Psychische Krankheit und Kreativität: Westfälisches Projekt nimmt „Outsider“-Literatur in den Blick

Eher eine Verlegenheitslösung, um das Thema zu bebildern: Szene aus der zum Projekt gehörenden Inszenierung von „Outsider“-Texten durch das theater en face unter dem Titel „Im Strom“. (Foto: Xenia Multmeier/Franziska v. Schmeling)

Zusammenhänge zwischen Künsten und psychischen Erkrankungen, krasser gesagt zwischen Genie und Wahnsinn, sind ein weites Feld. Ist nicht eine gewisse „Verrückt-heit“ gar Antriebskraft jeglicher Kreativität, weil sie ungeahnt neue Perspektiven eröffnen kann? Anders gewendet: Können Künste heilsam oder lindernd wirken? Oder geht dabei schöpferische Energie verloren? Uralte Fragen, die gelegentlich neu gestellt werden müssen. Um all das und noch mehr kreist jetzt ein westfälisches Kulturprojekt, das sich mit etlichen Veranstaltungen bis zum Ende des nächsten Jahres erstreckt.

Logo des „Outsider“-Projekts. (LWL)

Oft gezeigt und teilweise hoch gehandelt wurden Bilder von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Nun geht es beim vielteiligen Reigen mit dem etwas sperrigen Titel „outside | inside | outside“ um literarische Äußerungen, die sich weniger offensichtlich, sondern gleichsam diskreter und intimer zeigen. Gleichwohl gehen solche Schöpfungen beim Lesen oftmals „unter die Haut“.

Ein Akzent liegt vor allem auf westfälischen Autorinnen und Autoren, allen voran Annette von Droste-Hülshoff, die keineswegs den gefälligen literarischen Mittelweg beschritten hat. Zeitlich reicht der Rahmen bis zur aktuellen Poetry-Slam-Szene, die zumal im Paderborner Lektora-Verlag eine Heimstatt für gedruckte Texte gefunden hat.

Inklusion als Leitgedanke

Federführend beim gesamten Projekt ist die Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) unter Leitung von Prof. Walter Gödden. Ein Leitgedanke ist die Inklusion, sprich: Was psychisch erkrankte Menschen schreiben, soll eben nicht als womöglich bizarres Außenseiter-Phänomen behandelt werden, sondern man will diese Literatur möglichst ans Licht und in die Gesellschaft holen – in aller Behutsamkeit, denn die Erfahrung zeigt, dass zwar manche Autorinnen und Autoren sich bereitwillig öffnen, andere sich jedoch behelligt fühlen, wenn eine größere, als zudringlich empfundene Öffentlichkeit ins Spiel kommt.

Die bisherigen Kooperations-Partnerschaften des Projekts konzentrieren sich vor allem am zentralen Standort des LWL, also in Münster. Dabei sind u. a. das Kunsthaus Kannen, die Akademie Franz Hitze Haus, die black box im kuba, das Cinema – und der historische Erbdrostenhof, Schauplatz der Auftakt-Veranstaltung, einem einleitenden Symposium am 25. und 26. März (siehe Programm-Link am Schluss dieses Beitrags).

Beispielhafte Reihe an der LWL-Klinik in Dortmund

Das Ganze versteht sich als „work in progress“, es können jederzeit noch neue Punkte hinzukommen. Neben einschlägigen Lesungen und Fachgesprächen soll es auch Theater- und Performance-Darbietungen sowie Filmvorführungen geben. Im Laufe der Zeit dürften die Veranstaltungen ganz Westfalen erfassen. Tatsächlich wäre zu hoffen, dass man sich noch etwas entschiedener über Münster hinaus bewegt. Immerhin sind schon jetzt u. a. das Netzwerk Literaturland Westfalen (koordiniert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna), das Literaturbüro OWL (Detmold) oder auch das Kulturgut Haus Nottbeck (Oelde) mit an Bord. Im Projekt-Flyer werden weitere Kulturträger „herzlich zur Teilnahme eingeladen“. Vielleicht sind im Vorfeld ja noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Bei der Online-Pressekonferenz zum baldigen Projekt-Start meldete sich auch der Psychiater Hans Joachim Thimm zu Wort, der an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck arbeitet und seit Jahren Lesungen mit psychisch Kranken oder zum Themenkreis veranstaltet. Peter Wawerzinek („Rabenliebe“, „Schluckspecht“) war schon da, ebenso Joe Bausch (Gerichtsmediziner in Kölner „Tatort“ und zeitweise wirklicher Gefängnisarzt) oder der Fußballer Uli Borowka, der in dem Buch „Volle Pulle“ seine Alkoholabhängigkeit thematisierte. Erstaunlich der wachsende Zuspruch. Thimm: „Anfangs kamen manchmal nur zwölf oder dreizehn Zuhörerinnen und Zuhörer, inzwischen sind es bis zu 450.“ Man könnte darin einen Vorläufer zum westfälischen Projekt sehen. Eine Zusammenarbeit würde sich jedenfalls anbieten.

Überschneidungen mit der „Hochliteratur“

Überhaupt scheint Dortmund ein weiteres Zentrum des Geschehens zu sein. Das hier ansässige Fritz-Hüser-Institut gehört zu den Projektpartnern. Außerdem fallen im Zusammenhang Autorennamen aus der Stadt, nämlich der des in Hamm geborenen Tobi Katze („Morgen ist leider auch noch ein Tag: irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“) und der des prominenten Comedians Torsten Sträter, der sich auf seiner Homepage als Autor, Vorleser und Poetry Slammer bezeichnet und seine depressive Erkrankung in den 1990er Jahren öffentlich gemacht hat.

Umschlag der Textsammlung „Traumata“ (© Aisthesis Verlag)

Um den Themenhorizont zu erweitern: Just Walter Gödden von der erwähnten LWL-Literaturkommission hat die Sammlung „Traumata. Psychische Krisen in Texten von Annette von Droste-Hülshoff bis Jan Christoph Zymny“ (Aisthesis Verlag, 24 Euro) herausgegeben, in der rund 40 einschlägige Titel „quer durch die literarischen Gattungen“ vorgestellt werden.

Tatsächlich gibt es immer wieder aufschlussreiche Überschneidungen zwischen arrivierter, kanonischer Literatur und den Werken von „Outsidern“, zu denen hier auch Schreibversuche von Laien oder z. B. von Gefängnisinsassen gezählt werden. Man denke auf dem Gebiet der Hoch-, ja sozusagen Höchstliteratur nur an Genies wie den für Jahrzehnte „umnachteten“ (oder schlichtweg unverstandenen?) Friedrich Hölderlin oder an Robert Walser, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hat. Ein Quantum an geistig-seelischem Außenseitertum gehört wohl zu den meisten großen Oeuvres. Insofern handelt das Projekt nicht von einem randständigen Thema.

„outside | inside | outside – Literatur und Psychiatrie“. Projekt bis Herbst 2023, unterstützt von der Kulturstiftung des LWL und dem Land NRW.

Programm-Übersicht und Buchungsmöglichkeiten:

http://www.literatur-und-psychiatrie.lwl.org

 




„Das Monster von Minden“ und andere Schwergewichte: Kurzfilme auf den Spuren der westfälischen Dinos

Frisch lackiert: Modell des Wiehenvenators (Screenshot aus dem besprochenen Film / © LWL)

Wenn man den Zahnfund aufs ganze Tier hochrechnet, kommt man auf eine ungefähre Körperlänge von 9 Metern. Wachstumsringe in seinen Knochen deuten darauf hin, dass dieses imposante Wesen noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Donnerwetter!

Wir sprechen vom „Wiehenvenator“, der im Erdzeitalter Jura (liegt etwa 200 bis 145 Millionen Jahre zurück) im heutigen Westfalen lebte. Wieso dieser Name? „Wiehen“, weil die Fundstelle im Wiehengebirge bei Minden lag; „Venator“, weil das mächtige Tier ein Räuber, genauer ein Raubsaurier gewesen ist. Der kapitale Bursche hat sich also im heutigen Westfalen herumgetrieben. Ab 1998 wurde die Fundstelle freigelegt: Zum Vorschein kamen Teile des Schädels, des Kiefers, der Beine, der Rippen und eben der Zähne. Daraus ließen sich mancherlei Rückschlüsse über die Gesamterscheinung des Dinos ziehen, wie der Wissenschaftler Dr. Achim Schwermann erläutert.

In einer Serie von drei kurzen Filmen will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterhaltsame Einblicke in die akribische Arbeit der Paläontologen geben. Dazu hat man den Schauspieler und YouTuber (ohne diese Bezeichnung geht heute kaum noch etwas) Fabian Nolte engagiert, der auf möglichst muntere Weise mit Wissenschaftlern spricht und besonders durchs Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde streift. Der Ansatz ist regional: „Saurierland Westfalen“ lautet die Serien-Überschrift. Ganz ehrlich: Ich habe im ersten Moment „Sauerland“ gelesen. Aber das nur ganz nebenher. Wir sind ja schließlich im Edutainment-Bereich, da darf man schon mal abschweifen.

Imposantes Museumsstück aus dem 3D-Drucker

Jetzt ist jedenfalls der erste von drei Filmen online. Wir erfahren unter anderem, dass der Wiehenvenator zwar an Land gelebt hat, aber nach seinem Tod ins (damals noch ganz anders ausgedehnte) Meer gespült worden ist. Dort wurden seine sterblichen Überreste von Sedimenten bedeckt und sind daher gut erhalten geblieben. Anhand der Fundstücke aus der Region Minden und anderen Weltgegenden haben die Wissenschaftler im Computer eine 3D-Animation erstellt, die sodann mit einem 3D-Drucker materialisiert wurde. Passend lackiert (hierbei spielte auch die Phantasie eine gewisse Rolle), steht der nach bestem Wissen rekonstruierte Wiehenvenator nun im Museum. Schau mir in die Augen, Großer…

Natürlich stellt Fabian Nolte auch die Pflichtfrage nach dem „Jurassic Park“, sprich: Könnte man Saurier durch aufgefundene DNA wieder zum Leben erwecken? Experte Achim Schwermann muss ihn enttäuschen: Höchst unwahrscheinlich sei das. In den verflossenen Jahrmillionen hätten sich allenfalls DNA-Schnipsel erhalten. Nolte findet es schade. Möchte er denn wirklich gern solchen Dinos an der nächsten Straßenecke begegnen? Schließlich trägt der Wiehenvenator auch in diesem Film den Beinamen „Das Monster von Minden“.

Der Film ist offenbar vor den Corona-Beschränkungen entstanden, soll aber im Lockdown den Appetit auf künftige Museumserlebnisse wachhalten. Zwei weitere Streifen – jeweils rund eine Viertelstunde lang – werden am 11. und am 18. Februar freigeschaltet: „Westphaliasaurus – Eine Paddelechse aus Westfalen“ und „Ichthyosaurus – Ein ,Fischsaurier‘ wird filetiert“. Küchentipps sind da wohl nicht zu erwarten.

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Alle drei Filme finden sich unter diesem Link.




Corona sorgt für spezielles Kunsterlebnis beim Pressetermin: Bitte nur einzeln zu den Bildern gehen!

Die stellvertrende Museumsdirektorin und Kuratorin Dr. Tanja Pirsig-Marshall präsentiert in einem kurzen Video eine Vorschau auf die Münsteraner Tadeusz-Ausstellung. (Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=4wB3rXY2z6k)

Vor Wochenfrist war hier die Rede von einer Orchester-Pressekonferenz per Videoschalte, wie sie einem immer noch etwas ungewohnt vorkommt, aber derzeit wohl ein Maß der Dinge ist. Nun ist abermals von einem kulturellen Pressetermin in spezieller Form zu berichten. So ist das nun mal: Das „neuartige“ Virus zieht eben neuartige Presse-Gepflogenheiten nach sich.

Schauplatz wird das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster sein. Dort soll es vom 10. Mai bis zum 2. August eine Ausstellung über den in Dortmund geborenen Maler Norbert Tadeusz (1940-2011) geben. Und tatsächlich findet vorab kein Video-Termin als virtuelle Führung statt, sondern mal wieder einer, der körperliche Präsenz erfordert. Doch die Journalistinnen und Journalisten werden an jenem Vorbesichtigungs-Tag nicht (wie ehedem üblich) im Pulk durchs Museum gehen, sondern jede(r) für sich, also einzeln.

Auf diese etwas umständliche Weise wird sich der gesamte Termin mutmaßlich von 10 bis 16 Uhr hinziehen. Das Ganze heißt deshalb nicht Pressekonferenz, sondern „Pressetag“. Es ist anzunehmen, dass die jeweilige Aufenthaltsdauer begrenzt werden muss, damit die Nachrückenden zeitig an die Reihe kommen – je nachdem, wie viele sich mit welchen Wunschzeiten anmelden. Kurze Gespräche mit der LWL-Kulturdezernentin, dem Museumsdirektor oder der Ausstellungskuratorin sind übrigens ebenfalls möglich.

Das alles hört sich nach einem geradezu exklusiven Kunsterlebnis an, bei dem einen nichts von den Bildern ablenkt – auch nicht all die liebenswerten Kolleg(inn)en. Man darf sich also ganz allein vor den Kunstwerken aufhalten; beispielsweise ohne Fernsehteams, ohne wichtig wuselnde Kameraleute und Mikrofonträger, ohne Hörfunk-Mitarbeiter, die gerade mal schnell ihre „O-Töne“ einfangen müssen; ohne Fotografen, die eben noch ein paar Gruppenbilder mit der Museumsleitung anfertigen wollen („Bitte vor dieses Gemälde, bitte den Katalog in die Hand nehmen, bitte hierher gucken – und läääächeln!“). Und sogar ohne klügelnde Fragesteller, die sich ihren imponierenden Auftritt wohl schon Tage vorher zurechtgelegt haben.

So. Jetzt hab‘ ich’s mir glücklich mit allen verdorben. Wie bitte? Nein, ich habe noch nie jemanden bei Presseterminen genervt. Niemals nicht. Wo denkt Ihr denn hin?




Schrecken und Schönheit der Natur – Münster zeigt grandiose Landschaftsbilder von William Turner

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour's Mouth..." (Schneesturm – Ein Dampfschiff...), 1842, Öll auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 - Inv.-Nr. N00530)

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth…“ (Schneesturm – Ein Dampfschiff…), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Da weiß man gar nicht mehr, wo vorn und hinten, oben oder unten ist: In seinem Ölbild „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten, um 1827) hat der englische Maler William Turner (1775-1851) Zustände des Meeres – und des Himmels? – aufeinander geschichtet, miteinander überblendet. Man könnte es fast für ein Farbfeld-Werk des 1970 verstorbenen Mark Rothko halten. War Turner, der doch in der Romantischen Epoche lebte und wirkte, etwa schon ein Abstrakter avant la lettre, also bevor man Abstraktion als solche definiert und bezeichnet hat?

Die Kuratorin Judith Claus, die das Konzept zur Turner-Ausstellung im Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur entwickelt hat, hält dagegen: Turner habe niemals abstrakt gedacht. Erst recht nicht habe er angestrebt, die Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen, sie zu „überwinden“. Das sei nur unsere rückblickende Auffassung – im Wissen um die seither entfaltete und auch schon wieder historisch entrückte Moderne.

William Turner: „Three Seascapes (Drei Seeansichten)", um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856. Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten), um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Man möchte freilich bezweifeln, dass einem reflektierten und belesenen Künstler wie Turner derlei Bilder gleichsam unwillentlich unterlaufen sind. Vielleicht ist ja die Abstraktion eine der Urformen künstlerischer Entäußerungen, die – unabhängig von der Epoche – hin und wieder aufgeleuchtet haben, bevor sie in einen breiten Zeitstrom eingeflossen sind? Ein weites Feld für Fragen und Erwägungen…

Auswahl aus einem riesigen Fundus

Erfreuliche Tatsache ist jedenfalls, dass Münster nun mit rund 80 Werken des berühmten – nennen wir nur einmal den vollen Namen – Joseph Mallord William Turner glänzen kann.

David Blayney Brown, Kurator für britische Kunst an der Tate in London, hat die Werke aus einem riesigen Turner-Fundus (rund 30.000 Arbeiten auf Papier, etwa 300 Gemälde und 280 Skizzenbücher) ausgewählt, den der Maler selbst einst der britischen Nation vermacht hat. Man könnte Dutzende von Turner-Ausstellungen bestreiten – mit immer wieder anderen Schwerpunkten. Jede Auswahl wäre ein anderes, ein weiteres Statement über diesen genialen Künstler.

Manche erinnern sich: Anno 2001/02 hat das Essener Folkwang-Museum mit Turner geprunkt, seither war in unserer näheren Umgebung praktisch nichts Wesentliches mehr von ihm zu sehen. Diese Münsteraner Schau, die anschließend in Nashville und Quebec gastieren wird, ist im Kern eine Übernahme aus dem Kunstmuseum Luzern (Schweiz). Dort hat man, nur zu verständlich, besonderen Wert auf Turners Reisebilder aus schweizerischen Gefilden gelegt. In Münster rückt dieser Aspekt etwas beiseite. Man hat hier zusätzlich 30 Werke von Vorbildern und Zeitgenossen Turners beschafft, darunter etwa Caspar Wolf, John Martin und John Constable. Hier kann man folglich – bei dezent gedämpftem Licht und auf Wänden in aparten Blau- und Petrol-Tönungen – vergleichen, kann eine Ahnung davon bekommen, was Turners Kunst eigentlich ausmacht.

Ungeahnte Erscheinungen aus Licht und Farbe

Wenn es noch einer Beweisführung bedurft hätte: Wo andere Künstler den romantischen Konventionen mehr oder weniger verhaftet blieben, hat Turner – nach einem gleichfalls „romantischen“ Frühwerk – der Kunst vordem ungeahnte, faszinierende Sphären erschlossen. Wie überaus duftig und schwebend zart sind seine Aquarelle, wie allseits entgrenzt viele seiner Landschaften. Da geht es nicht mehr um konkrete Konturen, sondern um subtile Stimmungswerte und ja: um manchmal geradezu überirdische Erscheinungen des Lichts und der Farbe. Es ist dies eine Ausstellung zum Schwelgen und zur bleibenden Erinnerung.

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons" (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1802, Exhibited 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier (© Tate: Accapted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden), um 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Phänomene, die zuvor allenfalls Beiwerk waren, hat Turner beherzt in den Vordergrund gerückt. Man schaue etwa das Bild „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, um 1810) an. Bereits in diesem recht frühen Werk löst sich jede fassbare Wirklichkeit in ein ungeheures Toben der Elemente auf. Der Untertitel der Ausstellung heißt denn auch „Horror and Delight“, also etwa Schrecken und Freude, die einen angesichts der gewaltigen Natur erfassen können. Zuweilen dies, zuweilen das, manchmal beides zugleich oder abwechselnd. Das Begriffspaar „Horror and Delight“ stammt aus dem Konzept des Erhabenen (englisch: sublime) des britischen Schriftstellers Edmund Burke (1729-1797), dessen Gedanken die Epoche der Romantik und somit auch Turner geprägt haben.

Im Sommer reisen und skizzieren, im Winter malen

Turner reiste (nach Napoleons gegen Großbritannien verhängter Kontinentalsperre – Insel vs. Kontinent ist beileibe nichts Neues) in den Sommermonaten immer wieder durch Europa, und zwar teilweise sehr beschwerlich und unbequem, auch schon mal mit dem Maulesel durchs Gebirge. Er fertigte, vorzugsweise in der Schweiz und in Italien, zahllose Skizzen an, deren Essenzen er hernach im Atelier während des englischen Winters zu Gemälden ausarbeitete. Er war also (auch mangels farbtechnischer Möglichkeiten) noch kein Freiluftmaler wie später die Impressionisten. Dennoch dürfte er auch dieser Richtung Wege gewiesen und geebnet haben.

William Turner: „Peace – Burial at Sea" (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Peace – Burial at Sea“ (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Er ist zwar im Sommer gereist, soll aber stets dann freudig erregt gewesen sein, wenn schlechtes und schweres Wetter herrschte. Extreme unter dramatisch bewölkten Himmeln kamen ihm entgegen. So verwundert es auch nicht, dass Turner ein Meister der stürmischen Seestücke gewesen ist. Ein grandioses Beispiel dafür ist ein Bild des Spätwerks mit schier endlosem Titel, das wir der Einfachheit halber mit dem ersten Wort als „Schneesturm“ (1842) bezeichnen wollen: Man sieht ein Dampfschiff („Ariel“) auf offenbar höchst gefährlicher Fahrt, es sendet Leuchtsignale aus.

Was ist schon der „Inhalt“ eines Bildes?

Doch solch nüchterner Beschreibungsversuch erfasst keineswegs ein Bild, auf dem alle Umrisse in ein gleißendes Irgendwo zerstoben sind; wie man denn überhaupt beim späten Turner Probleme bekommt, wenn man den „Inhalt“ eines Bildes schildern möchte. Allein auf die Atmosphäre kommt es an. Im länglichen Bildtitel war es Turner übrigens wichtig zu betonen, dass er selbst diesen Sturm erlebt habe. Die von ihm verbreitete Legende, mit der sich allerdings auch andere Maler bei ähnlicher Gelegenheit schmückten, besagt, dass er sich beim Unwetter sogar an einen Schiffsmast angebunden habe, um das Tosen der See am eigenen Leibe zu erfahren…

Der als wortkarg, in eigener Sache aber auch als eloquent geltende William Turner war eben ein geschickter Selbst-Vermarkter, der keine Chance ausließ, seine Werke auszustellen. Bereits mit 32 Jahren erhielt er an der Royal Academy School of Arts in London eine Professur – just für Perspektive, die er als Künstler so entschieden und nachhaltig auflöste. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Turner war damit recht bald ein gemachter Mann.

Schon mit 14 Jahren an der Kunst-Akademie

Die Academy war damals quasi noch eine Neugründung, Turner gehörte zur ersten Generation, die dort ausgebildet wurde, schon mit 14 Jahren studierte er dort. Erstaunlich genug: gleich in einem Pionier-Jahrgang der vielleicht allergrößte, nachher schwerlich übertroffene Künstler. Hatte er denn gar keine Schwächen? Nun ja. Er war so klug, sich sogleich auf Landschaftsmalerei (damals noch ein unterschätztes Genre) zu verlegen, als Porträtist oder überhaupt als Darsteller menschlicher Figuren wäre er hingegen wohl nicht zu solchem Ruhm gelangt.

Etliche Bilder, zumal im Spätwerk, gelten als „unvollendet“, doch in manchen Fällen ist es kaum auszumachen, ob Turner wieder unterwegs zu ganz neuen Ufern war oder ob er ein Bild aufgegeben hat. Vor allem sein Spätwerk überforderte die Auffassungsgabe vieler Zeitgenossen, Karikaturisten verspotteten ihn. Den Hämischen galt er als „Kleckser“, der die Farbe wild und willkürlich verteilte – auf einer furchtbar witzigen Zeichnung ging er gar mit einem Wischmop auf die Leinwand los. Welch eine gehässige Verkennung!

Die Sintflut – und der Morgen danach

Zum Finale hebt die Ausstellung geradewegs ins Metaphysische ab. Da finden sich etwa Bilder, mit denen Turner geisterhafte Meeresungeheuer beschwört. Solche Visionen steigern sich schließlich ins Universelle: Turner unternimmt 1843 nichts Geringeres, als den Abend des Weltuntergangs durch die Sintflut darzustellen, ein mystisches Licht erstrahlt über der Finsternis – und er zeigt auf einem zweiten Bild den Morgen danach, an dem aus kreisender Bewegung in verheißungsvoller Helligkeit etwas gänzlich Neues zu entstehen scheint.

William Turner: „Light and Colour (Goethe's Theory) - the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis" (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (©Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis“ (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Hochinteressanter Hintergrund: Damals waren Weltuntergangs-Bilder auch bei Künstlern wie John Martin sozusagen en vogue, weil allenthalben große gesellschaftliche und existenzielle Verunsicherung herrschte. Die Französische Revolution hatte vieles zuoberst und zuunterst gekehrt, die beginnende Industrialisierung weckte bis dahin unbekannte Ängste, ein katastrophaler Vulkanausbruch in Indonesien bescherte Europa einen weitgehend sonnenlosen Sommer. Ein baldiger Weltuntergang galt damals als wahrscheinlich. Kommt uns solch eine Zeitstimmung denn nicht bekannt vor?

Apropos Endlichkeit: William Turner hat über seine Lebenszeit hinaus gedacht, er war vehement auf Nachruhm aus. Der britischen Nation vermachte er seinen Nachlass unter der Bedingung, dass die 1824 gegründete National Gallery eigens eine Raumflucht für seine Werke errichtet und zwei seiner Bilder direkt neben Arbeiten seines großen Vorbildes Claude Lorrain (1600-1682) gehängt werden. All das ist eingetreten, er selbst hat eine Ehrengrabstätte in der St. Paul’s Cathedral zu London bekommen. Und das mit dem bleibenden Nachruhm ist ganz offensichtlich auch Wirklichkeit geworden.

„Turner. Horror and Delight.“ – 8. November 2019 bis 26. Januar 2020. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz. Geöffnet Di-Do 9-18, Fr 10-20 Uhr, am zweiten Freitag im Monat bis 24 Uhr (dann auch freier Eintritt ab 18 Uhr). Sonst: Eintritt 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro, freier Eintritt bis 17 Jahre. Besucherdienst: 0251 / 5907 201. Katalog in der Ausstellung 27 Euro (im Buchhandel 39,80 Euro).

Weitere Infos: www.lwl-museum-kunst-kultur.de

Unter www.turner2019.de gibt es ein neuartiges „Digitorial“, sprich: einen virtuellen Ausstellungsrundgang zur Vor- oder Nachbereitung des Besuchs.




Befürchtungen vor der Münsteraner Turner-Ausstellung: Was der Brexit für kulturellen Austausch bedeuten könnte

Deutsch-britisches Museumsteam: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Deutsch-britisches Ausstellungs-Team mit Brexit-Befürchtungen: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Münster lockt ab 8. November (bis zum 26. Januar 2020) mit einer Ausstellung über den ruhmreichen britischen Maler William Turner (1775-1851). Das LWL-Museum für Kunst und Kultur zeigt 75 Leihgaben aus der Tate London, ergänzt um einige Werke von anderen Künstlern jener Zeit. Wir werden darauf zurückkommen. Doch jetzt erst einmal zu einem anderen Thema. Um einen legendären Monty-Python-Spruch anzuwenden: „…and now to something completely different.“

Denn: Moment mal! Da war doch was? Etwas, was man eigentlich schon gar nicht mehr hören mag? Richtig: der unvermeidliche Brexit. Bei der heutigen Pressekonferenz im Vorfeld der Turner-Schau wurde deutlich, was der EU-Austritt Großbritanniens auch in kultureller Hinsicht bedeuten könnte. Nämlich nichts Gutes. Also doch kein völlig anderes Thema, sondern ein (fataler) Zusammenhang.

