Von der Kunst der Übergänge: Festival NOW! in Essen mit 15 Uraufführungen und einem faszinierenden Analog-Synthesizer

„Dieses Werk ist der Schlüssel zu meiner ganzen Entwicklung … Es erklärt, wie alles später so kommen musste“, schreibt Arnold Schönberg über seine „Gurre-Lieder“, die am 24. und 25. Oktober in der Philharmonie Essen erklingen.

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Foto: Projektpartner des Festivals NOW! (von links): Hein Mulders (Intendant der Philharmonie Essen), Dr. Thomas Kempf (Vorstand Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Marie Babette Nierenz (Künstlerische Leitung Philharmonie Essen), Prof. Günter Steinke (Folkwang Universität der Künste), Christof Wolf (Stiftung Zollverein), Prof Dirk Reith (Folkwang Universität der Künste), Ann-Charlotte Günzel (PACT Zollverein), Prof. Thomas Neuhaus (Folkwang Universität der Künste). Foto: TuP

Entstanden zwischen 1900 und 1911, ist in dem riesigen Werk der Übergang vom spätromantischen zur modernen Stil in Schönbergs Komponieren zu verfolgen. Ein passender Auftakt also für das Festival NOW! für neue Musik, das am Donnerstag mit Schönbergs epochalem Werk eröffnet wird. Bis 3. November geht das Festival in 25 Veranstaltungen unter dem Motto „Transit“ den vielfältigen Formen des Übergangs in der Musik nach.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Torsten Kerl singt in den Gurre-Liedern in der Philharmonie Essen. Foto: Bettina Stoess.

Die Gurre-Lieder erklingen in den beiden Symphoniekonzerten mit den Essener Philharmonikern unter Leitung von Tomáš Netopil. Der WDR Rundfunkchor, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen stellen die Sängerinnen und Sänger für den kolossalen Klangapparat aus drei vierstimmigen Männerchören und einem achtstimmigen gemischten Chor. Unter den fünf Solisten ist der Tenor Torsten Kerl, der in Gelsenkirchen geboren ist und dort seine internationale Karriere begonnen hat.

Das mittlerweile neunte Festival NOW! hat sich zu einem Schwerpunkt für zeitgenössische Musik in Nordrhein-Westfalen entwickelt und vereint als Projekt inzwischen die Philharmonie Essen mit Partnern wie der Stiftung Zollverein, PACT Zollverein, den Landesmusikrat NRW und vor allem die Folkwang Universität der Künste. Diese bringt sich mit ungewöhnlichen Veranstaltungen ein und zeigt zum Beispiel, wie sich Komponieren – und damit die Musik – auch durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel verändert. So ist der Transit von der Analog- zur Digitaltechnik ein Thema, das an einem „Synthesizer-Wochenende“ auf PACT Zollverein vom 25. bis 27. Oktober in Live-Aufführungen, einem Gesprächskonzert und einem Workshop sinnlich erfahrbar wird.

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

So sieht ein Star aus: Einer der größten noch funktionierenden Analog-Synthesizer der Welt kommt beim Festival NOW! zum Einsatz. Foto: TuP Essen/privat

Eine Rolle spielt dabei auch der legendäre analoge Groß-Synthesizer Synlab, der in den siebziger Jahren in Kooperation mit Dirk Reith von der Folkwang Hochschule entwickelt wurde. Die Anlage, eine der größten noch funktionierenden analogen Synthesizer der Welt, wird extra in aufwändiger Arbeit auf der Bühne von PACT Zollverein aufgestellt. Dort beginnt das NOW!-Programm am Freitag, 25. Oktober, 20 Uhr mit der Uraufführung mehrerer Stücke von Dirk Reith, Florian Zwißler und Oxana Omelchuk. Zu erleben ist „Funktion Blau“ von Gottfried Michael Koenig, dem 1926 geborenen „Großvater der elektronischen Musik“, der zehn Jahre lang am Studio für Elektronische Musik des NWDR u. a. mit Karlheinz Stockhausen gearbeitet hat. Von dem 1966 in Essen geborenen Achim Bornhöft, Leiter des Studios für Elektronische Musik am Mozarteum Salzburg, gibt es ein 1991 entstandenes Stück, das dem Konzert den Titel gibt: „Artificial Clichés“.

