Entstelltes Genie: Kurt Weills „Street Scene“ am Musiktheater in Gelsenkirchen

Leben in einer schäbigen Mietskaserne: Das Ehepaar Maurrant (l. Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake) und Tochter Rose (Dorin Rahardja, r. Foto: MiR/Pedro Malinowski)

Den Blick für das Leid der Unterprivilegierten, Unterdrückten und Verfolgten verlor der Komponist Kurt Weill auch nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland nicht. In den USA musste der Schöpfer der „Dreigroschenoper“ sich freilich anpassen, um Erfolg zu haben.

Nach intensiven Studien amerikanischer Folksongs und der Jazzmusik unternahm der Einwanderer das Wagnis, eine originär „Amerikanische Oper“ schaffen zu wollen, die für ihn nur aus der populären Musik des Landes hervorgehen konnte.

Mit größter Energie arbeitete Kurt Weill an „Street Scene“, inspiriert vom gleichnamigen Drama von Elmer L. Rice, das 1929 den Pulitzer Preis erhielt. Die Handlung, Mitte der 40er Jahre in den Slums von New York angesiedelt, zeigt Amerika als „Melting pot“ der Nationen, aber auch die Deformation der Menschen durch materielle Not. Im Mittelpunkt steht die Familie Maurrant: Anna betrügt ihren Ehemann Frank, während Tochter Rose mit dem jüdischen Intellektuellen Sam Kaplan anbandelt. Unter den Augen klatschsüchtiger Mietskasernen-Bewohner spitzen sich die Dinge zu, bis es zu einem Doppelmord aus Eifersucht kommt.

Das Gelsenkirchener Musiktheater legt „Street Scene“ zur Saisoneröffnung in die Hände von Gil Mehmert, Musical-Professor an der Folkwang-Universität Essen und Regisseur für die Eröffnungsshow des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr.2010. Diese Entscheidung ist schwer verständlich, zumal das Programmheft das „vermeintliche Musical“ als „Große Oper“ lobt. Mehmerts Zugriff ist zu sehr auf Unterhaltung bedacht und verniedlicht die sozialen Schärfen des Dramas. Statt der im Programmheft versprochenen „aufregenden Gesellschafts- und Sittenschau“ sehen wir eine bunte, zahnlose Revue, in der das Publikum sogar beim grausigen Doppelmord noch amüsiert gluckst.

Lys Symonettes deutsche Übersetzung der Songtexte von Langston Hughes sträubt sich gegen den Fluss der Musik, die vom jazzigen Swing zu Wagner’scher Emphase, von der schwelgerischen Puccini-Arie zum flotten Schlager und von der Kavatine zum Blues gleitet. Die dafür nötige Geschmeidigkeit kann Dirigent Heiko Mathias Förster den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen nur bedingt vermitteln. So gut es gelingt, zarte Momente wie die Ode an den Fliederstrauch mit subtilem Klangzauber zu unterlegen, so oft scheint sich das Holpern der deutschen Texte im Orchestergraben fortzusetzen. Hoffnung stiftende Ansätze von US-amerikanischem Schwung geraten immer wieder ins Straucheln.

In Erinnerung bleibt das Bühnenbild von Heike Meixner, die uns einen halb umgestürzten Hochhausblock von unten zeigt, und ein Ensemble, das an diesem Abend mehr Spielfreude denn sängerische Glanzleistungen bietet. Glaubhaft zeigen Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake die fortschreitende Verhärtung und Verhärmung des Ehepaars Maurrant durch einen gnadenlosen Alltag. Weicher und hoffnungsvoller ist Tochter Rose, der Dorin Rahardja warme und wandlungsfähige Soprantöne gibt. Lars-Oliver Rühl verleiht Sam Kaplan Puccini-Farben, nicht immer ohne Mühe. Umgeben sind diese Hauptakteure von einem Typenkabinett, das zuweilen am Rande des Tingeltangel-Theaters agieren muss. Kurt Weill, dieses geniale musikalische Chamäleon, begegnet uns quasi in Turnschuhen, behängt mit einer Federboa aus prallbunten Klischees. Wie sollen wir ihn da ernst nehmen?

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)

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