Strenge Grenzkontrollen und Zölle auch für die Kunst?

Museumsleiter Dr.  Hermann Arnhold ergriff die Gelegenheit, um seine Besorgnis auszudrücken. Er befürchte einen großen Rückschritt für den kulturellen Austausch mit Großbritannien. Mit Blick auf das ursprünglich vorgesehene Brexit-Datum (31. Oktober 2019) habe man alles daran gesetzt, sämtliche Bilder schon vor diesem Stichtag in Münster zu haben. Andernfalls hätten langwierige bürokratische Grenzkontrollen und diverse Zölle gedroht. Renommierte Kunstspeditionen haben sich für die Zukunft schon auf derlei Fährnisse eingerichtet, und zwar auch für den Fall eines geregelten Brexit; vom Chaos eines ungeregelten Austritts ganz zu schweigen. Oder sollte es doch noch ein paar Fünkchen Hoffnung für einen Verbleib geben? Das wäre ja…

Europa besteht nicht nur aus der Wirtschaft

Europa, so Arnhold weiter, sei eben nicht nur ein gemeinsamer Wirtschafts-, sondern auch ein Kulturraum. Gerade Menschen, die mit Kultur zu tun hätten, seien meistenteils überzeugte Europäer. David Blayney Brown, als Senior Curator of British Art der Londoner Tate für die Turner-Auswahl zuständig, pflichtete dem deutschen Kollegen bei, wobei gleichsam leise Seufzer mitklangen. Es kämen schwere Zeiten auf Großbritannien zu. Umso erfreuter zeigte sich Brown, jetzt noch diese bedeutsame Kunst-Kooperation mit Münster ins Werk zu setzen.

Das von Arnhold geleitete Haus am Münsteraner Domplatz hat in den letzten Jahren regelmäßig Ausstellungen mit britischer und US-amerikanischer Kunst gezeigt, u. a. „Das nackte Leben – von Bacon bis Hockney“ sowie Retrospektiven zu Henry Moore und Sean Scully. Die Planungs- und Vorlauf-Zeiten für solche Schauen müssten künftig – im Schatten des Brexit – länger veranschlagt werden. Trotz alledem oder jetzt erst recht hat man bereits mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung begonnen, die 2023/24 zu sehen sein soll. Thema? Noch geheim. Aber es hat gewiss etwas mit England zu tun. Denn das kommt ja nun hoffentlich gar nicht in Frage: auf Kunst von der Insel zu verzichten.




Balancieren am Absturz: Bravouröses Ensemble und faszinierende Bühne in Kurt Weills „Street Scene“ in Münster

Gefährdete Existenz: Garrie Davislim als Sam Kaplan in Kurt Weills "Street Scene" am Theater Münster. Foto: Oliver Berg

Gefährdete Existenz: Garrie Davislim als Sam Kaplan in Kurt Weills „Street Scene“ am Theater Münster. Foto: Oliver Berg

Der Tag kriecht dahin wie jeder andere: Hitze und Arbeit, Tratsch und Müßiggang, ein bisschen Liebe und ein bisschen Streit, etwas Sehnsucht und etwas Leid. Alltag eben, oder eine „Street Scene“, wie Kurt Weill seine „American Opera“ genannt hat. Er bleibt bei diesem neutralen Titel seiner Vorlage, einem mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnetem Stück von Elmer Rice, einem der einst führenden Dramatiker der USA. Am Theater Münster hat Hendrik Müller Weills Musiktheater-Experiment neu inszeniert.

Ein beliebiges Haus, eine beliebige Straße, kein Reichtum, aber auch kein Elend, und Menschen aus aller Herren Länder, von Schweden und Irland bis Italien und Mexiko. Blitzlicht-Szenen lassen die Charaktere aufscheinen:

Anna Maurrant, abgearbeitet, duldsam, geknechtet von ihrem dumpfen, jähzornigen Mann Frank, und doch immer noch schön mit ihren blonden Haaren und in ihrem roten Kleid – die Kostüme von Katharina Weissenborn geben stets Fingerzeige für Interpretation. Sam Kaplan, linkisch, aber mit nachpubertärem Enthusiasmus für Bücher und Wissen, Sohn eines jüdischen Paares in besseren Verhältnissen. Vincent, ein übergriffiger, fieser Herumtreiber aus der nicht eben sympathischen Familie Jones. Die Fiorentinos, Italiener aus dem Klischee-Bilderbuch. Und dazu eine Reihe episodischer, aber liebevoll gezeichneter Figuren.

Frage nach dem Gelingen oder Scheitern des Lebens

„Street Scene“ braucht ein sorgfältig aufeinander eingespieltes Ensemble und eine im Detail wie im großen Bogen gleich bewusst arbeitende Regie. Denn so atomisiert die Szenen zunächst wirken, so geschickt arbeiteten Rice und Weill allmählich die Konturen des Dramas heraus, das sich im zweiten Akt zu einer Tragödie antiken Zuschnitts steigert. Man darf sich nicht täuschen lassen: Im Flair des Alltäglichen wird die Frage, wie Leben gelingt oder sich verfehlt, nicht klein gemacht. Sie wird aber neu verortet in einer konkreten Gegenwart und in Menschen, die uns heute auf unseren Wegen auch begegnen könnten. Das macht den Realismus in Weills Oper aus, der aber überhöht wird und die Story ins Prinzipielle steigert.

Die gespiegelte Bühne als Meta-Ebene in Rifail Ajdarpasics raffinierter Erfindung: Szene aus Kurt Weills "American Opera" in Münster. Foto: Oliver Berg

Die gespiegelte Bühne als Meta-Ebene in Rifail Ajdarpasics raffinierter Erfindung: Szene aus Kurt Weills „American Opera“ in Münster. Foto: Oliver Berg

Am Theater in Münster verlieren Müller und sein Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic beide Aspekte nicht aus den Augen. Ein so präzise analysierendes und gleichzeitig sinnlich faszinierendes Bühnenbild ist selten zu erleben: Das abgewohnte Gründerzeit-Mietshaus mit seinen lichtlosen Fenstern im Zentrum des Raumes ist nur scheinbar ein realer Bau.

Spiegelbildlicher Blick

Ein riesiger Spiegel bildet ab, was tatsächlich auf dem Bühnenboden liegt – und wenn sich die Darsteller auf dieser durch Simse, Schwellen und Vertiefungen gegliederten Fläche bewegen, betrachtet sie der Zuschauer im Spiegel von oben.

Die raffinierte Konstruktion ermöglicht Hendrik Müller und seiner Choreographin Andrea Danae Kingston, konkrete Handlungs- und spiegelnde Meta-Ebene gleichzeitig zu gestalten. Das Abbild der Figuren bricht Realismus auf, macht Spuren des Seelischen in der Haltung der Körper und in ihren Bewegungen sichtbar. Menschen balancieren nahe am Absturz sind, klammern sich mit einer Hand an einen Fenstersims, als fielen sie jeden Moment in die Tiefe; eine Frau hängt kopfüber über eine Brüstung, als könne sie sich nur noch mit Mühe halten: Bilder gefährdeten Daseins; daneben bilden sich für Momente abstrakte Formationen, kühl, schön und bedeutungsoffen.

Das Bild überhöht auf diese Weise das Sozialdrama, wendet es ins Psychologische und ins Parabelhafte. Wenn im zweiten Akt Kristi Anna Isene als von allen gedemütigte Anna Maurrant im langen weißen Kleid erscheint, wirkt sie nicht sozial-naturalistisch wie die Frau aus der unteren Mittelschicht, sondern wie eine zeitlose Erscheinung.

Müller lässt auch den Mord nicht hinter der Szene geschehen. Er zeigt in stilisierender Langsamkeit, wie Frank Maurrant seine Frau und ihren Liebhaber Sankey umbringt: Eine poetisch enthobene Szene, die bestätigt, dass Jörn Dummann mit athletischem, entblößtem Oberkörper eher ein erotisch getöntes Sehnsuchtsbild als eine reale Person darstellt. Der Chor kommentiert aus dem Rang – auch das führt auf das antike Drama hin, wie Rice und Weill auch die klassische Einheit von Zeit, Ort und Handlung unangetastet lassen.

Als Revue missverstanden

Was aber bezweckt Müller, wenn er vor allem im ersten Akt Szenen dezidiert in die Nähe des Revue-Musicals rückt? Sicher gibt es das Durchbrechen der Handlung im musikalischen Bild – das Ice-Cream-Sextett ist ein Beispiel. Aber die Figur im Frack mit roten Pailletten gehört eher zu John Kanders „Cabaret“. Sie stiftet keinen Sinn, sie lenkt auf die falsche Fährte. Youn-Seong Shim muss als Daniel Buchanan in einem Clownskostüm in komisch dünnem Ton die Schmerzen seiner Vaterschaft beklagen – ein Missgriff wie die Revue-Girls, gehüllt in glitzernde Stars and Stripes. Besser hätte der Regisseur auf das Timing der Dialoge geachtet, die in Stefan Troßbachs deutscher Übersetzung den Ruch des Einstudierten nicht abstreifen können.

Offenbar ein tiefes Missverständnis: Kurt Weill wollte gerade kein „musical play“ schaffen, sondern eine eigene Form von Oper. Wenn Blues, Gospel- oder Tanzmusik in Weills Partitur auftauchen, so nicht, um „Street Scene“ in die Nähe des Musicals zu rücken. Weill hat im Sinn, die Formen zu emanzipieren und als seriöse musikalische Ausdrucksmittel zu verwenden. Stefan Veselka und das Sinfonieorchester Münster verstehen diesen Ansatz: Sie lassen sich nicht auf die grellen Rhythmen und den frechen Schmiss etwa eines Cole Porter ein, sondern betonen die strukturelle Tiefe der harmonisch reichhaltig ausgearbeiteten Musik. Das geht manchmal zu Lasten eines pointierten Tempos, trifft aber Weills Intention.

Eindrückliche Bilder: Eine Haltestelle, an der nie ein Bus abfährt, ein Gebäudeskelett: Chiffren der Einsamkeit, des Verfalls, der Ausweglosigkeit. Foto: Oliver Berg

Eindrückliche Bilder: Eine Haltestelle, an der nie ein Bus abfährt, ein Gebäudeskelett: Chiffren der Einsamkeit, des Verfalls, der Ausweglosigkeit. Foto: Oliver Berg

Allgegenwärtige männliche Gewalt

Das Ensemble des Musiktheaters Münster schlägt sich mit einiger Bravour: Gregor Dalal ist dort atemberaubend präsent, wo er die brodelnde innere Ohnmacht des Frank Maurrant in hilflosen Ausbrüchen verbaler Aggression und körperlicher Brutalität ausdrückt. Kathrin Filip zeichnet mit sensiblen Zwischentönen nach, wie sich der innere Widerstand von Maurrants Tochter Rose gegen die bedrückenden Lebensverhältnisse und gegen die allgegenwärtige männliche, sexuell geladene Gewalt konkretisiert und nach dem Mord an ihrer Mutter zum einsamen Aufbruch aus ihrer bisherigen vergifteten Welt führt.

Juan Sebastián Hurtado Ramirez ist Roses Büroleiter, der gerne ihr latin lover wäre, Til Ormeloh der junge Vincent Jones, der Frauen für Freiwild hält, Gerry Davislim der Student Sam Kaplan, der die junge Frau trotz seiner Liebe nicht gewinnen kann, weil sie niemandem mehr „gehören“ will. Christian-Kai Sander und Ute Hopp haben als Eltern Kaplan je einen eindrücklichen Kurzauftritt. Melanie Spitau und Christina Holzinger lassen in ihrem grotesken Kindermädchen-Auftritt in Himbeercrème-Rosa an die Totengräber aus Shakespeares „Hamlet“ denken. Chor (Inna Batyuk), Kinderchor (Claudia Runde) und Statisterie beleben die Szenerie. Nicht zu vergessen Cedrik Runde in der wichtigen Kinderrolle des Willie, Jendrik Sigwart (Dick McGann) mit energiegeladenen Moves und Rüdiger Wölk, der allein durch seine Anwesenheit in seinem rollenden Drugstore wirkt.

„Street Scene“, zuletzt 2009 in Hagen und 2012 auch am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, wird am 28. April 2019 in der Regie von John Fulljames an der Oper Köln Premiere haben und einen Vergleich mit der ambitionierten Produktion am Haus von Ulrich Peters in Münster ermöglichen.

Vorstellungen in Münster: 31. Januar, 10., 15. Februar, 2., 13., 16. März, 23. April, 25. Mai.
Info: https://www.theater-muenster.com/produktionen/street-scene.html

Vorstellungen in Köln: 28., 30. April, 2., 5., 8., 10., 12., 16. Mai.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/street-scene/4064

 

 




Der Mensch zwischen Tieren und Robotern: Windungsreiche Münsteraner Schau rund ums Gehirn

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne". (Foto: Bernd Berke)

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne“. (Foto: Bernd Berke)

Es gibt keinen Grund zur darwinistischen Überheblichkeit: Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch gar nicht so furchtbar viele exklusive Anlagen. Mit solchen Erkenntnissen lehrt die neue Münsteraner Ausstellung „Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“ auch etwas Bescheidenheit oder gar Demut.

Gleich am Beginn steht das größte Exponat, ein veritables Londoner Taxi aus den 1970er Jahren, in das man auch einsteigen soll. Nanu? Was hat das mit dem Gehirn zu tun? Nun, hier erfährt man, dass angehende Taxifahrer, die sich den komplizierten Londoner Stadtplan einpauken, nachhaltig von der Mühsal profitieren. Anschließend sind die Hirnbereiche, die mit Orientierung zu tun haben, deutlich ausgeprägter als vorher. Eine frohe Botschaft, übrigens auch und gerade für ältere Probanden.

Trio der Ausstellungsmacherinnen (von links): Dr. Julia Massier, Nicola Holm und LisaKlepfer) mit dem größten Exponat, inem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Die drei Ausstellungsmacherinnen (von links): Julia Massier, Nicola Holm und Lisa Klepfer mit dem größten Exponat, einem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Imposante Fülle der Exponate

Im LWL-Museum für Naturkunde werden 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit 770 Objekten rund ums Thema Gehirn „bespielt“. Damit ist es deutschlandweit die bei weitem größte Ausstellung zu dieser Materie. An über 60 Medienstationen können Besucher(innen) weiterführende Informationen sammeln oder ihre kognitiven Fähigkeiten erproben, sich jedenfalls zum Nachdenken und Nachfühlen anregen lassen. Zwei bis drei Stunden Zeit sollte man möglichst mitbringen, um die Fülle halbwegs auszuschöpfen. Aber gemach! Die Schau dauert beruhigende 16 Monate.

Ausgestopfte Tiere, die man gemeinhin in Naturkundemuseen erwartet, sind hier auch reichlich zu finden, doch sind sie nicht das Eigentliche, sondern dienen eher als sinnfällige Dekoration. Der themengerecht windungsreiche, ansprechend gestaltete Rundgang führt in etliche Bereiche, die man mit dem Gehirn assoziiert.

Da geht es zunächst um anatomische Voraussetzungen und Entwicklungen, sodann um natürliche und künstliche Intelligenz, Wahrnehmung, Gefühle, Ich-Bewusstsein, Schlaf und Traum, psychische Erkankungen, Drogen und schließlich um Verhaltenssteuerung (Stichwort „Gehirnwäsche“) des für allerlei Einflüsse empfänglichen, ja anfälligen Organs. Überhaupt erweist sich die Schau keineswegs als rein naturkundlicher Streifzug, sondern als Unterfangen, das weit in psychosoziale Sphären reicht.

MM7 Selector mit der groben Mechanik

Das eingangs erwähnte Taxi ist dabei nicht das einzige auffällige Exponat. Da wäre zum Beispiel KIM, ein Roboter mit 3D-Kamera und ausgeklügelter Sensorik (Kostenpunkt rund 40.000 Euro), der leise auf Rollen durch die Räume gleitet, zielsicher zu bestimmten Exponaten hinführen und sie einigermaßen eloquent erklären kann. Er wirkt in gewissen Momenten freilich noch etwas störrisch. Aber keine Angst: Er fährt einen nicht um, sondern bremst stets rechtzeitig! Das hat ein ähnliches Exemplar auch schon in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA bewiesen.

KIM steht übrigens für „Künstliche Intelligenz im Museum“. Einer seiner frühen Vorläufer, der Maschinenmensch MM7 Selector, ist gleichfalls zu bestaunen. Das ziemlich ungeschlacht aussehende Monstrum wurde bereits 1961 vom Visionär Claus Christian Scholz-Nauendorff entwickelt, ist aber kein echter Roboter im heutigen Sinn. Es wollte sozusagen erst einer werden und musste sich noch mit grober Mechanik begnügen.

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector", eine kybernetische Maschine von 1961/62. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector“, eine kybernetische Maschine von 1961. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Daran knüpfen sich Fragen nach dem heutigen Stand der Robotertechnik. Man ist drauf und dran, ihnen beizubringen, angemessen auf menschliche Mimik und somit auf Emotionen einzugehen – vielleicht zeichnet sich da eine (Neben)-Lösung im Pflegebereich ab? Gleichzeitig weckt derlei Fortschritt natürlich auch Ängste: Werden wir Menschen eines (nicht so fernen?) Tages in die hinteren Reihen rücken und von Robotern nicht nur entlastet, sondern regiert werden?

Zwei Schnittproben von Einsteins Hirn

Zurück zur Natur: Gibt es äußere Merkmale für besonders kluge Gehirne? Schon vorab wurden zwei Exponate besonders beworben, nämlich in einer Art Schrein präsentierte, haudünne Schnitte durchs Gehirn des Genies Albert Einstein, die aus einem Museum in Philadelphia (USA) eingeflogen wurden. Freilich hat keiner der vielen, vielen Hirnforscher, die solche Schnitte untersuchen durften, bisher spezielle physische Merkmale der überragenden Intelligenz Einsteins nachweisen können – wie denn überhaupt dieses Fachgebiet immer noch und immer wieder Rätsel bereithält. Auch das kann man eher beruhigend finden.

Nebenbei bemerkt: Zur Pressekonferenz lag auf jedem Stuhl u. a. ein Stück Seife in Form eines Gehirns. Die morbide kleine Morgengabe war mit einem Zettel versehen, auf dem „Gehirnwäsche“ stand. Beim Museumsträger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), hat man offenbar schwarzen Humor.

Etwas gruselig kann einem auch in der geheimnisvoll abgedunkelten „Galerie der Gehirne“ zumute werden. Hier sind gleich 71 echte, in Gläsern konservierte Hirne verschiedener Lebewesen zu sehen, die frappierende anatomische Vielfalt reicht von Frosch und Fledermaus bis zum Elefanten. Die allermeisten Beispiele stammen aus der umfangreichen „Edinger-Tiergehirnsammlung“. Sie werden ergänzt durchs Gehirn und das filigran verzweigte Nervensystem eines Berberaffen, präpariert vom nicht ganz unumstrittenen Plastinator Gunther von Hagens.

Die Wahrnehmung eines Elefanten

An einer anderen Station kann man sich – ein wenig – hineinversetzen in die Wahrnehmung diverser Tiere, die ja ganz andere Farbspektren und Tonfrequenzen aufnehmen können. Auf einer Vibrationsplatte stehend, kann man etwa das Sensorium eines Elefanten nachempfinden, der höchst sensibel auf geringste Erderschütterungen reagiert. Grotesk wirken jene Menschen- und Tiermodelle, deren tastempfindlichste Körperstellen entsprechend optisch vergrößert wurden. Deshalb hat die scherzhaft so genannte „Homunculine“ riesige Finger. Und das Kaninchen… Aber sehen Sie selbst!

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine", Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine“, Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Sogar ein kleines, unscheinbares Bild von Pablo Picasso ist zu sehen, daneben vom Computer programmierte „Kunst“ – und die Hervorbringung eines Schimpansen, der angeblich nach und nach sogar einen „Stil“ entwickelt haben soll. Das bodenlose Fass, was nun Kunst und wer ein Künstler sei, will das Museum mit diesem Arrangement eigentlich nicht aufmachen. Zu erwarten steht jedoch, dass die einen oder anderen Betrachter dies trotzdem tun.

Auch Tiere berauschen sich

Man kann längst nicht alles erwähnen, so vielfältig und reichhaltig ist diese Ausstellung. Schon beim zügigen Rundgang lassen sich einige erstaunliche Einsichten gewinnen. So etwa die, dass nicht nur Menschen (allerdings erst mit etwa 18 Monaten), sondern auch manche Tierarten ein rudimentäres Ich-Bewusstsein entwickeln und sich selbst von anderen Exemplaren ihrer Spezies zu unterscheiden wissen. Ihnen ist offenbar auch vor dem Spiegel klar, dass sie sich selbst sehen. Und dabei reden wir nicht nur z. B. über Affen, Delfine und Hunde, denen man das wohl zugetraut hat, sondern beispielsweise auch über Schweine.

Dass Tiere ängstlich oder aggressiv sein können, weiß man. Die Ausstellung begibt sich darüber hinaus auf die aussichtsreiche Spur der Vermutung, dass sie auch ein (etwas anders gelagertes) Gefühlsleben haben. Noch in einer weiteren Hinsicht verhalten sich Tiere wie Menschen, sie berauschen sich nämlich ganz gezielt mit allerlei „Drogen“. So bevorzugen manche Arten Rauschpilze oder Mohn, andere wiederum pfeifen sich das Sekret von Tausenfüßlern ‚rein, um es mal salopp zu sagen. Da gerät ihr Gehirn gleichsam ins Schwirren, Schwanken und Tanzen.

„Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl.“ LWL-Museum für Naturkunde, Münster, Sentruper Straße 285 (neben dem Allwetterzoo). Vom 29. Juni 2018 bis zum 27. Oktober 2019. Geöffnet Di bis So 9-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro (Erwachsene), 4 Euro (Kinder), 14 Euro (Familien).

Weitere Infos: www.das-gehirn.lwl.org




Warum Proben von Einsteins Gehirn nach Münster gelangen

Welch ein Termin! Da trifft doch heute eine Einladung vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ein, die Sensationelles verheißt: Demnach werden in wenigen Tagen im Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde zwei Gehirnschnitte von Albert Einstein eintreffen.

1. Oktober 1940: Albert Einstein erhält die US-Einbürgerungsurkunde aus der Hand des Richters Phillip Forman. (© World-Telegram photo / public domain / gemeinfrei - Link zu Lizenz-Angaben:https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein#/media/File:Citizen-Einstein.jpg)

1. Oktober 1940: Albert Einstein erhält die US-Einbürgerungsurkunde vom Richter Phillip Forman. (© World-Telegram photo / public domain. Lizenz-Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein#/media/File:Citizen-Einstein.jpg)

Donnerwetter! Gehirnschnitte. Und dann auch noch von Einstein, dem vielleicht klügsten Menschen aller Zeiten. Ein solches Faszinosum ist schon einen Extra-Fototermin für die Weltpresse (oder wenigstens die westdeutsche bzw. westfälische Presse) wert.

Soll man gespannt sein, wie die Fotografen das Thema umsetzen, oder kann man das gelassen abwarten? Bei anderem Licht betrachtet, könnte man die Angelegenheit auch ein wenig degoutant finden. Doch Naturwissenschaftler denken über derlei Relikte ganz nüchtern. Für sie sind es auch keine Reliquien.

Die zwei offenkundig bedeutsamen Scheibchen gehören übrigens zur Sonderschau „Das Gehirn – Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“, die ab 29. Juni im besagten Museum zu sehen sein wird. Das ist fraglos ein hochinteressantes Thema.

Zum Hintergrund der Leihgabe: Einstein ist 1955 in den USA gestorben. Eigentlich wollte er, dass seine gesamten sterblichen Überreste nach seinem Tode verbrannt werden. Doch ein enthusiasmierter Mediziner entnahm dem Leichnam Gehirnproben zur Aufbewahrung – eine durchaus abenteuerliche Geschichte. So kommt es, dass die beiden Gehirnschnitte jetzt aus Philadelphia (Pennsylvania/USA) nach Münster gelangen können. Überreichen wird sie Lowell Flanders, der Sammlungs-Manager des dort angesiedelten Mütter Museums.

Bevor sich jemand wundert: Das Institut in Philadelphia hat überhaupt nichts mit Müttern zu tun, sondern ist ein renommiertes medizingeschichtliches Museum, das 1856 durch die Sammlung eines gewissen Dr. Thomas Dent Mütter erheblich anwuchs und seither ständig erweitert wurde.




15 Episoden erzählen von der Liebe – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joel Pommerat in Münster

Das Ensemble: Ulrike Knobloch, Sandra Bezler, Gerhard Mohr, Ilja Harjes, Wilhelm Schlotterer, Carola von Seckendorff, Regine Andratschke, Andrea Spicher  (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Groß ist der Bühnenraum, fast leer und in ungemütliches helles Licht getaucht. In der Mitte steht eine Frau, die erklärt, warum sie die Scheidung will. Im Zuschauerraum verteilte Darsteller stellen peinliche Verhörfragen, warum erst jetzt, warum überhaupt. Doch die Frau wankt nicht, weil da keine Liebe ist, geht schließlich ohne erkennbare Erregung ab. „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ heißt das Stück von Joel Pommerat, das Beziehungsthemen in unterschiedlichsten Spielarten so lapidar zelebriert und das jetzt in Münster Premiere hatte.

Bizarr und alltäglich

Da platzt eine Hochzeit, weil die Schwester der Braut ebenfalls Ansprüche auf den Bräutigam anmeldet, da hören Nachbarin und Nachbar hilflos zu, wie ihre Partner es heftig miteinander treiben (oder woher kommen die Geräusche?), da gibt eine Prostituierte sich zum Nulltarif hin, weil sie an die Liebe glaubt.

15 Episoden zählt das Programmheft auf, die Pommerat in seinem Stück eher unvermittelt aneinanderreiht und in denen er Partnerbeziehungen beschreibt, die mal bizarr sind, mal aber auch von frappierender Alltäglichkeit. So, wenn Paare am Ende sind und der eine vom anderen zurückfordert, was er ihm gegeben habe, emotional. Der andere versteht das gar nicht, alles bleibt im Vagen, beim schwulen Paar ebenso wie bei den beiden Frauen.