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Die Professoren Dirk Reith und Thomas Neuhaus (rechts) mit einem Bauelement des Synthesizers Synlab. Foto: Werner Häußner

Eine andere Art von Transit wird im RWE Pavillon der Philharmonie demonstriert: Eine Installation mit vier selbstspielenden MIDI-Klavieren lässt neue Werke von Günter Steinke, Michael Edwards, Thomas Neuhaus und Dirk Reith erklingen. Hier spielt der Mensch nicht mehr ein Instrument, sondern das „Medium“ verselbständigt sich: Algorithmen generieren musikalische Sätze und zeigen, wo der Computer bereits in den Bereich der Kreativität vorgedrungen ist, die nur noch weit im Hintergrund des Menschen bedarf. Die Installation ist bereits am Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, zu erleben; weitere Termine sind am 24. und 25. Oktober, jeweils 19 Uhr, und am Sonntag, 27. Oktober, 19 Uhr.

Zeitgenössische Musik, die ganz „analog“ mit klassischen Instrumenten aufgeführt wird, kommt nicht zu kurz: Am Samstag, 26. Oktober, 19 Uhr, spielt das Ensemble folkwang modern im RWE Pavillon Musik von Karlheinz Stockhausen, Mark Andre und – als Uraufführungen – zwei Auftragswerke der Philharmonie Essen von Michael Edwards und Tamon Yashima. Das JACK Quartet stellt am Sonntag, 27. Oktober, 11 Uhr, im RWE Pavillon Streichquartette von Helmut Lachenmann, Iannis Xenakis und Luca Francesconi vor. Und am Abend um 19.30 Uhr bringt das WDR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling Bruno Madernas „Aura“ und Gérard Griseys „L’icône paradoxale – Hommage à Piero della Francesca“ in den Großen Saal der Philharmonie. Im Zentrum des Abends steht das Flötenkonzert von Francesco Filidei, einem 1973 geborenen Italiener und Schüler von Salvatore Sciarrino, von dem erst im September an der Pariser Opéra comique die erste Oper „L’Inondation“ aufgeführt wurde.

Am Dienstag, 29. Oktober, 20 Uhr, wird dann in einem Konzert mit der Pianistin Susanne Achilles die Orgel des Alfried Krupp Saales erstmals computergesteuert erklingen – in drei neuen Interludien von Roman Pfeifer, Florian Zwißler und Jagyeong Ryu. Der Bogen des Programms spannt sich von „Studies for Player Piano“ von Conlon Nancarrow, der Ende des 19. Jahrhunderts an den Anfängen der selbstspielenden Klaviere steht, bis hin zu einem neuen Werk für vier selbstspielende MIDI-Klaviere von Ludger Brümmer.

Das Abschluss-Wochenende gestaltet unter anderem das erstmals am NOW!-Festival beteiligte Folkwang Kammerorchester auf Zeche Zollverein mit der Uraufführung eines Konzerts für Violine und Streichorchester mit Akkordeon von Karin Haußmann, gespielt von Liza Ferschtman, am Freitag, 1. November. Am Samstag, 2. November, bringt das SWR Symphonieorchester zwei brandneue Stücke in die Philharmonie Essen mit, die es im Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober uraufgeführt hatte: „Melancholie“ für chromatische Mundharmonika und Orchester von Saed Haddad und „Elementar Realities“ von Jürg Frey. Am Sonntag, 3. November, spielt dann das Ensemble Modern unter Enno Poppe Musik von Morton Feldman („Coptic Light“), Anton Webern (Variationen für Orchester op. 30) und Matthias Spahlinger („passage/paysage“ für Orchester).

Für die Veranstaltungen des Festivals NOW! gibt es Karten unter Tel.: (0201) 81 22 200 oder www.philharmonie-essen.de. Mit einem Festivalpass zu 55 Euro können alle Veranstaltungen besucht werden. Tickets für Veranstaltungen an der Folkwang Universität der Künste unter Tel.: (0201) 49 03 231.

