Bereichernder Abend: Werke der Komponistin Lili Boulanger bei der Ruhrtriennale in Gladbeck

Die Bochumer Symphoniker mit Florian Helgath (Mitte) am Pult nach dem Konzert in der Maschinenhalle Zweckel. (Foto: Werner Häußner)

Wie war das mit komponierenden Frauen? Die Klagen über die Abwesenheit ihrer Werke klingen schon seit Jahren durch die gendersensiblen Räume, aber die Programme der etablierten Sinfonieorchester öffnen sich viel zu zaghaft, selbst wenn dirigierende Frauen am Pult walten – von den Opernhäusern ganz zu schweigen.

Dass ein beliebtes Argument, es gebe eben nicht ausreichend qualitätvolle Werke, so nicht gilt, demonstrierte ein Konzert der Ruhrtriennale in der weiträumigen Maschinenhalle der schon 1963 stillgelegten Zeche Zweckel in Gladbeck.

In dem seit 1988 denkmalgeschützten Industriebau mit seinen ungewöhnlich sorgfältig ausgeführten Baudetails – erwähnenswert ist zum Beispiel eine elegante eiserne Jugendstiltreppe – gestalteten das Chorwerk Ruhr und die Bochumer Symphoniker drei Konzerte mit einem Programm, das mit geistlicher Musik von Lili Boulanger überraschte. Das Motto „Schwerkraft und Gnade“ stammt aus einer 1948 erschienenen Textsammlung der Philosophin Simone Weil. Sie verwendet die beiden Begriffe als Metaphern: Die Schwere zwinge den Menschen in seinem Tun in eine ständige Abwärtsspirale, gegen die nur die Gnade das Licht der Erkenntnis und Hoffnung setzen könne.

Lili Boulanger auf einem Foto von 1912.

Lili Boulanger ist die jüngere Schwester der als Komponistin wie als Pädagogin bekannt gewordenen, 1979 mit 92 Jahren gestorbenen Nadia Boulanger. Lili war kein langes Wirken vergönnt. 1893 geboren, starb sie bereits mit 24 Jahren 1918 an Tuberkulose. In den elf Jahren, die ihr zum Komponieren vergönnt waren, gewann sie nicht nur als erste Frau 19jährig den Prix de Rome, sondern vollendete auch rund 50 Werke – die letzten diktierte sie ihrer Schwester Nadia, da sie selbst zu schwach zum Schreiben war.

Die beiden großen Vertonungen der Psalmen 129 und 130 entstanden mitten im Ersten Weltkrieg und wurden erst 1921 uraufgeführt. Es sind Klagelieder von tiefem Ernst, aber geprägt von Hoffnung und Zuversicht. Am deutlichsten jedoch formuliert ein altes buddhistisches Gebet – „vieille prière bouddhique“ – die Hoffnung auf Erlösung: „Möge alles, was atmet … den Schmerz überwindend und Glückseligkeit erlangend, sich frei bewegen, ein jeder auf dem Weg, der ihm bestimmt ist“, heißt es in jeder der vier Strophen.

Boulanger öffnet einen universal gedachten Raum in ihrer Musik, wenn sie die Spannung zwischen der Tiefe und der Höhe im Tonraum, im Timbre der Instrumente und in den Chorstimmen weit aufspreizt, den Grundton einer erhabenen Lyrik jedoch erst mit einer gewaltigen Fortissimo-Steigerung am Ende verlässt. Eröffnet wird diese Entwicklung in der dritten Strophe, die Timo Schabel ins blitzende Licht seines Tenors rückt.

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck. (Foto: Werner Häußner)

Beim Chorwerk Ruhr unter seinem Leiter Florian Helgath begeistern ein weiteres Mal der reine und wandlungsfähige Klang, die sensible Artikulation, die freien, in der Höhe wie im Piano unverfärbten Frauenstimmen. Der Chor hat keine Probleme mit der tonalen, aber herb aufgerauten Harmonik Boulangers; er hält im Forte problemlos den Bläsern der Bochumer Symphoniker stand; er formuliert die dramatische Klage im Psalm 129 ebenso überzeugend wie die komplexen Klangmischungen des Psalms 130 und die ätherischen Vokalisen der hohen Stimmen im prière bouddhique.

Florian Helgath. (Foto: Ruhrtriennale/Christian Palm)

Die Bochumer Symphoniker werden in allen Gruppen erheblich gefordert; Lili Boulanger legt das harmonisch avantgardistische Geschehen ins Orchester und fordert, ob in dunklen Pianissimo-Clustern oder in wuchtigem Blech, in gläsern reibenden Streicherharmonien oder in fahlen Farben der Holzbläser, spieltechnisch Außerordentliches. Dies gilt auch für Francis Poulencs „Stabat Mater“, das wie zwei schlichte a-cappella-Kompositionen Igor Strawinskys – „Ave Maria“ und „Pater Noster“ – zwischen den Stücken Boulangers deren Modernität bestätigt. Die Bochumer und das Chorwerk Ruhr lassen die typischen, samtenen Disharmonien hören, die an Poulencs „Dialogues des Carmélites“ erinnern, setzen kräftige Akzente und gestalten die Betrachtung der schmerzhaften Mutter Gottes mit angemessener Dramatik. Ein durch und durch bereichernder Abend.