Episode „Hochzeit“; Szene mit Regine Andratschke, Ulrike Knobloch, Ilja Harjes, Sandra Bezler, Andrea Spicher (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Mit Korea hat das Stück nichts zu tun, mit Liebe viel. Der Titel ist lediglich ein Zitat aus einer Episode, der Versuch, die Großartigkeit einer ersehnten wie unerfüllbaren Liebe zu erklären. So großartig sei sie, wie – eben – „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“.

Mit der Säge

Graue Plastikstühle sind fast die einzigen Requisiten (Bühne: Sylvia Rieger). Einmal allerdings kommt der Spezialtisch eines Magiers ins Spiel, auf dem er sich anschickt, eine Frau zu zersägen. Die Episode nimmt eine unerwartete Entwicklung, als die Dame sagt, sie halte es für möglich, vom Magier im Zustand der Bewusstlosigkeit vergewaltigt worden zu sein, was sie allerdings in der Erinnerung sehr schön finde und gerne wiederholen würde. Der Magier, dessen empörte Leugnung in rhetorischer Absurdität verpuffen muss, schafft es anschließend nicht mehr, die Frau zu zersägen. Schließlich hat sie die Säge in der Hand – ein putziges Stück Machtumverteilung, auf das man erstmal kommen muss. „Liebestrank“ ist die Episode überschrieben.

Episode „Liebestrank“; Szene mit Christian Bo Salle, Sandra Bezler (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Ein wenig Musik

In Münster baut Regisseurin Anne Bader weitgehend auf die Vorlage, lässt die Episoden auf der Bühne allerdings szenisch ineinanderfließen, so dass sich keine harten Schnitte ergeben. Nur einmal geht das Licht aus, aber da handelt es sich um einen Stromausfall im Stück, der zum Gebrauch von Taschenlampen zwingt, was zur Entdeckung eines Erhenkten führt.

Rhythmische, melodische und trotzdem irgendwie beunruhigende leise Musik liegt unter dem Bühnengeschehen, manchmal tanzen Protagonisten; im Tanz, so scheint es, finden sie die Harmonie, den Gleichklang, die ihnen das wirkliche Leben vorenthält. Wiederholt greift Ilja Harjes in die Saiten seiner Elektrogitarre und stimmt schmachtende Liebeslieder aus dem amerikanischen Repertoire an, die man kennt und mehr oder weniger auch versteht. Manchmal singen die Personen auf der Bühne mit, doch bleibt Live-Musik hier ein zurückhaltendes Bühnenelement, das ein wenig strukturiert und akzentuiert, ohne sich in den Vordergrund zu schieben.

Episode „Schwanger“; Szene mit Christian Bo Salle, Andrea Spicher(Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Erschütternd intensiv

Diese Inszenierung, die gänzlich ohne Video, ohne Projektionen, ohne dramatische Lichtsetzung auskommt, setzt voll und ganz auf die solide agierenden 10 Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Münsteraner Ensemble, die die namenlos bleibenden Personen in den Episoden geben (Regine Andratschke, Sandra Bezler, Joachim Foerster, Ilja Harjes, Ulrike Knobloch, Gerhard Mohr, Christian Bo Salle, Wilhelm Schlotterer und Carola von Seckendorff).

In besonderer Erinnerung bleibt Andrea Spicher in der letzten Episode „Schwanger“. Hier gibt sie eine geistig zurückgebliebene Heiminsassin, die geschwängert wurde und das Kind nicht, wie in früheren Fällen, abtreiben lassen will. Sie liebt, sagt sie, den Kindsvater und will mit ihm ein neues Leben beginnen. Verliebtheit, Verzweiflung, Glück, Trotz – all das spielt Andrea Spicher bis in feine Gesten und Posen hinein mit erschütternder Intensität. Das begeisterte Publikum bedachte sie dafür mit einem deutlichen Mehr an Applaus.




Den Frieden von allen Seiten betrachten – eine fünffache Themenausstellung in Münster

Ein globaleres, ebenso zeitübergreifendes Thema kann man sich schwerlich aussuchen: Gleich fünf Münsteraner Museen und Institutionen zeigen jetzt Ausstellungen über den Frieden. Die Präsentationen dauern samt und sonders bis zum 2. September. Und da man beim Thema Frieden nicht ohne den finsteren Kontrast des Krieges auskommt, weitet sich das Spektrum des umfangreichen Projekts „Frieden. Von der Antike bis heute“ noch einmal wesentlich.

Battista Dossi: "Pax" (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Battista Dossi: „Pax“ (1544), Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (© bpk / Staatl. Kunstsammlungen Dresden / Hans-Peter Klut)

Münster ist bekanntlich die Stadt des Westfälischen Friedens, der 1648 geschlossen wurde und jetzt also 370 Jahre zurück liegt. Der Dreißigjährige Krieg, der damit aufhörte, brach vor 400 Jahren aus. Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wenn man denn also runde Daten braucht, so gibt es Anlässe genug für eine solche Gemeinschafts-Ausstellung. Die eingehende Beschäftigung mit dem Thema lohnt sich aber auch ohne Ziffern-Jonglage. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist übrigens Schirmherr der Münsterschen Unternehmung.

Entstehung von Bildtraditionen

Beteiligt sind das LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, wo außerdem das Bistum Münster gastiert; das Archäologische Museum der Uni Münster, das Picasso-Museum und das Stadtmuseum. Sie alle zusammen zeigen rund 660 Exponate und gehen dementsprechend auf viele Aspekte des Themenkreises ein. Dabei ergeben sich etliche Kreuz- und Querbezüge zwischen den einzelnen Ausstellungen.

Gemeinsame Ansätze betreffen vor allem die Ikonographie, also quasi die Bildtraditionen des Friedens, die sich im Laufe der Zeiten herausgebildet haben und auf deren Fundus getrost zurückgegriffen werden konnte. Im LWL-Landesmuseum am Domplatz finden sich dafür markante Beispiele. Hier prunkt man u. a. mit allegorischen Kriegs- und Friedensbildern von Peter Paul Rubens (kleinere Ölskizzen), der die Gepflogenheiten bei Friedensverhandlungen in seiner Eigenschaft als Diplomat aus eigener Anschauung kannte.

Friedensgöttin Pax mit Füllhorn

Gleich eingangs der Schau gehen mit der 1544 von Battista Dossi gemalten Friedensgöttin Pax einige Symbole einher, wie sie immer wiederkehren, so etwa Füllhorn, Früchte und Ähren als Wohlstands-Versprechen nach einem Friedensschluss. Zudem hat Pax mit ihrer Fackel eine Rüstung verbrannt. Zu ihren Füßen liegen Wolf und Lamm in schönster Eintracht – auch dies seit Jahrhunderten ein bewährtes Bildmuster für friedliche Zeiten.

Auguste Rodin: "Die Bürger von Calais", Figur Jean d'Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Auguste Rodin: „Die Bürger von Calais“, Figur Jean d’Aire (um 1895-1899), Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein Bremen: Kupferstichkabinett (Foto: LWL/Anne Neier)

Das LWL-Museum widmet sich überdies den überlieferten Strategien, Gesten und Ritualen des Friedens, wie sie zumal in den Darstellungen historischer Friedensschlüsse zum Ausdruck kommen. Zu nennen wäre Gerard ter Borchs buchstäblich mustergültiges, in den Grundzügen später vielfach nachgeahmtes Bild einer solch feierlichen Zeremonie: „Beschwörung des Spanisch-Niederländischen Friedens am 15. Mai 1648“.

Demutsgesten vor dem Gnadenakt

Auch gehört die (im Idealfalle großmütig angenommene) Unterwerfungs- und Demutsgeste zum geschichtlichen Repertoire. Besonders trefflich und subtil formuliert ist diese Gestik in Auguste Rodins Figurengruppe „Die Bürger von Calais“ (um 1895-99), welche bei den englischen Belagerern der Stadt flehentlich um Gnade baten. In diesem Kontext kann es eigentlich nicht überraschen, wenn zwischen all den Kunstwerken auch eine berühmt gewordene Fotografie auftaucht, die Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos zeigt und sich in althergebrachte Bildtraditionen einfügt.

Das 20. Jahrhundert brach insofern mit der Überlieferung, als nach den weltweiten Konflikten vornehmlich Siegfrieden herrschte – ohne das Wenn und Aber von ausgehandelten Kompromissen. Eine andere, mildere Form des Friedens schien gar nicht mehr vorstellbar. Und mit Aufkommen der atomaren Bewaffnung ist, wie die Ausstellung ebenfalls zu zeigen sucht, die Frage nach Frieden dringlicher denn je.

Ein etwas kraftloses Finale

Die Schau, die bis dahin doch einige bemerkenswerte Kunstwerke in schlüssiger Anordnung aufbietet (u.a. auch einschlägige Karikaturen von Honoré Daumier und Kriegsbilder von Otto Dix), mündet schließlich in einen Raum, der sich recht plakativ der demonstrativen Ästhetik der Friedensbewegung anbequemt. Es ist, als ob etwas recht Gewaltiges am Ende eher etwas kraftlos auströpfelt.

Otto Pankok: "Christus zerbricht das Gewehr" (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Otto Pankok: „Christus zerbricht das Gewehr“ (1950). Privatsammlung Gerhard Schneider, Olpe und Solingen, Zentrum für verfolgte Künste GmbH im Kunstmuseum Solingen (© Otto Pankok Stiftung)

Im selben Haus gastiert das Bistum Münster mit einer konzentrierten Auswahl unter dem Leitmotto „Frieden. Wie im Himmel so auf Erden?“ Sie kommt übrigens gerade recht zum Deutschen Katholikentag, der vom 9. bis 13. Mai in Münster stattfindet. Die Friedenssehnsucht, so die eindrücklich belegte Hypothese, zählt zu den zentralen Motiven des Christentums, versinnbildlicht u. a. in der Vorstellung vom „Himmlischen Jerusalem“. Übliche Friedenssymbole sind beispielsweise Tauben und Regenbögen, wie sie in der LWL-Schau etwa bei Otto Piene in moderner Gestalt wiederkehren. Von Tauben wird im Picasso-Museum ebenfalls noch zu reden sein. Die fünf Ausstellungen bestehen zwar je für sich, sie bilden aber eben auch einen hie und da dicht geflochtenen Zusammenhang.

„Mit Gott zum Sieg“

Das Bistum Münster hat keineswegs eine Ausstellung (u.a. gekrönt mit Objekten der Antike sowie Werken von Veit Stoss, Otto Pankok und Christian Schmidt-Rottluf) aus dem Geist der Selbstbeweihräucherung zusammengetragen – im Gegenteil: Man ist so klug und aufrichtig, auch Schattenseiten wie die Missionierung mit dem Schwert gebührend darzustellen. Klerikal abgesegnete Parolen wie „Mit Gott zum Sieg“ dienten weltlichen Kriegstreibern. Und zu den furchtbaren Kreuzzügen sieht man mit Entsetzen die auf 1634 datierte Darstellung eines Christus, der triumphal den abgeschlagenen Kopf eines Muslims in der Hand hält. Gepriesen sei die Aufklärung, die nach und nach das Christentum geläutert hat. Sie möge allen Religionen zuteil werden.

Weiter geht’s ins Archäologische Museum der Universität. Hier schreitet man sogleich auf eine vergoldete Replik der altgriechischen Friedensgöttin Eirene zu. Schon zu dieser Frühzeit findet sich also die anthropomorphe Deutung des Friedens, der Menschengestalt annimmt. Und schon hier steht das Füllhorn sozusagen für die erhoffte Friedens-Dividende, also für wirtschaftliche Blüte. Die Taube hingegen fungierte zunächst nur als bloßes Tieridyll und noch längst nicht als explizites Friedenszeichen.

"Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah" (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei) - (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett - Foto Bernd Berke)

Noch kein ausdrückliches Friedenssymbol: „Taube mit Olivenzweig fliegt zur Arche Noah“ (Buntmetall, Münzstätte Apameia (Phrygien/Türkei). Geprägt unter Kaiser Philippus Arabs (reg. 244-249 n. Chr.)  – (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett – Foto Bernd Berke)

Inszenierung des Kaisers

Die kleine archäologische Ausstellung schlägt beherzt einen Bogen von etwa 700 vor Chr. bis ins 3. Jahrhundert nach Chr. und berührt griechische wie römische Vorstellungen vom Frieden. Während sie in Griechenland noch mythologisch grundiert war, bezog sie sich in der römischen Antike vor allem auf den Kaiser als Friedensbringer, zumal auf den Imperator Augustus. Ein Modell führt die ausgesprochen raumgreifende, architektonische und städtebauliche Inszenierung des Friedens vor Augen, wie sie den Herrschenden im Römischen Weltreich gefiel. Wer einmal sein weitläufiges Gebiet arrondiert hat, kann wohlfeil den Frieden zelebrieren.

Man erfährt überdies, dass (nicht nur) seinerzeit eine gewisse Korpulenz zum Inbild des gütigen Friedensherrschers gehörte. Kühner Vergleich der Ausstellungsmacher: Ein Foto des wohlgenährten „Wirtschaftswunder“-Ministers und nachmaligen Kanzlers Ludwig Erhard soll quasi an die antiken Bildnisse anknüpfen.

Mit dem Botenstab zwischen den Fronten

Außerdem sieht man Tontafel-Fragmente des ältesten erhaltenen Friedensschlusses der Menschheit von 1259 v. Chr. Dieser Vertrag zwischen Hethitern und Ägyptern ist hier bruchstückweise als Kopie in Keilschrift vorhanden.

Auch lernt man, dass der Botenstab zur Grundausstattung antiker Diplomaten zählte. Mit diesem Stab versehen, der Immunität garantierte, wandelten sie zwischen den Fronten, um zu verhandeln; wie denn überhaupt in der Antike oftmals der vernünftige Interessenausgleich zum Friedensschluss führte – und nicht das einseitige Diktat des Siegers. Allerdings ergibt sich im 3. Jhdt. n. Chr. auch das Paradox, dass viele Münzen die Friedensgöttin Pax zeigen, während die Zeiten in Wahrheit ungemein kriegerisch waren.

Nächste Station: das Kunstmuseum Pablo Picasso. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Picassos weltberühmter Kriegsanklage „Guernica“ (die natürlich nicht im Original zu sehen ist, sondern als Paraphrase der Künstlerin Tatjana Doll) und des recht eigentlich von ihm kreierten Motivs der Friedenstaube vermessen.

Pablo Picasso: "Die Taube" (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Pablo Picasso: „Die Taube“ (1949), Lithographie (Kunstmuseum Pablo Picasso Münster © Succession Picasso, Paris, VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Himmelschreiendes Nachtstück

Die Entstehungsphasen seines „Guernica“-Bildes sind gleichwohl präsent, und zwar durch Fotografien seiner damaligen Gefährtin Dora Maar, die das allmähliche Werden des Werks – von April bis Juni 1937 – Schritt für Schritt festhalten. Das letztlich unausdeutbare Großformat bezieht sich auf die barbarische Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Francos faschistische Truppen, die deutsche „Legion Condor“ und italienische Unterstützer. Es ist ein himmelschreiendes Nachtstück, allen Opfern des Überfalls zugeeignet.

Erst in dieser Phase wurde Picasso überhaupt politisch. Die Münsteraner Ausstellung enthält auch seine schrundige, bewusst ungeglättete Skulptur eines Mannes mit Schaf, die sich (in der Tradition von Auguste Rodin) weit abheben sollte von der Sterilität eines Arno Breker, der damals – unter deutscher Besatzung – gerade in Paris ausstellte. Auch bei dieser Picasso-Schöpfung oszillieren die möglichen Bedeutungen. Was beim flüchtigen Hinsehen als Friedensbotschaft gesehen werden könnte, kippt wohl doch ins schiere Gegenteil um: Bringt der Mann das Tier nicht zur Schlachtbank? Es ist jedenfalls eine subversive Arbeit, die auch der Gestapo verdächtig war, die Picasso in Paris drangsalierte.

Friedenstauben für die Kommunisten

Und die Tauben? Wurden Picassos denkbar breitenwirksames und wohl populärstes Motiv überhaupt. Als ursprüngliches Vorbild dienten vermutlich jene Mailänder Tauben, die Picasso als Geschenk von Matisse erhalten hatte. In Münster sieht man nun einige Varianten des Motivs, das Picasso stets wieder aufgriff, seit er 1949 die Urfassung entworfen hatte. Picasso, nunmehr Mitglied der Kommunistischen Partei, stellte damit die Genossen zufrieden. Endlich sei die Kunst des Avantgardisten einmal verständlich, lobten sie. Hernach stellte er sein Tauben-Motiv häufig der Partei für Plakate zur Verfügung. Kurios: Es gibt ein Zitat von Picasso, das sinngemäß besagt, es sei ein Witz, ein dermaßen aggressives Tier wie die Taube zum Friedenssymbol zu ernennen…

Bliebe noch das Stadtmuseum Münster. Dessen Schwerpunkten entsprechend, wird dort die örtliche und regionale Wahrnehmung des Westfälischen Friedens von 1648 behandelt. Unter dem Titel „Ein Grund zum Feiern?“ beleuchtet man die Aktivitäten zu früheren Jubiläen des historischen Datums. Die Rückblicke reichen in die Jahre 1748, 1848, 1898 und 1948. In Münster galt der Westfälische Frieden lange Zeit als eher missliebiger Gedenkanlass, wähnte man doch, der Katholizismus sei schlecht dabei weggekommen. Erst ganz allmählich rang man sich zu einer gelasseneren und neutraleren Sicht der Dinge durch.

Ob man nun alle fünf Ausstellungen absolvieren soll? Nun, das bleibt selbstverständlich jedem und jeder selbst überlassen. Ich kann nur sagen: Beim Pressetermin ging es in einer Tour de Force über den gesamten Parcours. Und das übersteigt im Grunde die mentale Aufnahmebereitschaft. Ratsam wäre es, sich je nach Interessenlage etwas herauszusuchen oder sich die ganze Sache an zwei verschiedenen Tagen zu Gemüte zu führen. Ganz ruhig und friedlich also.

„Frieden. Von der Antike bis heute“. Bis 2. September 2018 an folgenden Orten in Münster:

  • LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10 (mit zusätzlicher Gastausstellung des Bistums Münster). Tel. 0251/ 5907 201
  • Archäologisches Museum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20-22. Tel. 0251 / 832 69 20
  • Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Picassoplatz 1, Tel. 0251/ 41 44 710
  • Stadtmuseum Münster, Salzstraße 28, Tel. 0251/ 492 45 03
  • Gemeinsame Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr (montags geschlossen). Kombi-Ticket für alle Ausstellungen Erwachsene 25 €, ermäßigt 16 €, Kinder, Jugendliche, Schüler 8 €
  • Sonderöffnungszeiten zum Deutschen Katholikentag, 9. bis 12. Mai, jeweils 10 bis 22 Uhr
  • Zur Ausstellung erscheinen fünf Katalogbände im Sandstein-Verlag, die einzeln oder als Gesamtedition im Schuber erhältlich sind. Die Kataloge kosten einzeln: LWL-Museum 38 €, Bistum 38 €, Archäologie 38 €, Picasso-Museum 24 € und Stadtmuseum 18 €. Alle zusammen (1064 Seiten) 98 Euro.
  • Weitere Infos: www.ausstellung-frieden.de

 

 




Münster: Picasso-Museum feiert die Impressionisten in der Normandie

Gustave Courbet, Marine, gros temps, 1871, Öl auf Leinwand. (c) Collection Peindre en Normandie

Gustave Courbet, Marine, gros temps, 1871, Öl auf Leinwand. © Collection Peindre en Normandie

Landschaften – ob natürlich oder von Menschen gestaltet – faszinierten von Anbeginn die Künstler eines neuen, später „impressionistisch“ genannten Malstils. Das Spiel des Lichts, die Nuancen der Farben, Atmosphäre und Stimmungen waren für sie entscheidende Elemente der Natur, die sie in ihren Bilderfindungen einzufangen suchten.

Führende Impressionisten wie Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir fanden sie im Schauspiel der Natur in der Normandie. Sie stellten ihre Staffeleien unter freiem Himmel an den Stränden der Normandie auf, an malerischen Orten wie Pourville, Étretat oder Deauville, um Licht und Atmosphäre des französischen Nordens in ihren Bildkompositionen zu bannen.

In seiner bisher größten Gemäldeausstellung zeigt das Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster derzeit rund 80 Gemälde, die die Küsten Nordfrankreichs als Wiege des Impressionismus vorstellen. Unter dem Titel „Die Impressionisten in der Normandie“ sind Bilder von Monet, Renoir, Alfred Sisley, Gustave Courbet und anderen zu sehen.

„Wir zeigen die großen Entwicklungen der französischen Freiluftmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, so Museumsleiter Markus Müller. Romantische Seestücke von Eugène Isabey und Eugène Modeste Edmond Le Poittevin, die für die Freiluftmalerei wegweisende Schule von Barbizon sowie maritime Landschaftsgemälde Johan Barthold Jongkinds und Eugène Boudins beleuchten die Ursprünge des Impressionismus.

Claude Monet, Bateaux sur la plage à l'Etretat, 1883, Öl auf Leinwand, Fondation Bemberg, Toulouse. (c) RMN-Grand Palais, Mathieu Rabeau

Claude Monet, Bateaux sur la plage à l’Etretat, 1883, Öl auf Leinwand, Fondation Bemberg, Toulouse. © RMN-Grand Palais, Mathieu Rabeau

Die Schau vereint über 60 Gemälde aus der Sammlung „Peindre en Normandie“. Sie zeige „die Schönheit dieser Region mit den Augen von Künstlern“, erklärt Alain Tapié, Kurator der Ausstellung. Er ist Mitbegründer der im Laufe der Jahre gewachsenen Gemäldesammlung im Conseil régional de Normandie.

Im Rahmen von Sonderausstellungen waren die Werke bereits in den USA, in Japan, Südkorea, Osteuropa und Skandinavien zu sehen. In Deutschland wird die Sammlung erstmalig in Münster gezeigt. Werke aus dem Musée des Beaux-Arts in Rouen, dem Pariser Musée Marmottan Monet, der Fondation Bemberg in Toulouse, dem Musée Eugène Boudin in Honfleur, dem Rijksmuseum Twenthe in Enschede sowie einer in Paris beheimateten Privatsammlung ergänzen die Kollektion.

„Impressionisten in der Normandie“. Bis zum 21. Januar 2018 im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster. Täglich 10 bis 18 Uhr, freitags 10 bis 20 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 8 Euro. Katalog 26,90 Euro.

Info: www.kunstmuseum-picasso-muenster.de




Erhellendes Experiment: Ulrich Peters verschneidet in Münster Verdis „Don Carlo“ mit Schnittkes „Requiem“

Einsamer König (Stephan Klemm) im Raum des Todes. Foto: Oliver Berg

Einsamer König (Stephan Klemm) im Raum des Todes. Foto: Oliver Berg

Giuseppe Verdi war kein Freund der Kirche. Mit beißendem Hohn kritisierte er klerikale Doppelmoral, mit bitterer Schärfe zerlegte er die politische Rolle des Vatikans in Italien. Aber er hatte Priester unter seinen engsten Freunden, respektierte die Frömmigkeit seiner Frau Giuseppina Strepponi und äußerte sich nach allem, was wir wissen, nie gegen das christliche Glaubensbekenntnis.

So liegt es nicht fern, in der Figur des Großinquisitors in seiner Oper „Don Carlo“ eine szenische Verkörperung von Verdis Antiklerikalismus zu sehen. Kaum ein anderer Komponist hat eine kirchliche Figur mit derart verstörend fahlen Klängen eingeführt; in kaum einer anderen Oper wird in wenigen Sätzen die unmenschliche Ideologie eines in sich erstarrten Systems so präzis umrissen. „Perché un uom‘?“ – Wozu ein Mensch?“ schleudert der uralte Priester-Greis dem König entgegen, fordert den Kopf des Rodrigo Marchese di Posa, in dem der zutiefst einsame Philipp endlich eine lautere Seele gefunden zu haben glaubt.

Für den Großinquisitor verzichtet Regisseur Ulrich Peters in seiner Neuinszenierung in Münster auf klerikale Konnotationen: Er ist kein Bischof und kein Mönch, sondern ein stolzer spanischer Grande in einem historisch anmutenden steifen Justaucorps. Nur eine Art Handrosenkranz mit Kreuz deutet das religiöse Moment an.

Den Zusammenhang zwischen Religion und Politik verlegt Peters mit einer wagemutigen musikalischen Lösung aus dem direkten Handlungsstrang des Stückes auf eine übergeordnete Meta-Ebene: Verdis düster-beeindruckender Rahmen – der Mönch, der die Vergeblichkeit menschlichen Strebens im Angesicht von Tod und Ewigkeit besingt – ist gestrichen. Dafür beginnen und beschließen Peters und sein Dirigent Golo Berg die Oper mit dem „Requiem aeternam“ aus Alfred Schnittkes „Requiem“ (1977), ursprünglich gedacht als Bühnenmusik für Schillers „Don Carlos“.

Das Theater in Münster, ein ästhetisch gelungener Bau aus den Fünfziger Jahren. Archivfoto: Häußner

Das Theater in Münster, ein ästhetisch gelungener Bau aus den Fünfziger Jahren. Archivfoto: Häußner

„Don Carlo. Ein Requiem“ ist folglich der Titel der ambitionierten Münsteraner Aufführung, für die Peters und sein Team am Ende kräftige Missfallensbekundungen einstecken müssen. Bei allen Vorbehalten gegen eine musikalische Lösung, die Verdis meisterhafte, formal genau ausgewogene Musik immer wieder empfindlich stört: Das Konzept hat etwas für sich. Wo der Kontext der katholischen Kirche in den Verläufen auf der Bühne einer auf die Psyche Philipps konzentrierten Lösung weichen muss, wird der christliche Glaube auf der Meta-Ebene als Horizont neu eingesetzt.

Schon die Glocken und die düsteren Stimmen von Schnittkes „Requiem“ machen zur Eröffnung deutlich, in welchem Koordinatensystem der spanische König seine göttlich begründete Macht auf Erden ausübt. Es ist der Horizont des Todes. Doch der relativiert die politische Macht und setzt ihren unmenschlichen Folgen eine Vision von Hoffnung entgegen – mag man sie für bloß projiziert oder im christlichen Glauben abgesichert halten.