 




„Kunst & Kohle“ in den Ruhrkunstmuseen: Das bequeme Konzept der kleinen Portionen

Die Ausstellungen zum Ende der Steinkohle-Ära („Kunst & Kohle“ sowie „Das Zeitalter der Kohle“) sind in den Revierpassagen Ende April und Anfang Mai ausführlich besprochen worden. Nun meldet Rolf Pfeiffer Kritik am Gesamtkonzept von „Kunst & Kohle“ an:

Da nun gottlob die letzte deutsche Steinkohlezeche ihre Förderung einstellen wird, mußte ein Kunstprojekt her, begleitend sozusagen. Es heißt „Kunst & Kohle“ und wird von zahlreichen Museen der Region veranstaltet, die gemeinsam unter der Bezeichnung „Ruhrkunstmuseen“ firmieren.

Hermann Kätelhön: "Hochofen", undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

Hermann Kätelhön: „Hochofen“, undatiert Radierung, 33,3 x 26,2 cm (Bild: Museum Folkwang, Essen)

„Kunst & Kohle“ wird sogar beworben, die Plakate dominieren harte Schwarz- und Weißtöne, was auch sonst. Ein großer Wurf ist dieses Ausstellungsprojekt aber dennoch nicht, eher ärgerlicher Ausdruck institutioneller Bequemlichkeit, der das Publikumsinteresse, das man ja sowieso nicht so genau kennt, egal ist.

Bechers und die Farbe Schwarz

Das Konzept von „Kunst & Kohle“ sieht vor, daß in jedem der 20 beteiligten Häuser zwischen Hamm und Oberhausen eine Sonderschau sich des Themas annimmt. Die Galerie unter Tage der Ruhruni Bochum etwa widmet sich der Farbe (bzw. „Nicht-Farbe“) Schwarz, das Bottroper Quadrat zeigt (einmal mehr) fotografierte Fördertürme, Hochöfen etc. der Bechers, Folkwang in Essen präsentiert den Industriemaler Hermann Kätelhön, und so fort. Das klingt nicht schlecht, heißt aber im Konkreten, daß man mit wenigen Ausnahmen (wie Küppersmühle, DKM und Lehmbruck in Duisburg) ausgesprochen kleine Sonderschauen zu sehen bekommt. Da macht dann ein Museum nicht satt, man muß schon mehrere abklappern, um ein hinreichendes Quantum Kunst zu erhalten. Und das Dilemma wird sichtbar.

Lohnt sich das?

Lohnt es sich, beispielsweise für eine einzelne Installation von Andreas Golinski zum Kunstmuseum Bochum zu reisen? Auch wenn der Künstler genau so heißt wie der amtierende Museumsdirektor, sind die beiden nicht miteinander verwandt, und das ist lustig, aber leider kein Argument. Gewürdigt werden müssen die Faktoren, die immer da sind: Lohnt der Museumsbesuch den Aufwand an Zeit und Fahrtkosten, die nervige Parkplatzsuche, die absehbare nächste Schweißattacke auf dem Fußweg in der prallen Sonne? Bei fast allen kleineren Häusern würde ich spontan sagen: nein, es lohnt sich nicht, nicht für die geringe Menge an ausgestellten Arbeiten (was keine qualitative Wertung ist).

Derzeit in der Küppersmühle zu sehen: Anselm Kiefers „Klingsors Garten“ von 2018 (Detail/Installationsansicht). Die Arbeit stammt aus einer Privatsammlung. (Bild: Anselm Kiefer, Henning Krause, Museum Küppersmühle MKM)

Teures Kombiticket

Ein Zweites kommt hinzu. Die Ruhrkunstmuseen nach Ruhrkunstmuseen-Konzept abzuklappern, ist schon von den Eintrittsgeldern her eine teure Angelegenheit, denn es gelten in jedem Haus die normalen Preise. Das angebotene Kombiticket ist mit 25 Euro unverschämt teuer. Zwar gilt es für die gesamte Laufzeit, aber die Zahl derer, die sich mehrere Male aufmachen, um Kunst in Kleckerportionen zu konsumieren, dürfte übersichtlich sein. Nur mal zum Vergleich: Die Bundeskunsthalle in Bonn nimmt 15 Euro, Museum Kunstpalast in Düsseldorf 14 Euro, Museum Ludwig in Köln gar nur 12 Euro. Und in diesem Häusern gibt es ordentlich was zu sehen.

