen Welt der Verfremdung und versucht, mitzuhalten. Die Schauspieler spielen sich teils die Seele aus dem Leib. Axel Holst wuchtet die Figur des Gastgebers ohne Peinlichkeiten, die dem Kostüm geschuldet wären, in spielerische Höhen. Wir – die Betrachter – geben uns dem hin und sitzen dennoch unbeschadet bis zum Ende in den Reihen. Der Gott des Gemetzels war milde und hat sich mit Gaffa-Tapes und Klopapier zufrieden gegeben. In einer Inszenierung im realistischen Stil würden wir uns den Tränen erwehren müssen oder kopfschüttelnd das Leben geißeln, das die Kreatur mit selbstzerstörerischen Füßen tritt – ohne Pumps.