Am Ende, wenn alle tot sind, die Philipp etwas bedeuteten, und er die Leichen mit Herbstblättern bedeckt hat, kehren die Worte des „Requiem“ wieder. Ein berührender, mehrdeutiger Schluss: Einsam schreitet der König aus dem Raum des Geschehens, lässt den statuenhaft erstarrten Großinquisitor zurück. Der dominiert nun den Raum des Todes. Die jenseitige Ruhe, die der Text in seiner Bitte an Gott benennt, ist den befreiten Seelen verheißen. Ob Philipp das „ewige Licht“ erreichen wird, bleibt offen.

Schmerzhafte Schnitte in die Musik Verdis

Andere Teile des Schnittke-Requiems schneiden manchmal schmerzhaft in die Szenen der Oper ein, verstärken aber ihre Aussage: das „Kyrie eleison“, die Bitte um Erbarmen, als Carlo im Kloster vom König und seiner früheren, geliebten Braut Elisabeth überrascht wird – eine Szene, die sich auf diese Weise zu einer halbrealen Imagination wandelt. Das „Sanctus“, das den König im Kopf quält, als er seine Macht an der hilflosen Gräfin Aremberg demonstriert hat. Das „Dies irae“ nach der bedrückenden Szene des Autodafés – das an dieser Stelle als viel zweideutigeres Signal wirkt als Verdis gestrichene Stimme vom Himmel. Und das Glaubensbekenntnis, das „Credo in unum Deum“ zum Aufstand des Volkes – Bestätigung der Macht des Großinquisitors, der durch sein drohendes Auftreten allein den Aufruhr ohnmächtig zusammenfallen lässt, oder trotziger Kontrast zur entfalteten, aber morschen Dominanz der irdischen Großen? Die Signale sind stark, ihre Deutung lässt Spielräume zu, die in diesem Fall dazu neigt, den Zorn Gottes denjenigen anzukündigen, die glauben, seine Sache mit Mord und Macht zu vertreten.

Stumpfe Farben, bedrückende Stimmung: Die Bühne von Rifail Ajdarpasic für "Don Carlo. Ein Requiem" in Münster. Foto: Oliver Berg

Stumpfe Farben, bedrückende Stimmung: Die Bühne von Rifail Ajdarpasic für „Don Carlo. Ein Requiem“ in Münster. Foto: Oliver Berg

Auf der Bühne von Rifail Ajdarpasic lässt Ulrich Peters den idealistischen Feuerkopf Posa als einzigen in der lebensvollen Farbe Rot auftreten. Alle anderen hüllt Ariane Isabell Unfried in Kostüme zwischen strahlendem Weiß (Elisabetta) und düsteren Grau-, Schwarz und Silbertönen. Der Raum ist ein bleiern-zwielichtiger Kasten. Nur von oben oder von außen dringt Licht ein, das hin und wieder grelle Schatten schneidet, nie aber Wärme spendet.

Der Tod regiert diese Welt: Graue Baumstämme streben nach oben, doch sie sind in kaminartigen Schächten gefangen. Ihre Blätter sind längst verwelkt; sie bedecken einen Todeshügel, schweben hin und wieder verloren von oben herab. Ein Sarg thront im Zentrum des ersten Bildes, ein Schwert steckt wie ein Grabkreuz im Boden. Wenn der König seine brüchige politische Macht entfaltet, steht ein Ledersessel an der Stelle des Leichengehäuses. Ein Bild, das die bedrückende Atmosphäre des Stücks lastend depressiv einfängt.

Peters lässt keinen Zweifel, wer in diesem Verhängnis das Opfer ist: Philipp II. Gedankenverloren stützt sich Stephan Klemm auf den Sarg. Als Don Carlo (Garrie Davislim) sich in seiner ersten Arie in den glücklichen Moment der ersten Begegnung mit Elisabetta in Fontainebleau versetzt, schleicht der König wie ein materialisiertes Omen um seinen Sohn.

Zu Beginn des dritten Aktes, vor seiner zentralen Szene „Ella giammai m’amó“, ist der König nicht allein auf der Bühne – und dennoch unendlich einsam, wenn er die stummen, starren Gestalten seines Lebens umschreitet: Elisabeth, deren geplante Verbindung mit Carlo er aus politischen Gründen verhindert hat. Eboli, die schon im Lied vom Schleier im ersten Akt als seine Mätresse eingeführt wird und deren Leben daran zerbricht. Carlo, den er unglücklich gemacht hat, weil er seiner Liebe zu Elisabetta aus politischer Räson jede Chance verbaut hat. Posa, dessen hochfliegende politische Pläne er zu spät erkennt.

Ganz in Weiß und auch als Opfer der politischen Ranküne selbstbewusst: Kristi-Anna Isene als Elisabetta. Foto: Oliver Berg

Ganz in Weiß und auch als Opfer der politischen Ranküne selbstbewusst: Kristi-Anna Isene als Elisabetta. Foto: Oliver Berg

Stephan Klemm versucht, der tragischen Gestalt mit leisen Tönen, mit fragilen, ungestützt gesungenen Klängen beizukommen – musikalischer Ausdruck einer verlorenen Seele. Klemm setzt seinen wohlgeformten Bass ein, als glaube er nicht an Seelen-Expression durch Belcanto. Dieser Filippo ist nur scheinbar ein machtvoller Akteur, in Wirklichkeit ein existenziell verunsichertes Opfer einer diffusen, allgegenwärtigen Macht, die sich ein einziges Mal in der Gestalt des Großinquisitors konkretisiert. Allerdings fehlen seinen Schlüsselszenen die letzte psychologische Konsequenz: Regisseur Peters hat es offenbar nicht geschafft, dem Darsteller über den panischen Griff beider Hände an die Schläfen oder das steife Anlegen der Arme hinaus subtilere Reaktionen seelischer Pein zu vermitteln.

Leider gelingt es ihm auch nicht, aus dem steif agierenden Garrie Davislim (Carlo) und der anfangs markant und selbstbewusst auftretenden Kristi-Anna Isene (Elisabetta) prägnant gezeichnete Charaktere zu formen. Szenen wie die Konfrontation Elisabeths mit dem König im dritten oder dem Abschied von Carlo im vierten Akt kommen nicht auf den Punkt und wirken eher routiniert arrangiert als szenisch durchdrungen. Auch das Gespräch des Königs mit Posa entbehrt des Spannungsbogens – immerhin versucht Filippo Bettoschi, dem flammenden Idealismus, aber auch der mutigen Ehrlichkeit Posas ein Gesicht zu geben.

Monika Walerowicz (Eboli) und Stephan Klemm (König Philipp). Foto: Oliver Berg

Monika Walerowicz (Eboli) und Stephan Klemm (König Philipp). Foto: Oliver Berg

Für die packendsten Momente der Inszenierung sorgt Monika Walerowicz als Eboli:  Sie ist nicht nur eine vorzügliche Sängerin, die mit Stimmfarben gestalten kann, sondern lebt als Darstellerin in ihrer Rolle: Ein Blick, eine Geste schafft Beziehung und baut Spannung auf. Ihr Bekenntnis, Elisabetta verraten und dem König zu Willen gewesen zu sein, gefolgt von der grandios ausgeleuchteten Arie „O don fatale“ ist einer der Höhepunkte des Abends. Der König spürt, dass er beide Frauen verloren hat, legt seinen Kopf an die Schulter der sich demütigenden Eboli, bevor er geschlagen den Raum verlässt: In diesem Moment hat man Mitleid mit dem Monarchen und seiner gefangenen Seele.

Keine vokalen Muskelspiele

Der neue Münsteraner Generalmusikdirektor Golo Berg befreit Verdis Musik gründlich von dröhnender Vordergründigkeit und dem lautstarken Stimmprotz, der sich im Gefolge des Verismo zum Teil bis heute hält. Vor allem Garrie Davislim als Don Carlo kann entspannt und mit vielen Mezzoforte-Schattierungen gestalten, missbraucht etwa das Freundschaftsduett mit Posa im ersten Akt nicht für vokales Muskelspiel. Auch Kristi-Anna Isene überzeugt als Elisabetta ungeachtet einiger schriller Spitzentöne mit einem leuchtend abgerundeten Zentrum und lyrischer Noblesse.

Filippo Bettoschi kontrolliert als Posa meist erfolgreich die Tendenz zu einem rauen Vibrato, wie es in der neueren italienischen Schule leider oft zu erleben ist. Probleme beim Aussingen eines gelösten, klangvollen Legato kann er nicht ganz vermeiden. Christoph Stegemann formt seine Phrasen und den polierten Klang seines Basses edel aus, doch die düstere Autorität des Inquisitors stellt sich nicht ein. Das mag auch an der Auffassung von Golo Berg liegen, der die sich steigernde Dramatik der Szene nicht einfordert.

Dass Berg einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, liegt vor allem an den Eingriffen, die er in Verdis Musik erlaubt. Schon vor gut zehn Jahren hat er als GMD in Dessau rabiate Streichungen in „Don Carlo“ mitgetragen, weil Regisseur Johannes Felsenstein die fixe Idee umsetzen wollte, Verdis Oper so weit wie möglich an Schillers Dramentext anzunähern. Jetzt lässt er streichen, um Schnittkes Requiem-Teile in Verdis Musik einzupassen.

Es mutet seltsam an, zu lesen, wie er im Programmheft jedes Wort, jeden dynamischen Hinweis und jede Artikulationsanweisung Verdis für verbindlich erklärt, aber keine Hemmungen hat, an Verdis Szenenkomplexen zu schnippeln. Das tut weh – aber das Experiment in Münster deswegen für gescheitert zu erklären, wäre nicht angemessen. Dazu zeigt Peters‘ Konzept zu überzeugend, welche zerstörerische Wirkung eine – zumal sich religiös begründende – Macht entfaltet, aber auch, welches machtkritische Potenzial ein ernst genommener christlicher Glaube einzubringen hat.

Weitere Vorstellungen: 12./15./18./31.10. — 5./11./17.11. — 12./22./25.12.2017; 05.01. und 02.02.2018. Info und Karten: www.theater-muenster.com




Alle zehn Jahre neue Ortsbestimmungen durch die Kunst: Die immer wieder spannenden „Skulptur Projekte“ in Münster

Fürwahr, die Skulptur Projekte in Münster machen sich äußerst rar. Mit ihrem zehnjährigen Rhythmus (bislang: 1977, 1987, 1997, 2007) kommen sie an diesem Wochenende gerade mal in fünfter Auflage heraus. Damit verglichen, ist selbst die Kasseler documenta (die gleichfalls just jetzt startet) mit ihren Fünfjahres-Abständen eine nahezu inflationäre Veranstaltung.

Skulpturen verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore abholen? Die Antwort heißt: Nein! (Foto: Bernd Berke)

Skulpturen von grundsätzlich verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore (Teilansicht links) abholen? Die Antwort lautet, entgegen dem bedrohlichen Anschein: Nein! (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Scherz beiseite und dem Mann der ersten Stunde die Ehre: Seit Anbeginn ist der große Spritus rector der Skulptur Projekte, Prof. Kasper König, wegweisend dabei; ursprünglich im Verein mit dem Miterfinder Klaus Bußmann, diesmal flankiert von den beiden Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner.

Das Prinzip ist gleich geblieben: Künstler(innen) – anfangs waren es ausschließlich Männer – werden nach Münster eingeladen, wo sie sich mit Orten ihrer Wahl auseinandersetzen und Projektvorschläge einreichen. Damit beginnt ein langwieriger Prozess bis zur Realisierung. Rund drei Dutzend neue künstlerische Orts-Umschreibungen sind diesmal entstanden. Hinzu kommen etwa ebenso viele Skulpturen, die von früheren Projekten übrig geblieben sind. Mit anderen Worten: Es lagern sich von Mal zu Mal gleichsam immer neue Zeit-Schichten mit anderen ästhetischen Valeurs an. Daraus ergibt sich eine hochinteressante Historie.

Interventionen im Stadtbild

Auch 2017 stiften – unter gesellschaftlich veränderten Vorzeichen – die Künstler an einigen Orten der Stadt wieder erhellende Widersprüche, Einsprüche, Korrespondenzen, Assoziationen und was dergleichen Fühl- oder Denkanstöße mehr sind. Mal sind die Interventionen im Stadtbild erst allmählich wahrnehmbar, mal kommen sie mit weiter ausholenden Gesten oder überfallartig daher.

Man mag sich das alles, versehen mit einem speziellen Stadtplan oder per Navigations-App, in aller Ruhe erlaufen oder münstertypisch erradeln. Da kein Eintritt erhoben wird (man kann ja den Zugang zur Stadt schwerlich mit einer Gebühr belegen), sollte man getrost auch mehrmals wiederkommen. Und mit kundiger Führung hat man eventuell mehr von alledem.

Im Zeichen der digitalen Welt

Was ist mit den veränderten Vorzeichen gemeint? Selbstverständlich vor allem die seit 2007 noch einmal erheblich vorangeschrittene Digitalisierung und Globalisierung unseres Lebens. Auf solche umwälzenden Veränderungen, das war klar, mussten auch die Skulptur Projekte antworten und reagieren, wenn auch längst nicht immer explizit oder gar „eins zu eins“ abbildend. Das wäre denn doch zu simpel.

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, "On Water". (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, „On Water“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

In der heißen Arbeitsphase, also seit etwa zweieinhalb Jahren, kristallisierten sich in zahllosen Diskussionen die Befragung von Ort, Zeit und Körperlichkeit im digitalen Zeitalter als Leitthemen heraus. So manches, was derzeit ringsumher geschieht, könnte ja auf eine Auflösung von Raum, Zeit und Leiblichkeit hinauslaufen. Und wenn schon der Körper in Spiel kommt, ist es nicht nur der unbewegte. Der Performance als Gattung an der Grenze zur darstellenden Kunst kommt diesmal besondere Bedeutung zu.

Ein von jeher gültiges Thema stellt sich zudem in größerer Schärfe als ehedem: die Schaffung und Behauptung von öffentlichen, also nicht privat vereinnahmten Plätzen. Und zum Faktor Zeit: Manche Werke sind ganz bewusst darauf angelegt, nur temporär vorhanden zu sein, also allmählich zu vergehen oder schließlich abrupt zu verschwinden.

Mächtiger Truck und eine Wasserwaage am Museum

Jetzt aber endlich zu ein paar konkreten Beispielen, wie sie bei einer zweistündigen Presseführung vor der Eröffnung zu erleben waren:

Auf dem Vorplatz des LWL-Museums für Kunst und Kultur hat die Künstlerin Cosima von Bonin einen wahrhaft monumentalen Truck geparkt, auf dem sich ein großer schwarzer Container ihres Kollegen Tom Burr befindet, die ganze Chose heißt denn auch alliterierend „Benz Bonin Burr“. Es sieht ganz so aus, als solle mit dem Lastwagen demnächst die schon „klassische“ Skulptur von Henry Moore abtransportiert werden, die dort steht. Tatsächlich war es vor Ort ein Thema, ob Moores Arbeit während der Skulptur Projekte dort verbleiben dürfe.

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber skandalträchtiges Lokalgeschehen: Der LWL hat sein Buchstaben-Logo direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber umstrittenes Lokalgeschehen, auf das Bezug genommen wird: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat sein Buchstaben-Logo am LWL-Museum für Kunst und Kultur direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Zugleich verweist die riesige Truck-Installation indirekt auf ein Problem an der Fassade des Landesmuseums. Dort hat der Landschaftsverband LWL sein Dreibuchstaben-Logo direkt auf eine Arbeit von Otto Piene aufgesetzt, der dies wohl unter mehr oder weniger sanftem Zureden akzeptiert hat. Sein eigentlich urheberrechtlich geschütztes Werk ist jedenfalls am Rande verfälscht worden.

Auf der anderen Seite des Museums, am Domplatz, geht es unscheinbarer her. Dort hat John Knight eine Wasserwaage an das Gebäude angesetzt, als wolle er erneut Maß nehmen oder etwas ins Lot bringen. Ganz buchstäblich könnte man von einer künstlerischen „Maßnahme“ sprechen, die sich innig auf die Architektur bezieht.

Die Privatwohnung des Herrn N. Schmidt

Im Innern des öffentlichen Museums hat Gregor Schneider quasi eine Privatwohnung eingebaut, die man (jeweils höchstens zu zweit) durch einen Seiteneingang erreicht. In diesem Wohnraum ist ein gewisser „N. Schmidt“ daheim. Eine Kollegin versichert, ihr sei – nach eineinhalb Stunden Wartezeit in der Schlange – drinnen Gregor Schneider höchstselbst begegnet, aber eher wie ein Geist. Man lasse sich überraschen. Auch Enttäuschungen sind nicht ausgeschlossen.

Koki Tanaka hat in einem Gebäude der Johannisstraße seine „Provisional Studies“ aufgebaut. In unwirtlich gekachelten Räumen zeigt er Videos von einem Workshop, an dem acht Bewohner(innen) Münsters von ganz unterschiedlicher Herkunft teilgenommen haben. Ein „Dschungelcamp“ für Intellektuelle? Das nun doch beileibe nicht. Die intensive Begegnung stand unter der Frage „How to live together?“ Es geht also ums Zusammenleben an und für sich. Eine raumgreifende, begehbare „Skulptur“, die den ohenhin längst fließend gewordenen Gattungsbegriff beherzt erweitert.

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: "Sculpture" von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (Foto: Bernd Berke)

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: begehbare Arbeit „Sculpture“ von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Anspielung auf die Giebelform

Schon eher der konventionellen Vorstellung von Skulptur bzw. Architektur enspricht die Arbeit von Pelese Empire (Barbara Wolff / Katharina Stöver). Sie heißt schlicht und einfach „Sculpture“ und greift parodierend und anverwandelnd die in Münster so häufige Giebelform auf, außerdem wurde das erschröcklich-bizarre rumänische Karpatenschloss Peles auf die Außenhaut projiziert. Auch diese Skulptur kann man betreten, sie enthält sogar eine Bar und kann zum Begegnungsort mutieren. Insgesamt kommt diese bauliche Skulptur auch als eine Art „Fake“ daher und greift somit ein politisch virulentes Thema der Internet-Ära auf.

Wenn man so will, ist das Projekt von Justin Matherly noch skulpturenförmiger. Er hat ein Gebilde geformt, das dem Nietzsche-Felsen im schweizerischen Sils Maria nachempfunden ist. Dieser Felsen soll den Philosophen zur Idee einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ angeregt haben. Eine Figuration mit Hintergedanken, die man kennen muss, um das Ganze zu würdigen. Der sehr brüchig wirkende „Fels“ ist übrigens innen hohl und steht auf seltsamen Stützen. Es handelt sich um medizinische Gehhilfen.

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos "Momentary Monument". (Foto: Bernd Berke)

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos „Momentary Monument“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Rein äußerlich betrachtet, hat auch Lara Favaretto ein steinernes Monument nach herkömmlichem Verständnis geschaffen. Doch weit gefehlt. Wir unterliegen einer kunstvollen Täuschung. Auch dieses scheinbar so massive Werk ist innen hohl, es hat sogar einen Schlitz zum Geldeinwurf (der Erlös kommt Menschen in Abschiebhaft zugute). Das „Momentary Monument“ ist, wie der Titel ahnen lässt, nicht auf Dauer angelegt, sondern soll mit Ende der Skulptur Projekte geschreddert und recycelt werden. Einstweilen aber bezieht es sich als Gegenüber und kritischer Gegenentwurf auf ein kolonialistisches Ehrenmal vis-à-vis.

Subtile Geste vor dem Erbdrostenhof

Im berühmten Erbdrostenhof (barockes Palais) haben bei früheren Skultur Projekten Richard Serra und Andreas Siekmann ihre unübersehbaren Zeichen gesetzt, Letzterer mit einer Arbeit, die sich über städtische Tier-Maskottchen mokierte und bei Stadtwerbern nicht allzu gut ankam. Serras Arbeit hätten die Münsteraner hingegen liebend gern behalten, doch sie wurde zu ihrem Leidwesen für gutes Geld in die Schweiz verkauft.

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: "Beliebte Stellen" von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (Foto: Bernd Berle)

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Ein Platz mit alter und neuerer Vorgeschichte also, der beispielhaft zeigt, wie bestimmte Stätten insgeheim nachhaltig durch die Projekte geprägt werden, selbst dann, wenn die Einzelwerke nicht mehr am Ort sind. Genau hier findet sich nun die eher zurückhaltende Arbeit „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian, die den Raum gleichwohl neu „besetzt“. Ihre Skulptur windet sich als große, doch feine und aparte Geste über den Platz, sie ist – ganz planvoll – „unfertig“ und müsste noch verschweißt werden, auch wirkt die stellenweise tropfenförmige Oberfläche ganz so, als sei sie noch im Werden (oder schon im Vergehen). Ein Beispiel dafür, wie man äußerlich „groß“ agieren und dennoch subtil bleiben kann.

Übers Wasser gehen und sich am „Lagerfeuer“ versammeln

Ein paar spektakuläre Ortsbezüge kenne ich (noch) nicht aus eigener Anschauung, man kann sich jedoch anhand der Beschreibungen schon Vorfreude bereiten: Für „On water“ (Auf dem Wasser) hat Ayse Erkmen am Münsteraner Hafen knapp unter der Wasseroberfläche einen Steg gebaut, auf dem Besucher sozusagen übers Wasser gehen können – jedenfalls beinahe. Wer jetzt an Christo und den Lago d’Iseo denkt, liegt vielleicht nicht völlig daneben.

Am "Lagerfeuer" des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, "5 V" (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Am „Lagerfeuer“ des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, „5 V“ (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Auf andere Art staunenswert ist der Beitrag von Aram Bartholl, der geheimnisvolle thermoelektrische Apparaturen ersonnen hat, so dass man an einer Art Lagerfeuer wirklich und wahrhaftig den Akku seines Smartphones aufladen kann. Dieser Vorgang soll zwar ziemlich lange dauern, erzeugt aber sicherlich ein besonderes Gemeinschaftserlebnis und verknüpft älteste mit neuesten Erfahrungen der Menschheit.

Dependance in der Revierstadt Marl

Mit dem Ruhrgebiet hat all das aber nichts zu tun, oder? Wie man’s nimmt. Die Skulptur Projekte haben diesmal unter dem Titel „The Hot Wire“ (Der heiße Draht) einen „Ableger“ in Marl, wo rund ums Skulpturenmuseum Glaskasten schon seit langer Zeit Kunst im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielt.

Im Austausch aus Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes' vielsagender Fassaden-Schriftzug. (Foto: Bernd Berke)

Im Austausch von Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes‘ vielsagender, sparsam „illustrierter“ Schriftzug. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Marl ist ein harsches Gegenstück zu Münster, nach dem Krieg entstand hier ein künstliches Stadtzentrum in teilweise brutal anmutender Moderne, während man im eher lieblichen Münster bekanntlich Teile der Altstadt rund um den Prinzipalmarkt wieder aufgebaut hat.

Folglich haben Skulpturen in Marl auch eine ganz andere Funktion. Dort gilt es jedenfalls nicht in erster Linie, womöglich konservative Strukturen aufzubrechen. Aber inzwischen sind ja auch viele Leute in Münster mental weiter.

Die Autonomie und der touristische Faktor

Zurück nach Münster. Längst sind die dortigen Skulptur Projekte auch zum touristischen Magneten geworden. Bei der Eröffnungspressekonferenz, zu der mehrere Hundertschaften von Medienvertretern angerückt waren, schwärmte denn auch Münsters OB Markus Lewe geradezu euphorisch, man sehe sich nunmehr wieder in einer Reihe mit Kassel (documenta) und Venedig (Biennale), gern auch in einer Abfolge mit Münster an der Spitze…

Gegen derlei wohlmeinende, doch auch begehrliche Vereinnahmung müsste man sich fast schon wieder wehren und auf künstlerische Autonomie, wenn nicht gar Sperrigkeit pochen. Doch die allermeisten Objekte und Installationen der Skulptur Projekte entziehen sich auch so schon der bloßen „Eventisierung“ und erst recht der schnöden Indienstnahme.

Gleichwohl sind die Skulptur Projekte nach etlichen Skandalen und Skandälchen der frühen Jahre (als sich die bürgerlich geprägte Stadt über vieles erregte, was heute selbstverständlich anmutet) etabliert und in gewisser Weise auch populär – freilich alles andere als „populistisch“. Inzwischen finden sich, neben den Hauptträgern (Stadt Münster und Landschaftsverband Westfalen-Lippe / LWL), etliche potente Sponsoren, die das Budget heuer nahe an die Acht-Millionen-Grenze hieven.

Skulptur Projekte Münster. Vom 10. Juni bis zum 1. Oktober 2017.

Offizielle Öffnungszeiten Mo bis So 10-20, Fr 10-22 Uhr. Freier Eintritt. Katalogbuch (430 Seiten) 15 Euro.

Allgemeine Infos:
www.skulptur-projekte.de
Tel. 0251 / 5907 500

Infos zu Touren und Workshops (auch Online-Buchung möglich unter www.skulptur-projekte.de): 0251 / 2031 8200, Mail: service@skulptur-projekte.de

Navigations-App zu den Werken: apps.skulptur-projekte.de




Verdorrter Wald, zutiefst gespaltene Welt: Carl Maria von Webers „Freischütz“ am Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und - im Hintegrund - Gregor Dalal als Kaspar in Webers "Freischütz" am Theater in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und – im Hintergrund – Gregor Dalal als Kaspar in Webers „Freischütz“. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Rotgraue narb‘ge Wurzeln strecken nach uns die Riesenfaust: Ein gewaltiger Baum beherrscht die Bühne des Theaters Münster. Er ist entwurzelt, hat im Fallen eine Bresche in einer Mauer geschlagen und zerteilt die Einheit des Raumes. Neblige Dunkelheit, der Schatten eines stattlichen Sechzehnenders taucht auf. Lautlos röhrt der Hirsch zur Ouvertüre.

Die Bühne von Christophe Ouvrard für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ nimmt von Anfang an für sich ein. Die unheimlich ragenden Wurzeln des Baumriesen, das harte Licht von oben und hinten, das die Konturen gespenstisch belebt, der unfassbar tiefe, in Nichts mündende Raum. Ouvrard arbeitet mit szenischen Mitteln, die zum Naturalismus taugen könnten, aber sofort assoziativ gebrochen, mit symbolischer und metaphorischer Brisanz geladen werden: Natürlich erinnert der Baum an den deutschen Wald, der in Webers „Freischütz“ eine so große Rolle spielen soll. Aber er ist – vielleicht von einem Sturm des „wilden Heeres“ – gefällt und tot. Nur einmal sprießen aus der Baumleiche ein paar frische Zweige, grüne Blätter: O lass‘ Hoffnung …

Dieser verdorrte Wald ist schon lange kein Hort naturschwärmerischer Romantik mehr. Er ist der Ort des Unheimlichen, das die frühere Einheit der Welt zerschlagen hat. Auf der Drehbühne wird das sichtbar: Der Stamm teilt sie in zwei Hälften. In der einen steht die Welt in der Wolfsschlucht-Szene im wahrsten Sinn des Wortes Kopf: Agathes Jagdschlösschen, selbst kein anheimelnder Ort, sondern eine zerstörte Stätte mit letzten Resten von Wohnlichkeit, hat sich gedreht, das Sofa hängt an der Decke, die Lampenschirme des Leuchters werden zu Töpfen. Aus ihnen nimmt Kaspar die Zutaten des zaubrischen Suds, aus dem die Freikugeln gegossen werden.

Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß

Ouvrard fängt in szenischer Symbolik wesentliche Begriffe der Romantik ein. Die Welt ist zutiefst gespalten. Die eine Seite, die des alltäglichen Lebens, ist beschädigt, gestört, von Kräften „höh’rer Macht“ beeinflusst, denen sich die armen Menschen mit Regeln und Ritualen oder – wie Ännchen mit seinem Kettenhund Nero – mit beschwichtigendem Humor zu entziehen suchen. Die sich der „anderen Seite“ bewusst sind, wie Kaspar, versuchen, diese unfassbaren Kräfte zu nutzen, für sich zu bändigen – aber wir wissen, das gelingt nicht: Die siebente Kugel gehört immer dem Bösen, der sie nach seinem Willen lenkt. Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß.

Streng, alt, gespenstergleich: Die Brautjungfern im "Freischütz" in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Streng, alt, gespenstergleich: die Brautjungfern. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Wer den Baumstamm besteigt, mag von oben eine verbindenden Sicht der romantisch zwiespältigen Welt gewinnen. Agathe versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Nur der Eremit, der von oben seine weisen Worte strömen lässt, ist eine integrierende Figur: Er und Samiel sind eins, das „Höh’re“ spricht aus ihm, gleich ob Gut oder Böse. In seinem schmutzigweißen Mantel, den kahlen Kopf noch vernarbt vom Teufelsgeweih Samiels, verkörpert er, was den Menschen als Antagonismus, aus der Perspektive einer jenseitigen Welt aber nur als unterschiedliche Aspekte einer Existenz erscheinen mag. Gut und Böse, nicht nur als moralische, sondern auch als prinzipielle Kategorien, heben sich auf – in diesem postmodernen Ansatz ist die Münsteraner Inszenierung von Webers Oper auf der Höhe der Zeit.

Die Regie von Carlos Wagner allerdings erreicht die konzeptuelle Dichte des Buhnenbilds nicht. Sicher: Er will uns klar machen, wie Max am Unerklärlichen scheitert, wie ihn in einer Gesellschaft klarer Vorgaben und eindeutiger Zusammenhänge die Logik des Handelns und seiner Folgen abhandenkommt, wie ihn des Zufalls Hand in die Verzweiflung, sogar zur Frage nach der Existenz Gottes führt.

Wenn der Chor langsam in seinem derben Tanz erstarrt, die Bewegungen fragmentiert wiederholt, dann bei „Durch die Wälder, durch die Auen …“ Paare bildet und langsam hinaustanzt, ist das ein Aufmerksamkeit weckender szenischer Vorgang – aber er wird nicht eingelöst, es resultiert nichts daraus. Wenn zu Beginn ein ausgeweideter Hirsch an den Baumwurzeln aufgehängt wird, denken wir sicher an das „männlich‘ Vergnügen“ der Jagd – aber wenn ein Landmetzger später Schinken und Braten vom Hirsch in die johlende Menge wirft, bringt das die Zuschauer nur zum Lachen.

Lustiges Schießen auf Bierdosen

Agathe ist als Figur spannend angelegt: Sie erscheint im fahlen Mondlicht wie eine Geisterbraut, als sei sie von Heinrich Marschners „Vampyr“ gebissen, aber sie erschöpft sich dann doch in der eher larmoyanten Rolle des schreckhaften „Bräutchens“. Ännchen gibt sich in Jagdhosen und Krawatte sehr männlich, veranstaltet ein lustiges Schießen auf Bierdosen, bleibt aber am Ende als unterhaltsame Opernsoubrette ohne dezidiertes Profil.

Max geriert sich als heillos verunsicherter Jägersjüngling, der in der Wolfsschlucht den Sudel aus Luchs- und Wiedehopfaugen saufen muss und die Freikugeln zuckend in eine Schüssel erbricht – aber die Konturen seines Charakters, sein Zugriff auf das „Andere“ bleiben verschwommen. Kaspar dagegen ist ein saft- und kraftvolles Mannsbild, und Gregor Dalal macht mit seinen darstellerischen Mitteln und seinem unmittelbar wirksamen Sprechen aus ihm eine lebensvolle Persönlichkeit. Carlos Wagners Regie traut dem Stück, aber sich selbst offenbar zu wenig zu: Das Ganze schließt zu offen.

Offene Wünsche auch auf der musikalischen Seite: Stefan Veselka schlägt mit dem Sinfonieorchester Münster ein gemessenes Tempo an, was der Entwicklung der melodischen Thematik und der Ausformung des Klangs zugutekommt. Die Hörner sind lobenswert, die Klarinette hat – mit einem eher hell-fragilen Ton – schöne solistische Momente. Im Lauf des Abends arbeitet Veselka immer wieder harmonische Tiefenstrukturen aus, bringt manche Holzbläserstimme zum Leuchten. Aber der Klang des Orchesters bleibt oft pauschal, der Aufbau innerer Spannung allzu diskret. Entschiedene Akzente, packender Zugriff könnten der Musik auf die Beine helfen.

Innige Agathe, leuchtend singender Max

Münster hat mit Mirko Roschkowski einen seine Partie anstandslos bewältigenden Max: Ohne Forcieren, ohne Gewalt lässt er seinen Tenor leuchten, steigert den Verzweiflungston in der Arie, bringt für die Wolfsschlucht den panischen Unterton in der Deklamation mit. Sara Rossi Daldoss ist eine sehr innig singende Agathe, bei der man manchmal Sorge um die Stütze und den klanglichen Kern der Stimme hat. Ihre zweite Arie nimmt sie weniger vom Legato her, bildet die Töne separiert, um sie mit verschiedenen Farben zu gestalten. Auch wenn so der große Bogen sehr fragil gespannt wird: Der Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller als Ännchen gewinnt nach manch leichtgewichtigem Ton an Format, singt nach der Pause mit tadelloser Diktion und einem feinen, aber substanzreichem Klang.

Plamen Hidjov ist als Kuno von Statur und Stimme ein würdiger älterer Herr; Sebastian Campione spricht als Samiel die – ansonsten bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen – Dialoge ohne „teuflische“ Plattitüde. Als Eremit ist er weniger ein balsamisch strömender als ein schneidend präsenter Bass. Der Opernchor und Extrachor des Theaters Münster – Inna Batyuk hat ihn einstudiert – glänzt in der Eröffnung, fällt aber ausgerechnet im Jägerchor auseinander, weil die Sänger über die ganze Breite verteilt auf der Drehbühne marschieren müssen. Auch das ein Bild, das keinen Bedeutungs-Zusammenhang konstituiert – ebenso wie der finale Moment, als Kaspars Leiche in Brand gesetzt wird und als flackerndes Feuer auf dunkler Bühne die Oper abschließt.

Vorstellungen: 7. und 28. April, 3. und 30. Mai, 20. und 25. Juni, 1. und 13. Juli. Karten: (0251) 59 09-100. www.theater-muenster.com




Münster bleibt dem Tiger treu

Im westfälischen Münster hält man auf Tradition. Man gibt das Gestern nicht so leicht verloren.

Fertiggestellt: Zootiger Rasputin in der Präparations-Werkstatt. (Foto: LWL/Steinweg)

Fertiggestellt: Zootiger Rasputin in der Präparations-Werkstatt des Naturkundemuseums. (Foto: LWL/Steinweg)

So haben die Münsteraner  – berühmtestes Beispiel – nach dem Krieg ihren historischen Prinzipalmarkt getreulich wieder neu erstehen lassen. Welch ein Gegensatz zu Dortmund, wo das damals älteste steinerne Rathaus Deutschlands 1955 kurzerhand abgerissen wurde.

Wir wechseln auf ein ganz anderes Feld, bleiben aber im Modus der Überlieferung: In Münster mag man sich nicht einmal von besonderen Tieren des Allwetterzoos ganz und gar trennen.

Jetzt ist der im Februar 2016 gestorbene Amur-Tiger Rasputin (er musste wegen eines Tumors am rechten Vorderlauf eingeschläfert werden) wieder in seiner prachtvollen Gestalt vorhanden. Er wurde von Fachleuten des Münsteraner LWL-Museums für Naturkunde Millimeter um Millimeter sorgsam präpariert.

2013 einen Tierpfleger getötet

Entscheidend fürs stimmige Gesamtbild seien Kleinigkeiten, zum Beispiel, „wie welche Streifen im Fell wo saßen“, sagt Präparator Markus Ranft, der den Gesichtsausdruck des majestätischen Tieres anhand von vielen Fotos nachgebildet hat. Keine leichte Aufgabe, denn langjährige Zoobesucher kannten das Aussehen dieses Tigers genau, ihnen kann man nichts vormachen. Unter dem Fell verbirgt sich freilich nicht das Originalskelett, sondern eine vorgefertigte Form.

Nun sieht er fast wieder so aus wie früher im Zoo. Man mag das zunächst vielleicht ein wenig gruselig finden, doch das liegt wohl hauptsächlich daran, dass das Tier noch nicht so lange tot ist. Rasputin hat vielen Menschen als lebendiges Wesen imponiert. Doch es bleiben nicht nur erfreuliche Erinnerungen an ihn. 2013 hatte Rasputin einen Pfleger durch einen Genickbiss getötet.

Wann eine breitere Öffentlichkeit den präparierten Tiger erstmals sehen kann, steht noch nicht fest. Er soll, wenn es thematisch passt, künftig im Rahmen von Sonderausstellungen des Naturkundemuseums gezeigt werden.




Draußen vor der Stadt: Landwehren, Ballspiele und Müllabfuhr im 16. Jahrhundert

Landwehren sind lang gestreckte Erdwälle, die im Mittelalter angelegt wurden, um das Territorium gegen Eindringlinge zu schützen oder um Räuberbanden die schnelle Flucht vor allem mit Fuhrwerken zu vereiteln. Darüber erschien hier vor drei Jahren bereits ein Artikel als „historisches Stichwort“. Jetzt gibt es zu diesem Thema ein sehr informatives neues Buch, dem sich interessante Einzelheiten entnehmen lassen. Das Werk entstand nach einer Fachtagung der Altertumskommission für Westfalen.

Heute wirkt Münster sauber und fröhlich. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Heute wirkt Münster sauber und fröhlich. (Foto: Hans H. Pöpsel)

In den Aufsätzen der Wissenschaftler kann man viel erfahren über den Aufbau und die Funktion der Wehren, auch die manchmal dazu gehörenden Türme werden vorgestellt, und man kann an alten Karten und Fotos erkennen, wo solche Landwehren noch heute in der Natur sichtbar sind. Außerdem wird vorgestellt, wie und in welcher Häufigkeit sich das Wort Landwehr in Flur- und Familiennamen erhalten hat.

Solche Bollwerke gab es in Westfalen natürlich nicht nur zwischen den Landesherrschaften, sondern auch zwischen dem bäuerlichen Land und den Städten. Bernd Thier, einer der Autoren, widmet sich ausführlich dem Beispiel Münster. Vor allem über die Nutzung des Geländes außerhalb der Stadtmauer zitiert er interessante Quellen.

Schon für die Mitte des 16. Jahrhunderts sind Flächen für Ballspiele und Sommerhütten der betuchten Bürger belegt, Teiche für die Fischzucht entstanden, und vor allem wurde der Müll der Stadtbürger vor den Mauern entsorgt. Schon im 16. Jahrhundert ließ der Magistrat in Münster den Abfall durch einen öffentlichen Wagen abfahren, um damit die Äcker außerhalb zu düngen. Die Stadtführung stellte dazu ein Pferd und einen „Dreckkarren“ zur Verfügung. Verstorbene Christen wurden in der Stadt rund um die Kirchen und den Dom beigesetzt. Außerhalb der Mauern lag hingegen der jüdische Friedhof, wie im ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit üblich.

Dieses sind nur ein paar Details eines Sammelbandes, der für Freunde der Landeskunde und der westfälischen Geschichte weit mehr zu bieten hat und der gar nicht so „dröge“ zu lesen ist, wie man es sonst den Westfalen zu sein unterstellt.

Cornelia Kneppe (Hrsg.): „Landwehren. Zu Funktion, Erscheinungsbild und Verbreitung spätmittelalterlicher Wehranlagen“. Aschendorff Verlag, 350 Seiten, 39 €.




Den Papst in der Tasche: Warum Paderborn (wahrscheinlich) in die Bundesliga aufsteigt

Aus fußballerischen Gefilden ist Bemerkenswertes zu vermelden: Nicht nur, dass überwiegend katholisch geprägte Städte die Schlussrunde der Champions League weitgehend unter sich ausmachen (Madrid, München); auch beim Aufstieg in die Erste Bundesliga sind sie führend.

Dass der 1. FC aus der rheinischen Domstadt Köln dabei ist, durfte man erwarten. Nun aber klopft auch die Mannschaft aus der westfälischen Domstadt Paderborn ans Tor des Oberhauses, um mal kreuzbrav im Jargon der landläufigen Sportberichterstattung zu bleiben. „Stand jetzt“ (auch so eine Floskel) müssen sie sich nicht einmal durch die Relegation quälen, um sich zu qualifizieren.

Tabellen lügen nicht

Tabellen lügen nicht

Zu dieser gelinden Sensation fallen einem schnell diverse Sprüchlein ein. Sicherlich haben demnach die Kölner und Paderborner Kicker „den Papst in der Tasche“. Leute, die ihnen weniger wohl gesonnen sind, mögen spotten: „Mit die Doofen is’ Gott.“ Und was dergleichen gackernder Spontanblödheit mehr wäre.

Auffällig ist es jedenfalls, dass zwei solch ausgeprägt katholische Kommunen in die höchste deutsche Spielklasse vordringen. Eigentlich fehlt jetzt noch Preußen Münster, doch die dümpeln irgendwo derart weit unten herum, dass wir lieber nicht genauer nachschauen wollen. Hält der gegenwärtige Trend an, so darf man aber wohl fest damit rechnen, dass sich statt dessen segensreiche Teams aus Altötting und Telgte einen Weg nach ganz oben bahnen werden.

„Geld schießt keine Tore!“ heißt es (meist fälschlich), wenn Missgunst auf die reichsten Vereine mit den teuersten Stars sich Luft schaffen will. Wer aber netzt für Paderborn ein? Wir wollen da lieber nicht weiter spekulieren, sonst wär’s am Ende noch lästerlich. Vielleicht hat ja die Flügelzange, äh, die parallele Heiligsprechung zweier Päpste noch einmal die letzten Reserven mobilisiert, hat somit mehr Doppelpässe und Flanken gelingen lassen als sonst. So rein mental jetzt.

P.S.: Bliebe noch nachzutragen, dass die Protestanten aus Hamburg, Braunschweig und Nürnberg aufs Högschte abstiegsbedroht sind. Noch Fragen?




Vom Spülwasser zum Nachdenken über den Umweltschutz

„Grünes“ Denken hat auch eine Geschichte – dazu hier eine kleine Erinnerung: Es ist schon gut 45 Jahre her, dass ich mir zum ersten Male ernsthaft um so etwas Gedanken machte, was man heute „Umweltschutz“ nennt. Und das hatte etwas mit Spülwasser zu tun.

Seife gab es sicher schon im Altertum. (Foto: BASF)

 

Wir besuchten damals das Abendgymnasium, und ein Klassenkamerad – heute ein Kardiologe – verdiente sich etwas Zusatzgeld als „Kindermädchen“ im Haushalt unserer jungen Mathe-Lehrerin.

Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Haushalt, zum Beispiel das Abwaschen des Geschirrs. Dazu nahm er stets eine gehörige Portion Spülmittel, damit er auch genügend Schaum zu sehen bekam. Zu sehen bekam das aber auch einmal der Ehemann der Lehrerin, ein Doktor der Biologie, und der stellte meinen Freund sehr ernst zur Rede. Über die schädliche Wirkung der Tenside für die Lebensmittel auf den Tellern und das Abwasser im Klärwerk bekam er einen längeren Vortrag zu hören, und wir lachten uns zunächst schlapp über das scheinbar kauzige Wesen des Biologen.

Allerdings nicht sehr lange, denn mit etwas Nachdenken bekam der Einwurf des Doktors einen Sinn, und die Geschichte mit den Tensiden brannte sich als Symbol für Umweltverschmutzung in mein Gedächtnis ein. Später, während des Studiums in Münster, ging es politisch um „größere“ Dinge, zum Beispiel ein geplantes Atomkraftwerk in den Rieselfeldern oder um einen Großflughafen bei Drensteinfurt. Der Spülwasserschaum aber war im Hinterkopf immer dabei.




„Goldene Pracht“: 300 Objekte mittelalterlicher Goldschmiedekunst ab Februar in Münster

Es geht nicht nur um Reiz und Glanz des Edelmetalls: Die Ausstellung „Goldene Pracht“ in Münster will als interdisziplinäres Kooperationsprojekt das theologische, historische und soziale Umfeld beleuchten, im dem kostbare Werke mittelalterlicher Schatzkunst entstanden sind. Gemeinsam mit dem Landesmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und dem Bistum Münster ist der Forschungsverbund „Religion und Politik“ an der Universität Münster an dem Projekt beteiligt.

Nach Aussage des Münsteraner Historikers Prof. Gerd Althoff würdigt die Ausstellung erstmals die Pracht westfälischer Goldschmiedekunst, die lange im Verborgenen schlummerte: „Im Vergleich mit den internationalen Spitzenwerken wird sich dem Publikum ihr hohes Niveau erschließen.“

Ab 26. Februar zeigt die Ausstellung auf 1500 Quadratmetern im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und in der Domkammer rund 300 Exponate aus dem 10. bis 16. Jahrhundert. Von den 240 Leihgaben kommen 220 aus Deutschland, 180 davon aus westfälischen Kirchen, Klöstern, Archiven und Museen. Der Rest stammt aus Belgien, Großbritannien, Finnland, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz. Das LWL-Landesmuseum und die Domkammer steuern selbst 60 Exponate bei.

Herausragende Stücke aus dem Ausland sind zum Beispiel die Thronende Muttergottes von Walcourt/Belgien, die weltweit älteste Monstranz aus der belgischen Abtei Herkenrode oder der Sifridus-Kelch aus dem finnischen Borga, der im 30-jährigen Krieg (1618-1648) aus dem Osnabrücker Schatz verschwand. Die Goldschmiedekunst wird in der Ausstellung ergänzt durch Skulpturen, Tafelbilder, Buchmalerei und liturgische Gewänder. Neben schriftlichen Dokumenten veranschaulichen sie den künstlerischen Rang, die Symbolik und die vielschichtige Bedeutung der Goldschmiedewerke.

Kennzeichen der Ausstellung ist der Vergleich westfälischer Goldschmiedekunst mit internationalen Arbeiten. So lassen sich nicht nur internationale künstlerische Einflüsse auf die westfälische Kunst entdecken, sondern auch die hohe Qualität der Objekte, meint der Kurator des Bistums Münster, Holger Kempkens: „Der Beckumer Prudentia-Schrein, in heimischer Goldschmiedeproduktion entstanden, wird neben dem berühmten Marienschrein aus Tournai erstrahlen, der aus der berühmten Werkstatt des Nikolas von Verdun stammt, dem Erbauer des Dreikönigsschreins im Kölner Dom.“

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Nach Ansicht von Prof. Gerd Althoff vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ schreibe die Ausstellung ein Stück westfälischer Geschichte neu. „Das Spätmittelalter stellt sich hier nicht als Zeitalter des Niedergangs dar, sondern als kulturelle Blütezeit: Ein selbstbewusstes Bürgertum stiftete aus tiefer Frömmigkeit hochwertige Kreuze, Kelche oder Schreine. Einige Klischees über die Provinzialität der Westfalen lassen sich im Licht der ‚Goldenen Pracht‘ über Bord werfen.“

Wichtigste Produktionsstätten in Westfalen waren zunächst die Bischofssitze Münster, Paderborn und Osnabrück sowie das Benediktinerkloster Corvey und das Frauenstift Essen, wie die Schau nach den Worten von Kurator Kempkens verdeutlichen wird. Ab dem 13. Jahrhundert entstanden die Werke zunehmend in den erblühenden Hansestädten Soest und Dortmund. Historiker Althoff: „Die Entstehung dieser goldenen Pracht stellt einen wesentlichen, bislang kaum erschlossenen Aspekt der Geschichte Westfalens dar und kann die historische Identität der Region genauso stärken wie die Erinnerung an den Sieg über die Römer und an den Westfälischen Frieden.“

Von der Kunstfertigkeit der Goldschmiede zeugen in der Ausstellung Schätze wie der Cappenberger Barbarossa-Kopf, das wohl erste Porträt des Mittelalters, das Borghorster Reliquienkreuz oder einzigartige Silberstatuetten wie die der Heiligen Agnes aus dem Münsterischen Domschatz. „Viele Stücke holen wir erstmals aus dem Verborgenen“, sagt Bistums-Kurator Kempkens. „So werden die Apostelfiguren vom Hochaltar des Münsterischen Doms nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder öffentlich zu sehen sein.“ Die Schau zeigt aber auch weltliche Kostbarkeiten wie das Osnabrücker Ratssilber.

Die Ausstellung „Goldene Pracht“ wird vom 26. Februar bis 28. Mai im LWL-Landesmuseum für Kunst und Kultur und in der Domkammer in Münster gezeigt. Ein „Goldener Pavillon“ mit der Nachbildung einer mittelalterlichen Goldschmiedewerkstatt verbindet beide Ausstellungsorte. Das Museum hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet. Im Hirmer Verlag erscheint ein 480-seitiger Katalog, der in der Ausstellung 29 Euro kosten wird.

Info-Telefon: (02 51) 59 07-201. Internet: www.goldene-pracht.de




Voerde oder Voerde? Das Navi weiß den Weg (nicht)

Hier mal ein kleiner Exkurs über die Tücken der Navi-Geräte in modernen Autos:
Voerde ist ein Ortsteil der Stadt Ennepetal und hat einen großen Sportverein, die Turngemeinde Voerde, und darin eine recht erfolgreiche Basketballabteilung.

Ennepetal-Voerde um 1965. (Foto Stadtarchiv)

Als kürzlich eine Mannschaft aus Münster in Voerde antreten sollte, da fehlte zum Anwurfzeitpunkt das halbe Team aus der westfälischen Metropole. Dieser Teil hatte nämlich vor der Abfahrt brav den Ortsnamen Voerde ins Navi eingegeben und war folgerichtig in der Stadt Voerde am Niederrhein gelandet. Für die Weiterfahrt nach Ennepetal war es zu spät, und dementsprechend gingen die Punkte kampflos an die richtigen Voerder.

So ein Irrtum im Freizeitbereich ist ja noch zu verkraften, aber richtig ärgerlich wird es für LKW-Fahrer, die – wie mehrfach geschehen – mit ihrer Last an der Ennepe statt am Niederrhein landeten.

Mein Tipp: Zusätzlich zum Navi einen Blick auf die gute alte Landkarte werfen.




„Der Seiltänzer“: Ein Priester in Westfalen

Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen, von Münster bis ins tiefste Sauerland. Diese Fahrtwird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, „viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer“, als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend „dass es kein ungefährlicher Bund für ihn“ ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche, ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann, „über dem das Seil aufgespannt ist“.

Mit „Der Seiltänzer“ legt Michael Göring ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema vor. Auf zwei Zeitebenen vermittelt er in einer klaren, fast nüchternen Sprache ein  eindringliches Bild der Probleme und Anfechtungen, welche in unserer Zeit ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld-Vermutung und Generalverdacht führen können. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Dennoch erzählt er eben nicht nur von Wendepunkten und Anfechtungen des Alltags, sondern auch von religiöser Berufung und der Gratwanderung eines Priesters. Nicht zuletzt die Deutschland-Visite des Papstes hat gezeigt, wie viele Menschen sich nach religiöser Orientierung sehnen, sich aber auch an den Dogmen der katholischen Kirche reiben. Schon deshalb ist diesem Buch nicht nur Erfolg, sondern auch Diskussion zu wünschen.

Als Dreingabe neben all diesen „schweren“ Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Vor allem die in Westfalen und im Sauerland spielenden Passagen werden auch für viele Revierbürger einen hohen Wiedererkennungswert haben.

Zum Schluss verliert der Roman etwas von seinem Schwung, nicht nur die Dialoge wirken auf einmal zu bemüht. Um es westfälisch zu sagen, das Ende war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches.

INFO:

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Michael Göring: „Der Seiltänzer“. Verlag Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 19,99 Euro.

Verlagsseite zum Buch: http://www.hoffmann-und-campe.de/go/der-seiltaenzer

 

 




Altes Westfalen in bewegten Bildern – das Filmarchiv des Landschaftsverbandes

Münster/Dortmund. Haben Sie noch alte Filme auf dem Dachboden? Aufnahmen von fröhlichen Familien- oder Vereinsfeiern, Stadtfesten, Spaziergängen – oder aus dem ganz gewöhnlichen Alltag? Dann werfen Sie lieber nichts weg. Es könnten Schätze auf Zelluloid darunter sein.

Die Archivare beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) sammeln solche Kleinode mit Akribie. In den klimatisierten Kellern zu Münster lagern reiche Regional-Bestände. Derzeit sind es rund 3000 Filme – vom Zufalls-Schnipsel bis zum abendfüllenden Streifen. Gehaltvoller Nachschub ist stets willkommen. Jeder unscheinbare Amateurfilm kann eine wertvolle Quelle sein.

Der aus Attendorn stammende Markus Köster, Leiter des LWL-Medienzentrums: „An solche Filme knüpfen sich auch Emotionen und Heimatgefühle: ,Aha, so sah es damals in unserem Viertel aus.'“ Besonders prägnante, nostalgische Filmzeugnisse aus dem LWL-Archiv kann man denn auch im Buchhandel kaufen (siehe Infos).