Nur das Beste an einem Ort

Der Vergleich hinkt? Ja natürlich. Aber er läßt doch ahnen, wie eine publikumsfreundliche Kunstausstellung zum Kohleausstieg aussehen könnte. Man würde sie auf wenige, vielleicht auch nur einen Standort konzentrieren, wo zusammengetragen, präsentiert und inszeniert würde, was die beteiligten Häuser beitragen könnten. Es wäre dies das Beste, Eindrucksvollste, nennen Sie es, wie Sie wollen. Die Realisierung einer solchen Schau, eines über die Grenzen der Region und des Landes weit hinausstrahlenden „Highlights“ könnte man vertrauensvoll bei den Ruhrkunstmuseen belassen, schließlich existiert dort eine gewaltige Menge kuratorischer Manpower. Und falls die es doch nicht auf den Pinn kriegten, könnte man auch einen Star der internationalen Kuratoren-Szene engagieren.

Die Vorteile für das Publikum liegen auf der Hand: ein einziger Ort (randvoll mit Kunst), nur eine Anreise, nur eine einfache Planung. Übrigens wäre der Zentralort auch unter ökologischen Aspekten einer Herumjuckelei im Kohleland vorzuziehen, auch jener mit dem nervigen ÖPNV.

Warum konkurrieren?

Doch das alles hätte viel Arbeit bedeutet, und viele gute Ideen und Entwürfe wären zwangsläufig im Papierkorb gelandet. Auch besteht bei einem solchen Großprojekt ja immer die Gefahr, daß andere den Lorbeer einheimsen, der eigentlich einem selbst zusteht. Warum also konkurrieren? So wie es jetzt ist, bleibt jeder sein eigener kleiner Museumsfürst. Das Volk kommt oder es kommt nicht (bei kleineren Häusern eher: nicht). Doch wenigstens dürfen die Besucher das Rad benutzen, Streckenpläne wurden ausgearbeitet.

Hier geht’s los: Die Standseilbahn im historischen Schrägaufzug der Kokerei Zollverein (Bild: Ruhrmuseum)

Zollverein lohnt sich

Um es nicht zu verschweigen: Eine große Ausstellung gibt es schon, nur dreht die sich eher um die wirtschaftlichen, technischen, sozialen, historischen usw. Aspekte des Kohlebergbaus. Sie heißt „Das Zeitalter der Kohle“ und ist in der Kokerei Zollverein in Essen untergebracht, in jenen imposant-schaurigen Baulichkeiten, wo schon die allererste Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ das Kohle-Thema streifte, wo Andrea Breth tief verstörendes Theater inszenierte und Industriekultur und „Hochkultur“ (unter anderem in Gestalt der Ruhrtriennale) sich immer wieder auf das Eindrucksvollste begegnen. Mit einer Standseilbahn im Schrägaufzug kommt man hin, und sieht man einmal von der peinlichen Beschallung durch das Steigerlied im Eingangsbereich ab, ist diese Ausstellung durchaus überzeugend geraten. Der Eintritt kostet 10 Euro, und das Kombiticket der Kunstmuseen ist hier selbstverständlich nicht gültig.




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Aseptische Ereignislosigkeit: Die „Orfeo-Installation“ der Ruhrtriennale

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Eurydike in der Unterwelt. Der Teppichboden hat einen sichtlich hohen Synthetik-Anteil. Von Orpheus keine Spur. (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Die arme Eurydike. Isoliert hockt sie in Zimmern herum, die wie eine Vorhölle aus Plastik anmuten, wie ein aseptischer Albtraum zwischen Disneyland und Reha-Klinik. Sprechen kann sie nicht, denn eine Gummimaske mit wulstigen Lippen nimmt ihr Gesicht und Alter.

Geklont wurde sie offenbar auch, denn wir, die Besucher der Ruhrtriennale, begegnen auf unserem Gang durch das Labyrinth neongrell erleuchteter Zellen rund einem Dutzend Eurydikes mit wasserstoffblonden Perücken, die hier ein ebenso rätselhaftes wie freudloses Dasein fristen.