Von Fledermäusen und Menschen: „Die Franzosen“ nach Proust auf der Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Ein letztes Mal blendet das Licht, das durch die alten Fabrikfenster hereinscheint, grell die Augen. Dann senkt sich die Dämmerung über die Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort von Krzysztof Warlikowskis „Die Franzosen“ nach Marcel Proust bei der diesjährigen Ruhrtriennale.

Nun übernehmen die Nachttiere die Herrschaft über den Raum. Ein flinker Schwarm Fledermäuse durchflattert eine Szenerie, in der sich der Abgesang auf ein dekadentes Europa in nahezu fünfstündiger Spieldauer entfaltet. Nun, Europa ist ja auch sehr alt, so braucht ebenfalls sein Niedergang einige Zeit; Zeit, bis die materiellen, seelischen, psychologischen, politischen und gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse greifen und ihr Gift entfalten.

Die kleinen Vampire und unfreiwilligen Mitspieler kümmert dies indes nicht, sie haben auch kein Sprachproblem: Die polnische Aufführung ist zwar deutsch und englisch übertitelt, doch in dialogreichen Szenen werden hohe Anforderungen an die Lesegeschwindigkeit der Zuschauer gestellt, wenn sie gleichzeitig die Aktionen der Schauspieler mitverfolgen möchten. Doch wer sagt, dass Proust einfach sein sollte? Dazu ist sein Werk schlicht zu komplex und fordert, dass man sich darauf einlässt, sonst hat man nichts davon.

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Warlikowski hat denn auch einige Themen aus dem vielschichtigen Romanzyklus stärker gewichtet und sich auf diese konzentriert: Die Dreyfus-Affäre und der damit zusammenhängende Antisemitismus nehmen reichlich Platz ein, zumal diese Fragen heute unter anderen Vorzeichen wieder virulent sind. Auch das Thema Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft beschäftigt die Inszenierung.

Nicht zuletzt blicken wir auf die Nachtseite der menschlichen Begierden, seien sie auf Männer oder Frauen gerichtet, und die Gewalt, die dies zwischen Menschen erzeugt. Tatsächlich wird hier in mancher Szene, beispielsweise zwischen Swann (Mariusz Bonaszewski) und Odette (Maja Ostaszewska), statt mit Prousts psychologischem Florett mit gröberen Waffen gekämpft und handgreiflich gerungen, wenn es um Eifersucht geht.

Die Lebedame ist nicht mehr in Musselinstoff gehüllt, sondern trägt rote Dessous und Stöckelschuhe und Oriane de Guermantes (Magdalena Cielecka), die vornehmste aller adeligen Damen, sieht mit Designer-Mini, blondiertem Haar und High-Heels eher nach rotem Promi-Teppich mit einem Schuss ins Gewöhnliche aus, denn nach wahrer Aristokratie. Aber wo sind sie überhaupt geblieben, die Aristokraten? Aus Baron de Charlus (Jacek Poniedzialek) wird im Laufe des Stücks eine Art Karl Lagerfeld-Verschnitt, mehr haben wir Heutigen nicht mehr aufzubieten. Wenn das schon der Gipfel der europäischen Kultur und Lebensart sein soll…

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Foto: Tal Bitton/Ruhrtriennale

Deswegen tickt denn auch überm Bartresen, der die ganze Länge der Bühne einnimmt, unweigerlich die Uhr und der Geiger Morel (Piotr Polak) ist ganz profan zum DJ geworden. Die Aristokratie sitzt derweil in einer Art gläsernem Salonwagen wie in einer Zeitkapsel und ergeht sich in Klatschgeschichten.

Merkt denn keiner, dass draußen schon der Erste Weltkrieg heraufdämmert? Seine Auswirkungen muten dann eher an wie die der Tschernobyl-Katastrophe und der Berserker im Ganzkörper-Schutzanzug fegt den letzten Rest edles Porzellan mit einem Wisch vom Tisch. Da kann auch Phädra (Agata Buzek) nicht mehr helfen, die, wie um einen Rest klassische Bildung hochzuhalten, verzweifelt ihre Rolle deklamiert. Einst spielte Rachel diese Glanzrolle, die Geliebte Saint-Loups (Maciej Stuhr), der dann aber Gilberte, die Tochter von Odette und Swann heiratete…aber, ach, was, wer kennt noch diese alten Geschichten und diese längst vergessenen Leute? Selbst die Fledermäuse nicht und wenn, dann könnten sie es uns nicht erzählen, denn sie funken auf einer ganz anderen Frequenz als wir, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, diese feinen Töne in lärmenden Zeiten…

Karten und Termine:
www.ruhrtriennale.de