Neuerdings ist es möglich, im Internet gezielt nach Schlagworten zu suchen, mit denen diese Filme jetzt allmählich (oft sekundengenau) erschlossen werden. 740 Streifen kann man in der Datenbank bereits verbal abtasten; beispielsweise, indem man Suchworte wie. „Schützenfest“ (sehr viele Fundstellen!) oder „Waldspaziergang“ eingibt. Auch bitterernste historische Vorgänge wie lokale Propaganda-Auftritte der NS-Zeit sind so auffindbar.

Das bislang älteste Filmdokument, das in Münster verwahrt wird, stammt von 1911. In Kürze kommt eines von 1908 hinzu, das jüngst in Schottland auftauchte und beim damaligen Unglück auf der Hammer Zeche Radbod entstanden ist, bei dem 350 Bergleute ihr Leben verloren.

Die Schätze der Elisabeth Wilms aus Dortmund

Westfalens Filmarchiv wächst ständig. Selten handelt es sich um so umfangreiche Bestände wie jene aus Dortmund: Die rund 200 Filmspulen der Elisabeth Wilms füllen in Münster etliche Regalmeter. Über Jahrzehnte hinweg hatte die Bäckersgattin Veränderungen in ihrer Heimat filmisch festgehalten. Ihre bewegenden Aufnahmen aus dem Hungerwinter 1946 gaben einen Anstoß zu humanitären Hilfsaktionen (Care-Pakete). Später dokumentierte Wilms den Wiederaufbau (auch den Neubau der Westfalenhalle bis 1952). Nach ihrem Tod vermachte sie die Filme einer Kirchengemeinde, doch die wurde der vielen Anfragen nicht mehr Herr – und reichte die Schätze an den LWL weiter.

Deutlich kleiner, doch inhaltlich auch nicht zu verachten ist eine Reihe von Kreis-Porträts aus den frühen 70er Jahren. So erscheint u. a. der Kreis Olpe im typischen Stil jener Zeit, Schlaghosen und Schockfarben inklusive.

Nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit technischen Gegebenheiten befassen sich die LWL-Experten. Betrüblich genug: Je neuer die Speichertechnik, um so kürzer die Haltbarkeit. Die alten Filmspulen halten bei idealen Bedingungen immerhin 100 bis 200 Jahre. Sie werden deshalb als Basis-Material auf jeden Fall aufgehoben. Auf die kurzlebige DVD wird vor allem deshalb umkopiert, um die Originale zu schonen und um rasch auf bestimmte Szenen zuzugreifen.

Die Sammlung umfasst Profi-und Amateur-Filme bis in die 70er Jahre – ganz gleich, in welchem technischen Format. Nur Nitrofilme (brandgefährlich und daher verboten) werden nach Kopie von der Feuerwehr vernichtet. In den 80er Jahren kamen Videos im Privatbereich auf. Wie man diese archiviert, ist noch ungeklärt. Allmählich wird’s jedenfalls ein dringliches Problem, denn die VHS-Kassetten aus den 80ern fangen bereits an zu verkleben…

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INFOS
Highlights auf DVD

  • Wenn man eigene oder ererbte alte Filme verwahrt, kann man sie dem LWL als „Dauerleihgabe“ überlassen. Das Eigentumsrecht bleibt beim Spender.
  • Die Medienexperten vom LWL holen Filme in ganz Westfalen selbst ab.
  • Ansprechpartner in Münster: Markus Köster (Leiter LWL-Medienzentrum), Volker Jakob (Referatsleiter Bild-, Film-, Tonarchiv), Ralf Springer (Aufbau der Filmdatenbank).
  • DVDs wie „Durch das schöne Westfalen“ oder „Der Ruhrkampf“ kosten im Buchhandel je 14,90 Euro.
  • Internet: http://www.filmarchiv-westfalen.de

(Dieser Beitrag stand am 25. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Eine Frau gräbt sich durch Westfalen

Ein wahrhaft tiefschürfender Beruf: Rund 34 Jahre lang hat Dr. Gabriele Isenberg (65) als Archäologin den geschichtlichen Untergrund Westfalens eingehend erforscht. Ihre Arbeit hat viel mit der Identität der Region zu tun.

Hunderte von Grabungen im gesamten Landesteil hat sie selbst mitgemacht oder angeregt. Isenberg: „Wir waren ein westfälischer Wanderzirkus.” Sie und ihre Mitarbeiter förderten Schätze zutage, die bis heute den jeweiligen Historien-Stolz der Orte beflügeln.

Die Frau, die jetzt in den Ruhestand gegangen ist, weiß viel zu erzählen. In den letzten Jahren hat sie als Chef-Archäologin des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) die Geschicke mehr vom Schreibtisch aus geleitet. Zuvor aber war sie mindestens zehn Monate im Jahr durch Westfalen unterwegs – Tag für Tag, bei fast jedem Wetter. Unten in den Gra-bungsstätten, so versichert sie, sei es im Sommer ungleich heißer und im Winter kälter als an der Erdoberfläche.

Nette „Kiebitze”,
aufmerksame Bürger

Entschädigt werde man jedoch doppelt: „Es gibt immer etwas Neues”. Und die Passanten zeigen oft reges Interesse: „Viele Leute kommen jeden Tag am Bauzaun vorbei, erkundigen sich nach Fortschritten und bringen auch schon mal Getränke oder Kuchen mit.” Nette, neugierige „Kiebitze” also. Manchmal auch mehr: Nicht selten alarmieren aufmerksame Bürger die Behörden, wenn durch Bauarbeiten etwaige Fundorte bedroht zu sein scheinen.

Gabriele Isenberg ist Mittelalter-Spezialistin (Epochen-Beginn um 800 n. Chr.), doch ihre Forschungen reichen bis weit ins 20. Jahrhundert. Als eine der ersten Wissenschaftlerinnen überhaupt hat sie „KZ-Archäologie” betrieben. In Witten-Annen, wo sich ein Außenlager des KZ Buchenwald befand, barg sie aus einem Löschteich Trinkgefäße und andere Gegenstände, die von elenden Haftbedingungen zeugen – Funde von erschreckender Wahrhaftigkeit. Auch der Bombenschutt des Zweiten Weltkriegs enthält erschütternde Zeugnisse – bis zur verkohlten Spielpuppe eines kleinen Mädchens.

Was aber macht Westfalen im Mittelalter aus? Isenberg: „Unsere Vorfahren kamen spät zum Christentum, dann aber ungemein schnell.” Es habe in diesen Breiten einen regelrechten Kulturbruch gegeben, der mit neuen Siedlungsstrukturen einherging. Im Rheinland verlief alles gemächlicher. Just in jener Zeit haben sich wohl auch Frühformen eines westfälischen Selbstbewusstseins entwickelt – in Abgrenzung zu benachbarten Landstrichen.

Beispiele: Erstaunliche Funde, die den wachen Geist hiesiger adeliger Stiftsdamen belegen, konnten in Meschede (St. Walburga) gesichert werden, der Ursprungsbau entstand um das Jahr 900. Gabriele Isenberg schwärmt geradezu von den Schalltöpfen im Mauerwerk, die mit hallverkürzender Wirkung für hervorragende Akustik bei liturgischen Gesängen sorgten.

Gute Nachrichten
für Lokalpatrioten

In Dortmund hatten Isenbergs Grabungen im Zuge des U-Bahn-Baus konkrete Folgen. Als ihr Team die Grundfesten des Adlerturms (Teil der mittelalterlichen Stadtmauer) freilegte, entstand die Idee, den Turm wieder aufzurichten – und so geschah es. Ein Wahrzeichen aus zweiter Hand, doch immerhin mit historischer Anmutung.

Manches war durch die Grabungen nachweisbar: Die Plettenberger Christuskirche, so stellte sich heraus, ähnelt der seinerzeit in Köln üblichen Bauform. Bei der Vitus-Kirche in Hilchenbach spielen wiederum Einflüsse aus Corvey hinein. Überall werden also datierbare Einflusslinien sichtbar, aus denen man Schlüsse über Reise- und Handelswege ziehen kann.

Wenn irgendwo Neubaumaßnahmen anstehen, können Archäologen nach neuerer Rechtslage leichter einen vorübergehenden Stopp verfügen als früher. Daher sind sie anfangs „oft nicht gern gesehen” (Isenberg). Doch sobald markante Funde auftauchen, werden Bürger und Stadtwerbung aufmerksam. Erst recht wächst der Lokalstolz in eingemeindeten Stadtteilen. Isenberg: „Die Wellinghofer freuen sich, wenn sie den Dortmundern etwas voraus haben, und die Wattenscheider wollen es den Bochumern mal zeigen.”

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INFOS:

  • Als Gabriele Isenberg anfing, wurden Fundstellen noch häufig von Hand skizziert. Heute sind Digitalfotografie und Computersimulationen Standard.
  • Immer neue Methoden bringen zudem die Funde „zum Sprechen”:
  • Mit DNA-Analysen lässt sich beispielsweise feststellen, ob Blutsverwandte gemeinsam bestattet worden sind.
  • Per Strontium-Isotopie kann man anhand von Knochenfunden bestimmen, welche Sorte Wasser (und welche Mineralien) der betreffende Mensch als Kind zu sich genommen hat. Da sich diese Zusammensetzung früher regional stark unterschied, lässt dies Aussagen über die Herkunft zu.
  • Paläopathologen finden in Skeletten Hinweise auf Krankheiten und Ernährungsgewohnheiten unsererer frühen Vorfahren.

BUCHTIPP

  • Zum Thema neu auf dem Buchmarkt: „Archäologieführer Westfalen-Lippe”. Theiss-Verlag, 216 Seiten, 16.90 Euro.



„Freiheit der Linie“: Wie Künstler die Gefühle steigern

Münster. Mit Farbe, Form und Linie muss sich jeder Künstler befassen. Das Landesmuseum in Münster greift eins dieser Grundelemente heraus: die Linie. Nicht einfach so, sondern mit konkreten und teilweise verblüffenden Bezügen.

Die These lautet ungefähr so: Im Jugendstil wurde die Linie zusehends freier behandelt. Sie löste sich immer mehr vom dargestellten Gegenstand und drückte schon durch ihren bloßen Verlauf gesteigerte Gefühle aus; zuweilen geschmäcklerisch und ornamental, aber oft auch empfindsam, geradezu seismographisch. Genau bei solchen Bewegungen konnten die Expressionisten anknüpfen, denen es just um (manchmal steil aufragende) Emotionen ging. Bei ihnen gewann die Linie Kraft und Spannung.

In der Linie liegt die Kraft

Die Münsteraner Schau versammelt nun überraschend deutliche Belege dafür, dass auch Künstler im Jugendstil wurzeln, von denen man das nicht (mehr) weiß: Das Schaffen von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner wird zurückgeführt auf solche Ursprünge. Was hier aus ihren Frühzeiten gezeigt wird, steht tatsächlich noch im Bann des Jugendstils. Erst im Lauf der Jahre gingen sie eigene Wege.

Beispiel Kandinsky 1907 noch ein lineares Wellenspiel aus Kleidung und Haaren („Der Spiegel“), ganz im Geist des Jugendstils, bis 1911 dann der kühne Sprung ins gänzlich Freie. Die Linien halten das Bildgefüge nur noch vage zusammen, sie sind zum Ausdrucksmittel geworden.

Als Kristallisationsfigur des Übergangs hat Ausstellungs-Kurator Erich Franz einen Mann namens Hermann Obrrist (1862-1927) ausgemacht. Franz versichert: „Es ist keine Bildungslücke, Obrist nicht zu kennen“. Seit rund 40 Jahren sei dieser Jugendstil-Künstler in deutschen Museen praktisch nicht mehr präsent. Eine „Ausgrabung“ also. Der gebürtige Schweizer Obrist hat – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunstgewerbe – das freie Spiel der Linien bis zum Rand der Abstraktion getrieben. Dabei werden bereits expressive Qualitäten sichtbar. Ein um 1895 von Obrist entworfener Wandbehang zeigt laut Titel Alpenveilchen, wirkt aber eher wie eine flammende Linien-Schrift oder (so befand damals ein Kritiker) gar wie ein „Peitschenhieb“. Für die Münsteraner Schau wurde das Werk in rund 600 Stunden mühsamer Handarbeit nachgestickt, es erstrahlt nun fast wie in der Ursprungszeit. Das Original in München ist hingegen arg ramponiert.

Obrist, der vorwiegend in München lebte und arbeitete, hat mit derlei Formfindungen direkten Einfluss ausgeübt: Kandinsky war mit ihm befreundet, Kirchner hat um 1902 bei ihm das Zeichnen gelernt. Auch Marc und Klee nahmen seine Anregungen auf – und wandelten sie ab. Durch Entwürfe für Alltagsgegenstände, Brunnen und Denkmäler hat Obrist wohl auch den nachmals berühmten Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde Anstöße gegeben.

Es herrscht ein Stilwille, der die sichtbare Wirklichkeit hinter sich lässt. Hochinteressant ist es zu sehen, dass Marcs Tierfiguren sich den Linienführungen des Jugendstils entwickeln, gleichsam daraus hervorwinden. Es ist wie eine Geburt, ein großes Werden.

Mit Vorläufern vor aus Frankreich beginnt der Reigen. Im Zeichen einer grassierenden Japan-Mode („Japonismus“) wurde die vordem im Historismus schwelgende Kunst entschlackt, vereinfacht, auf pflanzlich inspiriertes Formenvokabular reduziert. Eine Abfolge von Mädchenbildnissen (Edvard Munch, Ferdinand Hodler) beweist sinnfällig die neue Schlichtheit. In ihr verbargen sich ungeahnte, zuweilen erschütternd intensive Ausdruckswerte.

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INFOS

  • „Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner.“
  • Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz)
  • Ausstellung bis zum 17. Februar 2008. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familie 11 Euro. Katalog 27 Euro.



Timm Ulrichs: Kunst auf die lockere Art

Recklinghausen. Wenn Kunststudenten ihre Werke zeigen, krähen nicht viele Hähne danach. Wenn aber ihr Professor, der seit Jahrzehnten einen „Namen“ hat, sich an die Spitze stellt, so verhält es sich schon anders. Beispielsweise Prof. Timm Ulrichs (65), der nun Abschied von der Münsteraner Kunstakademie nimmt, wo er in seiner Klasse seit 1972 etwa 280 Studenten betreut hat.

Jetzt ist in Recklinghausen ein Auswahl-Querschnitt aus all diesen Jahren zu sehen. Über den Daumen gepeilt, sind es fast 200 Werke von rund 100 Ulrichs-Schülern, garniert mit beispielhaften Arbeiten des freigeistigen Lehrmeisters, der auch schon mal eine Märklin-Modellbahn (beladen mit deutschem Wald) in künstlerischen Dienst nimmt. Manche erinnern sich auch an dies: Mit einer garstigen Porno-Kunst-Aktion hatte Ulrichs anno 1993 für einen Skandal in Iserlohn gesorgt.

Der aufwändig recherchierte Bilanz-Katalog verzeichnet seine sämtlichen Studenten – jeweils mit Passfoto von „damals“ (aus den Akten der Akademie) und kurzem Werdegang; ganz gleich, ob sie nur ein oder 30 (!) Semester in Münster verbracht haben. Hübsche Randnotiz: Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich zählte einst selbst zum Kreis der Eleven. Ursprünglich hat er Künstler werden wollen, dann hat er auf Kunstgeschichte umgesattelt.

Auch feste Größen der Sze¬ne, wie etwa Gregor Schneider (der Deutschland bei der Biennale in Venedig vertrat), haben ihre ersten Schritte bei Timm Ulrichs gemacht. Etli¬che andere zählen zum acht¬baren „Mittelfeld“ der Branche, einige haben sich ganz aus dem Beruf verabschiedet. So ist das eben.

Die kreuz und quer (un)sortierte Ausstellung ist „vielstimmig“, man sieht Beispiele für alle Genres zwischen Malerei, Installation und Video. Manche Stile und Moden der letzten 30 Jahre klingen an. Gemeinsamer Grundzug ist ironischer Einfallsreichtum, zuweilen frech-fröhlich gewendet. Kunst, die das Pathos meidet, die sich selbst nicht allzu schwer nimmt. Timm Ulrichs dürfte zur leichteren Gangart ermutigt haben.

Ulrichs, der in Münster als Professor für „Bildhauerei und Totalkunst“ firmierte, hat den jungen Leuten stets viel Freiraum gelassen. Das lockere Arbeitsklima kann man sich ungefähr vorstellen. Es teilt sich im entspannten Gestus der Ausstellung mit.

Doch Ulrichs hat nicht alle Interessenten zugelassen. Auswahl musste sein. „Ich war nicht wie Beuys, der unterschiedslos alle zu sich gerufen hat.“ Die Jahrgangsbesten wählte Ulrichs jeweils ganz subjektiv aus – und verlieh ihnen unfeierlich seinen „Timm und Struppi-Preis“…

Anfangs war Ulrichs selbst noch so jung, dass er gegrübelt hat: „Wie soll ich hier eigentlich den Professor spielen?“ Und noch heute sagt der beredsame, oft zu respektlosen Scherzen aufgelegte Mann: „Eigentlich weiß ich gar nicht, was Kunst ist.“ Kunst sei ein offener Begriff. Statt sich vorher festzulegen, solle man vom konkreten Einzelwerk ausgehen.

Ulrichs ist halt ein Sponti. Verhasst sind ihm die immer wieder verwendeten „Markenzeichen“ der Kunst, z. B. Nägel oder kopfüber hängende Porträts. Lieber täglich von vorn beginnen. Ein Vorbild? „Edison! Der hatte über 200 Patente aus allen Bereichen.“ Und wie sieht – ganz profan gefragt – das finanzielle Fazit seines Künstlerlebens aus? Ulrichs: „Obwohl ich viele Wettbewerbe gewonnen habe, habe ich mit Kunst kaum etwas verdient.“ Wie gut, dass er als Professor ein gesichertes Grundeinkommen hatte.

• „mit offenem Ende“ -Timm Ulrichs und seine Klasse an der Kunstakademie Münster 1972 bis 2005. Kunsthalle Reckling¬hausen. 24. Juli (Eröff. um 11 Uhr) bis 11. September. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 10 Euro.

(Der Beitrag stand am 23. Juli 2005 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




Zu den Ufern der Freiheit – Ausstellungen über Künstlergruppe „Die Brücke“ in Essen und anderswo

Von Bernd Berke

Essen. So wirken sich Gedenktage aus: Die Gründung der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ jährt sich heuer zum 100. Mal. Deshalb holen viele, viele Museen ihre entsprechenden Bestände ans Licht.

In unseren Breiten sind es derzeit schon Münster und Duisburg, die ihren „Brücke“-Eigenbesitz zeigen. In Essen verhält es sich nun freilich anders. Die „Brücke“-Werke (von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff), die jetzt in Essen zu sehen sind, könnten tatsächlich dem Folkwang-Museum gehören. Doch man hat sie vom Frankfurter „Städel“ ausleihen müssen.

Die folgenreiche Vorgeschichte: Der 1867 in Essen geborene Chemiker Carl Hagemann wurde um 1910 zum passionierten Kunstsammler. Besonders enge Kontakte pflegte er mit dem „Brücke“-Künstler Ernst Ludwig Kirchner. Auch mit dem damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch (im Amt 1906-1933) war Hagemann befreundet. Es schien beschlossene Sache, dass das Essener Haus einst die Sammlung Hagemann erhalten würde.

Frankfurter Städel-Direktor rettete die Sammlung Hagemann

Doch dann kamen die Nazis. die auch die „Brücke“-Bilder als „entartete Kunst“ verfemten und missliebige Museumsdirektoren zur Kündigung zwangen. In Essen wurde es für einen Sammler wie Hagemann vollends unerträglich. Er zog nach Frankfürt und begegnete dort gottlob dem standhaften „Städel“-Chef Ernst Holzinger. Der lagerte moderne Städel-Schätze mitsamt dem Hagemann-Besitz insgeheim in Kisten und rettete sie so vor Beschlagnahme und späteren Kriegswirren…

Nun also kehren Teile des Hagemann-Konvoluts auf Zeit nach Essen zurück. Noch nie hat sich das Frankfurter „Städel“-Institut bei der Ausleihe derart großzügig gezeigt. Andere Leihgeber, darunter das Dortmunder Ostwall-Museum, traten mit sinnvollen Ergänzungen hinzu.

Es ist trotzdem keine Schau, die ganz neue Horizonte aufreißt. Wie denn auch? Mit der „Brücke“ glauben sich viele Kunstfreunde einigermaßen auszukennen. Allerdings werden die „Brücke“-Künstler vorwiegend als Gruppe wahrgenommen, gar nicht so sehr als Einzelpersönlichkeiten. Vielleicht ist dies ein „Auftrag“, den solche Ausstellungen mit sich bringen: Mehr zwischen den Künstlern zu differenzieren, neben allen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zu bemerken. Auch und gerade im Überschwang eines Gedenkjahres.

Historischer Verlust für Essen wird spürbar

Fabelhafte Kunststücke finden sich hier, die den historisehen Verlust für Essen recht schmerzlich spüren lassen. Immer wieder gibt es beim Rundgang flammende Momente: Das exzessive Aufblühen der Farben rund um Karl Schmidt-Rottluffs „Turm im Park“ (1910); der sinnlich verwegene Schwung des Tanzpaares in Ernst Ludwig Kirchners „Varieté“ (1910); der freimutige Reigen natürlicher Nacktheit (Erich Heckels „Badende im Waldteich“, 1910). Sie strebten zu den Ufern der Freiheit, sei’s im Leben, sei’s auf der Leinwand.

Interessant auch einige Seitenlinien der „Brücke“-Schau (E. W. Nay, André Derain). Und dann Emil Nolde! Von ihm sieht man ein ungeheuerlich aufgewühltes „Herbstmeer“ (1910), Sinnbild eines Seelenzustandes,, unsicherer menschlicher Existenz überhaupt. Zudem hat Nolde einen leuchtenden „Christus in der Unterwelt“ (1911) imaginiert, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft. Vor solchen Bildern kann man gläubig werden – oder bleiben.

• Essen: Künstler der „Brücke“ in der Sammlung Hagemann. Bis zum 15. Mai im Folkwang-Museum (Goethestraße). Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 Euro, Katalog 16,80 Euro,.

• Münster: Westfälisches Landesmuseum (Domplatz). Bis 1. Mai. Di-So 10-18 Uhr.

• Duisburg: Lehmbruck-Museum (Düsseldorfer Str.). Bis 31. Juli. Di-Sa 11-17,So 10-18 Uhr.

 




Als der Champagner strömte: Münsteraner Picasso-Museum zeigt Plakatkunst von Toulouse-Lautrec und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Münster. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Paris eine veritable „Galerie der Straße“. So nannte man die Unzahl der plakatierten Reklamebotschaften, wenn man denn Gefallen an den künstlerischen Ausdrucksformen fand. Wer eher den Stadtreinigungs-Aspekt im Sinne hatte, sprach allerdings despektierlich vom „Plakatwahn“ („Affichomanie“). Um 1890 wurde ein Gesetz gegen wildes Anheften erlassen.

Längst werden ästhetisch ambitionierte Plakate auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt. In Münster sind jetzt sozusagen Spitzenprodukte der Zunft zu sehen, sie stammen von Henri de Toulouse-Lautrec und einigen seiner Zeitgenossen. Bis dato hatten Plakate meist nur schwarz-weiße Buchstaben-Botschaften übermittelt. Um 1890 aber gediehen Bildhaftigkeit und Farbrausch.

Die rund 160 Exponate kommen aus 20 europäischen Museen. Toulouse-Lautrec (1864-1901) hat insgesamt 31 Plakate geschaffen, immerhin 25 dieser Motive sind in Münster zu sehen. Im Vergleich mit den durchaus beachtlichen Schöpfungen damaliger Mitbewerber (z. B. des Wegbereiters Jules Chéret oder von Théophile-Alexandre Steinlen) kann man die besonderen Qualitäten Toulouse-Lautrecs ausmachen: die ungeheuer treffsichere Pointierung und auch den Mut zur Drastik. Manche Tänzerin oder Diseuse fühlte sich zunächst von ihm allzu gröblich dargestellt. Trotzdem bekam er die Aufträge, denn keiner war besser.

Plakate erwiesen sich als Medium, in dem momentane, augenblicksschnelle Wirkkräfte der Kunst erprobt werden konnten – auf schmalem Grat zum Kommerz: Die Ausstellung führt zu den berühmten, gelegentlich frivolen Konzertcafés („Moulin Rouge“, „Chat Noir“), sie präsentiert Star-Plakate von damals Jane Avril, La Goulue, Aristide Bruant), unternimmt Streifzüge durch die Produktwerbung (Absinth, Liköre, Lakritzbonbons) und widmet sich gar dem seinerzeit grassierenden „Fahrrad-Wahnsinn“, der von Fußgängern als bedrohlich empfunden wurde.

Schließlich mündet all dies in einen Raum mit Pablo Picassos frühen, von Toulouse-Lautrec angeregten Plakat-Versuchen. Man kann sagen: Es war nicht das angeborene Metier des genialen Spaniers.

Prächtige Stücke sind in Münster zu sehen, so etwa Steinlens prägnante Werbung fürs „Chat Noir“ mit riesiger schwarzer Katze, deren Kopf von einem gotischen Ornament umfangen ist – eine bemerkenswerte Würdeformel.

Toulouse-Lautrec wagte es unterdessen, einen kabarettistischen Auftritt von Aristide Bruant mit dessen markanter Rückenansicht anzukündigen. Bruant, von Haus aus Bahnarbeiter, der auf der Bühne die Bourgeoisie rüde beschimpfte, war davon angetan. Sein Gesicht kannte ohnehin jeder.

Drei Damen wollen endlich ins Lokal

Hinreißend sind jene drei rot gewandeten Damen, die auf Georges Redons Plakat sehnsüchtig die Wiedereröffnung des Lokals Marigny erwarten. Bezaubernd auch das Champagner-Plakat des Mannes, von dem sich Toulouse-Lautrec inspirieren ließ: Der famose Pierre Bonnard erfasst das Strömen und Perlen des Schampus derart Sinnlich, dass man ahnt, warum diese Ära „Belle Epoque“ genannt wird. Die Blondine jedenfalls, die das prickelnde Edelgetränk genießt, schmilzt selig dahin.

„Plakatwahn – Toulouse-Lautrec und die französische Plakatkunst um 1900″. Picasso-Museum Münster, Königsstraße 5. Bis zum 15. Februar 2004. Di-Fr 11-18, Sa/So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog 29,80 Euro.