Von Orpheus weit und breit keine Spur. Aber die Musik, die der Komponist Claudio Monteverdi dem sagenumwobenen Sänger der griechischen Mythologie auf den Leib schrieb, begleitet uns als Soundtrack auf dem Weg. Sein Meisterwerk „Orfeo“, das als erste Oper der Musikgeschichte gilt, hallt durch die Weiten der Mischanlage der Essener Zeche Zollverein, wenn auch nur auszugsweise und häufig von elektronischen Klängen überlagert. Gespielt vom 2006 in Berlin gegründeten Solistenensemble Kaleidoskop, lassen die himmlisch reinen Harmonien uns andere Sphären ahnen, gewissermaßen Luft von anderen Planeten, ohne die wir in der seelenlosen Banalität dieser Umgebung womöglich erstickten.

Für die 1977 geborene deutsche Regisseurin Susanne Kennedy, die für die jüngste Produktion der Ruhrtriennale erneut mit dem niederländischen Performance-Duo Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot zusammen gearbeitet hat, bildet Monteverdis Meisterwerk die Folie für eine Installation, die gut und gerne auch für die Kasseler Documenta taugen könnte. Mit Monteverdi als Stichwortgeber schuf sie eine rund 80-minütige „Sterbeübung“, die von den Besuchern in Gruppen zu maximal acht Personen zu absolvieren ist. Bewusst lässt sie die Figur des Orpheus links liegen, um sich auf die vermeintlich vernachlässigte Eurydike zu konzentrieren und uns so zum Nachdenken über Leben und Tod zu bringen.

Ein bisschen geht es dabei zu wie im Yoga-Unterricht, denn vieles dreht sich um die Kunst des Loslassens, die Orpheus bekanntermaßen nicht beherrschte, trachtete dieser Tropf doch danach, die verstorbene Eurydike durch seinen Gesang der Unterwelt zu entreißen. Und schaute dann auch noch im falschen Moment zurück. Wir aber sollen es besser machen, sollen das Unvermeidliche akzeptieren, wenn unsere Zeit gekommen ist. Dazu fordern uns Texte auf, die mal über Kopfhörer zu hören sind, mal über Video-Leinwände flimmern oder auf handgekritzelten Zetteln an den Wänden haften.

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röter/Ruhrtriennale)

Was hier wie ein Tänzchen aussieht, soll Ausdruck von Seelenqual sein: Eurydike kann nicht leben, aber auch nicht sterben (Foto: Julian Röder/Ruhrtriennale)

Wer kein Englisch versteht, ist bei dieser „Orfeo“-Installation übrigens ähnlich arm dran wie Zuspätkommer und alle, die kein festes Schuhwerk tragen oder nicht gut zu Fuß sind. Weder bietet das Triennale-Team Übersetzungen an, noch gibt es bei der „Sterbeübung“ Sitzgelegenheiten: Sie muss buchstäblich durchgestanden werden. Eine komfortable oder gar angenehme Erfahrung soll dieser „Orfeo“ keineswegs sein. Diesen Anspruch hatte die Regisseurin im Vorfeld formuliert. Dass sie ihn einlöst, kann freilich auch als zweischneidiges Schwert betrachtet werden. Der Besucher muss sich dieser Produktion aussetzen, ihre Ereignislosigkeit ertragen, denn über weite Strecken kann er nichts weiter tun, als verlegen herumzustehen und den starren Blick der Zombie-Eurydikes zu erwidern.

Wenn wir endlich sitzen dürfen, sind wir in einem Wartezimmer wie beim Hausarzt. Wir warten auf unseren Aufruf, mit zunehmend mulmigen Gefühlen. Denn keiner derer, die von den stummen Eurydikes durch zwei symbolbehaftete Türen hinaus geführt werden, kehrt zurück. Sie verlassen das Spiel, nehmen den Ausgang. Was mag sich hinter den letzten beiden Türen verbergen? Was haben jene gesehen, die uns verlassen? Wo gehen sie hin? Es kann keine Antworten geben. Für heute scheiden wir mit der inständigen Hoffnung, dass der Tod, wenn er uns holt, im Gegensatz zu Eurydike wenigstens keine Söckchen mit Delfin-Aufdruck trägt.

