Mit Brahms in den Kosmos der Liebe: Magdalena Kožená in der Philharmonie Essen

Die Liebe, die von Johannes Brahms besungen wird, ist selten so jauchzend-berauscht wie in „Meine Liebe ist grün“. Oft hängt sie einer still schmerzlichen Sehnsucht nach, beschwört verzweifelt Festigkeit und Ewigkeit, schwimmt ratlos in Tränen. Wer also Brahms‘ Liebeslieder singt, wird sich dieser Ambivalenz stellen müssen – im Wort und im Klang der Stimme.

Magdalena Kožená hat für ihren Liederabend in der Essener Philharmonie vierzehn der gewichtigen Miniaturen zusammengestellt, die ein Spektrum der Liebe auffächern – Widerhall des Schwärmens in der Natur („Nachtigall“), resignierte Trostlosigkeit („Verzagen“), Ahnungsvolles und Geisterhaftes („Meerfahrt“), Sehnsuchtsvolles und auch ein wenig Schnippisches („Vergebliches Ständchen“). Diesen Kosmos durchschreitet sie mit kühlem Ton. Sie spielt kaum mit dem Wort, meidet es, Schlüsselbegriffe tonmalerisch hervorzuheben, trägt lyrische Farben nur sehr verhalten auf.

Aber sie spielt die Vorzüge ihres Mezzo aus, der von Natur aus nicht für Glut und Farbe zu haben ist, wohl aber in der Dynamik sich wandlungsfähig und flexibel erweist. Verhalten schimmerndes Piano führt über leider manchmal matte Zwischenstufen zu einer konzentriert fokussierten, aber nicht immer frei strömenden vollen Stimme.

Kožená trifft in Joseph von Eichendorffs „Anklänge“ den ruhig enthobenen Ton, korrespondiert auch in „Der Schmied“ (Ludwig Uhland) mit dem Klavier im malerischen Rhythmus. Aber ob das „Vergebliche Ständchen“ nur neckisch oder eigentlich grausam ist, vermag sie nicht zu klären. Dazu bleiben die Stimmfarben zu neutral. In „Von ewiger Liebe“ fehlt der selbstbewussten Zuversicht des Mägdeleins die Spur eines Beharrens, das der unterbewusst mitschwingenden Gefährdung die trotziges Behauptung der Liebe entgegensetzt: So dürfte „Unsere Liebe muss ewig bestehn!“ nicht nur schwärmerisch, sondern auch eine Spur verunsichert klingen.

Viel beredter gelingen Magdalena Kožená die „Kinderstuben“-Lieder Modest Mussorgskys, die gleich nach der Uraufführung 1960 verbotenen fünf Satiren op. 109 Dmitri Schostakowitschs und die veredelte Folklore der „Dorfszenen“ Béla Bartóks. Die kindlichen Dialoge mit der „Njanjuschka“ verniedlicht sie nicht, aber gibt ihnen einen charakteristischen Tonfall – ob es das weinerliche, verschmitzt argumentierende Kind oder die zeternde Njanja („V uglu“), das Entsetzen über den großen Käfer oder das vielsagend artikulierte Abendgebet ist. Auch bei Schostakowitsch spürt man den überlegten Umgang mit dem Wort, die Ironie („Kreutzer-Sonate“) und den augenzwinkernden Abstand zwischen Fiktion und Realität, der zu einer komischen Katastrophe führt („Missverständnis“).

Koženás Klavierpartner Yefim Bronfman lässt in nahezu jedem Moment spüren, wie tief er in die Musik eintaucht: Bei Brahms bringt er die Farben zum Leuchten, die man bei der Sängerin vermisst. So erzählen die letzten Töne von „Nachtigall“ von anklingender Wehmut, legt das dunkle Register in „Von ewiger Liebe“ einen Schleier des Zweifels aus, beschwört das Klavier das Visionäre in der „Meerfahrt“.

Mussorgsky beleuchtet Bronfman delikat und idiomatisch vielfältig. Bartóks kunstvolle Begleitungen spielt er, als seien sie selbständige Klavierstücke. Doch da liegt auch ein Problem: In den Brahms-Liedern konzentriert sich Bronfman bisweilen zu selbstverliebt auf seinen Part und vergisst, mit der Sängerin zu atmen. Bei Schostakowitsch trifft er sich mit Kožená kongenial beim Ausleuchten des Hintersinns, und in Béla Bartóks holt er frisch und farbenverliebt die berückenden Melodien aus der Folkloristik in den Himmel großer Kunst. Wenn’s so weitergeht, verspricht die Kammermusik in der anbrechenden Saison der Philharmonie noch viele anregende Abende.