Am „Webstuhl der Zeit“ entsteht ein Jahrhundert aus Daten – Text- und Bilderserien von Hanne Darboven in Münster

Von Bernd Berke

Wie hat das bloß alles angefangen – und wohin soll es führen? Die Künstlerin Hanne Darboven (61), Sproß der Kaffee-Dynastie. beackert seit geraumer Zeit intensiv alle einzelnen Tage, Jahre und Jahrzehnte seit anno 1900 auf der Basis eines eigensinnigen Rechen-Systems.

Daraus ergeben sich abertausende von Notizen, sonstige Schriftstücke und Dokumente, die zahllose Aktenordner füllen, welche wiederum ganze Regal-Kilometer einnehmen dürften. Mit diesen Ablagerungen verglichen, wirken selbst üppigste Text-Konglomerate von James Joyce („Ulysses“) oder Aino Schmidt („Zettels Traum“) wie bloße Aphorismen.

Auch Kuriositäten-Sammlungen wuchern mittlerweile aus der unglaublichen Datums-Welt der Hanne Darboven heraus. Vieles lagert in Museen, außerdem sind vier Darboven-Häuser voll bis unters Dach. Ein wahrer Frondienst am Webstuhl der Zeit.

Mit eiserner Disziplin

Mit eiserner Disziplin, so hört man, verrichtet die in der Kunstwelt verehrte Hanne Darboven ihr im Prinzip unaufhörliches Tagwerk – einer Krebserkrankung zum Trotz. Früh aufstehen. Kaffee trinken. Dann von Tisch zu Tisch, von Projekt zu Projekt, überall „Akten“ anhäufend. Scheint es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Eine „Keimzelle“ der geradezu irrwitzigen Mühen an den Kreuzungspunkten von Biographie und Zeithistorie ist jetzt in der umfassenden Darboven-Schau des Münsteraner Landesmuseums zu sehen: Der abgewetzte alte Koffer enthält rasch und spontan vollgekritzelte Tagebuch-Hefte.

Irgendwann in den frühen 60er Jahren muss Hanne Darboven auf die Idee verfallen sein, die Quersummen jedes Datums zu ziehen. Daraus erwuchs jene wie besessen fortgeführte Rechenarbeit, deren Schema später bildlich in endlos lange, streng durchgehaltene von Tages-Quadraten überführt wird, welche ein stetes An- und Abschwellen der Zeit suggerieren. Sisyphos war vergleichsweise ein Faulpelz.

Grundlage einer neuen Notenschrift

In dieser strikt geordneten, doch allseits wuchernden Welt tritt manches über die Ufer, erobert neue Sinnfelder, erhebt universellen Anspruch. So wurden Zahlen und Quadrate längst zur Grundlage einer Notenschrift. Die entsprechende meditative Musik ist in Münster vom Band zu hören.

Weit ausgreifende Text- und Bilderserien wie „Kinder dieser Welt“ oder „Welttheater“ (mit vielen Vignetten aus der Darboven-Kaffeereklame zur Kolonialzeit) kommen hinzu. Man staunt über lange, lange Reihen von „Büchern“ (rund 2000 Bände, dazu etwa 2600 gerahmte Elemente), randvoll mit Dokumenten jeglicher Art. Früher ging’s öfter in Richtung Politik (häufig im Gefolge von Beauvoir oder Sartre), nun mehren sich Rückzüge in den Vorstellungs-Raum der eigenen Einzel-Existenz.

Klösterliche Schreib-Exerzitien

Stets sind nur einige Seiten aufgeschlagen, blättern soll man nicht. Auch Fotos erscheinen zwischen den ungeheuren Text-Deponien, z. B. jene häufig in völlig verschiedenen Kontexten wiederkehrende, skurrile Farb-Postkarte, die einen dänischen Briefträger bei der Arbeit zeigt.

Fleißig abgeschriebene Passagen aus Büchern schwellen ebenso an wie von Inhalten befreite Schreib-Exerzitien: etwa lauter „u“- oder „w“-Wellen entlang einer Übungslinie; wie damals in der Grundschule, doch hier mitunter viele hundert Seiten lang.

All das türmt sich auf zum ästhetischen Ereignis zwisehen Kunstfreiheit und Klosterstrenge. Als Betrachter wird man gleichsam in eine Parallel-Welt versetzt. Hanne Darboven führt unter Einsatz ihrer Lebensdauer vor, wie tief man sich in den Falten der Zeit verlieren (und finden?) kann. Fast schon übersinnlich.

Hanne Darboven. „Bücher“. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). Bis 26. Mai. Täglich außer Mo 10-18 Uhr.

 




An Vorbildern wachsen – Münster zeigt, welche Anregungen August Macke aufgegriffen hat

Von Bernd Berke

Münster. So kann man sich in Menschen täuschen: Rein äußerlich soll der Künstler August Macke einen eher phlegmatischen Eindruck gemacht haben. Selbst seine schöne (und als Fabrikantentochter gut betuchte) Frau Elisabeth hielt ihn zuweilen für träge.

Doch das kann nicht stimmen. In seinem beklagenswert kurzen Leben (er fiel 1914 als Weltkriegs-Soldat in der Champagne) hat der 1887 in Meschede geborene Macke rund 10.000 Zeichnungen angefertigt, dazu füllte er etwa 6000 Blätter in 28 Skizzenbüchern – von Gemälden gar nicht zu reden. Und er blieb – wie jetzt eine Ausstellung in Münster beweist – offen für alle fruchtbaren künstlerischen Einflüsse.

Diese Schau hat ein besonders festes Forschungs-Fundament, fußt sie doch auf den seit über 20 Jahren währenden Macke-Studien von Ursula Heiderich. Sie hat ermittelt, welche Werke anderer Künstler Macke in deren Ateliers oder bei Ausstellungen zweifelsfrei selbst gesehen oder gar erworben hat, wie etwa jene kleine Frauenakt-Skulptur von Aristide Maillol, deren Gestalt auf einigen Macke-Gemälden wiederkehrt.

Dichte, geradezu sprunghafte Abfolge

Man sieht in Münster 150 Werke von Mackes Hand und etwa 20, doch längst nicht alle Vergleichs-Originale. Denn Macke hat auch Motive und Ideen von Leonardo. Michelangelo und Rembrandt aufgegriffen – oft mit Nachzeichnungen in Skizzenkladden. Macke, der die Schule vor dem Abitur abgebrochen hatte und es auch auf der Düsseldorfer Kunstakademie nur kurz aushielt, nahm stilistische und thematische Anregungen ruhelos auf; als hätte er gewusst, dass seine Zeit auf Erden knapp bemessen war.

Detailfreudig wird dargelegt, woran sich dieser Künstler orientiert und wie er es sich anverwandelt hat. Andere hätten beim Wettstreit mit den Größen der Kunstgeschichte resigniert, bei Macke steigert derlei ästhetische Konkurrenz offenkundig die eigenen kreativen Kräfte. Er wächst an den Vorbildern.

In dichter, bisweilen sprunghafter Abfolge wechselt August Macke die Richtungen, wobei Gegenständlichkeit und Abstraktion einander nie ausschließen. Ab 1903 malt er nach Art von Arnold Böcklin und Hans Thoma, dessen „Bogenschütze“ zum Prägemuster für eine eigene Deutung wird. 1904 bewundert er Max Klinger und gestaltet „Venus und Amor am Altar“ in entsprechender Manier. 1907 wendet er sich dem Impressionismus zu. Ein ,,Spargel“-Bild bezieht sich direkt auf Edouard Manet.

Das Repertoire erweiterte sich zusehends

Auch die japanische Kunstfertigkeit, Tiere als Ornamente darzustellen, regt ihn zu vergleichbaren Schöpfungen an. Ab 1909 entdeckt Macke die Qualitäten der Fauvisten, und 1912 malt er einen „Don Quichotte“ ziemlich exakt nach dem Vorbild von Honoré Daumier. Dessen satirische Formkürzel will sich Macke aneignen, wobei selbst Wilhelm Busch in sein Blickfeld gerät, den er mit einem „Bacchus“-Bild zitiert.

Damit nicht genug. Ein Macke-Bildwie „Rokoko“ (1912) könnte von Kandinskys Palette stammen, der „Vogelbauer“ (1912) ist Matisse abgewonnen. Bei Futuristen wie Umberto Boccioni lernt Macke, wie man die simultane Splitterung der Zeit ins Bildgeviert bannen kann, mit Arbeiten wie „Husaren“ (1914) nimmt er diese Technik in sein Repertoire auf, das schließlich auch kubistische Elemente à la Picasso umfasst.

Fast könnte man, angesichts dieser spannenden Vergleiche, die oft herzwärmende Schönheit vergessen, welche Mackes Bildern eigen ist. Da empfiehlt sich der zweifache Rundgang: einer fürs Wissen, einer fürs Schwelgen.

August Macke und die frühe Moderne in Europa. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). Bis 17. Feb. 2002 (ab 14. März 2002 im Kunstmuseum Bonn). Di-So 10-18, Mi 10-21Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 44 DM.




Westfalens Weltdichterin: Annette von Droste-Hülshoffs Gesamtwerk liegt jetzt in 28 Bänden vor

Von Bernd Berke

Münster. Um Westfalens große Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) sind häufig politische Scharmützel ausgefochten worden. Im „Kulturkampf“ (um 1875) wollten Bismarcks Preußen ihr Werk als nationales Sprachdenkmal für ihre Zwecke vereinnahmen. Die katholischen Widersacher hielten dagegen und betonten konservativ-religiöse Aspekte ihrer Lyrik und Prosa.

Heute haben feministisch inspirierte Deutungen die Oberhand gewonnen, die im Erdenwallen der Droste ein exemplarisch unterdrücktes Frauenleben erkennen wollen, das sich auch zwischen den Zeilen mitteile. Tatsächlich hat die patriarchalische Familie der Dichterin zeitlebens manche Schwierigkeiten bereitet und der Droste 1845 sogar ein striktes Schreibverbot erteilt.

Sie war nicht nur ein braves Fräulein

Gestern wurde, nach über 20 Jahren Detail-Arbeit, in Münster ein Mammut-Unternehmen der Literaturwissenschaft präsentiert: Die 28 Bände der historisch-kritischen Droste-Ausgabe sind komplett fertig!

Jetzt kann also auf festerer Basis über ihr Leben und Wirken spekuliert werden. Denn nun liegen ihre Texte endlich in weitgehend authentischer Gestalt vor. Der machtvolle Grundstein für viele weitere Forschungen ist damit gelegt. Herausgeber Prof. Winfried Woesler (Uni Osnabrück) glaubt, dass sich das Bild der Droste im Lichte der Neuausgabe anders darstellt als bisher: „Bisher hat man sie oft als biedermeierliches westfälisches Adelsfräulein oder gar als Spökenkiekerin gesehen.“

„Quitschern im Kiesgeschrill“

Die Autorin der weltweit übersetzten „Judenbuche“ sei jedoch eine weltoffene, durchaus belesene Frau gewesen. Ihre Texte seien teilweise unerhört modern. Wenn sie etwa ,in einem Gedicht über eine Kutschfahrt lautmalerisch vom „Quitschern im Kiesgeschrill“ spricht, so deutet dies auf expressionistische Sprachschöpfungen voraus.

Und der westfälische Aspekt? Nun, der ist im Laufe der Zeit zumindest neu gewichtet worden. Drostes innige Schilderungen aus der Region seien, so die jetzige Lesart, Welterkenntnis im Gewände der „Provinz“. Also denn: Weltdichtung aus Westfalen. Klingt doch gut.

Eine solche Edition, deren Resultate künftig auch in preiswerte Studien- und Volksausgaben einfließen werden, entsteht nicht von heute auf morgen. Band eins erschien bereits 1978. Seither haben etliche Germanisten an dem papiernen Monument „mitgemeißelt“. Rund 5,5 Millionen DM hat die Unternehmung gekostet. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, das Land NRW und andere steuerten Mittel bei.

Viele alte Fehler wurden korrigiert

Man hat alle erreichbaren Original-Handschriften der Droste (die oft winzig und kaum entzifferbar gekritzelt hat) penibel untersucht. Viele Fehler bisheriger Ausgaben konnten dabei korrigiert werden. Sogar ein Band mit eher holprigen musikalischen Versuchen (Liedvertonungen, Opern-Entwurf) der Droste gehört zum Lieferumfang.

Eine erstaunliche Fehlzuschreibung entdeckten die Herausgeber auch. Niemand hatte bis dato bemerkt, dass das Gedicht „Entzauberung“ gar nicht von ihr stammt, sondern von Grillparzer. Weil sie’s schön fand, hat sie es abgeschrieben – und nur ein einziges Wörtchen verändert.

Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe (Werke / Briefwechsel). Max Niemeyer Verlag, Tübingen. 28 Bände, zusammen 5505 DM, auch Einzelbände erhältlich.




Im Bannkreis zweier Meister – Münsteraner Ausstellung zeigt Einflüsse Klees und Kirchners auf Fritz Winter

Von Bernd Berke

Münster. Mit vollen Segeln und stolz beflaggt, sticht die Fregatte auf Paul Klees Bild „Abenteuer Schiff“ (1927) in See. Entschieden karger geht es auf dem Gemälde gleich daneben zu. Fritz Winter hat „Das Boot“ (1930) nur mit dem Nötigsten ausgerüstet. Es schaukelt ein wenig träge und traumverloren vor sich hin.

In der neuen Münsteraner Ausstellung „Klee – Winter – Kirchner“ begegnet man immer wieder solchen Doppelungen, die zum direkten Vergleich anregen. Eine Seh-Schule auf hohem Niveau. Die Gegenüberstellungen haben ihre kunstgeschichtliche Basis: Fritz Winter, 1905 in Altenbögge bei Unna als Sohn eines Bergmanns geboren, studierte von 1927 bis 1930 am berühmten Dessauer „Bauhaus“. Sein wohl wichtigster Lehrer war dort Paul Klee. Kein Wunder, dass es hier etliche Einflüsse gegeben hat.

Doch Winter segelte eben nicht nur im Windschatten Klees. 1929 nahm er brieflich Verbindung zu einer völlig anderen Künstlerpersönlichkeit auf – dem Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner. Man traf und mochte sich gleich. Die Begegnung schlug sich gleichfalls deutlich in Winters Bildern nieder. Der junge Mann war eben noch prägsam.

In den Schattenzonen des Bewusstseins

Den zeitlichen Schlusspunkt setzt die interessante, in München zusammengestellte Schau mit dem Jahr 1934: Damals sahen sich Klee und Kirchner, die einander bis dato schätzten, aber nicht persönlich kannten, zum ersten und einzigen Male im Leben.

Klee ist einer der allergrößten Meister im staunenswert triftigen Einfangen des Ungefähren. In den Schattenzonen des Bewusstseins erfasst er sonst kaum wahrgenommene Unschärfen, Überlagerungen und Schwingungen. „Trauernd“ (1934) scheint sein Frauenbildnis in einem Muster aus Grau- und Rosa-Tönen auf- und abzutauchen; mal tief in sich selbst versinkend, dann neue Hoffnung schöpfend. Ungeheuer weich und fließend lebendig, als seien sie in jedem Augenblicke wandelbar, wirken solche Bilder.

Von derlei flüchtigen Figurationen hat sich auch Fritz Winter seinen Anteil abgeschaut und anverwandelt. Die Vergitterungs-Strukturen auf Klees „Der Tod“ (1927) und auf Winters titellosem Bild von 1929 weisen frappante Ähnlichkeiten auf. Doch bei allem Respekt vor Winter, der bislang eher als Größe der Nachkriegszeit geweitet wurde: Klees Formfindungen wirken allemal noch dringlicher und zwingender.

Die Strömungen und der Umriss

Sodann der zweite, so gänzlich anders gelagerte Einfluss: Im Sog Kirchners werden Winters Linienführungen wieder fester, eindeutiger. Solche Kunst verströmt sich nicht, sie lebt vom Umriss. Doch auch hier können Figuren zeichenhaft abstrahiert werden. Kirchner selbst sprach von bildlichen „Hieroglyphen“.

Zudem entdeckte Winter, von Kirchner darauf aufmerksam gemacht, die kreativen Kräfte des „Primitivismus“. Eine schöne „rohe“ Holzskulptur zeugt davon. Auch hier kann man also die Einwirkung des Arrivierten auf den Adepten bestens nachvollziehen – eine Folge der Hängung, die die Bilder zumeist paar- oder gruppenweise vor Augen führt.

Natürlich wollen wir Winter nicht als bloßen Nachahmer schmähen. Wer derart jung in die Bannkreise zweier Meister wie Klee und Kirchner gerät, muss schon enorme innere Selbstbehauptungs-Kräfte besitzen, um nicht „unterzugehen“. Winters eigener Sinn aber hat sich in diesem hochkarätigen künstlerischen Dreieck gefestigt.

Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 14. Januar (Eröff. 11 Uhr) bis 4. März. Tag. außer Mo 10-18 Uhr, Eintritt 5 DM, Katalog 34 DM.

 




Über allem schwebt ein Licht: Zwei Ausstellungen über Christian Rohlfs – Münster sticht Hagen deutlich aus

Von Bernd Berke

Münster/Hagen. Viele, viele Jahre hat der Künstler Christian Rohlfs in Hagen gelebt, 1938 ist er hier gestorben. Man sollte denken, dass ihm, der längst zum Ehrenbürger der Stadt ernannte wurde, an diesem Ort eine Retrospektive ausgerichtet wird, weil sich sein Geburtstag (22. Dezember 1849) zum 150. Mal jährt.

Doch die Hagener lassen es im Hohenhof beim relativ knappen Einblick in den reichen Eigenbesitz bewenden. Derweil präsentiert das Landesmuseum in Münster die weitaus umfangreichere Schau – übrigens auch mit einigen Leihgaben aus Hagen. Absprachen wurden ansonsten offenbar kaum getroffen, denn gestern luden beide Häuser zur Vorbesichtigung ihrer Rohlfs-Ausstellungen ein – auf die Minute zeîtgleich.

Bearbeitung mit der Drahtbürste

Hagens „Heimvorteil“ ist leider dahin: Bevor man sich also der Kunst wegen in zwei Teile zerreißt, sollte man die prachtvolle Münsteraner Auswahl (Koproduktion mit der Kunsthalle Emden) vorziehen. Unter dem poetischen Titel „Das Licht in den Dingen“ sind hier rund 170 Arbeiten zu besichtigen, mehrheitlich Tempera-Bilder aus dem ungeheuer leuchtenden Spätwerk.Der Künstler bevorzugte mit zunehmendem Alter diese wasserlösliche Farbsorte, weil sie es ihm erlaubte, seine Bilder lichter und transparenter zu gestalten. Er wusch manche Bildpartien regelrecht aus und rückte ihnen gar mit einer Drahtbürste zuleibe, um jenes ganz besonders helle „Schweben“ der Farben zu erzielen. So gerieten vor allem die überaus zahlreichen Blumenmotive zu schwerelosen Erscheinungen.

Christian Rohlfs gilt gewissen Kunstlexika immer noch als Parteigänger des Expressionismus, doch mit derlei Einordnung erfasst man sein allzeit experimentierfreudiges Wesen nimmer. Er war ja auch schon in seinen 50ern. als die Künstlergruppe „Die Brücke“ gegründet wurde, und damit eher eine Vaterfigur für die Expressionisten. Der Mann mit dem Faible für Freiluftmalerei hatte bereits naturalistische und impressionistische Werkphasen abgeschlossen. Schon 1901 war er, auf Bitten des Mäzens Karl-Ernst Osthaus, von Weimar nach Hagen umgesiedelt. Später zog es ihn oft nach Ascona, und er verbrachte meist nur noch die Wintermonate in Westfalen.

Vielleicht war es ein psychologischer Impuls für das Spätwerk, dass der fast 70-Jährige (übrigens im damaligen Hagener Folkwang-Museum) 1919 die um vieles jüngere Helene Vogt heiratete. Neue Liebe, neue Schaffenskraft.

Eigentlich alle Werke, die nun in Münster zu sehen sind, zeugen von tief empfundener Liebe zum Dasein, zu den kristallinen Momenten des Wachsens und Werdens in der Natur. Hier darf der Betrachter meist in sanften Harmonien schwelgen und zum bildnerischen Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön…“

Doch nicht alle Bilder wirken ätherisch. Rohlfs konnte durchaus „zupacken“ und bedrohliche Szenarien („Mondschein mit schwarzer Wolke“, 1934) aufragen lassen.

Etwas letztlich Ungreifbares waltet über all den Blumensträußen, Gebirgs- und Seenlandschaften. Farbklänge und sprühender Lichteinfall setzen pure Energieströme frei, die weit über das jeweilige Motiv hinausweisen. Auf solche Art scheinen gar ganze Kirchen auf einem Lichtpolster gen Himmel zu streben.

Die Rituale der Ausdruckstänzerin

Formidabel auch der „Tatjana“-Zyklus, jetzt in seltener Vollständigkeit versammelt. Er zeigt, mit einer feinsinnigen Neigung zur asiatisch inspirierten Stilisierung, die Bewegungs-Rituale einer Ausdruckstänzerin, mit der sich Rohlfs angefreundet hatte.

Bescheiden und konzeptionslos wirkt demgegenüber der Hagener Griff in die eigenen Bestände (auch hier lockt freilich ein lyrischer Titel: „Musik der Farben“).

Vereinzelte Temperabilder sind in Hagen gleichfalls zu sehen. Allerdings lernt man eine ganz andere Seite des Christian Rohlfs kennen, der offenkundig auch einen Sinn fürs Karikaturistische hatte. So entwarf er – willkommen im üblen Club – per Holzschnitt gar ein „Stinkbock-Diplom“. Wem er’s wohl zugeeignet hat?

Landesmuseum Münster (Domplatz 10). Bis 13. Februar, Di-So 10-18 Uhr, Eintritt 10 DM, Katalog 48 DM.

Hohenhof Hagen (Stirnband 10). Bis 30. Januar 2000. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 5 DM. Kein Katalog.

 




Sanfte Spiele des Lichts – Münster: Der Neo-Impressionist Paul Signac und sein Einfluß auf die Moderne

Von Bernd Berke

Münster. Der französische Maler Paul Signac (1863-1935) verfocht eine Theorie: Wenn der Künstler die Farben in lauter winzigen Punkten auf die Leinwand setze, so müsse der Betrachter später nur in der richtigen Entfernung vom Bild stehen. Dann würden sich alle Tönungen auf natürlich gemischte Weise zeigen. Die Sache hat nur zwei Haken: Signac selbst hielt sich in der Praxis nicht an seine These – und sie stimmt auch gar nicht.

Anno 1944 hat ein US-Physiologe das Dogma von der „optischen Mischung“ widerlegt. Doch das tut der opulenten Münsteraner Schau über den Neo-Impressionisten Paul Signac und die von ihm beeinflußten Künstler überhaupt keinen Abbruch, im Gegenteil. Denn Signac und die anderen setzten die Vorgaben eben nicht sklavisch um.

Den Realismus hatte damals längst die Fotografie für sich gepachtet. Im Grunde geht es deshalb für die Maler zwischen 1890 und 1910 darum, die Gegenstände hinter sich zu lassen, indem sie die Farbe von der Bindung an dargestellte Menschen und Objekte befreien. Diesem Zweck dient auch der punktuelle Aufbau der Gemälde. Das schiere Flirren der vielen Farbpartikel überstrahlt die Inhalte.

Signac setzt eigentlich gar keine Punkte, sondern strichförmig gerichtete Tupfer. Er verwendet stets die Farben des Prismas, keine verwaschenen Töne. Vielleicht liegt es schon daran, daß seine Bilder unvermischte Freude an der Harmonie hervorrufen.

Jede Schattierung hat ihr Echo

Besonders die an sich schon flüchtigen Erscheinungen, wie etwa vom Nebel eingehüllte Landschaften oder das Spiel des Lichts auf Wasserflächen, erfaßt Signac auf unvergleichliche Art. Immer wieder hat er die Buchten von St. Tropez gemalt. Es ist sanfte Bewegung in diesen Bildern, als ob die Wellen wirklich schaukelten. Auch die Augen des Betrachters finden hier keinen dauerhaften Halt, sie müssen hin und her, kreuz und quer schweifen.

Und wie genau hat Signac seine Farben komponiert! Probe aufs Exempel: Würde man auch nur kleinste Partien der Bilder verdecken, so geriete alles aus dem Gleichgewicht. Jede Farbschattierung hat ihr Echo, ihre Entsprechung.

Die Münsteraner Ausstellung ist, zumindest für Deutschland, eine Pioniertat. Sie wertet das Werk von Paul Signac, der bisher immer etwas hinter seinem Zeitgenossen Georges Seurat verborgen blieb, mit guten Gründen auf und hebt ihn als Anreger gar auf eine Höhe mit Van Gogh.

Im breiten Strom der Kunstgeschichte

Freilich hat man die Einflüsse, die von Signac ausgegangen sein sollen, hie und da doch ein wenig überstrapaziert. Zwar hat auch ein Henri Edmond Cross seine Arbeiten punktförmig aufgebaut, doch neben Signac muß er geradezu als Kleinmeister untergehen.

Die vielleicht schönste Ausstellung des Jahres in Westfalen bietet jedoch Weltkunst en masse: Man will an ausgewählten Beispielen zeigen, daß solche Größen wie Henri Matisse, Maurice de Vlaminck oder André Derain anfangs Anregungen von Signac bezogen haben. Das gelingt auch recht gut, sind hier doch direkte Einflüsse nachweisbar. Signac wird zudem, worauf man nicht ohne Weiteres gekommen wäre, als Anreger auch des deutschen Expressionismus um Heckel, Kirchner und Rohlfs sichtbar. Mittler war der Hagener Mäzen Karl-Ernst Osthaus, der bereits 1901 ein Bild Signacs erwarb.

Schwieriger wird es schon, wenn etwa Werke von Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Piet Mondrian oder des nachmaligen Futuristen Umberto Boccioni von Signac hergeleitet werden. Allerdings: Im breiten langen Strom der Kunstgeschichte hat vieles unterschwellig miteinander zu tun. Genießen wir also die ganze schöne Schau als prachtvolle Schule des Sehens.

„Farben des Lichts“. Paul Signac und der Beginn der Moderne von Matisse bis Mondrian. Westfälisches Landesmuseum, Münster (Domplatz). 1. Dezember 1996 bis 16. Februar 1997. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 DM. Katalog 48 DM.

 




Die Dame darf sich am Manne emporranken – Münster: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“

Von Bernd Berke

Münster. Der Ausstellungstitel zergeht auf der Zunge: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“. Doch Vorsicht! Ein wenig emanzipatorische Absicht steckt schon dahinter, wenn nun in Münster Porträts der Aufklärung und des Biedermeier gezeigt werden.