Bis 6. September 2015. Ticket-Hotline: 0221/280 210, Informationen und Termine: www.ruhrtriennale.de/de/orfeo




Festival „Now!“: Neues von Hauschka auf Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Hauschka. Foto: Zollverein

Was ist das für ein Stil? Der „Spiegel“ hat sich Gedanken gemacht, als das Album „Silfra“ erschien, auf dem Hauschka gemeinsam mit der amerikanischen Geigerin Hilary Hahn improvisierte. Neo-Klassik? Post-Klassik? Oder spielt der Düsseldorfer Pianist, der durch sein „präpariertes Klavier“ bekannt wurde, so etwas wie Indie-Rock oder Post-Rock? Für Volker Bertelmann – so heißt Hauschka „bürgerlich“ – sind solche Zuordnungen egal: Er bezeichnet seine Musik als „zeitgenössisch“ und lässt es damit gut sein. Wer die Probe aufs Exempel machen will: Am Donnerstag, 15. November, ist Hauschka auf Zollverein zu Gast: Schacht XII, Halle 12, 20 Uhr.

Auf der Suche nach „seiner“ Musik hat Hauschka seine zehnjährige Klavierausbildung wiederentdeckt. Dass ein Klavier mehr können müsste als durch gepflegten Anschlag und Pedalgebrauch herauszulocken sei, forderte den Musiker heraus, als er Anfang des Jahrtausends über neue Wege nachdachte. Rock, Hip Hop, Singen in Bands: Das hatte er hinter sich, als er 2005 „The Prepared Piano“ aufnahm. Sein Klavier peppte er dafür auf, mit Leder, Filz oder Gummi zwischen den Saiten, mit folienumwickelnden Hämmerchen oder Klammern.

Das Ergebnis waren neue, wundersame Klänge, mal geräuschhaft, mal sphärisch wie von Elektronik verfremdet. Hauschka wurde in der Indie-Szene wahrgenommen als jemand, der das Experiment mit dem Klang aus einem fundierten musikalischen Hintergrund speist. „2004, als ich mit ‚Substantial‘ meine erste Platte herausbrachte, war ich mit Max Richter und zwei, drei anderen einer der wenigen in der Indie-Szene mit einem ernsthaften Musikanspruch.“ Hauschka hatte Erfolg: Acht Alben seit 2004, Filmmusiken und das Impro-Album „Silfra“ mit Hilary Hahn (2012) zeugen davon.

Wie kommt Hauschka in ein Programm wie das des Festivals „Now!“? Wo ist er verortet zwischen Luigi Nono, Helmut Lachenmann, György Ligeti, György Kurtág oder Bernd Alois Zimmermann? Hauschka bezieht sich nicht auf klassische Musik: „Die Berührung beschränkt sich auf das Instrument und vielleicht auf ein paar Zitate. Es gibt Szenarien von Klängen, die vielleicht mit Schostakowitsch in Verbindung gebracht werden können.“ Konzept oder Programm ist das nicht, auch wenn ihn manche mit Erik Saties Klang-Experimenten oder mit der amerikanischen Minimal Music in Berührung bringen. Mit Hilary Hahn, die sich sonst von Bach bis Barber bewegt, war er sich einig: „Wir wollten kein Album machen, das in der Klassik verortet ist.“

Hauschka fühlt sich wohl im Umfeld der zeitgenössischen Musik, wie sie das Festival „Now!“ vorstellt. Er sieht in den letzten Jahren einen Wandel: Die „klassische“ Szene sei viel weniger starr als noch vor einigen Jahren; die Suche nach einer neuen Identität lasse frühere Grenzen verschwimmen. Auch seine Zuhörer sieht er auf diesem Weg: „Mein Publikum ist auf der Suche nach Musik über Pop und Klassik hinaus. Es sucht ein neues Erlebnis und hat das Gefühl: Was ich hier mache, ist zeitgemäß.“

Dass er sich der Tonalität verpflichtet fühlt, könnte Vielen eine Brücke zum Neuen sein: „Ich glaube, das eröffnet einem größeren Kreis die Möglichkeit, sich mit neuer Musik zu beschäftigen.“ Bei seinem Festival „Approximation“, das er seit 2005 in Düsseldorf veranstaltet, beobachtet er, wie sich ein neues Publikum entwickelt: Klassik, experimentelle Elektronik und Independent Music überlagern sich und erschließen sich gegenseitig. „Das empfinden die Konzertbesucher als zeitgemäß.“

Hauschka sieht darin auch einen Teil seiner Erfolgsgeheimnisses: „Klassische neue Musik mit Anspruch bringt sich oft selbst in eine Ecke, aus der es schwer ist, sich locker zu präsentieren.“ Von Zuschreibungen unbelastet, fällt ihm das leichter. Hauschka ist froh, nicht mit Größen wie etwa John Cage verglichen zu werden. „Hätte ich damals, als ich anfing, Cage gekannt, hätte ich mich wohl nicht an das präparierte Klavier gesetzt.“

Beim Blick in die Zukunft geht der Trend für den Klavierkünstler in Richtung Komposition, weniger in Richtung neuer Experimente. „Ich habe das Gefühl, meinen bisherigen Klangkosmos auszutarieren.“ Weiterführende Entwicklungen hat es ja schon seit 2010 gegeben: In jenem Jahr erschien das Album „Foreign Landscapes“, auf dem das präparierte Klavier seine bisherige Solo-Funktion verliert. Hauschka schrieb erstmals Musik für ein zwölfköpfiges klassisches Ensemble vollständig auf. 2011 auf „Salon des Amateurs“ – mit vielen Bezügen zu moderner Tanzmusik – übernimmt das Klavier die Rolle eines Rhythmusinstruments. „Musik definiert in ein Notenbild zu bringen, war für mich ein spannender Versuch. Ich fragte mich, ob das die Magie der Musik wegnimmt.“ Hauschka schwebt vor, „dass sich Improvisation und Notation die Hand geben“.

Eine neue Erfahrung war für ihn auch, eine 18 Minuten lange Musik für ein klassisches Ensemble zur Inszenierung von „Puppen“ (Kevin Rittberger, Premiere Dezember 2011) für das Düsseldorfer Schauspielhaus zu schreiben. Am Frankfurter Schauspiel läuft weiterhin Kleists „Die Marquise von O.“ mit Hauschkas Musik, eine Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, ebenfalls in der Regie Rittbergers. „Dieses Format reizt mich“, bekennt der Musiker, „und ich möchte gerne mal 45 Minuten Musik komponieren, ohne das Gefühl zu haben, nach zehn Minuten mit meinem Geschirr zu Ende zu sein.“

Jetzt hat Hauschka erst einmal eine neue Filmmusik abgeschlossen: „Schnee von gestern“ heißt der israelische Dokumentarfilm der Filmemacherin Yael Reuveny, für den er mit einem Streichquartett zusammengearbeitet hat. Mit Musikern aus Kenia hat er eine neue Platte aufgenommen, die 2013 erscheinen soll. Zwei Tourneen werden ihn in die USA führten, wo er unter anderem am Massachusetts Institut of Technology (MIT) zu einer Lecture eingeladen ist. Ein solches Workshop hat Hauschka vor kurzem erst an der Folkwang Hochschule der Künste gehalten. Außerdem liegen mehrere Angebote für Filmmusiken vor. Man wird also von Hauschka hören – nicht nur im Konzert auf Zollverein, wo er am präparierten Klavier improvisiert.

Festival „Now!“: zurücknachvorn: Hauschka – Solo am präparierten Klavier. Donnerstag, 15. November, 20 Uhr, Zeche Zollverein, Schacht XII, Halle 12. Tickets: (0201) 81 22 200, www.zollverein.de




Zuerst die Musik, dann die Worte – das neue Programm der Ruhrtriennale

Heiner Goebbels, neuer Intendant der Ruhrtriennale. Foto: Triennale

Wenn der Intendant eines internationalen Festivals von Haus aus Komponist ist, kann es kaum verwundern, dass die Musik eine Hauptrolle im Programm spielt. Wie bei der Ruhrtriennale, deren Leitung Heiner Goebbels für die nächsten drei Jahre übernommen hat. Die Vorstellung seiner ersten Spielzeit hat nun beredtes Zeugnis davon gegeben. Oper, Konzert und Tanz stehen im Mittelpunkt. Und selbst die Theaterproduktionen entbehren kaum des Tönenden.