Am 10. September erscheint beim Label Pentatone eine CD mit Liedern von Brahms, Mussorgsky und Bartók mit Magdalena Kožená und Yefim Bronfman. Das Album ist auch über Streamingdienste abrufbar.




Jugendjahre eines Genies: Yefim Bronfman spielt das frühe Klavierwerk von Prokofjew

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Es gibt Konzerte, die längst begonnen haben, bevor auch nur der erste Ton erklingt. Der Blick auf das angekündigte Programm lässt stutzen. Wie in aller Welt passen Werke von Sergej Prokofjew und Robert Schumann zueinander?

Was hat das russische „Enfant terrible“ mit dem zentralen Exponenten der deutschen Romantik zu tun? Was mag dabei herauskommen, wenn ein Pianist sich anschickt, Klavierwerke dieser scheinbar grundverschiedenen Komponisten miteinander zu verschränken?

Yefim Bronfman gibt uns die Antwort. Der amerikanisch-israelische Pianist, 1958 in Usbekistans Hauptstadt Taschkent geboren, beglückt uns im Konzerthaus Dortmund mit einem jener Recitals, aus denen man klüger wieder herauskommt, als man hineingegangen ist. Denn wer Prokofjew vor allem als kühnen Avantgardisten sieht, der die romantische Tonwelt von Rachmaninow und Rimski-Korsakow mit anarchischem Schwung vom Tisch fegte, erlebt an diesem Abend sein blaues Wunder.

Schon der Beginn ist beinahe ein Schock. Prokofjews 1. Klaviersonate klingt uns so verblüffend schumanesk entgegen, dass wir uns die Ohren reiben möchten. So leidenschaftlich trumpft das Werk des 16-Jährigen auf, so vollgriffig sind die Akkorde und so leuchtend die Momente der Poesie, als habe der Mann aus Zwickau Prokofjew bei der Niederschrift über die Schulter gesehen.

Wie das junge Genie sich allmählich von diesen Traditionslinien löst, wie er bis zu den mit 26 Jahren komponierten Klaviersonaten Nummer 3 und 4 zu seiner eigenen Tonsprache findet, führt Bronfman im Konzerthaus Dortmund mit einer Spielfreude vor, die ein formidables kleines Prokofjew-Feuerwerk zündet.

Wie nebenbei bestätigt Bronfman, welche Spitzenposition er in der internationalen Pianisten-Elite einnimmt. Sein kraftvoller Klang erreicht imperiales Format, ohne je künstlich aufgedonnert zu wirken.

Fingerfertigkeit ist bei diesem Pianisten reine Nebensache. Ihm geht es um die Aussage, um den Kern der Musik, mag sie nun feurig vorwärts stürmen wie im Kopfsatz der 3. Sonate (Allegro tempestoso) oder von existenzieller Einsamkeit sprechen wie der langsame Satz der 4. Sonate (Andante assai). Da steigen Klänge aus dem Konzertflügel wie fahler Dunst. Darunter liegt Grabestiefe. Düsteres Klopfen, zwielichtes Schillern, dann wieder unerwartet grelle Schlaglichter: Bronfman ist ein Magier, der uns bannt und schaudern lässt, der den chamäleongleichen Wendungen von Prokofjews Tonsprache mit größter Hingabe folgt.

In Robert Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ erkennen wir den stürmischen Gestus wieder, den Prokofjew später zu rhythmischem Drive, ja bohrender Motorik weiterentwickeln wird. Ein Ereignis ist auch Bronfmans Interpretation von Schumanns „Arabeske“ op. 18, die bei ihm nicht harmlos vor sich hin plaudert, sondern wie ein leises, ernstes Selbstgespräch tönt. Es muss ein Dichter sein wie aus den „Kinderszenen“, der da spricht.

Gipfelpunkt und Abschluss des Abends ist Prokofjews 2. Klaviersonate op. 14, in der die brachiale Kraft und die diabolischen Elemente anklingen, wie wir sie vom Komponisten der so genannten „Kriegssonaten“ kennen. Was wie ein harmonisch erweiterter Schumann beginnt, wühlt und bohrt sich voran, bis eine expressionistische Kantigkeit erreicht ist.

Aber bei aller wirbelnden Virtuosität ist es auch hier der langsame Satz, mit dem Yefim Bronfman nach den Sternen greift. Weltabgewandt ist diese Musik, hoffnungslos verloren, und der Künstler nimmt uns mit in diese Landschaft, die nach kahlen Tannen auf dunklem Felsengrund klingt, nach einer stillen, erstorbenen Welt im Schneegestöber. Verführerisch ist das und unvergesslich. Tosender Beifall von einem Publikum, das über weite Strecken bemerkenswert konzentriert gelauscht hat.

(Die Website des Künstlers informiert u.a. über Konzerttermine und Diskographie: http://www.yefimbronfman.com)