Diesmal geht es im Landesmuseum weniger um künstlerische Spitzenqualität (obgleich auch die punktuell vorhanden ist), sondern um sozialpsychologische Aussagekraft: In so manchem Bildnis treusorgender Gattinnen und Mütter oder träumender Jungfrauen läßt es sich lesen wie in Büchern. Beispiel: Ein Bräutigam steht vor einem Baumstamm, seine Herzensdame umgibt sich mit Efeu. Will heißen: Sie darf sich hingebungsvoll an ihm emporranken.

Selbst erlauchte Geister des 18. und 19. Jahrhunderts mochten von Gleichberechtigung nichts hören. Schiller dichtete im „Lied von der Glocke“: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben“ und befand, daß drinnen die „züchtige Hausfrau“ walte. Johann Gottfried Herder ließ gar wissen, krähenden Hennen und lesenden Frauen gehörten die Hälse umgedreht. Wen wundert es da, daß weit weniger bekannte Maler jener Zeit schon die Kinder ins Schema einfügten: Der Bub pflanzt triumphierend eine Siegesfahne auf, das treuherzige Mädel hält sich an seiner Spielpuppe fest.

Die Lesende sitzt im weichen Licht

Na schön, ein bißchen schlechtes Gewissen macht man(n) sich heutzutage schon draus – doch es ist schwer, sich dem Liebreiz vieler Darstellungen zu entziehen. Wenn etwa Luise Seidler mit den zarten Schwestern „Pauline und Melanie“ (um 1829) wehmutsvoll in die Ferne schaut oder Caroline von der Embde ein „Lesendes Mädchen am Fenster“ (1850) sitzen läßt, von weichem Licht umflort und sinnend, so ist dies eben auf Erden herabgekommene Himmelsschönheit. Wenn man die erst einmal genossen hat, so mag später noch über Rollenzuweisungen gegrübelt werden.

Ausstellungsmacherin Hildegard Westhoff-Krummacher ist nicht mit biestigem Feminismus, sondern mit heiterem Interesse an die Sache herangegangen. Sie hat z. B. festgestellt, daß im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus („Zurück zur Natur“) auch Maler den Frauen die Mutterschaft schmackhaft machen wollten. So tritt das naturhafte bürgerliche Weib der lüsternen Adligen entgegen. Letztere klimpert zwar mit kostbarem Geschmeide, aber die „wahre Frau“ schmückt sich mit Sprößlingen…

Hausherr macht sich zum Narren

Die zur Erbauung des Hausherrn versammelte Familie ist gängiger Themen-Standard. Doch wenn Johann Peter Hasenclever die Bildformel in „Der achtzigste Geburtstag“ (1849) aufgreift, wirkt der im gloriosen Lichtkegel hockende Ehrenmann wie ein armer Narr in seinem Patriarchen-Glück. Da erhebt sich schließlich doch die Frage, ob nicht auch die Männer gelitten haben. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt.

Selbst Details wie die Haartraçht sind wichtig. Während Frauen Zumeist brave Mittelscheitel trugen, wischte sich selbst der Halbglatzen-Herr noch ein paar dynamische Strähnen in die Stirnpartie. Na, wenn es dem Selbstbewußtsein gedient hat…

Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). 19. Nov. bis 11. Feb. 1996. Täglich außer montags 10-18 Uhr. Katalog 45 DM.

 

 




In der Zeichnung zeigt sich der wahre Meister – Ausstellung in Münster reicht von Dürer bis Beuys

Von Bernd Berke

Münster. Zeichnungen gelten oft als bloße Vorstufen zu großen Ölgemälden, ja als eigentlich unfertige Kunstwerke. In Münster ist man ganz anderer Meinung. Mit der Ausstellung „Zu Ende gezeichnet“ will das Landesmuseum beweisen, daß ästhetische Abrundung und Perfektion sehr wohl auch mit dem Stift erzielt werden können.

Von Dürer über Picasso bis hin zu Beuys wartet die Schau mit rund 200 Exponaten und etlichen großen Namen auf. Alle Stücke stammen aus dem offensichtlich hervorragend bestückten Kupferstichkabinett zu Basel.

Die historische Spannweite zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert eröffnet reizvolle Vergleichsfelder. Die Geschichte schnurrt wie im Zeitraffer ab. Um 1500 war auch die Zeichenkunst ganz selbstverständlich in biblischen und mythischen Stoffen verankert, sie stand auf verläßlichem Grund. Somit war auch die Formensprache fest gefügt, denn sie spiegelte ja die weitgehend intakte kosmische Ordnung. Doch ein Bild wie Ludwig Schongauers „Vorbereitung zur Kreuzigung Christi“ muß für damalige Gemüter schockierend gewesen sein. Höchst sachlich werden hier die Instrumente zur biblischen Qual bereitet; fast so, als übe man ein ganz biederes Handwerk aus.

Kühne Ausschnitte kündigen die Moderne an

Über Berühmtheiten wie Albrecht Dürer (Bildnis des Salzburger Kardinals Matthäus Lang, um 1518), Hans Holbein den Älteren, Hans Baldung und Albrecht Altdorfer, gelangt man allmählich in die barocken Gefilde. Hier ragt natürlich ein Peter Paul Rubens (u. a.: „Die Kreuzigung Petri“, um 1638) heraus. Folgt man der chronologischen Hängung, so steht man später vor sanften romantischen Landschaften und dann – vielleicht der interessanteste Teil der Zusammenstellung – im Vorhof der Moderne.

Der Bruch kündigt sich zunächst in ganz leichten, aber schon befremdlichen Perspektiven-Verschiebungen an, in der Wahl kühner Ausschnitte. Wenn etwa der eines übertriebenen Fortschrittswahns eigentlich unverdächtige Adolph von Menzel anno 1880 den „Blick in einen besonnten Hof mit einer Frau an einer Wasserpumpe“ zeigt, so hat er die jahrhundertelang gewohnte Zentralsicht längst hinter sich gelassen. Es geht nicht mehr um Abbildung der Wirklichkeit, sondern um ihre Splitter und Essenzen. Georges Seurats „Spaziergängerin mit Sonnenschirm“ (um 1882) steht für den Übergang des festumrissenen Gegenstandes ins impressionistische Flimmern. Im Gefolge des Kubismus löst sich dann die Form vollends auf.

Spannend ist es nun zu beobachten, wie einfallsreich die Künstler seither auf den Formenschwund „geantwortet“ haben. Vielfältig und manchmal verzweifelt sind die Versuche, diesem Zustand wieder neue tragfähige Konzepte abzugewinnen. Die Skala der Möglichkeiten reicht von hauchzarten Entwürfen am Saum des Verschwindens (Wols, Cy Twombly) bis hin zu ungehobelter Kraftprotzerei („Neue Wilde“).

Die stilistische Vielfalt ist also mindestens ebenso breit wie in der Ölmalerei. Außerdem befindet man sich, indem man Zeichnungen anfertigt oder auch nur betrachtet, meist noch ein Stückchen näher am Ursprung, an der „Geburt“ der bildlichen Idee als bei geduldig ausgeführter Schönmalerei. Und: Wenn ein Künstler nicht auf der Höhe seiner Mittel wäre, so verriete sich das in der Zeichnung mitunter deutlicher, als wenn er mit Ölfarbe gar manche Schwäche überdeckt und vertuscht.

„Zu Ende gezeichnet“. Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). Bis 5. November, tägl. außer montags 10-18 Uhr. Katalog 35 DM.




Die Winnetou-Klischees muß man ganz rasch vergessen – Ausstellung über indianische Kulturen in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Vorurteile beiseite: Wenn wir ganz allgemein von „den Indianern“ reden, dann ist es ungefähr so. als wenn sich ein Nordamerikaner sämtliche Deutschen in kurzen Lederhosen und mit Maßkrügen vorstellt. Das und noch viel mehr lernt man jetzt in einer Ausstellung des Münsteraner Naturkundemuseums.

„Prärie- und Plains-Indianer“ heißt die mit 700 Exponaten ausgesprochen umfangreiche, jedoch sinnfällig gegliederte Schau. Mit den Plains sind die großen Grasebenen gemeint. Der Überblick richtet sich auf einen riesigen Landstreifen zwischen Mississippi (Osten) und Rocky Mountains (Westen), der sich nordwärts von Texas bis ins kanadische Saskatchewan erstreckt. In diesem Gebiet konnte man einmal rund 50 Grundtypen indianischer Kulturen deutlich unterscheiden, mit Verzweigungen waren es rund 1000 Untergruppen. Um nochmals den Vergleich mit Europa heranzuziehen: Manche dieser Stämme, wie zum Beispiel Sioux, Navajo, Arapaho, Shoshoni oder Cree, hatten weit weniger miteinander gemein als etwa Deutsche, Engländer und Franzosen.

Phantasien aus dem Kinderzimmer

Die Ausstellung beginnt mit dem liebevollen Nachbau eines mitteleuropäischen Kinderzimmers, in dem so gut wie alle Indianer-Klischees versammelt sind, die durch unsere Phantasie spuken. Wir sollen uns also Winnetou & Co. aus den Köpfen schlagen. Fast ein bißchen schade, aber wünschenswert. Auch auf Zeitgeist-Varianten des Klischees, die Verehrung der „edlen Wilden“, der spirituellen Lehrmeister im ökologischen oder esoterischen Sinne, sollen wir uns am besten gar nicht erst einlassen. findet Museumsdirektor Dr. Alfred Hendricks.

Nahezu alle Medien werden genutzt, um die Botschaft zu übermitteln: Filme und Dias führen ins Thema ein, Fotoabzüge dokumentieren das Leben in den heutigen Reservaten, Pflanzen und ausgestopfte Tiere repräsentieren die natürliche, inzwischen weitgehend vernichtete Umwelt, neuere indianische Kunst läßt den Spagat zwischen Aneignung hergebrachter Traditionen und Bewußtseinswandel ahnen. Einige Werke sind eigens für diese Ausstellung entstanden, so etwa ein fünf mal fünf Meter großes Sandbild von Joe Ben Junior.

Pferde und Zelte sind nur Nostalgie

Besonders anregend sind die Installationen und Aufbauten, etwa mit authentisch eingerichteten Tipis (Sioux-Sprache für: „benutzt, um darin zu wohnen“), Zelten also, die heute freilich fast nur noch zu besonderen Festivitäten (Powwows) aufgestellt werden. Längst wohnen auch Indianer in Häusern aus Stein oder Holz. Und sie sitzen auch nur noch ganz selten auf Pferden. Die Reittiere wurden damals übrigens erst von den Spaniern nach Amerika gebracht und lösten bei den indianischen Völkern nur ganz allmählich die Hunde als bevorzugte „Transporteure“ ab.

Starke Kontraste sind ein Prinzip der ebenso gelehrsamen wie unterhaltenden Schau. Zum Thema indianische Nahrungsgewohnheiten sieht man einerseits karges Trockenfleisch und Beeren, andererseits eine Vitrine mit Hamburgern und Supermarkt-Waren. Beabsichtigter Aha-Effekt: Mit diesem wertlosen Zeug haben wir die einst so naturnahen Indianer verdorben.

Das Aha-Erlebnis mit der Glühbirne

Überhaupt wird’s stellenweise gar zu schlicht pädagogisch: Um in einen Raum zu gelangen, der von der zerstörerischen Besiedlung durch die Weißen handelt, muß man über die lebensgroße Fotografie zweier indianischer Menschen schreiten. Soll selbstverständlich heißen: Wir haben die Kultur der amerikanischen Ureinwohner mit Füßen getreten. Da sieht man geradezu die Glühbirne vor sich, mit der einem ein Licht der Erkenntnis aufgehen soll.

„Prärie- und Plains-lndianer“. Westfälisches Naturkundemuseum. Münster, Sentruper Straße 285, direkt am gut ausgeschilderten Allwetterzoo (Tel. Museum: 0251/591-05).Bis 14. April 1996, tägl. außer montags 9 bis 18 Uhr. Eintritt 5 DM, Kinder 2 DM. Gruppenführung nach Voranmeldung 30 DM. Begleitbuch zur Ausstellung soll in Kürze erscheinen.




Der herbe Charme verfallener Fabriken – Industrie-Fotos von Bernd und Hilla Becher in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Ist es Sturheit oder Konsequenz? Seit über 30 Jahren fotografieren Bernd und Hilla Becher immer und immer wieder Industriebauten. Sie werden nicht müde, die Relikte einer versinkenden Arbeitsweit im Bilde festzuhalten.

Ein immenses Werk hat sich angehäuft, aus dem das Westfälische Landesmuseum in Münster – trotz beachtlicher Stellfläche – nur kleine Ausschnitte vorzeigen kann.

Bernd Becher (Jahrgang 1931) ist in Siegen aufgewachsen, ganz nah bei einem Hochofen. Der häßlich-erhabene Anblick hat ihn wohl fürs Leben geprägt. 1957 gab er die Malerei auf, weil er industrielle Motive möglichst emotionslos wiedergeben wollte. Vor-Bilder waren unterkühlt sachliche Fotos, die er in Betriebsbüros gesehen hatte. Seine Frau Hilla (geboren 1935), gelernte Lichtbildnerin, besaß Ausrüstung und technisches Wissen.

Am Aufnahmeverfahren hat sich seither so gut wie nichts geändert. Auch blieb es bis heute bei schwarz-weißen Abzügen, auf daß keine Farbe von Umriß und Gestalt ablenke. Schon der rötliche Schimmer von Mennige auf Stahlgerüsten wäre den Bechers zu bunt.

Es geht also nüchtern zu, wenn sie durch die Industriereviere reisen, um Zechen- und Wassertürme, Fabrikhallen, Hochöfen, Gasbehälter oder Kohlesilos aufs Bild zu bannen. Vieles existiert nicht mehr, anderes verwittert oder dient – schick restauriert – anderen Zwecken. Derlei Verfälschungen interessieren Bernd und Hilla Becher nicht. Sie suchen auch keine Besonderheiten, sondern Durchschnittsbauten.

Internationales Formenvokabular

In Münster sind die Aufnahmen meist zu Sechser- oder Neuner-Serien gruppiert, so daß haarfeine Vergleiche zwischen jeweils ähnlichen Bautypen möglich sind. Hier wird der Blick geschult: Was unterscheidet Siegerländer Fabrikhallen von einem Pendant in Belgien oder in den USA? Gibt es formale Entsprechungen zwischen Werksfassaden in Dortmund und Eisenhüttenstadt? Ja, es gibt sie. Man entdeckt überraschende Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg. Kühles Ingenieurs- und Kommerz-Kalkül schuf ein weltweit gültiges Formenvokabular, das (je nach Region) variiert wurde. Und das Motiv-Spektrum reicht vom herbbrutalen Charme nackter Stahlskelette bis zu reich verzierten Imponier-Fassaden. Auch die Geld-Religion brauchte „Kathedralen“.

Ostdeutsche Industriebauten fehlten bis 1989 im Repertoire der Bechers ganz. So sehr sie sich auch mühten, sie bekamen in der DDR keine Aufnahme-Genehmigungen. Die SED fürchtete sich vor Spionage. Als hätte man dort vorbildliche Fabriken sehen können…

Bernd und Hilla Becher: „Typologien“. Westfälisches Landesmuseum“, Münster; Domplatz. 11. Dezember bis 29. Jan. 1995, tägl. außer Mo 10-18 Uhr. Begleitbuch: 48 DM.




Malen als verzweifelte Suche nach einem Ausweg – Arbeiten der früh verstorbenen Eva Hesse im Landesmuseum Münster

Von Bernd Berke

Münster. Die Künstlerin Eva Hesse schrieb 1964 in ihr Tagebuch: „Kein Wunder, daß ich mir Sorgen mache. Ab da zieht es mich immer wieder hinunter: Ich habe etwas an meinem Aussehen, an meiner geistigen Einstellung, an meinen Fähigkeiten auszusetzen, und am Ende bleibt gar nichts mehr von mir übrig.“

Inhalt und Tonfall erinnern ganz stark an depressive Passagen der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath, die sich in jungen Jahren das Leben nahm. Eva Hesse war, als sie die zitierten Zeilen schrieb, eine gut aussehende 28 jährige Frau mit künstlerischer Zukunft. Doch offenbar war sie dem Unglück zugetan. Eine Ausstellung im Landesmuseum zu Münster beweist jetzt die außerordentliche bildnerische Kraft, die sich Eva Hesse selbst nicht zubilligen mochte.

Die 1936 in Hamburg geborene Eva Hesse kam 1939 mit den jüdischen Eltern ins New Yorker Exil. Sie wurde als junge Frau Schülerin des großen Josef Albers, der ihr Wesen zugleich er- und verkannte. Er vermißte das einheitliche Element in ihren Arbeiten, fand alles zu sprunghaft. Die Münsteraner Ausstellung macht deutlich: Gerade das ist eine Stärke von Eva Hesse gewesen, die 1970 mit nur 34 Jahren an einem Gehirntumor starb. Dies zu wissen tut doppelt weh, wenn man ihre Arbeiten sieht. Was hätte diese Frau noch bewegen können!

Stetige Sprünge und Risse im Werk

Die stetigen Sprünge in ihrem Werk bewahrten sie vor künstlerischen Moden. Sie paßt bis heute in keine gängige Kategorie. Eben hat man den Schock fließender Angstgesichter (Ölbilder um 1960) in ungeheuer kühnen Bildschnitten erlebt, da verblüffen (zeitgleich entstandene) Gouachen mit erlesenen Licht- und Schattenwirkungen.

Fast zeitlich parallel verläuft auch jene Phase, in der sie plötzlich so ungestüm und „wild“ malt, wie es andere erst zwanzig Jahre nach ihr – und zumeist schlechter – getan haben. Um 1963 wendet sie sich einer rätselvoll-labyrinthischen Zeichensprache mit Pfeilen und Strecken zu – Suche nach Wegen und Auswegen auf der Leinwand? Maschinenförmige Wesen, die mit pflanzlicher und sexueller Neben-Bedeutung aufgeladen zu sein scheinen, sind Kennzeichen einer weiteren Arbeitsphase.

Viele Bilder wirken, als habe die Künstlerin sie zwischendurch verzagt verworfen und als habe sie dann doch immer wieder neu angesetzt. Das unstete Element schafft nicht nur eine Kluft zwischen Werkgruppen, sondern spaltet schmerzhaft jedes einzelne Werk. Es sind Inbilder der Zerrissenheit.

Spekuliert man zuviel, wenn man sagt: Da hat eine wie besessen gemalt, die im Grunde gar nicht mehr weitermalen wollte, es aber unbedingt mußte? Selten sieht man Kunst, die auf den ersten Blick so zufällig erscheint – und die doch solche Spuren von Lebensnotwendigkeit trägt.

Jede neue Wendung in ihrem Werk ist spannend, auch der allmähliche Eintritt in die dritte Dimension, mit dem die Münsteraner Auswahl schließt. Zunächst ganz vorsichtig tasten sich Tentakel aus den Bildern heraus. Daraus entwickeln sich Skulptur-Objekte von verzweifelter Stille.

Eva Hesse. Bilder und Reliefs. Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 7. August bis 16. Oktober, di-so 10-18 Uhr. Katalog 49 DM.




Puppenbild am Beichtstuhl, Krücken an den Wänden – Kunst kehrt in die Kirche zurück

Von Bernd Berke

Münster. An die Wände der Lambertikirche hat jemand lauter Krücken gestellt. Im selben Gotteshauses hängt, gleich neben dem Beichtstuhl und scheinbar höchst unpassend, ein im „wilden“ Stile gemaltes Bild, auf dem Kinder mit einer zerstörten Puppe zu sehen sind. Und in der Überwasser-Kapelle hat sogar einer die Wände vollgeschrieben. Welche Frevler waren da am Werk?

Gar keine. Es geht um eine Aktion, mit der in Münster das schwierige Verhältnis zwischen Kunst und Kirche ausgelotet wird. Seit Maler und Bildhauer in die Abstraktion abgewandert sind, fanden Amtskirche und praktizierende Christen die Werke nicht mehr anschaulich genug – und damit untauglich zur Glaubensvermittlung.

Bis zum 18. Jahrhundert schienen Kunst und Kirche verschwistert, dann riß die Verbindung zusehends. Hinter dem Münsteraner Projekt „Gegenbilder“, das Arbeiten von 13 Künstlern in vier Kirchen versammelt, stehen Vertreter der beiden großen christlichen Konfessionen als Beiräte. Für die Auswahl war der Galerist und Kunstvermittler Eberhard Lüdke zuständig: „Anfangs bin ich auf Widerstand gestoßen“, bekennt er. Doch Gespräche mit den Gemeindevorständen hätten manches Mißtrauen beseitigt. Ein Begleitprogramm soll nun das Thema vertiefen. Die Kirchenbesucher werden mit Hinweistafeln eingestimmt.

Ein geschlossenes und ein allseits offenes System

Lüdke zum Kern des Problems: „Die Kirche ist ein eher geschlossenes System, die Kunst ein allseits offenes. Das erzeugt Reibung.“ Die Kunst richte ihr Augenmerk eben auf die Zersplitterung der Welt, die Kirche auf den großen Zusammenhang. Desto mehr war Lüdke überrascht, wie bereitwillig die Künstler mitwirkten; geradezu, als hätten sie auf den Anstoß gewartet und als habe das Thema in der Luft gelegen.

Auch bekanntere Größen wie Stephan Balkenhol und Tony Cragg sind dabei. Sie fertigten ihre Arbeiten eigens für Münster an, um auf räumliche Gegebenheiten einzugehen. Mischa Kuball bedient sich der Bildprojektion, Jan van Munster verpaßt dem Steinfußboden irritierende Muster, Stephan Balkenhol hat zwei nackte Holzfiguren geschnitzt: Adam und Eva. Mark Formarek stellt einen Automaten auf, der auf Knopfdruck Trostworte spendet, und Dieter Kießling hat einen Kunst-Brunnen ans Taufbecken platziert.

Norbert Rademacher stellte die erwähnten „Krücken“ auf, die sich ästhetisch in die Säulen-Ordnung der Kirche einfügen. Es sind Pilgerstöcke, also keineswegs unchristliche Gegenstände. Überhaupt ist das Wort „Gegenbilder“ nicht als Attacke zu verstehen, sondern im Sinne eines behutsam-kritischen, freundlich gestimmten Gegenübers. Ganz klar: Ausgesprochene Kirchenfeinde oder Tempelstürmer wurden gar nicht erst eingeladen.

Fragt sich, was geschieht, wenn die Ausstellung vorbei ist. Möglich, daß etwa die Schriftzüge in der Überwasserkirche übertüncht werden. Möglich auch, daß es hier und da zu Ankäufen kommt. Welche Gemeinde hat Mut?

„Gegenbilder“. Münster (Apostel-, Dominikaner-, Lamberti- und Überwasserkirche). Bis 31. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Katalog 20 DM. Infos/Führungen 0251/25687.




Kirchenkunst: Gottes Bild wurde immer menschlicher – Prunkvolle Ausstellung „Imagination des Unsichtbaren“ in Münster

Von Bernd Berke

Münster. „Du sollt dir kein Bildnis machen.“ Ein ehernes Gebot aus früher Christenzeit. Wie prunkend sich später die Katholische Kirche darüber hinweggesetzt und der menschlichen Bilderlust nachgegeben hat, zeigt die Ausstellung „Imagination des Unsichtbaren“ in Münster.

Anlaß der durch Fülle und Pracht überwältigenden Schau ist das 1200-jährige Stadtjubiläum Münsters. Präsentiert werden rund 700 religiöse Kunstwerke, die seit der Zeit des ersten Münsteraner Bischofs Liudger (Amtsübernahme im Jahr 805) für das Bistum entstanden sind. Vielfach handelt es sich um sonst unzugängliche Leihgaben aus den Schätzen westfälischer Pfarreien. Doch das wohl kostbarste Exponat, das Stundenbuch der Katharina von Kleve (um 1440), kommt aus New York.

Aus dem religiösen Kontext gelöst, wird alles Augenschmaus: Kreuze aus purem Golde, wundervolle Altarbilder und Heiligen-Statuen, reich verzierte Handschriften, liturgische Gerätschaften, Monstranzen, Reliquien-Behältnisse und allerlei sonstiges Ornat.

Gleichsam im Zeitraffer läßt sich der Wandel des Gottesbildes in der Kunst nachvollziehen. In der Romanik wurde Christus noch als unnahbarer Weltenrichter dargestellt, in der Gotik betonte man seine Leidensgeschichte, wodurch auch irdisch-menschliches Mitgefühl ins Spiel kam. Im Barock ging es dann vollends sinnlich zu. Viele Künstler sahen Jesus nun als schönen, ja athletischen Mann, was zugleich als Ausdruck geistiger Vollkommenheit galt. War die Vorstellung von Gott bis dahin allgemeingültig, so wich sie in späteren Jahrhunderten einem bunten Pluralismus. Gott sah so aus, wie das Individuum es wollte.

Man findet in dieser Ausstellung nicht nur Kunst aus Westfalen. Auch auswärtige Künstler, etwa aus Augsburg oder Nürnberg, bekamen kirchliche Aufträge aus dem Bistum Münster. Die Westfalen wiederum nahmen Einflüsse aus Flandern oder Brabant auf. Wo so reger Austausch herrscht, stellen sich Phasen der Kunstblüte ein. Ausstellungsleiter Dr. Géza Jászai ist überzeugt, daß Westfalen sich in Sachen religiöser Kunst nicht hinter Zentren wie Prag oder Salzburg verbergen muß.

Wer zählt die Stücke, nennt die Namen? Man sollte keine Hierarchie der Werke aufstellen, es kommt hier vornehmlich auf ihr Zusammenwirken an. Regionalgeschichtlich ist sicher die Muttergottes aus Lünen (St. Marien-Kirche, um 1250) interessante, aber wer wollte sie einem Borghorster Kreuzreliquiar (um 1050), einem kunstvoll ornamentierten Münsteraner Taufbecken (um 1345) oder Heinrich Brabenders letzter Skulptur (Apostel Petrus und Paulus) vorziehen?

Selbst Atheisten dürfte hier so etwas wie Andacht anwandeln. Und auch wer nur noch in Zahlen denken kann, mag sich immerhin klarmachen, daß christliche Werte zumindest in materieller Hinsicht nicht geschwunden sind.

„Imagination des Unsichtbaren“ – 1200 Jahre Kunst im Bistum Münster. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). 13. Juni bis 31. Oktober. Tägl. außer montags 10-18 Uhr. Eintritt 6 DM, zweibändiger Katalog 60 DM.