Goebbels ist im Ruhrgebiet kein Unbekannter, vielmehr – indirekt zumindest – ein Pionier all dessen, was sich die Triennale auf die Fahnen geschrieben hat. Denn seine Musik wurde von den Bochumer Symphonikern schon in der Jahrhunderthalle, also einer einst industriell genutzten Spielstätte, aufgeführt, als noch niemand an ein Festival mit ungewöhnlichen Aufführungsorten und Programmen jenseits des Mainstreams dachte.

Inzwischen hat sich die Triennale etabliert, wechselt alle drei Jahre der Intendant, und mit ihm ändern sich die Schwerpunkte. Goebbels sagt: „Uns geht es um die radikale Erneuerung des Musiktheaters. Dem Publikum wird Unerhörtes geboten, nicht das Repertoire der regionalen Bühnen. Wir wollen eine Kultur von allen für alle. Deshalb werden viele Mitwirkende aus dem Ruhrgebiet kommen.“

Begonnen wird mit einem Revolutionär unter den Komponisten, John Cage. Dessen „Europeras I/II“ sind in Goebbels Regie zu sehen. Ein musikalisches Konglomerat aus 64 Arien der europäischen Operngeschichte, geordnet nach dem Zufallsprinzip. Die Inszenierung in Bochums Jahrhunderthalle arbeitet mit 32 verschiedenen Bühnenbildern.

Carl Orffs „Prometheus“ folgt, in der Duisburger Kraftzentrale; ebenfalls ein Werk, das man auf gängigen Spielplänen vergeblich sucht. Ein „Sprach-Musik-Drama“ nennt Goebbels die Oper, deren Archaik sich schon durch die Besetzung mit einem 20köpfigen Schlagwerkensemble erschließt. Ähnlich perkussiv dürfte es auf der Halde Haniel in Bottrop zugehen – einer neuen Spielstätte –, wenn dort die japanische Gruppe Boredoms, verstärkt um Drummer aus der Region, Klangekstasen in die Nachtluft senden.

Der Blick auf den Tanz führt etwa zur Produktion „enfant“ für drei Maschinen, neun Tänzer und eine Gruppe Kinder in der Jahrhunderthalle oder zur Uraufführung der Performance „Le Sacre du Printemps“ des Choreographen Laurent Chétouane (Spielort PACT Zollverein).

Die Veranstaltungen, die unter der Rubrik Theater subsumiert sind, lassen nur selten die Musik außen vor. So ist „Life and Times – Episode 2“ eigentlich eine Musicalperformance des „Nature Theater of Oklahoma“ (PACT Zollverein). Romeo Castelluccis „Folk“ wiederum, zwischenmenschliche Formen wie Gemeinschaft, Trennung und Isolation diskutierend, arbeitet mit Bewegungsritualen und will die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum aushebeln. Doch auch hier geht es nicht ohne Musik (von Scott Gibbons; zu sehen in der Gebläsehalle Duisburg).

Hinzu kommen klassische (Kammer)-Konzerte, Publikumsgespräche und Symposien. Das Thema „No education“ bezieht Kinder auf witzig-verspielte Art ins Programm ein. Sie werden sich alle Produktionen ansehen und am Schluss Preise vergeben – in selbst gewählten Kategorien. Tatkräftige Hilfe erhalten sie von der kanadischen Forschungsgruppe „Mammalian Diving Reflex“.

Dem Urteil der Jury dürfen wir ebenso gespannt entgegensehen wie dem Gesamtprogramm. Intendant Heiner Goebbels hat zwar auf ein übergeordnetes Thema verzichtet, doch trifft der Titel eines Opernlibrettos des 18. Jahrhunderts wohl den Kern: „Prima la Musica, poi le parole“. Zuerst die Musik also. Goebbels, darauf angesprochen, denkt nach und verweist auf den russischen Regisseurs Wsewolod Meyerhold.  Dessen Credo war: „Das Wichtigste … wofür ich kämpfe, ist die Untermauerung des Schauspiels mit einem musikalischen Fundament“.

 

Alle Einzelheiten zum Programm finden sich unter http://www.ruhrtriennale.de