Der Schmerz nach dem Terror hört niemals auf – Zeruya Shalevs erschütternder neuer Roman

Iris steht als Schulleiterin mit beiden Beinen im Leben. Sie ist eine selbstbewusste Frau, hat zwei Kinder großgezogen, und in einer eher freudlosen Ehe erträgt sie die Macken und Marotten ihres Ehemanns mit stoischem Gleichmut.

Doch hinter der Fassade lauern lange verdrängte Verletzungen und kaum erträgliche Schmerzen, deren Ursachen weit in der Vergangenheit liegen: Vor 30 Jahren, da war Iris fast noch ein Kind, hat Eitan, ihre erste große Liebe, sie von einem auf den anderen Tag verlassen. Und vor 10 Jahren wurde Iris Opfer einer Terror-Attacke, als ein Selbstmord-Attentäter sich mitten in Jerusalem in die Luft sprengte.

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Nur knapp hat Iris dieses fürchterliche Inferno aus abgetrennten Gliedmaßen und Blutlachen überlebt. Bis heute wird sie, wenn sie sich die grausamen Bilder in Erinnerung ruft, von ebenso realen wie eingebildeten Schmerzen heimgesucht. Als, auf der Suche nach Linderung ihrer Pein, in einer Klinik ausgerechnet Eitan ihr behandelnder Arzt wird, gerät Iris in einen Strudel aus Leidenschaft und Lüge, erotischer Spannung und Liebes-Verrat. Doch kann das Wunder der wieder gefundenen Liebe sie wirklich heilen?

In den Romanen der israelische Autorin Zeruya Shalev geht es immer um die Liebe, die selten zum Glück führt, sondern meistens eine Art Leidensweg darstellt: Überall emotionale Abhängigkeiten, vergiftetet Beziehungen, scheiternde Ehen. Das ist auch in dem neuen Roman „Schmerz“ nicht anders.

Neu ist, dass Shalev diesmal sich selbst und ihre eigenen Erlebnisse in den Roman mit einbezieht. Denn die Autorin, die mit „Liebesleben“, „Mann und Frau“, „Späte Familie“ zu einer der bedeutendsten Erzählerinnen der Gegenwart wurde, ist vor einigen Jahren selbst in Jerusalem Opfer eines terroristischen Anschlags geworden und überlebte das Blutbad schwer verletzt. Sie weiß also nur zu genau, was Iris, ihre Hauptfigur, durchgemacht hat und von welchen körperlichen und seelischen Schmerzen sie seitdem gepeinigt wird. Sicherlich ein Grund dafür, warum das Buch noch bedrückender und verzehrender ist als ihre bssherigen Romane.

Erzählt wird die komplexe Geschichte in einer atemlos wirkenden Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Gedanken. Beschreibungen und Reflexionen werden eng miteinander verknüpft, endlose Satzfolgen aufgetürmt und übereinander geschichtet. Und vielleicht würde Iris ohne ihre Tochter Alma nie wieder hinausfinden aus diesem Labyrinth aus Terror-Trauma und Liebes-Sehnsucht, radikalem Schmerz und erotischer Grenzerfahrung.

Alma, von Schuldgefühlen und Identitätsproblemen heimgesucht, verfällt den Verlockungen eines Sektenführers und lässt sich als Sex-Sklavin ausbeuten. Wenn Iris ihreTochter retten will, muss sie erst mit sich selbst ins Reine kommen. Das tut weh und ist auch für den Leser nur schwer zu ertragen.

Um den Tod zu überwinden und das Leben zu feiern, hat Zeruya Shalev nach dem Terroranschlag ein kleines Kind adoptiert -und diesen Roman verfasst. Hoffentlich hat das ihren Schmerz ein wenig lindern können.

Zeruya Shalev: „Schmerz“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag. 383 Seiten, 24 Euro.




Der Familie entgeht man nicht – Zeruya Shalevs Roman „Für den Rest des Lebens“

Auch wenn man selbst schon Kinder hat und in der Mitte des Lebens steht: Solange die eigenen Eltern leben, bleibt man ein Kind. Ein Kind, das von der Erziehung und den Erwartungen und Enttäuschungen der Eltern geprägt ist, ein Kind, das den Tod der Eltern verkraften muss, während man selbst Kinder erzieht und sie vor dem Tod beschützen will.

Vor allem davon, dass Eltern uns „Für den Rest des Lebens“ prägen und die Familienbande stärker sind als alle Versuche, diese emotionalen Abhängigkeiten aufzulösen, handelt der neue Roman von Zeruya Shalev. Es ist ein meisterlicher und oft versponnener, von Rückblenden und Erinnerungen durchwirkter Roman, ein feinfühliges, psychologisch aufgeladenes Erzählkonstrukt, das niemanden kalt lassen kann. Und ein Buch, mit dem die israelische Autorin ein eigenes Trauma bearbeitet.

Zeruya Shalev, international berühmt geworden mit Romanen wie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, wurde 2004 bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Noch heute leidet sie seelisch und körperlich unter den Folgen. Doch weil sie sich nicht in ihren Schmerz verkriechen, sondern der sinnlosen Gewalt ein Zeichen des Lebens entgegensetzen wollte, entschied sie sich, einen kleinen russischen Jungen zu adoptieren.

Dina, eine der Hauptfiguren des Romans „Für den Rest des Lebens“, ist beileibe nicht identisch und kein schlichtes Abziehbild von Zeruya Shalev, aber auch Dina will ihrem ins Stocken geratenen Leben einen Ruck geben und dem politischen Stillstand in Israel etwas entgegenhalten: Auch wenn ihre Ehe fast daran zerbricht und ihre schon erwachsene Tochter ihre Mutter nicht verstehen kann, wird Dina nach Russland reisen, um einen kleinen Jungen zu adoptieren. Als sie dem Jungen das erste Mal begegnet und in seine traurigen Augen schaut, weiß sie, dass sie den Tod besiegen und vielleicht auch die verschüttete Liebe ihres Mannes zurückgewinnen kann. Da schließt sich der Kreis des Lebens: Denn im selben Moment klingelt ihr Mobiltelefon und Dina erfährt, dass Chemda, ihre seit langem schwer kranke Mutter, soeben gestorben ist.

Die mit dem Tod ringende Chemda ist das erzählerische Zentrum des Romans. Während ihr Bewusstsein sich trübt, lässt sie noch einmal ihr Leben Revue passieren, denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, an ihre Ehe und ihre zwei Kinder. An ihren Sohn Avner, den sie viel zu sehr verhätschelte und den die überbordende Liebe der Mutter fast unfähig machte, eigene Beziehungen zu Frauen einzugehen. Chemda denkt auch an Dina, die vernachlässigte Tochter, die nur ein bisschen Liebe und Verständnis bei ihrem lebensfremden und melancholischen Vater finden konnte. Der Roman ist randvoll mit ödipalen Konstellationen und Konflikten der Kindheit, die das weitere Leben bestimmen. Da wundert es auch kaum, dass Dina mit ihrer eigenen erwachsenen Tochter hadert und sich nach einem kleinen Jungen sehnt.

Wer das alles als Variation altbekannter psychologischer Gemeinplätze und Klischees abhaken möchte, wird dem äußert vielschichtig und elegant erzählten Roman nicht gerecht. Immer wieder werden neue Türen aufgestoßen, kämpfen die sich in Erinnerungen verkriechenden Familienmitglieder gegen Wut und Enttäuschung, sehnen sie sich nach ein bisschen Glück und Zufriedenheit. Shalevs breit angelegter, über viele Jahre reichender Erzählhorizont weitet sich zu einer filigranen Topografie seelischer und politischer Landschaften. Wahrlich keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro.