Bloß nichts Erzählendes zeigen – eine Werkschau von Jobst Tilmann im Kunstmuseum Ahlen

Der Künstler Jobst Tilmann erläutert in Ahlen eines seiner Bilder. (Foto: Bernd Berke)

So kann’s gehen, wenn ein Künstler seine Retrospektive weitgehend selbst kuratiert: Der heute im ostwestfälischen Wiedenbrück lebende Jobst Tilmann (70) hat binnen zwei Jahren aus einem Fundus von rund 4000 Arbeiten fast 200 für die Werkschau im Kunstmuseum Ahlen ausgewählt – und sich dabei rückblickend die strenge Kernfrage gestellt: „Habe ich mein Leben verplempert?“ Oder ist Haltbares entstanden? Tilmanns trockene Bilanz nach der intensiven Selbstbefragung: „Es ist gut ausgegangen.“

Ausgegangen? Nicht im Wortsinne eines Aufhörens. Tilmann hat nach eigenem Bekunden „noch einiges vor“. Und seine Werkschau heißt ja auch vielsagend „Anfang ohne Ende“. Tatsächlich sind im Laufe der rund 35 Schaffensjahre, die diese Retrospektive umfasst, immer wieder Neuanfänge und neue Orientierungen zu erkennen. Von „Nullpunkt“ und „Reset“ an bestimmten Punkten seiner Biographie spricht der Künstler selbst. Doch es scheint auch so, als sei er sich und seiner Vorgehensweise durch all die Jahre letztlich treu geblieben. Oder mit der Zeit treu geworden, wenn man so sagen darf.

Wo der Blick des Betrachters zunächst einer Irrfahrt (wie einst bei Odysseus) gleicht: Jobst Tilmanns Bild „Ulysse“ (2008), Acryl auf Leinwand. (© VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Grundsatzentscheidung nach Gusto: Wer durch den Haupteingang das Museum betritt, somit von unten kommt und dann aufwärts geht, bewegt sich von neuesten Arbeiten bis in die 1980er Jahre zurück. Wer es lieber chronologisch vorwärts möchte, muss eben oben im zweiten Stockwerk beginnen. Das musste jetzt erst mal gesagt sein.

„Ich bin kein Malschwein“

Eine frühe Tätigkeit als „Kunsterzieher“ (Tilmann spricht das Wort beinahe angewidert aus) hat er rasch beendet und sich alsbald als freier Künstler eingerichtet, anfangs im zeitlichen Kontext der malwütigen „Jungen Wilden“, denen er sich freilich nie anschließen mochte. „Ich bin kein Malschwein“, stellt er unmissverständlich klar, einen ironischen Begriff jener Jahre verwendend, der ungefähr so klingt wie „Rampensau“ im Theaterwesen. Tilmann ist hingegen einer, der denkend, wenn nicht gar mitunter grübelnd zu Werke geht und fleißig an künstlerischen Problemen arbeitet. Man müsse in solchen Dingen konsequent sein und dürfe sich „keine Tricks“ gestatten, sagt er. Und außerdem: „Ich bin eben Niedersachse. Und Protestant.“ Aha.

Nach einem Kunststudium in Hannover und ersten, gar nicht mal erfolglosen Künstlerjahren mit Atelier in Springe/Hannover, hat Tilmann zu Beginn der 1980er Jahre gleichsam alle Brücken zum bis dahin geführten Leben abgebrochen – familiär und beruflich. Es war eine grundlegende Neuorientierung. Er zog bzw. es zog ihn 1982 nach Südfrankreich, in einen abseits der Touristenströme gelegenen Winkel der Provence, nach St. Restitut. Anderes Klima, andere Farben, anderer Menschenschlag. Als Künstler wecke man dort – auch in der einfachen Bevölkerung – ein wesentlich größeres Interesse als in Deutschland, befindet Tilmann. Sehr schnell habe er sich in der südfranzösischen Kunstszene vernetzen können.

Anregung durch Steinformationen

Eine wichtige Anregung waren seinerzeit die unterirdischen Steinbrüche der Region. Die in den Stein eingezeichneten Linien und Schnitte haben ihn fortwährend beschäftigt, auch hat er sich bis heute eine Neigung zum lichten Grau als einer Hauptfarbe bewahrt. Beides deutet nicht auf farblichen oder formalen Exzess, sondern eher auf Minimalismus hin. Tatsächlich fällt dieser Begriff gelegentlich, wenn von Tilmanns Werk die Rede ist. Doch natürlich verhält es sich vielfältiger, uneindeutiger und komplizierter. Jobst Tilmann selbst kann (anders als so manche seiner Berufskollegen) ausführlich, wort- und gestenreich über Beweggründe und Triebkräfte seiner Kunst sprechen.

Jobst Tilmann: „Marseille“ (1995), Tusche, Kreide und Tape auf Papier. (VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Sein Weg führte jedenfalls früh weg vom abbildhaften Realismus, hin zur entschiedenen Gegenstandsferne. Dem Begriff „Chaos“ kann Tilmann wenig abgewinnen, das sei nur ein hilfloses Wort für den Fall, dass wir etwas nicht begreifen und durchdringen. Tatsächlich walte im Chaos eine höhere Ordnung. Spontane Einfälle und Assoziationen (Sieht z. B. dies oder jenes Bild nicht aus wie eine Landkarte?) lässt er gelten, doch diese Sichtweise solle man möglichst schnell hinter sich lassen. Die Bilder sprächen durchaus für sich – ohne zusätzliche Sinnstiftung. Auch gebe es dafür keine Vor-Bilder in der Natur. Allerdings verlangten seine Arbeiten eine gewisse Einlässlichkeit und Zuwendung seitens der Betrachtenden. Welche Künstler würden sich das nicht wünschen?

Einhegung und Freisetzung

Auch „Themen“ sind bei Tilmann nicht gefragt, viele Bilder tragen keine Titel – und falls doch, dann manchmal eher belustigt klingende, nicht ganz ernst zu nehmende („Besserwisser“). Generell gilt: bloß nichts Erzählendes, bloß kein „Narrativ“. Stattdessen: stringente und strikte Arbeit an künstlerischen Problemen, ein nicht nachlassendes Bemühen, das oft genug ins Grundsätzliche mündet: Was ist überhaupt ein Bild? Wie kann man es aufbauen? Hat da jemand L’art pour l’art gesagt, also Kunst um der Kunst willen? Ganz falsch wäre es nicht.

Ein Strang, der sich durchs gesamte Werk in all seiner Vielfalt zu ziehen scheint, ist der beständige Wechsel zwischen Einhegung und Freisetzung von Formen. Der Spannungsbogen reicht von nahezu „mathematisch“ anmutenden Arbeiten bis hin zur tänzerischen Leichtigkeit. Nimmt das Eine überhand, wird das Andere bekräftigt. Und bald wieder umgekehrt. Oder es treten neue Elemente hinzu, wie in einer Phase die sogenannten „Störenfriede“. Das sind beispielsweise rundliche, klopsartige Formen, die den vorherigen Liniengerüsten etwas Spontanes und Eigenwilliges entgegensetzen. Und überhaupt: Sobald eine Reihe von Bildern gar zu „seriell“ zu geraten droht, sobald dem Künstler die Formalien allzu „beherrschbar“ und regelhaft erscheinen, braucht es wieder einen Entschluss und eine verändernde Tat.

Bei all dem kommt die Bewegung des Künstlers vor Leinwand und Papier, also das Gestische, wohl immerzu ins Spiel. Man muss nur sehen, wie Tilmann sich erklärend vor seinen fertigen Bildern bewegt, dann kann man sich den eigentlichen Malvorgang ein wenig vorstellen. Es ist, als würde er sich erläuternd noch einmal ans Werk begeben.

Um die Ecke gemalt: Ausstellungsansicht von Jobst Tilmanns Bild mit dem Titel „Besserwisser“, der freilich gar nichts über Machart und Texturen des Bildes besagt. (Foto: Bernd Berke)

Was sich aus dem „Sumpf“ erhebt

Ein neueres Verfahren besteht darin, anfangs eine Art urtümlichen farblichen „Sumpf“ (Tilmann) herzustellen, zuweilen auch mit Wischfeudel aufgetragen oder aus Eimern hingegossen. Daraus erwüchsen wie von selbst durchaus schöne Bilder. Aber: „Schöne Bilder interessieren mich nicht.“ Also ist es erst der Beginn. Hernach wird vorzugsweise jenes lichte Grau begrenzend eingesetzt, um aus den vorherigen Farbverläufen einzelne Formen (der Künstler nennt sie „Protagonisten“) individuell hervorzuholen. Es sei recht eigentlich keine Konstruktion, sondern es ergebe sich, wenn man die Formen in ihrem Eigenwert aufspürt und ihnen nachgeht.

Damit nicht genug: Im weiteren Prozess entsteigen just einige dieser Formen den Bildern und werden zu Skulpturen. Auch so eine Befreiung, eine Freilassung aus dem Bildgeviert. Ganz anders, gleichsam selbst-bewusster hängen diese Figurationen nun im Raum. Mit des Künstlers Worten eher philosophisch ausgedrückt: Es seien „neue Entitäten“ entstanden, es sind also – mag man paraphrasieren – neue Wesenheiten in die Welt geraten. Willkommen im Museum.

Tilmanns französische Zeit ist übrigens seit 2002 passé. Anno 2000 erhielt er einen Ruf an die HAWK (Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst) in Hildesheim. Da merkte er im Hinblick auf seine etwas älteren Tage, dass er denn doch im Hannoverschen besondere Heimatgefühle verspüre. Aus Ostwestfalen hat er’s ja nicht so weit dorthin.

Jobst Tilmann: „Anfang ohne Ende“. Kunstmuseum Ahlen, Kreuzung Museumsplatz 1 / Weststraße 98. Vom 8. März bis zum 24. Mai. Mi/Do/Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Begleitbuch 30 Euro.

 

 




Schau über den legendären Nachtclub „Studio 54″ – direkt aus New York nach Dortmund

Pat Cleveland auf der Tanzfläche des „Studio 54″ während des „Halston disco bash“, Dezember 1977 (Foto: © Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Würde eine solch mondäne Ausstellung nicht besser nach München oder Berlin passen? Egal. Sie kommt nun mal nach Dortmund, wo man eben zuerst beherzt zugegriffen hat.

Ab 14. August und bis zum 8. November 2020 soll demnach im Dortmunder U eine Ausstellung über den legendären New Yorker Nachtclub „Studio 54″ gezeigt werden, die direkt aus New York kommt. Im dortigen Brooklyn Museum hat sie in wenigen Tagen (13. März) Weltpremiere.

Der Coup erinnert ein wenig ans Zustandekommen der Dortmunder Schau über Pink Floyd, die zwar vom Publikumszuspruch her letztlich enttäuschte, aber Dortmund doch international in die eine oder andere Kultur-Schlagzeile bugsierte. Damals kamen die Exponate aus London (und via Rom), diesmal ist es eben New York. Dortmund hat sich die europäische Premiere gesichert. Immerhin.

Keine Agentur hat das Ereignis vermittelt, sondern die Dortmunder haben direkt mit dem Brooklyn Museum verhandelt. Kurator ist Matthew Yokobosky, in Brooklyn Abteilungsleiter für „Fashion and Material Culture“. Präsentiert und gesponsert wird die Chose übrigens vom Streamingdienst Spotify. Zum Fundus der Ausstellung gehören u. a. Fotografien, Mode-Objekte, Zeichnungen, Filme und Kostüm-Illustrationen.

„Studio 54: Night Magic“ (Arbeitstitel) blättert die nicht nur modisch, sondern auch gesellschaftlich folgenreiche Geschichte jenes (1977 eröffneten und 1986 endgültig geschlossenen) Clubs auf, in dem sich Pop- und Film-Prominenz zuhauf einstellte: beispielsweise Andy Warhol, Diana Ross, Liza Minnelli, Mick Jagger, Michael Jackson, Madonna, Salvador Dalí – und wie sie alle hießen. Zur Eröffnung am 26. April 1977 waren u. a. Frank Sinatra, Margaux Hemingway, Cher, Bianca Jagger und ein gewisser Donald Trump erschienen, damals noch ein ziemlich unbekannter Bauunternehmer. Ach, wäre es mal dabei geblieben…

Um es mal in klischeehaften Stichworten (nicht) zu fassen: Sex, Drogen, Punk und allseitige Toleranz kennzeichneten fortan das Klima des Clubs, dessen Ästhetik auch neue soziale Bewegungen beeinflusst hat. Manches wirkt womöglich bis heute weiter.

Ein Vorbehalt gilt noch: Der Dortmunder Stadtrat müsste dem Unterfangen in seiner Sitzung am 26. März zustimmen. Aber das wird er doch wohl tun.

 




Der Neandertaler hat schon Platz genommen – Dortmunds Naturmuseum soll am 7. Juni eröffnen

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Museumspädagoge Julian Stromann rücken den sorgsam nachgebildeten Neandertaler zurecht. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

In genau 99 Tagen, am 7. Juni 2020, wird das gründlichst umgebaute und geringfügig umbenannte Dortmunder Naturmuseum eröffnet. Wohlweislich hat man den Termin in der BVB-Stadt aufs erste fußballfreie Sommer-Wochenende gelegt.

Dortmunds vor der langjährigen Schließung (seit September 2014!) meistbesuchtes Museum ist sich seiner Bedeutung wohl bewusst. Anzeichen dafür: Kürzlich wurde eigens eine Pressekonferenz anberaumt, um den neuen Namen (just Naturmuseum statt Naturkundemuseum) zu verkünden. Jetzt gab’s ein weiteres Medien-Meeting zur Bekanntgabe des Eröffnungstermins und für ein paar fotografische Impressionen.

Am 7. Juni soll jedenfalls von 11.30 bis 18 Uhr groß (aber nicht dem Slang gemäß „hart“) gefeiert werden. Der in Dortmund und drumherum allgegenwärtige Comedian Fritz Eckenga wird das unterhaltsame Begleitprogramm moderieren. Beim Rundgang kann man dann unversehens dem frühen Homo Sapiens oder dem Neandertaler begegnen und sich vor allem auf die prähistorischen Spuren der regionalen Flora und Fauna begeben.

Naturmuseum, Eröffnung am 7. Juni 2020 (ab 11.30 Uhr). Dortmund, Münsterstraße 271. Eintritt generell frei.

 




„Revierfolklore“: Zechenära in Relikten, Reliquien und Retro-Moden

Wie eine verblassende Erinnerung ans alte Revier: Förderturm auf dem Gelände des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern, durch eine verregnete Autoscheibe (stehendes Fahrzeug) aufgenommen. (Foto: Bernd Berke)

Fördertürme. Grubenlampen. Schlägel und Eisen. Grubenwagen. Sozusagen klassisches Ruhrgebiet in Reinkultur. Derlei Zeichen und Symbole gibt es in dieser verdichteten Form nirgendwo sonst im deutschsprachigen Raum. Einst standen diese Dinge für den Berufsstolz der Bergleute. Doch noch heute, wo all das kaum mehr eine wirtschaftliche oder soziale Basis hat, identifizieren sich viele Nachgeborene der damaligen Kumpel damit.

Regionalstolz oder Kommerz?

Was daran jetzt noch einigermaßen authentisch, was glaubhafte Signatur für Heimatstolz und was vielleicht eher kommerziell ist, versucht eine Ausstellung des LWL-Industriemuseums zu beleuchten. In Bochum (Zeche Hannover) war sie bereits zu sehen, jetzt ist sie in der Zentrale des Industriemuseums angelangt, der Zeche Zollern in Dortmund, deren grandioses Gebäude-Ensemble gleichsam das größte „Ausstellungsstück“ ist. Den thematischen Anstoß gab seinerzeit die Schließung der letzten Revier-Zeche Ende 2018 in Bottrop. Doch ist das Ganze keine Vergangenheits-Bewältigung, sondern ein Blick zurück nach vorn.

Badeentchen in Kumpel-Kluft und mit Fußball-Bezug, rechts daneben die Eieruhr, die das Steigerlied spielt. (Foto: Bernd Berke)

Grubenwagen an über 1000 Standorten 

Das Kind muss einen Namen haben – und er ist gut gewählt: „Revierfolklore“ heißt die Schau, die hie und da beinahe auszuufern droht, aber doch in der Fahrrinne bleibt. Sie versammelt Hunderte von Objekten von inzwischen nostalgischem Charakter. Etwas wehmütig, aber nicht frei von Humor und Ironie werden allerlei Relikte und Reliquien der Bergbau-Epoche besichtigt. Recht angenehm: Die Besucher(innen) werden nicht zu Erkenntnissen gedrängt, sie sollen anhand der Exponate möglichst selbst ihre Wahrheit(en) finden. Zur Vertiefung empfiehlt sich freilich das Katalogbuch.

Bergmännische Erinnerungsstücke der herkömmlichen Art. (Foto: Bernd Berke)

Besonders prägant hervorgehoben wird gleich eingangs ein Grubenwagen (andere Bezeichnungen: Förderwagen, Lore oder auch Hunt). Heute stehen solche Wagen (anderer Plural: Wägen) vielhundertfach in Vorgärten, Parks oder an ähnlichen Stätten, zumeist bunt bepflanzt und nicht selten regionalstolz beschriftet. Im Obergeschoss sind dazu ausgewählte Fotografien zu sehen, die der von der Materie offenbar geradezu besessene Martin Holtappels im ganzen Revier und darüber hinaus aufgenommen hat. Sie zeigen Grubenwagen jeder Sorte und Couleur an ihren heutigen Stellplätzen. Schier unglaubliche 1094 Standorte – auch auf dem Friedhof oder vor dem Baumarkt – hat der Fotograf bis gestern ausgemacht, sie sind auf einer interaktiven Karte im Internet zu finden. Nicht auszuschließen, dass es schon heute mehr sind. Jedenfalls haben die Fahrzeuge einen deutlichen Funktions- und Bedeutungswandel hinter sich.

Wenn die Historie allmählich entrückt ist

Zurück ins weitläufige Erdgeschoss, wo solche Bedeutungsverschiebungen zuhauf dokumentiert sind. Da sind etwa die zahllosen einschlägigen Anstecker, die ehedem tatsächlich von Bergleuten am Revers getragen wurden und Zugehörigkeit zum angesehenen, aber eben auch knochenharten Berufsstand markierten. Heute sind es just Sammlerstücke. Wohl kein bergbaufremder Mensch wird sie sich allen Ernstes anheften mögen; es wäre eine Art Anmaßung, wenn nicht gar Frevel.

In Hülle und Fülle vorhanden: bergmännische Abzeichen und Anstecker in einer Ausstellungs-Vitrine. (Foto: Bernd Berke)

Eines der wertvollsten Stücke stammt ebenfalls von ganz früher: die um 1884 angefertigte, großflächige Vereinsfahne des Knappen- und Unterstützungsvereins Glück auf Herbede (Witten), die aus konservatorischen Gründen nur bei gedämpftem Licht gezeigt werden darf. Dieses Exponat kommt einem wahrhaftig historisch und ehrwürdig vor, in dieser Weise ist uns das Ruhrgebiet von (vor)gestern entrückt. Man hat allenfalls eine vage „Ahnung“ davon. Wenn überhaupt.

Die kohlenschwarze Eieruhr plärrt das „Steigerlied“

Geradezu frappierend ist hingegen die Verwandlung früherer Bergmannskleidung, deren Stoffe recycelt und zu modischen Taschen oder Portemonnaies verarbeitet wurden – unter dem bezeichnenden Label „Zechenkind“. Darin kann man durchaus noch eine gewisse kreative  Sinnhaftigkeit erkennen. Etwas fragwürdiger ist dann schon jene kohlenschwarze Eieruhr, die bei Erreichen des eingestellten Zeitlimits – na, was wohl? – das allfällige „Steigerlied“ abschnurren lässt. Für Bayern, Schwaben und dergleichen Exoten seien die Anfangszeilen zitiert: Glückauf, Glückauf! Der Steiger kommt. Und er hat sein helles Licht bei der Nacht, und er hat sein helles Licht bei der Nacht, schon angezünd’t, schon angezünd’t…“ Es scheint so, als wäre in diese Falle das Grenzgelände zwischen (selbst)ironischer Aneignung des regionalen Erbes und purem Verkaufsgag überschritten. Auch bei Badeentchen in Kumpel-Kluft überwiegt der wohlfeile Jux. Damit verglichen, sind all die vielen T-Shirts, Tassenserien oder Schlüsselanhänger mit Reviermotiven noch ganz gut erträglich.

Fußball, Schlager, Kino und Kulinarik

Selbstverständlich ist auch dem Umfeld des Revier-Fußballs ein Kapitel gewidmet, schließlich huldigen die Fans aller hiesigen Lager gern dem „Ruhrpott“-Mythos. Jüngst haben die „Choreos“ zu den letzten BVB-Heimspielen gezeigt, welcher Wert hier auf (ursprüngliche oder nachträglich erlangte) Herkunft und Zugehörigkeit gelegt wird. Wobei die Silhouetten der Zechentürme neuerdings auch schon mal durch die Umrisse des „Dortmunder U“ ersetzt werden, also durch ein imposantes Kulturzentrum. Es darf als ein Zeichen des Strukturwandels gelten.

Etwas peinlich für Dortmund ist allerdings dieser Umstand: Die angereisten Exponate zum Fußball betreffen weit überwiegend den FC Schalke 04, auch Jürgen Klopps Dortmunder „Pöhler“-Kappe kann diesen Mangel bei weitem nicht aufwiegen. Zollern-Museumsleiterin Dr. Anne Kugler-Mühlhofer ruft daher die BVB-Anhänger auf, durch Einreichen tauglicher Exponate (als Leihgaben) zumindest ein nachträgliches Gleichgewicht herzustellen.

Neben einem stilisierten Zechenturm in der Ausstellung (von rechts): Dirk Zache, Direktor des gesamten LWL-Industriemuseums, Anne Kugler-Mühlhofer, Leiterin des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern und Alexander Muszeika, wissenschaftlicher Volontär. (Foto: Bernd Berke)

Seitenblicke gelten ferner dem mehr oder weniger reviertypischen Liedgut (vom Schlager bis zum Rap, mit teilweise irrwitzig anmutenden Fundstücken) sowie  dem regionalen Filmschaffen, z. B. zwischen Adolf Winkelmanns „Jede Menge Kohle“ (1981) und Peter Thorwarts „Was nicht passt, wird passend gemacht“ (2002). Und ganz klar: Bodenständige Comedy seit Tegtmeier sowie Duisburgs „Schimanski“ alias Götz George dürfen ebenso wenig fehlen wie die kulinarischen Grob- und Feinheiten der Currywurst mitsamt reichlicher Bier-Nachspülung. Wohl bekomm’s!

Eigentlich ist’s ja kein Wunder, dass man immer wieder auf die althergebrachten, ausgesprochen kraftvollen Symbole zurückgreift, denn man kann sich schwerlich vorstellen, dass strukturgewandelte, aber ziemlich gesichtslose Versicherungs- oder Universitätsbauten neueren Datums zur Identifikation einladen.

„Revierfolklore. Zwischen Heimatstolz und Kommerz“. 29. Februar bis 25. Oktober 2020. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, 44388 Dortmund, Grubenweg 5. Geöffnet Di bis So und an Feiertagen 10-18 Uhr. Katalogbuch 272 Seiten, 14,95 Euro.

Nächste Station ab November 2020: Waltrop, Museum Schiffshebewerk Henrichenburg.

www.lwl-industriemuseum.de

 




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




Im Stadtteil ist fast gar nichts passiert? Dann liest man es bald gedruckt…

Nicht allzu viel los hier: Triste Vorort-Fotos wie diese Platzansicht aus einem Dortmunder Ortsteil können wir selbstverständlich auch. (Foto: Bernd Berke)

Traurig bis empört dreinblickende Menschen, bevorzugt im Rentenalter, die anklagend auf schadhafte Straßen, illegal entsorgten Müll oder dergleichen Unbill deuten, sind im Lokalteil des hiesigen Regionalblattes und besonders auf den „sublokalen“ Seiten quasi schon ein eigenes Genre. Kürzlich aber hat sich die Stadtteilzeitung mit ihren Seiten für den Dortmunder Süden selbst übertroffen. Dazu nun diese etwas polemisch angespitzten Zeilen:

Da sieht sich eine Leserin, die einem Aufruf der Redaktion gefolgt ist, ungemein ausgiebig gewürdigt: im Aufmacher, fast blatthoch fünfspaltig, mit drei Fotos garniert. Machtvolle Schlagzeile: „Dortmunderin hat kreative Ideen für ihren Stadtteil“. Warum ausgerechnet sie? Warum sie an diesem Tag allein? Warum unwidersprochen bzw. kaum relativiert? Warum wird das ausgerechnet jetzt gedruckt? Warum so ausufernd? Und warum überhaupt?

Gatekeeper? Hahaha!

Solche und weitere Sinnfragen hat sich die Redaktion sozusagen verkniffen, sie bringt die Chose einfach groß ‘raus – und droht bereits mit weiteren Folgen der Serie. Wie war das noch mit der oft beschworenen Gatekeeper-Funktion von Journalisten, die eben nicht jedes beliebige Thema schrankenlos ins Blatt heben sollen? Hahaha, guter Scherz.

Also darf die Dame kräftig loslegen und gleich mal eben ein paar neue Radwege für ihren Ortsteil fordern. Ein Foto zeigt sie mit Radhelm. Da liegt ihr Ansinnen nahe. Radwege kann man ohnehin immer und überall fordern. Kommt stets gut. Sodann aber dreht sie, einmal durch Zuspruch ermuntert, ein ungleich größeres „Rad“ und möchte mal eben eine neue Abfahrt von der Autobahn A 45 haben, die zu „ihrem“ Sprengel führen soll. „Das wäre nicht viel Aufwand“, wird sie dazu zitiert. Eine neue Autobahnabfahrt. Nicht viel Aufwand. Aha. Immerhin teilt die Redaktion en passant mit, dass daraus wohl nichts werden dürfte. Aber man wird doch mal träumen können: Was wäre, wenn ich König(in) von Dortmund wär‘? Nur: Müssen solche Träume gleich so länglich in der Zeitung stehen?

Mal eben den S-Bahnhof verlegen

Sodann die Leerstände im Viertel. Ist doch klar, wie die aufgegebenen Ladenlokale genutzt werden können. Die Frau, deren Namen wir hier selbstverständlich nicht nennen, findet, dass jetzt viel Patz sei „für Kneipen wie im Kreuzviertel“. Jau, is‘ klar. Die „Szene“ wird sich bestimmt aus dem immer noch angesagten Innenstadt-Kiez in den Vorort verlagern oder wenigstens dorthin erweitern. Hegt da etwa jemand Zweifel?

Auch für einen S-Bahnhof, der eh verlegt werden soll, hat die Frau eine Idee. Die Station solle näher an die Haupteinkaufsstraße des Vororts heran rücken. Und wo sie schon einmal dabei ist, schlägt die Hobby-Planerin gleich noch die Verlängerung einer anderen Straße vor – „über eine Brücke oder Unterführung“. Tja, wenn’s weiter nichts ist…

Das Lokal, das seit 100 Tagen Burger brät

Tags zuvor hatte eine andere Stadtteil-Ausgabe derselben Zeitung einen vergleichbar umfangreichen Bericht zu dem atemberaubenden Umstand veröffentlicht, dass ein Lokal mit rustikalem Burger-Schwerpunkt seit 100 Tagen geöffnet hat. Offensichtlich reine Werbung. Reine Gefälligkeit. Ohne jegliche besondere „Geschichte“. So etwas ist auf diesen Seiten keineswegs unüblich. Die Betreiber konkurrierender Restaurants werden vielleicht nicht ganz so begeistert sein. Aber falls sie sich beschweren, werden ihnen demnächst vielleicht auch ein paar nette Zeilen gewidmet. Wie könnte man so etwas nennen? Journalismus jedenfalls nicht.

Interview als seltsame Mixtur

Vollkommen fern von professionellen Standards war auch das Verfahren der dritten Stadtteil-Redaktion, als sie vor einiger Zeit einen Bezirksbürgermeister interviewt hat – in üblicher Frage-Antwort-Form. So weit, so gut. Was allerdings gegen jede Gepflogenheit verstieß: Die Antworten des Politikers wurden sogleich im Interview-Text kommentiert und relativiert, wobei die „Meinung der Redaktion“ jeweils direkt auf seine Antworten folgte, ohne dass der Befragte wiederum darauf hätte reagieren können. Er wird sich anderntags bei Erscheinen des zwittrigen Beitrags ungläubig die Augen gerieben haben…

Auch hier gilt offenbar: Der printmediale Monopolist (siehe Schlussbemerkung) glaubt, sich alles erlauben zu können. Beispielsweise eine solch unredliche Mischform aus Interview und eingestreuter Kommentierung. Wie denn überhaupt Bericht und Kommentar oder auch redaktionelle und werbliche Beiträge gelegentlich schon mal miteinander vermengt werden.

Knips – zack – fertig!

Hin und wieder findet man natürlich auch auf den Stadtteilseiten Wissens- oder Lesenswertes. Doch man fasst sich auch beinahe jeden Tag an den Kopf ob so mancher weiterer Zumutungen. Die obigen Beispiele sind ja nur willkürlich herausgegriffen, man könnte jederzeit andere anführen.

Außerdem ist die Foto-Qualität oft grottenschlecht. Immer wieder werden beispielsweise absolut „tote“ Ecken lieblos abgelichtet, gleichsam wie im flüchtigen Vorübergehen. Knips – zack – fertig! Nächster Termin. Wahrscheinlich, weil es sich fürs schmale Honorar eh nicht lohnt, sich mehr Mühe zu geben. Ich würde ja liebend gerne Beispiele zeigen. Darf ich aber natürlich nicht.

Vielfach werden ganz offensichtlich Amateure losgeschickt, die immerhin beherzt auf den Auslöser drücken. Oder es werden gleich – selbstredend kostenlos – eingereichte Bilder (zum Beispiel von Vereinen) genommen, über die wir uns hier nicht weiter auslassen mögen.

Selbst simpelste handwerkliche Regeln werden oft nicht mehr eingehalten. So sind beispielsweise Schlagzeilen und Unterzeilen häufig nahezu textgleich, die Worte werden nur unwesentlich verschoben. Derlei Wiederholungen hätte man früher gemieden wie der Teufel das… naja, ihr wisst schon.

Keine Konkurrenz zu befürchten

Nun gut, die Redaktionen sind sicherlich karg besetzt, der Honoraretat ist sehr begrenzt. Aber dennoch: So sehen Zeitungen vor allem dann aus, wenn und weil sie keine Konkurrenz mehr fürchten müssen. So kommt es auch, dass man längst nicht mehr in allen Fällen aktuell berichtet. Nicht selten läuft’s nach dem unrhythmisch klappernden Motto: Kommt Zeit, kommt Artikel.

Man hat überdies den Eindruck, dass in den Vororten an etlichen Tagen einfach nicht genug passiert. Schließlich müssen Tag für Tag insgesamt je sechs Seiten gefüllt werden. Eine Minderung täte nicht selten gut. Doch dann würden sich just die Vereine beschweren, weil sie nach ihrer Ansicht nicht mehr hinreichend vorkämen.

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P. S. zum lokalen Monopolisten: Die Stadtteilseiten werden von den Ruhrnachrichten erstellt, laufen aber in Dortmund (ebenso wie der sonstige Lokalteil) auch leicht verändert in der lokalen WAZ-Auflage mit – und in der redaktionslosen Phantomzeitung namens „Westfälische Rundschau“.

 




Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart: Heftige Kindheit im Schatten der Hörder Hochöfen

„Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart, deren letzter Roman von 2019 sinnigerweise „Kein Sturm, nur Wetter“ heißt. (Aufnahme vom März 2019 in Berlin: © Burkhard Peter)

Dortmunds erste Stadtbeschreiberin Judith Kuckart hat sich heute im Literaturhaus am Neuen Graben 78 vorgestellt. Ihren Lebensmittelpunkt hat die renommierte Autorin seit etlichen Jahren in Berlin, doch kann sie auf Dortmunder Erinnerungen zurückgreifen. Genauer: auf Kindheitserinnerungen aus dem Stadtteil Hörde, wo es, wie sie sagt, damals ziemlich heftig zugegangen ist.

Irgendwann liefen dort ziemlich viele 15- oder 16-jährige Mädchen herum, die bereits schwanger waren. Da beschloss ihre Familie denn doch, dass diese Gegend nicht ganz das Richtige für Judith sei – und zog wieder zurück in ihre betulichere Geburtsstadt Schwelm.

Ohne Sattel auf dem Fahrrad

Zuvor hatte Judith Kuckart ein paar gleichsam typische Ruhrgebiets-Kindheitsjahre im Malocherviertel erlebt. „Ich habe in Hörde Fahrradfahren gelernt – ohne Sattel.“ Auch habe sie damals tagtäglich aus der Nähe gesehen, wie kompliziert es zwischen Männern und Frauen zugeht. Gar nicht zu vergessen das Milieu der knochenharten Arbeitswelt: Ein Onkel habe am Hochofen gearbeitet und sei schon mit 40 Jahren gestorben.

Die damalige Wohnadresse: Am Winterberg 72 a. Die Straße lag im Schatten der gewaltigen Hoesch-Hochöfen, heute erstreckt sich auf dem früheren Werksgelände der Phoenixsee. Vor zwei Jahren, als ein Bundeskongress der Schriftstellervereinigung P.E.N. sie wieder einmal nach Dortmund führte, hat Judith Kuckart (Jahrgang 1959) in Hörde eine Cousine besucht, die sich mit der Gentrifizierung rund um den künstlichen See so gar nicht abfinden mag.

Niemand sitzt mehr auf den Stufen

Jedenfalls stellten beide fest, dass in diesen Straßenzügen – ganz anders als früher – niemand draußen auf den Stufen saß, um nachbarschaftlich zu plaudern. Es ist eine dieser Beobachtungen, aus denen schließlich Literatur erwachsen kann. Judith Kuckart fragt sich, ob es heute Berührungspunkte zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen gebe. Oder liegt hier eine eklatante gesellschaftliche Spaltung vor? Kuckart wird versuchen, es herauszufinden, mit ihren Mitteln. Einsam Spaziergänge um den Phoenixsee seien ihre Sache nicht, sie wolle mit vielen Menschen reden.

Derlei sinnfällige Veränderungen eines Stadtteils, so Kuckart, könnten ein Ansatzpunkt für ihre Stadtbeschreiberinnen-Arbeit in Dortmund sein, die im Mai beginnen und bis Oktober dauern wird. Schon vor ihrer Bewerbung ums Dortmunder Stipendium hat sie fürs Romanprojekt „Die Unsichtbaren“ eine Figur entwickelt, die aus Dortmund-Hörde stammt. Auch hierzu dürften sich weitere Recherchen anlagern. Sprich: Die Kindheit und ihre Schauplätze sind keineswegs vergessen, da regt sich immer noch einiges im Gemüt. Mehr noch: Als die Presseleute nicht allesamt Ralf Rothmanns Ruhrgebiets-Roman „Milch und Kohle“ (2000) kennen, ruft sie aus: „Na, ihr seid mir ja schöne Dortmunder!“

Interessanter als Heidelberg

Und überhaupt. Sie bewerbe sich eigentlich nicht mehr um Stadtschreiber-Ämter, in diesem Falle aber habe sie es getan, „w e i l es um Dortmund geht. Heidelberg hätte mich zum Beispiel nicht so interessiert.“ Obwohl sie dort schon gearbeitet hat – als Mitglied der Tanzcompagnie von Johann Kresnik. Tanz und Choreographie waren nämlich ihr ursprüngliches Metier, bevor sie immer mehr zum Schreiben kam. Also kennt sie sich auch mit Bühnenpraxis aus, was in ihrer Dortmunder Zeit durchaus eine Rolle spielen könnte. An einer Stelle fällt das Wort Erzähltheater. Bürgerinnen und Bürger sollen dabei mitmachen. Hört sich schon mal vielversprechend an.

Ein Satz, der Schülern gefallen dürfte

Damit nicht genug der medialen Auffächerung. Kuckart denkt auch schon an ein visuell angereichertes Dortmunder Tagebuch, das eventuell im Internet erscheinen könnte. Und sie kann sich gut vorstellen, hie und da in Schulen am Unterricht mitzuwirken. In Hamburg hat sie mal mit Achtklässlern einen „Schulhausroman“ erarbeitet, in dem ein verschwundener Lehrer gesucht wurde. Mit einer Aussage, die offensichtlich von Herzen kommt, dürfte Judith Kuckart manche Schüler rasch auf ihre Seite bringen: „Warum müssen Kinder im Achtklässler-Alter überhaupt zur Schule gehen? Furchtbar!“

Um die Dortmunder Gretchenfrage aufzuwerfen und flugs zu beantworten: Ja, Judith Kuckart kennt sich auch mit Fußball aus. Das erwähnte P.E.N.-Treffen nutzte sie seinerzeit auch, um den BVB gegen den 1. FC Köln spielen zu sehen. Einschlägige Texte gehören hin und wieder ebenso zu ihrem Repertoire wie auch schon mal eine Lesung im Stadion.

Bestimmt nicht wegen des Geldes beworben

Die Dotierung des Stipendiums beläuft sich monatlich auf 1800 Euro. Dazu befragt, erklärt Judith Kuckart sehr glaubhaft, sie habe sich gewiss nicht wegen des Geldes beworben. Sie wird sich auch nicht in einem schicken Viertel ansiedeln, sondern höchstwahrscheinlich eine (seit jeher schwarzgelb dekorierte) Schreibwohnung in der bundesweit bekannt-berüchtigten Dortmunder Nordstadt beziehen. „Heftige“ Zustände kennt sie ja von damals aus Hörde.

Dortmunds Stadtdirektor Jörg Stüdemann (Kulturdezernent und Kämmerer in Personalunion) versichert, mit 1800 Euro bewege man sich finanziell im „oberen Drittel“ vergleichbarer Stipendien. Man habe sich in dieser Angelegenheit von Autoren und anderen Kennern des Literaturbetriebs eingehend beraten lassen.

Keinen Auftrag zu erfüllen

Stüdemann betont außerdem, dass – anders als bei vielen sonstigen Stadtschreiber-Posten – der Preisträgerin nichts Konkretes abgefordert werde. Sie habe keinen Auftrag zu erfüllen, sondern könne sich nach Belieben in der Stadt umsehen. Die ungewöhnliche Bezeichnung Stadtbeschreiberin lässt (im Vergleich zur Stadtschreiberin) ja schon ahnen, dass es hier nicht um Dienstbarkeiten für die Kommune geht, sondern ums Wahrnehmen und Aufzeichnen.

Judith Kuckart macht deutlich, dass es ihr nicht um „Meinungen“ über Dortmunder Verhältnisse zu tun sei, auch nicht um investigative Nachforschungen („Das kann ich gar nicht“), sondern just um möglichst genaue Beobachtungen und hernach ums Erzählen. Nur dann könne Verborgenes sichtbar gemacht werden. Und nun lasst uns mal ganz wohlwollend abwarten, wie die angenehm unprätentiöse Schriftstellerin ihre Vorhaben umsetzen wird.




Sturm „Sabine“ – War denn wirklich was?

Seit Tagen werden wir vor dem gefährlichen Sturm bzw. Orkan „Sabine“ gewarnt und haben – wie viele andere Leute ebenfalls – auch diese oder jene Vorkehrung getroffen. Erst sollte es um 16 Uhr heftiger werden, dann um 17 Uhr. Ach, Sabine, wo bleibst du denn? Naja, ein paar Windstöße hat es schon gegeben.

Vorsichtshalber Mülltonnen hingelegt und Deckel mit Paketband zugeklebt, denn: Bei früheren Stürmen fielen die Dinger schon mal um und verstreuten Abfall. (aufregendes Sensations-Foto: BB)

Doch was ist weiterhin passiert? Sonntags um 20 Uhr und um 21.30 Uhr herrscht allenfalls ein mittelstarker Wind mit gelegentlichen Böen, nachdem es nachmittags ein bisschen ungemütlicher zu werden schien. Aber auch das bewegte sich eher auf der Skala des einigermaßen Gewöhnlichen. Jedenfalls kein Vergleich mit all der Unbill, die uns verheißen worden ist. Und kein Vergleich mit der elementaren Wucht früherer Stürme.

Nun schaut aber auf all die Liveticker, die schon den ganzen Sonntag über angeworfen werden und schließlich irgendwie „gefüttert“ werden müssen, damit sich die Sonntagsdienste auch lohnen. Da wird beinahe jeder halbwegs dicke Ast vermeldet, der vom Baume gefallen ist, und jeder mittelgroße Feuerwehr-Einsatz bekommt ein paar Zeilen extra. Wobei ein Zahlenvergleich interessant wäre: Wie viele Einsätze hat es an den letzten Sonntagen gegeben? Waren es heute wirklich exorbitant mehr Alarm-Situationen? Und welcher Anteil verdankt sich der Hysterie, die im Vorfeld eifrig geschürt worden ist?

Unterdessen hat die Deutsche Bahn, gleichsam vorsorglich, ihren kompletten Betrieb eingestellt. Schon zuvor hatte sie prophylaktisch vor Bahnfahrten zwischen Sonntag und Dienstag gewarnt. Mal ehrlich: Wir haben es auch nicht anders erwartet. Kaum fallen im Herbst die ersten Blätter, herrscht bereits gelinde Panik beim einstigen Staatsbetrieb.

Aber die Bahn ist nicht allein mit ihrer Schnappatmung. Veranstaltungen aller Art (Sport, Kultur etc.) sind abgesagt worden, etliche (nicht alle) Ruhrgebiets-Städte schließen am Montag sämtliche Schulen, andere Kommunen stellen die Entscheidung den Eltern frei, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen. Da die Bahn höchstwahrscheinlich nicht fahren wird und somit ein Autoverkehrs-Chaos nach sich ziehen dürfte, steht man tatsächlich vor einem Dilemma.

Und all diese Absagen fließen wiederum in die Liveticker ein, obwohl sie ja erst einmal vorsorglich angeordnet worden sind; wohl nicht zuletzt, damit man juristisch und haftungsrechtlich auf der sicheren Seite ist. Aber es plustert die ansonsten ziemlich nichtigen Nachrichten auf. Die Medien, die hier mäßigend und relativierend zur Sache gehen, muss man mit der Lupe suchen. Falls man sie überhaupt findet.

Es scheint so, als stünde die allzeit befeuerte Aufregung (auch in diesem Falle) in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu wirklichen Vorgängen. In früheren Zeiten hätte man um derlei Wetter-Kapriolen nicht halb so viel Aufhebens gemacht.

Irgendwann stand dann doch fest, dass es insgesamt nicht so schlimm gewesen ist – der nächtliche Stand der Dinge, frühmorgens geliefert. (Screenshot: Liveticker der Ruhrnachrichten)

Und ja: Man darf nicht selten durchaus ähnliche Missverhältnisse zwischen Aufregung und Geschehen vermuten, wenn es um sonstige Nachrichten-Fährnisse geht. Klar ausgedrückt: Jede Menge Peanuts und Petitessen werden aufgebauscht, bis man irgendwann gar nicht mehr hinhören mag.

Einer der Höhe- oder Tiefpunkte (je nach Betrachtungsweise) war heute im Liveticker der Ruhrnachrichten zu lesen. Nach Einstellung des Bahnverkehrs, so hieß es, machten Dortmunds Taxifahrer am Hauptbahnhof das Geschäfts des – Achtung! – Jahrhunderts… Was hat derlei lachhafte Großmäuligkeit noch mit Journalismus zu tun?

Aber egal. Nach zwei bis drei Tagen redet eh kaum noch jemand drüber. Dann stürzen sich die dauererregten Betreiber der Liveticker wieder auf den nächsten Skandal, Hype, Shitstorm oder dergleichen Zeugs.

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P. S.: Ich kann im Falle „Sabine“ nur aus Dortmunder Nahsicht reden. Mag sein, dass anderorts deutlich mehr vorgefallen ist. Mag auch sein, dass es sich nachts noch steigert. Dann werde ich Abbitte leisten.

 




„Body & Soul“: Dortmunds Ostwall-Sammlung mit Leib und Seele abermals neu präsentiert

Kuratorin Nicole Grothe erläutert ein Hauptstück der Sammlung: August Mackes Bild „Großer zoologischer Garten“. (Foto: Bernd Berke)

Ohne englische Titel geht praktisch nichts mehr im Museum Ostwall. Kürzlich eröffnete hier mit „The Other Side“ eine Schau zu neueren Positionen irischer Kunst. Und nun erhält die Präsentation der eigenen Sammlung wieder einen neuen Schub. Titel: „Body & Soul“. Im Dortmunder U, wo die Ostwall-Sammlung sich seit nunmehr 10 Jahren befindet, gibt man sich eben gern weltläufig und popkulturell anschlussfähig.

Aber Moment mal! Hatten wir nicht erst gegen Ende 2017 die Premiere eines ziemlich gründlich umgeschichteten Eigenbesitzes? Richtig. Seinerzeit hießt das Resultat „Fast wie im echten Leben“ und wurde an dieser Stelle gleichfalls gewürdigt. Damals kündigte der inzwischen nach Maastricht gewechselte Direktor Edwin Jacobs an, die Sammlung solle nachhaltig „dynamisiert“ werden. Auch die ersten Anstöße zur jetzigen Ausstellung stammen noch von ihm.

Beim Alltag des Publikums anknüpfen

Abermals werden nun bedeutsame Teile der Kollektion nicht etwa in kunstgeschichtlicher Abfolge, sondern in Form einer Themenausstellung gezeigt, die just Leib und Seele in den Blick nimmt und – so die Leitlinie – möglichst in den Lebenswelten und bei den Alltagserfahrungen des geneigten Publikums anknüpfen soll. Einen Körper und eine Seele haben wir halt alle. Mit solch daseinsnahen Ansätzen will man auch Leute ins Museum holen, die bisher nur selten mit Kunst in Kontakt gekommen sind.

Aus einem Fundus von rund 7500 Arbeiten im Besitz des Ostwall-Museums lässt sich ein derart umfassendes Doppelthema wie Leib und Seele natürlich allemal vielfach vergegenwärtigen. Rund 130 Werke hat die Sammlungsleiterin und Kuratorin Dr. Nicole Grothe mit ihrem Team ausgewählt. Die Präsentation meidet nach Kräften Beliebigkeiten, sie wirkt auch nirgendwo überfüllt oder beengt. Die Kunst hat genügend Platz zum „Atmen“ und Wirken.

Nacktheit, Kleidung, Bewegung, Ernährung, Schlaf und Tod

Der thematische Rundgang beginnt quasi elementar, nämlich mit nackten Körpern, also Aktdarstellungen. In diesen Kontext gehört auch eine „Ikone“ wie Otto Muellers „Drei Badende im Teich“, wie denn überhaupt deutlich wird, dass ein gehöriger Schwerpunkt der Sammlung dem Expressionismus und seinem Umfeld zuzurechnen ist. Damit eröffnet sich, nebenbei sei’s gesagt, eine wunderbare Möglichkeit zum Vergleich mit der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums, das derzeit seine nach über vierjähriger Tournee heimgekehrten expressionistischen Schätze zeigt. Dazu demnächst ein paar Zeilen mehr.

Pablo Picasso (1881-1973): „Femme nue couchée“ (Schlafende Nackte), Öl auf Leinwand, 1965 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Doch zurück nach Dortmund: Auch die Relativität von Schönheitsidealen soll sich anhand mancher Körperbilder und Skulpturen zeigen (etwa mit einer rundlich-drallen Frauenfigur oder männlichen Bauchformen als Wandinstallation), ebenso wie die nicht zuletzt durch Kleidung markierte Zuschreibung von Geschlechter-Identitäten, welche – auch unserem waltenden Zeitgeist gemäß – als fließend zu denken sind.

Das Paradies und die Zivilisation

Apropos Kleidung. Ein immer wieder und immer wieder anders hervorgehobenes Hauptstück der Sammlung, August Mackes „Großer zoologischer Garten“, offenbart in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Lesart. Bisher galt das Bild meist als Vergegenwärtigung des paradiesischen Gartens Eden, die Zoobesucher tragen jedoch betont modische, zeitgenössische Kleidung, so dass man sie wohl zur gehobenen Gesellschaft rechnen muss. Es geht also nicht nur um Natur, sondern mindestens ebenso sehr um Zivilisation bzw. um das Verhältnis beider Wesenheiten zueinander.

In insgesamt neun Kapiteln kann man etliche Erkenntnisse gewinnen oder zumindest Aha-Momente erleben, so etwa auch zur Beschaffenheit sportlicher und tänzerischer Körper, wobei z. B. Radierungen von Karl Hofer direkt neben Barbara Hlalis Zeichnungen von DJs zu sehen sind. Die Lust an der Bewegung höret demnach quer durch die Generationen nimmer auf; es sei denn: im Tod, der in einer künstlerischen Körper-Ansammlung natürlich nicht übergangen werden kann und auch in Bildern des Schlafes gegenwärtig ist. Dass Sterben und Schlafen miteinander verquickt und verschwistert, ja mitunter kaum unterscheidbar sind, lässt Dieter Kriegs „Weiße liegende Figur“ ahnen.

Thomas Bayrle (*1937): „Super Colgate“, 1965. Holz, Metall, Elektromotor, Ölfarbe – Erworben aus der Sammlung Feelisch (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: © Jürgen Spiler)

Was es mit dem Zähneputzen auf sich hat

Auch Aspekte der Ernährung und Körperpflege kommen künstlerisch zum Vorschein, das Spektrum reicht von Willi Repkes konventionell anmutender „Marktfrau“ bis zu Thomas Bayrles Installation „Super Colgate“, die eine Zahncreme-Werbung der 1960er Jahre parodistisch aufgreift. Die lustige oder eben auch putzige Kunst-Maschine sorgt auf Fußschalter-Druck dafür, dass ganz viele Figürchen  sich gleichzeitig die Zähne putzen. Daraus leitet sich auch der Untertitel der gesamten „Body & Soul“-Unternehmung her, welcher da lautet: „Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Warum nicht auch mal ein bisschen albern sein?

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938): „Stafelalp bei Mondschein“, 1919, Öl auf Leinwand (Foto © Jürgen Spiler)

Das Seelenleben wird sodann unter anderem am Beispiel von Naturempfindungen erkundet, so mit Ernst Ludwig Kirchners „Stafelalp bei Mondschein“ oder einem mit Angst befrachteten, surrealen Waldbild von Max Ernst („Forêt aux champignons“). Überhaupt ist den Ängsten, den Verletzungen und der Trauer ein weiteres Kapitel gewidmet, das sich existenziell durch die Jahrzehnte zieht. Hier wird vermutlich jede(r) dem persönlichen Dämon begegnen können, sei er nun von Norbert Tadeusz, Ina Barfuss oder anderen Visionären der Kunst imaginiert worden.

Nach eigenen Erinnerungen graben

Die eigenen Erinnerungen entdecken soll man nach dem Willen des Aktionskünstlers Wolf Vostell mit seinem (hier von Gregor Jabs re-inszenierten) Happening „Umgraben“ (1970), dessen Szenarium sich hinter einem Vorhang erstreckt. Das Grabefeld soll man nicht mit eigenen Schuhen, sondern mit bereitgestellten Gummistiefeln betreten – und dann mit dem Umgraben loslegen. Mag schon sein, dass sich dabei ein meditativer Sinn einstellt. Übrigens ist Vostells Arbeit diesmal eines der wenigen Beispiele aus dem Bereich der so genannten Fluxus-Kunst, die ja eigentlich einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung ausmacht.

Wolf Vostell (1932-1998): „Umgraben“, Happening von 1970, Re-Inszenierung von Gregor Jabs, 2012 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Mönchsfigur mit Münzeinwurf

Nicht nur explizit religiöse Glaubensfragen sind ein weiteres Feld der hiesigen Seelenkunde. Dabei fällt auch eine Dortmunder Neuerwerbung auf, nämlich Michael Landys Mönchsfigur mit „Donation Box“ (Spendenbox), in die man echte Münzen einwerfen kann. Wofür die etwaigen Einnahmen der Ablasszahlungen verwendet werden (geringfügige Aufstockung des Museumsbudgets?), ist derweil noch nicht ausgemacht.

Und die Schlussakkorde? Sind wiederum betont sanftmütig und tröstlich, denn es werden Werke zum Thema Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Fürsorge versammelt. All das, was den Menschen guttut. Auf dass man das Museum heiteren Sinnes verlasse.

Zur anders gewichteten Kunst kommt die neue „Inszenierung“: In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designbüro SODA (Ronald Buiel und Jorrit Noyons aus Arnheim) hat man neue farbliche und architektonische Akzente gesetzt. Wir würden uns ja den Kalauer schenken, die Kunstwerke seien nach den Interventionen von SODA nun einfach so da. Aber jetzt ist er nun einmal heraus und geht auch nicht ganz fehl.

Viel Freiraum für die Kunst: Blick in die neue Sammlungs-Präsentation. Die Figur in der Mitte ist übrigens nicht echt, sondern künstlich, Verzeihung: künstlerisch. (Foto: Bernd Berke)

Orientierung durch neue Farbakzente

Tatsache ist jedenfalls: Die schon auf den Fluren der 4. und 5. Etage dominierende Lachsfarbe soll die Orientierung im riesigen Haus erleichtern. Vordem hatten sich nicht wenige Besucher über labyrinthische Verwirrung beklagt. Mal sehen, ob diese Irritation nun nachlässt. Außerdem verändert: Reflektierende Flächen, die den Blick ablenken konnten, sind weitgehend verschwunden. Architektonische Charakteristika, wie etwa das Deckenraster im Dortmunder U, kommen besser zur Geltung.

Wohlfühl- und Willkommens-Faktor

Überdies wurden auch die alten (vormals dunklen) Sitzbänke hell gestrichen und alle abweisenden Kanten einladend abgerundet. Überhaupt haben die Museumsleute versucht, einen durchgehenden Wohlfühl- und Willkommens-Faktor zu erzeugen. Das reicht von helleren und wärmeren Farben über eine möglichst stets besetzte und auskunftsbereite „Rezeption“ am Eingang bis zu einer kuscheligen Landschaft mit Kissen und Sitzsäcken. Chillen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Auch das geht mit dem Zeitgeist konform.

Aber nun mal ganz ehrlich: Das Farbkonzept mit den verschieden abgemischten Lachstönen hat mich an die etwas weichgespülte Corporate Identity einer schwedischen Bank erinnert, die vor allem auf sanftes Rosa zurückgreift und ihre Bezahlvorgänge als „smooth“ (glatt, seidenweich, problemlos) bezeichnet. Egal. Jedem seine Assoziationen. Und es heißt gewiss nicht, dass die Bilder nicht zur Geltung kämen.

Alle zwei Jahre werden die Werke neu gemischt

Sammlungsleiterin Nicole Grothe möchte den Eigenbesitz auch künftig ungefähr im Zweijahresrhythmus immer wieder neu arrangieren, ihn gleichsam regelmäßig durchlüften und damit wechselnde Zusammenhänge stiften. Relativ kostengünstig sind derlei Schauen aus dem Bestand allemal, es werden keine Leihgebühren fällig, zudem riskiert man keine Transportschäden und muss daher auch keine horrenden Versicherungssummen zahlen.

Doch selbstverständlich hat der Umbau, der sich einige Monate hingezogen hat, ein paar Scheinchen gekostet, genauer: 422.000 Euro. Der Rat der Stadt hatte zu dem Zweck 500.000 Euro gebilligt, der Etat wurde also unterschritten. Es könnte ein gutes Omen sein.

„Body & Soul. Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Neue Sammlungspräsentation des Museums Ostwall im Dortmunder U (4. und 5. Ebene), Leonie-Reygers-Terrasse (Navigation: Brinkhoffstraße 4 / Parkhaus).

Update: Ausstellung wird bis November 2022 verlängert

Ursprünglich vom 8. Februar 2020 bis 27. Februar 2022 (verlängert bis zum 13. November 2022).

Geöffnet Di/Mi/Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr.

Tel.: 0231/50 247 23. Mail: info@dortmunder-u.de

Kunstvermittlung/Führungen: 0231/50-277 86 oder 50-277 91.

www.museumostwall.dortmund.de

 




Dortmunder „Tatort“: Das Böse ist monströs und universell

Nur zufällig über den Dächern von Dortmund, eigentlich eine universelle Figur: Markus Graf (Florian Bartholomäi) als Verkörperung des eiskalt Bösen im „Tatort: Monster“. (Foto © WDR/Thomas Kost)

Das war kein üblicher „Tatort“. Und es war quasi kein „Tatort“ aus Dortmund.

Ganz anders als jene Folgen, in denen (angeblich) Reviertypisches zum Vorschein kam und auch schon mal den Dortmunder Oberbürgermeister auf die Palme brachte, hätte diese Folge (Titel: „Monster“) ebenso gut in Berlin, Moskau, Pirmasens oder Los Angeles angesiedelt werden können. Beispielsweise. Oder halt irgendwo anders. Das Böse von diesem Zuschnitt ist universell.

Es war furchtbar. Es war düster und deprimierend. Es waren die schlimmstmöglichen Vorgänge für einen Sonntagabend, man erlitt einen Abstieg in seelische Untiefen sondergleichen. Es ging in heftiger Manier um Kindesentführung, Kindesmissbrauch, um die unfassbare Internet-Versteigerung von Kindern durch einen Pädophilen-Ring. Man musste annehmen, dass es nur einer von zahllosen Kreisen war, die solchen Handel treiben.

Fast schon eine „Tatort“-Konstante: Kommissar Faber wurde bei all dem abermals mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert, denn es tauchte jener Markus Graf gespenstisch wieder auf, der einst Fabers Frau und Tochter ermordet hatte – aus Rache für seinen Vater, den Faber hinter Gitter gebracht hatte und der sich im Knast erhängt hatte. Ein Wiedergänger, der Faber auf perfide Weise in den Selbstmord treiben wollte. Aber selbst das war beinahe schon Nebensache.

Auch Fabers Kollege Pawlak wurde zutiefst in den Fall verwickelt, denn es war seine 6jährige Tochter Mia, die entführt wurde. Selten hat man einen Satz so ersehnt, wie den, der gegen Ende völlig ermattet gesagt wurde: „Mia ist in Sicherheit…“ Da hatte der formal und schauspielerisch beachtliche Film die bloße Fiktion längst hinter sich gelassen.

Am Schluss kam es gleich zu mehreren Showdowns, die insgesamt wie ein gesteigerter Exorzismus wirkten; ganz so, als solle das Urböse ein für alle Mal vernichtet, zerstochen und zerstückelt werden. Aber ach, das ist bestimmt nur eine Illusion.




Trotz BVB-Kantersieg: Reus und Hakimi fuchsteufelswild

Das Tabellenbild sieht gar nicht so übel aus, doch bei manchen Spielern brennt die Sicherung durch… (Screenshot von Kicker online)

Der BVB hat 5:0 gegen Union Berlin gewonnen. Glatte Sache. Ungebrochener Fußball-Jubel in und um Dortmund. Sollte man meinen. Doch nun kommt ein mittelgroßes ABER:

Was waren denn das für zwei beleidigte Leberwürste, die sich nach einiger Spieldauer nicht auswechseln lassen mochten? Verstehen sie es als Majestätsbeleidigung, wenn sie durch einen anderen Spieler „ersetzt“ werden; noch dazu, wenn es durchaus nachvollziehbar ist, weil sie bei hoher Führung für den kommenden Dienstag (DFB-Pokalspiel bei Werder Bremen) geschont werden sollen?

Erst trat Achraf Hakimi nach seiner Auswechslung wutentbrannt gegen eine Flasche am Spielfeldrand und warf seine Schuhe von sich. Hatte man (sprich: Trainer Lucien Favre) etwa gegen seinen Ehrbegriff verstoßen, was immer das überhaupt heißen könnte?

Noch gravierender dann freilich der befremdliche Vorgang ein paar Minuten später: Auch der Mannschaftskapitän und erfahrene Nationalspieler Marco Reus, der eigentlich ein Vorbild sein sollte, ist mit seiner Auswechslung absolut nicht einverstanden und schmeißt sein Tape fuchsteufelswild auf den Boden, quasi dem Trainer (dem Rest der Mannschaft, dem Publikum, aller Welt?) vor die Füße. Fast sah es so aus, als hätte er seine Kapitänsbinde weggeworfen.

Nach meinem Verständnis sollte es für Reus‘ Verhalten eine saftige Geldstrafe vom Verein geben. Im Wiederholungsfalle dürfte ein anderer Spieler Kapitän werden, beispielsweise Mats Hummels. Und Hakimi? Hat sich eine Verwarnung redlich verdient.

Über die Beweggründe mag man rätseln. Sind durch die winterlichen Neuverpflichtungen (Erling Haaland, Emre Can) Hierarchie, Gehaltsgefüge und damit die psychologische Balance der Mannschaft etwa ins Wanken geraten? Verkraftet es ein Reus nicht, dass er selbst zuletzt reihenweise Chancen versiebt hat, während Erling Haaland einen Treffer nach dem anderen erzielt und entsprechend gefeiert wird? Du meine Güte: Der Bursche aus Norwegen ist nun mal der Mann der Stunde. Das wird man vielleicht verkraften können – erst recht im Sinne des Vereins und seiner Ziele.

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Wir erinnern uns an Reus‘ goldene Worte in einem TV-Kurzinterview: „Ist das euer Ernst? Kommt mir nicht mit eurer Mentalitäts-Scheiße! Das geht mir so auf die Eier mit euch, ehrlich!“




It’s done! Der „Brexit“ ist da. Und jetzt?

So sieht’s (immer noch) aus, wenn man auf die Felsen von Dover zukommt. (Foto: Bernd Berke)

Ich mach’s jetzt kurz, weil sich das alles soooooo elend lange und windungsreich hingezogen hat. Sozusagen ein kurzer Brief zum langen Abschied, denn der Tag ist gekommen, an dem – finally! – der allweil beschworene „Brexit“ sein schauriges Haupt erhebt und überhaupt erst konkretere Gestalt annimmt.

Morgen sind „sie“ also draußen. Oder, wie manche Engländer es gerne umgekehrt betrachten: Dann sind wir alle draußen; wir auf dem nicht allzu bedeutsamen europäischen Kontinent. Froschfresser, Krautfresser und all die anderen bedauernswerten, kläglich isolierten Festland-Kreaturen in der EU.

All die dreisten Lügen

Wir wollen n i c h t noch einmal rekapitulieren, wieviel Rule-Britannia-Wahnwitz und welche turmhoch aufgestapelten, dreisten und tolldrastischen Lügen erforderlich waren, um es so weit zu bringen. Auch die (nicht) gehandelt habenden Personen nennen wir nicht abermals. Ihr wisst ja eh Bescheid. Und die wirtschaftlichen Folgen? Wir und jene da drüben auf der Insel werden schon sehen, was wir davon haben… Manche meinen, es werde gar nicht so schlimm kommen. Wait and see.

Very British, indeed: Impression aus Canterbury. (Foto: Bernd Berke)

Wir wollen allerdings doch noch einmal innehalten und die spezielle Sehnsucht in unseren Herzen bewegen, die einen erfasst, wenn man etwa per Schiff auf Englands südöstliche Küste zufährt und die Felsen von Dover erblickt. Ähnliche, wenn auch keineswegs gleiche Gefühle können einen freilich auch bei der Anreise nach Irland oder Schottland beschleichen.

Coming home

Paradox genug: Die Ankunft in England ist, so exzentrisch dann auch manches Folgende anmuten mag, eine Art Heimkommen. Ein seltsames Heimkommen in ein ganz anderes, fremdvertrautes Land, das letztlich doch wirklich recht weit vom Kontinent entfernt liegt; viel weiter, als Seemeilen oder sonstige Maße es ausdrücken können. Fast möchte man es begrüßen, dass diese Art von Fremdheit, von Andersheit nun wohl erhalten bleibt und womöglich sogar wieder anwächst. Andererseits… Nothing is easy.

Ein Trost bleibt uns, bei allem möglichen Trennungs-Phantomschmerz. Die Briten schwimmen uns ja – in absehbarer Zeit – nicht weg. Und dabei reden wir an diesem historischen Tag ausnahmsweise mal nicht vom Klima und vom Anstieg des Meeresspiegels. Ab morgen oder übermorgen dann wieder. Jaja, beizeiten auch über Corona. Und sogar über Hochkultur.

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P.S.: Stimmt. Das Beste am ganzen Brexit-Prozedere waren eh John Bercows „Oooooorder!“-Rufe im Unterhaus.

P.P.S.: Genau. Am 31. Januar schließt sich auch das winterliche Transferfenster der Fußball-Bundesliga. Mal gucken, wen „uns“ die finanziell übermächtigen englischen Clubs wieder weggekauft haben. Achtung, durch die Haarnadelkurve geht’s doch noch ins Ruhrgebiet: Kloppo wird doch nicht etwa beim BVB gewildert haben wollen?




Nächster Schwund im Dortmunder Buchhandel: Mayersche soll offenbar auf ein Drittel der bisherigen Größe schrumpfen

Schon Vergangenheit: Die Mayersche BUchhandlung (rechts), noch in einem Bau mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche bald einziehen will. (Foto/Aufnahme aus dem NOvember 2016): Bernd Berke)

Dortmunds Westenhellweg: Die Mayersche Buchhandlung (rechts), damals noch in einem Gebäudekomplex mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche wohl gegen Ende 2020 einziehen wird. (Foto, November 2016: Bernd Berke)

Nein, ich mag mir das gar nicht vorstellen: Es käme Besuch von außerhalb, noch dazu (was wahrscheinlich wäre) aus einem lesefreudigen Milieu – und dieser Besuch erkundigte sich angelegentlich nach den besten Buchhandlungen in der Dortmunder Innenstadt. Es wäre peinlich…

Früher einmal wäre das kein großes Problem gewesen. Da gab es noch die vermeintlich machtvolle, am Ort unangefochtene Buchhandlung Krüger, in der es zu bestimmten Zeiten richtig „brummte“ und wo man auch ordentlich beraten wurde. Auch gab es zuvor noch die achtbare Buchhandlung Borgmann, zudem konnte man Niehörster, Schwalvenberg und ein paar andere aufsuchen. Jaja, ich weiß, früher hatten wir auch viel mehr Kinos in der Stadt. Umso schlimmer. Und traurig ist es allemal, wenn wieder etwas schwindet.

Nun sind da – im Innenstadtbereich – nur noch die Mayersche Buchhandlung und Thalia, die Filialen zweier Ketten, welche mittlerweile auch noch miteinander fusioniert haben. Beide häufen turmhoch die üblichen Bestseller und jede Menge Angebotsware auf, außerdem etlichen Spielkram und Merchandising-Plunder, der mit Büchern und Lesekultur allenfalls noch entfernt zu tun hat – wenn überhaupt. Thalia hat sich vor einiger Zeit in der überdimensionierten Mall „Thier-Galerie“ eingerichtet. Wahrlich kein anheimelnder Platz für passionierte Leser(innen).

Wenige Oasen für Lesende in Vororten

Bald erfolgt wohl der nächste Schritt abwärts. Wie die Ruhrnachrichten (RN) heute im Dortmunder Lokalteil vermelden, wird gegen Ende des Jahres das Schuhhaus Roland schließen. Die bisher direkt gegenüber befindliche Mayersche soll dann offenbar ins ehemalige Schuhgeschäft einziehen und damit eine Immobilie verlassen, aus der zuvor schon der Modehändler Esprit ausgezogen ist. Somit täte sich an dieser Stelle ein größerer Leerstand auf.

Eine höchst betrübliche Nachricht verstecken die RN allerdings schamhaft weit hinten im Artikel, sie steht auch nicht in der Überschrift: Die Mayersche Buchhandlung würde damit von 4500 Quadratmetern auf rund 1500 Quadratmeter schrumpfen – auf ein Drittel der bisherigen Größe also! Es wäre ungeheuerlich. Eine Stadt mit rund 600.000 Einwohnern hätte sicherlich Besseres verdient. Das Schuhhaus gibt übrigens auf, weil die Konkurrenz im Internet übermächtig geworden sei. Ähnliche Gründe ließen sich wahrscheinlich auch für den Buchhandel anführen. Und es ist nicht zu erwarten, dass etwa Amazon in die erwähnte Leerstands-Immobilie Einzug hält…

Im einen oder anderen Vorort halten noch ein paar wenige Buchläden tapfer gegen den misslichen Trend, doch das sind liebenswerte Nischen, mehr wohl nicht. Mögen wenigstens sie eine Heimstatt für Lesende bleiben.




Mobilfunk mit neuer 5G-Technik: Deutsche Telekom hängt erst einmal das komplette Ruhrgebiet ab

Blick übers Ruhrgebiet von Westen her bzw. von der Höhe des Oberhausener Gasometers herab – in Richtung Essener Innenstadt. (Foto: Bernd Berke)

Blick übers Ruhrgebiet von Westen her bzw. von der Höhe des Oberhausener Gasometers herab – in Richtung Essener Innenstadt, die sich hinten in der Ferne erhebt. (Foto: Bernd Berke)

Ich weiß nicht, ob es schon sonderlich aufgefallen ist, ja, ob es überhaupt außerhalb der Region interessiert. Jedenfalls wird das komplette Ruhrgebiet mal wieder „abgehängt“, und zwar beim Ausbau der vielgepriesenen neuen Mobilfunk-Technologie 5G durch die Deutsche Telekom. Da heißt es also im Revier: noch längere Zeit warten aufs deutlich schnellere Internet, das beispielsweise fürs autonome Fahren benötigt wird.

Hier sind die nüchternen Telekom-Listen, Stand 22. Januar 2020, nachzulesen im Internet-Auftritt des börsennotierten Konzerns. Demnach ist 5G bei der Telekom teilweise und jedenfalls zuerst verfügbar in:

Berlin, Bonn, Darmstadt, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln, Leipzig, München.

Geplant ist ferner der Ausbau für folgende Städte:

Bremen, Dresden, Düsseldorf, Erfurt, Hannover, Ingolstadt, Kiel, Magdeburg, Mainz, Potsdam, Saarbrücken, Schwerin, Stuttgart, Wiesbaden.

Richtig gelesen: Das gesamte Ruhrgebiet mit seinen rund 5 Millionen Bewohnern fehlt völlig. Kein Essen, kein Dortmund, kein Duisburg, kein Bochum. Beispielsweise. Obwohl diese Städte zum Teil erheblich mehr Einwohner haben als jene, die beim Ausbau ganz vorne mit dabei sind. Okay, Nürnberg ist auch noch nicht mit von der Partie. Weiß der Geier, warum. Auch sie hatten wohl keine schlagkräftige Lobby. Geschichtliche Gründe wird es ja wohl nicht haben.

Premium-Metropolen, Immo-Spitzenreiter und Landeshauptstädte bevorzugt

Ganz fix ist man in den üblichen „Premium-Städten“ mit den höchsten Immo-Kaufpreisen und Mieten, sodann in sämtlichen Landeshauptstädten bzw. Stadtstaaten der Republik. Letzteres wirkt so, als wolle man im „politischen Raum“ für Schönwetter sorgen und alle Landesväter (und Landesmütter) gefällig bedienen. Ja, man könnte spekulieren, ob das einstige Staatsunternehmen immer noch regierungsfromm ist und generell für den Status quo einsteht. Oder gar für den Status quo ante, für die (guten?) alten Zeiten also.

Warum aber Ingolstadt? Vielleicht wegen des Autobauers Audi, der dort ansässig ist? Warum dann aber nicht Wolfsburg? Etwa als Strafe für Diesel-Betrügereien? Und warum Darmstadt? Gewiss nicht, weil die Gesellschaft für Deutsche Sprache dort sitzt. Eher schon wegen der Nachbarschaft zum Börsenplatzhirschen Frankfurt. Und vor allem als einer der Hauptstandorte der Telekom.

Wo Dortmund dann doch noch vorn auf der Liste steht

Auffallend ist ferner, dass renommierte Universitäten in kleineren und mittleren Städten offenbar nicht zählen. Kommunen wie Heidelberg, Tübingen, Göttingen oder auch Münster gehen vorerst leer aus. Was das wohl zu bedeuten hat? Haben die Telekom-Manager denn mehrheitlich woanders studiert?

Das Folgende bitte ich keinesfalls als Werbung zu verstehen, dazu hört und liest man andererseits viel zu viel Negatives über den Kundenservice des britischen Konzerns: Tatsache ist freilich, dass Telekom-Konkurrent Vodafone etwa Dortmund ab Juli 2019 als eine der ersten Schwerpunkt-Städte für den 5G-Ausbau auf der Agenda hatte – zusammen mit Köln, Düsseldorf, Hamburg und München. Offenbar versucht man, möglichst schnell einen möglichst großen Prozentsatz der Bevölkerung zu erreichen, so dass alle Ballungsräume und die am dichtesten besiedelten Regionen Vorrang haben. Und dazu gehört nun einmal das Revier.

Zusatzfrage: Und wer versorgt das „platte Land“?

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Info: Lizenzen für rund 6,55 Milliarden Euro versteigert

Die Versteigerung der 5G-Lizenzen hatte 2019 – nach insgesamt 497 (!) Auktionsrunden – der Bundesnetzagentur insgesamt rund 6,55 Milliarden Euro eingebracht. Am meisten zahlte die Telekom (2,17 Milliarden), es folgten Vodafone (1,88 Milliarden), Telefónica (1,42 Mrd.) und Drillisch/United Internet (1,07 Mrd.).




Donnerwetter, gleich drei Treffer! Wie es für Erling Haaland beim BVB anfing

Ihr werdet schon sehen, wie ich diesmal die Kurve von Kultur zu Fußball kriege, nämlich so:

Gestern hatte ich mit einem Museumsleiter aus einer Nachbarstadt von Dortmund zu tun. Er meinte, der Lokalstolz in seiner Gemeinde halte sich sehr in Grenzen, die Leute fühlten sich eher den Stadtteilen und Vororten zugehörig. Wollten sie ins Zentrum fahren, sagten sie „Ich fahre in die Stadt.“ Ich entgegnete, dass das in Dortmund aber ähnlich sei. – Darauf er: „Das stimmt, aber in Dortmund gibt es etwas, das hält alles und alle zusammen: der BVB.“

Erling Haaland, hier noch im Trikot von RB Salzburg – am 4. Juli 2019. (Foto: Werner100359 bei Wikimedia Commons / Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Dortmunds Neuzugang Erling Haaland, hier noch im Trikot von RB Salzburg – am 4. Juli 2019. (Foto: Werner100359 bei Wikimedia Commons) / Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Recht hat der enorm kunstsinnige Mann, dem auch Fußballverstand gegeben ist. Vom Proll bis zum Prof. können sich hier praktisch alle oder wenigstens in überwältigender Mehrheit auf Borussia einigen. Mehr noch: Ungemein viele Menschen tragen an beliebigen Wochentagen BVB-Klamotten oder zumindest Jacken und Pullover mit dem Vereinslogo. Okay, manchmal kann einem das auch ziemlich auf die Nerven gehen. Man würde sich etwas mehr Stilempfinden wünschen.

Egal. Lassen wird das jetzt. Heute gibt es etwas zu berichten, was an Wahnwitz grenzt. Da kickten die Dortmunder – zum Rückrundenauftakt der Bundesliga – auswärts in Augsburg (sozusagen bei „Urmelchen“) und versiebten in der ersten Halbzeit reihenweise Großchancen, so dass man schon das Schlimmste zu ahnen bereit war.

Und tatsächlich: Nachdem vor allem Marco Reus sich durchs Verstolpern bester Chancen quasi als bester Abwehrspieler des Gegners erwiesen hatte, machten die Leute aus der Puppenkiste ein Tor nach dem anderen. Erst führten sie 1:0, dann 2:0, dann zwischenzeitlich 3:1. Das war’s dann wohl?

Nichts da! BVB-Trainer Lucien Favre war bestens beraten, als er in der 56. Minute den Neuzugang Erling Haaland einwechselte, diesen offenkundig hochtalentierten Norweger, der erst Anfang Januar von RB Salzburg gekommen war. Der 19jährige mit dem Bubigesicht, den man von daher durchaus für 17 halten könnte, erfüllt offenbar in idealer Weise den steinalten Sportreporter-Spruch, der da lautet: „Er weiß, wo das Tor steht.“

In der kurzen Zeit seines Einsatzes, gerade mal rund 35 Minuten, erzielte Haaland gleich drei Treffer und stellte mit diesem Hattrick gleich einen Langzeitrekord auf: Er ist nun der jüngste Spieler der gesamten Ligageschichte, der in seinem Debütspiel dreifach getroffen hat. Am Ende stand es folglich doch noch 5:3 für den BVB.

Welches etwas gottes- und kirchenlästerliche Wortspiel hat doch mein Lieblings-Fußball-Fanzine-Blog www.schwatzgelb.de kürzlich in die Überschrift gesetzt: „O Haaland, reiß die Himmel auf!“

Man muss das gesehen haben, wie der 1,94 m große Kerl sich vollkommen furchtlos ganz vorne reinstellt und sogleich vehement den Ball fordert, wie er schlicht und einfach Bock aufs notorisch wiederholte „Einnetzen“ hat. Seine Tore markiert er mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit. Schon jetzt dürfte er sich bei den Verteidigern, die es mit ihm zu tun bekommen werden, einigen Respekt verschafft haben. Und von der Gewichtsklasse her ist er in der Lage, sich im Getümmel ganz anders durchzusetzen als der schmächtige Paco Alcacer, den es offenbar schon wieder zurück nach Spanien zieht.

Greifen wir mal vor und greifen wir hoch: Nun darf man sich sogar schon auf die Duelle mit Paris St. Germain in der Champions League (18. Februar und 11. März) freuen. Mal schauen, was Haaland mit seinen Neben- und Hinterleuten da bewirken kann. Wahrscheinlich kommt der von Thomas Tuchel trainierte, großmächtige Widersacher mit Weltstars wie Mbappé und Neymar noch ein bis drei Jahre zu früh, doch daran kann man wachsen.

Jaja, ich weiß. Abwarten, ob Erling Braut Haaland (für deutsche Ohren ein witziger zweiter Vorname, oder?) das so oder ähnlich durchhält. Und überhaupt. Richtig. Völlig richtig. Aber heute wird man sich verdammt nochmal freuen dürfen, nech?




Beide Weltkriegs-Bomben entschärft – Weite Teile der Dortmunder Innenstadt waren evakuiert

Seit Tagen und Wochen herrschte quasi Daueralarm, zumindest in stetig anwachsenden Vorstufen: Dortmund hatte sich gründlich auf die „Mega-Evakuierung“ (so das handelsübliche Steigerungs-Wort) an diesem Sonntag, 12. Januar, vorbereitet – im Großen und Ganzen und bis in alle vorhersehbaren Einzelheiten. Früher hätte man dafür das Wort „generalstabsmäßig“ verwendet, heute meidet man derlei martialische Ausdrücke lieber. Doch tatsächlich geht es ja immer noch um Kriegsfolgen.

Betroffenes Gebiet: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Foto von April 2015: Bernd Berke)

Betroffenes Gebiet, zu einer anderen Zeit: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Aufnahme von April 2015). (Foto: Bernd Berke)

Über 13.000 Menschen waren direkt betroffen

Vier etwaige Blindgänger-Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg waren in der Innenstadt geortet worden, bei jedem einzelnen der (bis Sonntagmittag noch unbekannten) Objekte hätte es sich theoretisch um eine 500-Kilo-Bombe handeln können, also wurde sicherheitshalber jeweils ein Evakuierungs-Radius von 500 Metern gezogen. Zwischenzeitlich wurden am Sonntag zwei gefährliche Funde bestätigt: Die erste Bombe wurde heute gegen 15.30 Uhr an der Luisenstraße entschärft, um ca. 17 Uhr haben Spezialisten auch den zweiten Blindgänger (in der Beurhausstraße) unschädlich gemacht.

Zuvor mussten weite Teile der Innenstadt (bis spätestens Sonntag, 8 Uhr morgens) vorübergehend freigezogen werden. Direkt betraf diese Maßnahme über 13.000 Menschen. Dabei musste ungeheuer vieles bedacht werden, so u. a. auch die Frage nach der Mitnahme von Haustieren, um nur einen Nebenaspekt zu nennen. Doch so umfassend die organisatorische Leistung gewesen sein mag – mit den Leuten vom Kampfmittelräumdienst, die schlussendlich ganz nah ran mussten, hätte im Zweifelsfalle niemand tauschen wollen.

Drei große Kliniken im Einzugsbereich

Besondere Herausforderung im Vorfeld: Auch die Zentrale des Städtischen Klinikums, das Johannes-Hospital und die Kinderklink sowie zwei Altenheime zählten zum Einzugs- bzw. Auszugsgebiet. Bis auf wenige Intensiv-Fälle, bei denen das Transportrisiko gar zu groß gewesen wäre, sind die Patienten in andere Krankenhäuser verlegt worden, bis ins Umland hinein. Die komplizierte Aktion hat offenbar noch besser funktioniert als vorher geplant.

Auch der Dortmunder Hauptbahnhof durfte zeitweise nicht mehr betreten werden, Züge wurden umgeleitet; wie denn überhaupt Ausnahmezustand im gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr rund um die Stadt herrschte. Auch andere Bereiche waren betroffen: Das Theater und andere Kulturstätten (u. a. Dortmunder U, Deutsches Fußballmuseum) blieben am Sonntag geschlossen, etliche Gastronomie-Betriebe ebenfalls. Mit anderen Worten: Das öffentliche Leben lag weitgehend brach.

Unterkunft im Ortsteil Scharnhorst

Die Bewohner des Klinikviertels und angrenzender Bereiche der Innenstadt wurden, sofern sie nicht bei Freunden oder Verwandten untergekommen sind, in einer Gesamtschule im Dortmunder Stadtteil Scharnhorst untergebracht. Alternativ konnten städtische Angebote wie der ausnahmsweise kostenlose Eintritt in den Zoo, in den Westfalenpark oder ins Südbad wahrgenommen werden. Erstmals wollte die Polizei übrigens Drohnen einsetzen, um zusätzlich die möglichst komplette Evakuierung zu überwachen. Es gibt ja immer mal wieder einzelne Leute, die sich weigern wollen, ihre Behausung zu verlassen. Und sind sie nicht willig, so…

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Gespenstisch leere Straßen im Viertel

Zahlreiche Journalist(inn)en hatten sich für das Ereignis akkreditiert – offenbar weitaus mehr, als man zuvor erwartet hat. Dortmund hat es auch mal wieder mit ein paar Schnipseln in die ARD-Tagesschau um 20 Uhr geschafft. Aber ist das denn ein erstrebenswertes Ziel?

Die Ruhrnachrichten und der WDR hatten permanente Live-Ticker eingerichtet, mit denen man lückenlos auf dem Laufenden bleiben sollte. Auch viele andere Medien berichteten ausführlich, die in aller Regel weniger zimperlichen RTL, SAT.1 und „Bild“ ließen sich gleichfalls nicht lumpen. Erste Online-Fotos aus der Nacht zum Samstag zeigten bereits gespenstisch leere, weil auch komplett autofreie Straßen im Klinikviertel. Vielleicht ist es insofern eine Art Zukunftsschau ohne Absicht?

Wenn wir schon beim Thema Medien sind: Eventuell setzt sich ja eines Tages die Erkenntnis durch, dass eigentlich nicht Menschen „evakuiert“ (also: entleert) werden, sondern Gebäude, Gelände oder Zonen. Okay, das ist das geringste aller Probleme. Obwohl Präzision auch im Sprachlichen nicht schaden kann.

…und wenn es nur rostige Badewannen gewesen wären?

Apropos Zukunft: Ein Freiburger Forscherteam, das ein Simulationsmodell für Druckwellen und sonstige Auswirkungen explodierender Blindgänger entwickelt, betrachtet die (sehr realen) Vorgänge in Dortmund als eine Art Großversuch, der eingehend begleitet wird; damit man sich künftig vielleicht noch etwas präziser auf solche Ereignisse vorbereiten kann. Mag sein, dass dann die Sicherheitszonen nicht mehr so weitläufig bemessen sein müssen.

Ein Restaurant-Betreiber, der seinen Betrieb am Sonntag gar nicht erst öffnen wollte, gab sich der  örtlichen Presse gegenüber skeptisch bis verärgert: Wenn an den „Bombenverdachtspunkten“ (offizielle Bezeichnung) nun nur eine rostige Badewanne gefunden werde und sich das Ganze als falscher Alarm erweise, hätte Dortmund sich blamiert, findet er. Eine sehr spezielle Einlassung. Es drohte nach (inzwischen zweifach bestätigter) Experten-Einschätzung nun einmal Gefahr. Wer hätte da die Verantwortung übernehmen wollen? Etwa die Wirte und Pächter der umliegenden Gaststätten? Eben.

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Die folgenden Links haben nur begrenzte Gültigkeit:

Weitere Informationen der Stadt Dortmund: www.evakuierung.dortmund.de

Live-Ticker der Ruhrnachrichten

Live-Ticker des WDR: https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/ticker-grosse-bombenentschaerfung-im-dortmunder-klinikviertel-100.html
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Infos mit Material u. a. von Ruhrnachrichten und WDR




Duplikate für den historischen Ostfriedhof – warum muss das denn sein?

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Der Dortmunder Ostfriedhof (oder auch Ostpark) ist, wie hier schon gelegentlich erwähnt, eine der schönsten Grünanlagen des gesamten Ruhrgebiets – mit etlichen historischen Grabstätten von Bedeutung. Gewiss: Hier liegen keine weltberühmten Geister begraben. Doch selbst bundesweit gehört das Areal auf eine Liste der ansprechendsten Friedhöfe. Viele Dortmunder lieben diese parkähnliche Anlage.

Umso mehr verblüfft jetzt eine Ankündigung, die auf den ersten Blick von Geschichtsvergessenheit zu zeugen scheint. Ein Schild mit diesem Text (siehe auch das Foto oben) ist neuerdings in den Eingangsbereichen des Ostparks zu finden:

„Zurzeit werden auf diesem Friedhof schützenswerte Grabmale demontiert. Die Arbeiten erfolgen im Auftrag der Stadt Dortmund. Von den sichergestellten Objekten werden Nachbildungen erstellt, die im Anschluss wieder montiert werden. Falls Sie Fragen haben, so wenden Sie sich bitte an unsere Mitarbeiter*innen auf dem Friedhof.“

Die Ankündigung kommt aus ziemlich heiterem Himmel. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Vorhaben in lokalen Medien dargelegt oder gar zur Diskussion gestellt worden wäre. Dabei ist es doch von öffentlichem Interesse. Tatsächlich wüsste man schon gern, um welche Grabstätten es sich im Einzelnen handelt. Doch nicht etwa um die letzten Ruhestätten der Industriellen-Dynastien Hoesch oder Jucho? Doch nicht etwa ums Grab der Kochbuch-Pionierin Henriette Davidis?

Nach dem Raub wertvoller Bronzen geht Sicherheit vor

Halt! Keine Panik! Es handelt sich überwiegend um vergleichsweise unscheinbare, jedoch wertvolle Objekte – und alles hat seine Richtigkeit. Uli Heynen, Betriebsleiter Technik für die Dortmunder Friedhöfe, erklärt auf Anfrage, die jetzige Maßnahme sei beschlossen worden, nachdem 2018 Grabräuber auf dem Ostfriedhof vier historische Bronzeteile (Grabplatten) gestohlen hatten. Aufmerksame Bürger hätten den Verlust damals bemerkt und Mitarbeiter des Friedhofs informiert. Heynen: „Es sind eigentlich immer Bürger, denen so etwas zuerst auffällt.“

Teilansicht einer historischen Grabstätte auf dem Dortmunder Ostfriedhof, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof: Teilansicht einer historischen Grabstätte, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Da fragte sich, wie man fortan weitere Bestände (darunter auch Skulpturen) schützen sollte. Nach vielen Überlegungen stand schließlich fest: indem man sie auf dem Friedhof durch Repliken ersetzt und die Originale anderswo unter Dach und Fach verwahrt. Sehr betrüblich, dass so etwas überhaupt nötig ist. Aber Sicherheit hat eben Vorrang.

Um Weihnachten 2019 herum ging dann alles ganz schnell. Die Demontage einiger Bronze-Teile ist bereits erfolgt, nun geht es – unter fachkundiger Begleitung von Dr. Rosemarie Pahlke (Beauftragte der Stadt für Kunst im öffentlichen Raum) – an die Herstellung der Repliken. Ganz billig ist das nicht, doch das muss es dem Gemeinwesen wert sein.

Arbeiten von Benno Elkan und Bernhard Hoetger

Wenn auch die Duplikate mit größter Sorgfalt erzeugt werden, so dürften zumindest Fachleute bemerken, dass es sich nicht mehr um die Originale handelt. Uli Heynen: „Die Stücke werden ja nicht mehr aus Bronze bestehen.“ Hoffentlich nehmen das auch etwaige Grabräuber zur Kenntnis.

Im Mittelpunkt der Rettungsmaßnahmen stehen acht Arbeiten des Bildhauers Benno Elkan und eine Schöpfung von Bernhard Hoetger. Nach Fertigstellung der Repliken für den Ostpark sollen die Originale an einem öffentlichen Ort in der Stadt ausgestellt werden. Denkbar wäre eine Präsentation in Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße. Doch darüber ist noch keine Entscheidung gefallen.




Oh Umweltsau, du darfst nicht einfach von uns gehen!

Lange nichts mehr von unserer alten „Umweltsau“ gehört. Schon seit einem halben Tag herrscht Funkstille. Das darf nicht sein. Die Sache muss weiter köcheln. Schlagergerecht trällern wir: Liebe, liebgewordene Umweltsau, du darfst nicht so einfach von uns gehen! Daher hier noch ein paar nachgereichte Fragen – gleichsam zur Überbrückung:

 

Rein zufällig vor zwei Tagen fotografiert. Dabei können die armen Tiere nun wirklich nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Zufällig vor zwei Tagen fotografiert. Dabei können die armen Tiere wirklich nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Muss man sich, nur weil AfD-Leute und Konsorten einmal ansatzweise oder halbwegs recht haben könnten, partout auf die Gegenmeinung versteifen? Darf man das Liedchen gar nicht mehr kritisch sehen, weil man dann Beifall von der falschen Seite bekommen könnte? Ist gar schon ein halber Nazi, wer da nicht hämisch mitsingen möchte? Entscheidet sich eigentlich an der imaginären Gesamt-Oma das Schicksal der Nation?

Verfahren die WDR-Redakteure und die freien Mitarbeiter, die gegen die Distanzierung des Intendanten Tom Buhrow aufstehen, etwa nach der uralten Devise „Right or wrong – my country“? Kommt es hierbei nur darauf an, stur auf der „richtigen Seite“ zu stehen?

Muss man eine bloße unflätige Beschimpfung und Herabwürdigung, die zudem gründlich ihr Ziel verfehlt, als „Satire“ ausgeben? Was würde beispielsweise ein Kurt Tucholsky angesichts solch eines dürftigen Satire-Anspruchs sagen?

Hat sich die ganze Sache schon von selbst erledigt, indem man mit dem „Basta!“-Gestus immerzu „Satire darf alles!“ ausruft? Sind bereits Zweifel verpönt?

Sind die durchschnittlichen deutschen – mitsamt den zugewanderten – Omas eigentlich so (über)mächtig, dass man sie dermaßen brachial attackieren muss?

Geht es hier gegen eines bestimmte, hochprivilegierte Sorte von Großmüttern oder nicht vielmehr doch gegen eine ganze Generation? Konnten die Kinder wirklich begreifen, was sie da singen sollten?

Wäre es möglich, dass viele Omas (was ist eigentlich mit den Opas, werden die nur noch lustig, lustig mit ihren Rollatoren überfahren?) beispielsweise von Kleinstrenten leben und/oder der „Fridays for Future“-Bewegung ausgesprochen wohlgesonnen sind? Ach so, die wären gar nicht gemeint gewesen?

Würde man es auch als köstliche Satire ansehen, wenn jemand ein dämliches Spottlied auf junge Klima-„Aktivisten“ sänge, in dem diese als selbstgerechte Ferkel vorkämen?

Hat der Leiter des Dortmunder WDR-Kinderchores eigentlich während der gesamten Proben nicht bemerkt, was er da proben ließ? Hat er mal wieder nur auf die Reinheit der Töne und nicht auf den Text geachtet? Überhaupt: Hat man im Vorfeld je über Form und Inhalte diskutiert? Oder wurde die Witzischkeit halt verfügt und verordnet?

Andererseits: Hat WDR-Chef Tom Buhrow, der eh noch nicht als souveräner Intendant des größten ARD-Senders aufgefallen ist, die in diesem Falle Programm-Verantwortlichen nicht gar zu sehr bloßgestellt? Wollte er seine Untergebenen in einer gutsherrlichen Art strammstehen lassen, als wären sie nicht auch seine Schutzbefohlenen? Hat er sie damit gar dem Zorn des Mobs ausgeliefert?

War es wirklich nötig, die Aufnahme zu löschen? Hält man die Leute für zu blöd, sich eine eigene Meinung bilden zu können?

Jedoch: Was ist das für eine gespaltene Gesellschaft, in der sich an einem solchen Liedchen eine schier endlose Debatte mit härtesten Fronten entzündet?

Und natürlich: Was sind das für kranke Gestalten, die derlei Fragen mit vorgestanzten Hassparolen und Morddrohungen abhandeln wollen?

Wir schließen einstweilen rituell mit Bert Brecht: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“




In diesen Zeiten Journalist werden? Tja, mh, äh…

Ob man/frau heute noch einmal den journalistischen Beruf ergreifen oder sich gar von ihm ergreifen lassen sollte? Mh, ich weiß nicht so recht.

Einst die Insignien des Print-Redakteurs, sozusagen „Zepter und Reichsapfel": Typometer und grapgische Rechenscheibe. (Foto: BB)

Einst Insignien in Print-Redaktionen, heute längst museal: Typometer und graphische Rechenscheibe. (Foto: BB)

Dies soll gewiss keine Berufsberatung werden. Doch auch kein unumwundenes Abraten. Nur ein paar gesammelte Bemerkungen. Wer in sich eine entsprechende Begabung fühlt, mag es sicherlich weiterhin versuchen. Aber leicht wird es nicht. Doch wird es beispielsweise leichter sein, Lehrer zu werden und über Jahrzehnte zu bleiben? Wohl kaum.

Zu den Zeiten, als „meine Generation“ (yeah, yeah!) im journalistischen Job anfing, war noch manches anders, die spürbaren Veränderungen kamen erst nach einigen Jahren – zuerst schleichend, dann rasend. „Damals“ sah man in der Straßenbahn und an vielen anderen Orten noch lauter Menschen mit Zeitungen (oder mit Büchern). Und heute? Nun, ihr wisst schon, was ich meine. Manchmal ist es bestürzend.

Aktualität war seit jeher mediales Gebot, auch Zeitdruck ist im Print-Gewerbe und bei anderen journalistischen Hervorbringungen natürlich keineswegs neu. Im Gegenteil. Ehedem wurden Zeitungen laufend aktualisiert, bis in die Nachtstunden hinein. Zehn Jahrzehnte vor unserer Zeit, in den legendären 1920er Jahren, gab es noch Rezensionen, die gleich nach Schluss der Aufführungen gedruckt wurden. Aber hallo!

Doch heute werden Nachrichten und Kommentare nicht nur schnell, sondern oft genug vorschnell verfertigt, noch während und indem die Geschehnisse sich bewegen. Unsere täglichen Eilmeldungen gib uns heute. Halbgare Stoffe werden schon hastig um und um gewendet, ehe die Wahrheit (ach ja!) ihren ersten zarten Anschein zu zeigen vermag. Inzwischen sind Berichte unter der demonstrativ wägenden Standard-Zeile „Was wir wissen – und was nicht“ ja schon ein eigenes, immerhin halbwegs seriöses Genre.

Auch war längst nicht dieser furchtbar freigelassene, entfesselte Hass unterwegs wie heute. Ehedem kamen ab und zu ein paar Leserbriefe, zumeist recht moderat im Tonfall. Heute müssen (?) sich Medienleute mit pointierten Meinungen oder nach peinlichen Pannen darauf einrichten, im Netz übelst angegangen oder bedroht zu werden – jüngstes, über alle Maßen bekakeltes Beispiel war jetzt die Oma als „alte Umweltsau“.

Der Respekt – auch vor den Vertretern vieler anderer Berufe – ist zusehends geschwunden, die Zündschnüre des Zorns sind ungleich kürzer. Wohin soll das in diesen neuen 20er Jahren führen?

Und dabei haben wir noch gar nicht über die ungeheure Arbeitsverdichtung geredet, die in vielen Branchen Einzug gehalten hat – so eben auch im Journalismus. Mit dem Aufkommen des Computers hat nach und nach die Hektik zugenommen, auch weil man nun die Arbeit zu erledigen hat, die vordem anderen Berufsgruppen oblagen, beispielsweise Setzern und Korrektoren. Das waren noch Leute und Zeiten. Und die Fehlerquote lag bedeutend niedriger als jetzt.

Nö, früher war nicht alles besser. Aber dies und das eben doch. Und nun sucht euch halt euren künftigen Beruf – oder besser: eure Berufe – aus. Bei einem einzigen wird es vermutlich eh nicht bleiben.




Erfüllte Weihnachten und einen ersprießlichen Jahreswechsel wünschen die Revierpassagen!

Weihnachtlichen Schnee überm Dortmunder U gibt's derzeit nur in der Glaskugel. (Foto: Bernd Berke)

Weihnachtliches Schneegestöber überm „Dortmunder U“ gibt’s derzeit nur in Wunschträumen – oder in der Glaskugel. (Foto: Bernd Berke)

Es ist doch tatsächlich schon wieder so weit. Das Jahr neigt sich. Und zwar seinem Ende zu. Unterdessen wirft 2020 seine Schatten. Und zwar voraus. Wer hätte das gedacht?

Wir begehen die bevorstehenden Feiertage und dito den anstehenden Jahreswechsel mit einem putzigen Stückchen Ruhrgebiets-Kitsch – oder wie man das abgebildete Werk nun angemessen bezeichnen soll. Das Lichtbild zeigt als Schneekugel zweierlei Weihestätten: unter der Kuppel das „Dortmunder U“ und im Sockel Umrisse des Westfalenstadions, das wir auch heute und in Zukunft nicht anders nennen mögen. Da hätten wir also den Kulturtempel und den Fußballtempel.

In diesem und in manch anderem Sinne wünschen die Revierpassagen ihren Leserinnen und Lesern schöne, möglichst entspannte, erfüllte oder auch – je nach Glaubensrichtung – gesegnete Weihnachtstage und sodann einen ersprießlichen Jahreswechsel. Bitte bleibt und bleiben Sie uns gewogen.

Und weil nicht alle Menschen „frohe“ Weihnachten verbringen können, so sollen die Unglücklichen, die Trauernden und Geschwächten in diesen Tagen und Wochen Kraft und Hoffnung schöpfen, so gut es eben geht.




Morgens an der S-Bahn: Lasset fahren die Hoffnung… (wird seit Mitte September fortlaufend aktualisiert)

Ein Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

Ein kurzes Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

So. Wir machen notgedrungen weiter mit unserer kleinen Bahnserie, die kürzlich mit seltsamen Schwierigkeiten beim Erwerb von Handytickets begonnen hat. Hat man diese Probleme überwunden, geht es erst richtig los. Beziehungsweise: Allzu oft geht es eben gar nicht los.

Jetzt begeben wir uns mal auf die Strecke. Die Rede ist von der S-Bahn-Linie 4, die zwischen Unna und Dortmund-Dorstfeld bzw. Lütgendortmund verkehrt oder verkehren soll. Betrieben wird sie von der DB Regio, also einer regionalen Unterabteilung der Deutschen Bahn, deren Kalamitäten bekanntlich ganze Beschwerde-Foren füllen, ja überquellen lassen – und neuerdings auch noch die global wirksame Aufmerksamkeit von Greta Thunberg gefunden haben, um es mal vorsichtig und möglichst neutral zu sagen.

Doch die DB Regio darf mit den S-Bahnen 1 und 4 weitermachen, obwohl sie die Ausschreibung für die Strecken verloren hat (siehe Nachricht weiter hinten).

Hauptstrecke zu drei großen Innenstadt-Gymnasien

Eine der wichtigsten Abfahrtzeiten des gesamten Tages ist (bzw. war) am S4-Haltepunkt Dortmund-Körne 7:29 Uhr morgens, an ebenfalls betroffenen anderen Haltepunkten gelten andere Vorgaben. Um diese Zeit jedenfalls brechen auf dieser Linie, von Osten her kommend, Hunderte von Schülern auf, um pünktlich vor Unterrichts-Beginn vor allem eines der drei Innenstadt-Gymnasien zu erreichen, die im unmittelbaren Einzugsbereich des Haltepunkts Dortmund-Stadthaus liegen: Mallinckrodt-Gymnasium, Stadtgymnasium und Käthe-Kollwitz-Gymnasium – mit zusammen deutlich über 3000 Schülerinnen und Schülern. Von den Lehrkräften und von allen anderen Arbeitnehmern oder auch sonstigen Fahrgästen, die gleichfalls auf diese Verbindung angewiesen sind, wollen wir gar nicht erst reden. Es dürfte einige Familien geben, die eine der drei genannten Schulen nicht zuletzt wegen der (theoretisch) guten S-Bahn-Anbindung gewählt haben…

Zugausfälle am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und… 

Tatsache ist jedoch: Der genannte Zug fährt in den seltensten Fällen um 7:29 Uhr. In der Woche seit dem 16. September ist er bereits montags, dienstags und mittwochs ausgefallen, also bis dahin an jedem Wochentag. Am 5. und 6. September (beispielsweise) jeweils das gleiche Spielchen. Wie heißt der alte Buchtitel-Spruch nach Eric Malpass: Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung. Mag ja sein. Um 7:29 Uhr zeigen sich jedenfalls erste Irritationen, sofern man die S-Bahn 4 nehmen möchte. Ob’s bei der Anfahrt von Westen her ähnlich betrübliche Befunde gibt?

Schlimmer noch: Viele können sich gar nicht darauf einstellen, denn in den Apps von VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) und DSW21 (Dortmunder Stadtwerke) sind zwar die Fahrzeiten verzeichnet, von Zugausfällen erfährt man freilich meistens nichts vorab. Die Navigator-App der Deutschen Bahn soll in dieser Hinsicht etwas zuverlässiger sein. Sagt man. Und es stimmt auch. Die Lautsprecher-Durchsage am Bahnsteig quäkt, falls sie überhaupt erfolgt, jeweils ganz vage etwas von „technischen Problemen“.

Welch ein Beitrag zur „Klimawende“

Aber was hilft’s? Viele Hundert Leute müssen am kühlen und zugigen Bahnsteig weitere 10 Minuten warten und hoffen, dass wenigstens die nächste Bahn um 7:39 planmäßig kommt. Weil die wegen des vorherigen Ausfalls regelmäßig etwa die doppelte Menge an Passagieren aufnehmen muss, ist sie natürlich arg überfüllt. Und wehe, wenn auch sie nicht käme. Dann wären schon mal die allermeisten Schüler zu spät dran – eventuell auch noch bei einer wichtigen Klassenarbeit…

Immerhin: Jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle rechtzeitig anzeigt... (Screenshot vom DB Navigator)

Immerhin: Habe jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle wenigstens rechtzeitig anzeigt… (Screenshot vom DB Navigator)

Sehr wahrscheinlich haben sich angesichts dieser häufigen Ausfälle schon manche entschlossen, aufs morgendliche Bahnfahren zu verzichten. Statt dessen werfen sie dann doch wieder ihre Autos (darunter auch jene erschröcklichen SUV-Karossen) an und verstopfen die Straßen rund um die Schulen. Welch ein Beitrag zur „Klimawende“!

DB Regio: Weitermachen trotz verlorener Ausschreibung

Unterdessen schien eine kleine Hoffnung zu keimen, wenn’s denn überhaut eine Hoffnung war. Die DB Regio AG hatte die Ausschreibung für die Strecke verloren, so dass die S-Bahn-Linien 1 und 4 ab Dezember 2019 von der Gesellschaft Eurobahn (Keolis Deutschland) übernommen werden sollten, und zwar bis ins Jahr 2034.

Doch dann hat der Verkehrsverbund VRR nach eigener Einschätzung die Reißleine (oder passender: Notbremse) gezogen und der Eurobahn den Auftrag wieder weggenommen. Angeblicher Grund laut WDR-Bericht aus Essen: Die Eurobahn habe nicht genug Lokführer, um die S-Bahn-Linien 1 und 4 zu übernehmen und den Betrieb zu garantieren. Fragt sich angesichts der geschilderten Zugausfälle allerdings dringlich, ob die DB Regio dazu stets in der Lage ist. Sie hat selbst zu bedenken gegeben, dass sie auf die Fortsetzung des Betriebs eigentlich gar nicht eingestellt ist.

Zeitweise sah es so aus, als würde der Streit um die Strecken auch noch mit juristischen Mitteln ausgetragen. Keolis hat zwischendurch signalisiert, dass man die Übernahme der Linien keineswegs aufgegeben habe – und sich dann doch offenbar ins „Schicksal“ gefügt. Mittlerweile hat es offiziell eine gütliche Einigung gegeben.

Anfang November stand fest: DB Regio darf erst einmal weitermachen. Unzuverlässig wie gehabt?

Nachtrag am 12. Dezember 2019: Fatale Ausdünnung im Fahrplan

Nun, da die DB Regio den besagten Auftrag erst einmal in der Tasche hat (ob da wohl Beziehungen eine Rolle gespielt haben könnten?), verkündet der VRR teilweise rigorose Fahrplanänderungen, die ab 15./16. Dezember 2019 in Kraft treten. Für die oben geschilderte Verbindung bedeutet dies, dass man die Strecke in den morgendlichen Kernzeiten nicht mehr alle 10 Minuten, sondern nur noch alle 15 Minuten bedient – falls es nicht auch noch zu Ausfällen kommt. Die berüchtigte Abfahrtszeit 7:29 Uhr gibt es somit gar nicht mehr, es bleiben in jenem Zeitfenster nur noch 7:21 und 7:36 Uhr.

Man kann also mit Fug und Recht von einer deutlichen Ausdünnung reden. Welch‘ ein fatales Signal, angesichts der angeblich wachsenden Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs!

Nachtrag 15. bis 18. Dezember 2019: Wo bleiben die Aushangpläne?

Der neue Fahrplan ist doch sicherlich mit dem Start am 15. Dezember abrufbar gewesen? Nun ja, nur zum Teil. In der Bahn-App tauchen die korrekten neuen Zeiten auf, auch kann man online auf den gesamten Linienplan zugreifen. Was noch nicht funktioniert, sind die Aushangpläne für die einzelnen Stationen, auf denen man sofort sieht, wann „um die Ecke“ der nächste Zug fährt. Wohl viele Fahrgäste hätten sich zum Eingewöhnen die neuen Pläne gern ausgedruckt. Eine weitere Fehlanzeige…

Hat’s denn am ausgedünnten Dienstplan des Wochenendes gelegen? Nein, offenbar nicht. Auch am 16. und 17. Dezember waren die  neuen Aushangfahrpläne des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr fürs gemeine Volk noch nicht abrufbar. Am Nachmittag des 18.12. tauchten die Listen dann auf, Hallelujah!

Wir wollen uns lieber gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Greta Thunberg auf die Dortmunder S-Bahn 4 angewiesen wäre. Dann wäre die Weltpresse aber heftig zugange!

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Anhang:

Chronik der Zugausfälle

Kleine Chronik der Fahrten bzw. Nicht-Fahrten an Werktagen um 7:29 Uhr
(S 4 ab DO-Körne, alter Fahrplan bis 14.12.2019), ohne Rücksicht auf Verspätungen:

Montag, 16. September: ausgefallen
Dienstag, 17. September: ausgefallen
Mittwoch, 18. September: ausgefallen
Donnerstag, 19. September: gefahren
Freitag, 20. September: gefahren

Montag, 23. September: ausgefallen
Dienstag, 24. September: ausgefallen
Mittwoch, 25. September: gefahren
Donnerstag, 26. September: ausgefallen
Freitag, 27. September: gefahren

Montag, 30. September: gefahren
Dienstag, 1. Oktober: gefahren
Mittwoch, 2. Oktober: gefahren

3. & 4. Okt. Feiertag/schulfrei

Montag, 7. Oktober: gefahren

Freitag, 12. Oktober, bis 21. Oktober (Herbstferien):
komplette Streckensperrung wegen Gleisarbeiten

Seitdem fuhr der 7:29er-Zug für einige Tage in aller Regel relativ regelmäßig ab – wenn auch häufig mit (schon bis DO-Körne angesammelten) Verspätungen von 1 bis 3 Minuten. Wir bleiben jedenfalls dran.

And here we go again:

Mittwoch, 13. November: ausgefallen
Donnerstag, 14. November: ausgefallen
Freitag, 22. November: ausgefallen

Montag, 25. November: ausgefallen
Mittwoch, 27. November: ausgefallen
Donnerstag, 28 November: ausgefallen

Dienstag, 3. Dezember: ausgefallen
Mittwoch, 4. Dezember: ausgefallen
Freitag, 6. Dezember: ausgefallen

Freitag, 13. Dezember: ausgefallen

Ende des alten Fahrplans.

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Einzelne Züge fallen trotz des ausgedünnten neuen Fahrplans immer noch aus, hier eine Zufallsauswahl am Haltepunkt Körne, Richtung DO-Innenstadt/Lütgendortmund:

Donnerstag, 19. Dezember: 16:36 ausgefallen, 18:21 ausgefallen

 




Zum Tod des Journalisten Martin Schrahn – Er wird der Musikwelt des Ruhrgebiets schmerzlich fehlen

Eine sehr traurige Nachricht hat uns erreicht: Der Kollege Martin Schrahn ist gestern gestorben. Mit nur 60 Jahren.

Martin Schrahn hat viel gearbeitet, aber er wusste das Leben auch zu genießen – hier 2016 bei einem Urlaub in Andalusien. (Foto: Privat)

Martin Schrahn hat viel gearbeitet, aber er wusste das Leben auch zu genießen – hier 2016 bei einem Urlaub in Andalusien. (Foto: Privat)

Martin Schrahn war vor allem ein herausragender Kenner der sogenannten E-Musik, er war aber auch mit anderen Kultursparten wie dem Schauspiel vertraut. Mit ihm fehlt dem Ruhrgebiet nun schmerzlich ein Kulturjournalist von Rang, der für etliche Medien und andere Publikationen vor allem Konzert- und Opern-Rezensionen geschrieben hat.

Auch zahlreiche Beiträge für die Revierpassagen zeugen von seiner profunden Sachkenntnis und seinem glänzenden Stil. Hinzu kam eine ebenfalls sehr schätzenswerte Zuverlässigkeit in allen Belangen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals etwas an seinen Texten hätte korrigieren müssen.

Gern möchte ich noch einmal ihm das Wort überlassen – mit seinem am 3. September 2019 erstmals erschienenen Beitrag über einen Auftritt des 92-jährigen Dirigenten Herbert Blomstedt in Essen, der so recht die Begeisterung durch Musik spüren lässt.

(Bernd Berke)

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Bruckner unter Spannung, Mahler

weltabgewandt: Herbert Blomstedt

und Christian Gerhaher setzen Maßstäbe

Von Martin Schrahn

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

„Ich bin der Welt abhanden gekommen“

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Gottesfurcht klingt mit, doch es ist kein Hochamt

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zumal das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.

 




Wow! Ihr werdet nicht glauben, wie das Dortmunder Naturkundemuseum jetzt heißt!

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt... (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt… (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

…und nun zu einer Nachricht, die eventuell ein paar Tage Aufschub verträgt. Obwohl: recht eilends anberaumte Pressekonferenz, freitags um 15 Uhr (gewiss nicht der Lieblingstermin einer Lokalredaktion); sodann die Nachricht mit zeitlichem Sperrvermerk. Da hat sich doch offenbar Wichtiges begeben?

Wie man’s nimmt. Bevor ich euch gar zu sehr auf die Folter spanne, nur frisch heraus mit der auch schon zwei Tage alten Wahrheit: Die Sache ist nämlich die, dass das Dortmunder Naturkundemuseum, seit rund fünf Jahren (und damit weit über die Ursprungspläne hinaus) wegen Umbaus geschlossen, einen neuen Namen erhalten hat. Jetzt seid Ihr baff. Doch wie groß wird erst euer Erstaunen sein, wenn ihr den neuen Namen erfahrt. Er lautet (Trrrrrrommmmelwirbel…):

Naturmuseum

Wow!

Es mag Internet-Seiten geben, die eine solche Nachricht mit elend langer Klickstrecke und Anmach-Sprüchen à la „Ihr werdet nicht glauben, wie das Naturkundemuseum jetzt heißt!“ verkaufen würden. Das hätten wir uns und euch gern komplett erspart. Indes…

Dr. Dr. Elke Möllmann, die Leiterin des Hauses, das schlussendlich im Sommer 2020 wieder öffnen soll, zeigte sich jedenfalls – laut Pressemeldung der Stadt Dortmund – „hochzufrieden“. Zitat: „Der Name betont den Erlebnischarakter…“

Na, wenn das so ist. Offenbar deutet der Wegfall des (zu sehr nach Anstrengung und schulischem Unterricht schmeckenden?) Bindeglied-Begriffs „Kunde“ (Naturkunde) auf eine gewisse Erleichterung des Zugangs hin. Ersten Eindrücken zufolge, die man vor einigen Monaten aufklauben konnte, wird das neue Konzepts des Museums diesen Anspruch wohl auch einlösen, ohne die wissenschaftliche Seriosität zu opfern.

Im August hatte das Museum einen Namenswettbewerb ausgeschrieben, an dem sich – seltsame, fast schon magische Zahl – 101 Bürgerinnen und Bürger beteiligt haben, zum Teil auch mit Gedichten oder Zeichnungen. Es folgten Debatten „der politischen Gremien“ sowie ein Losentscheid, durch den fünf Teilnehmer(innen) Exklusiv-Führungen bzw. Kindergeburtstage im Museum gewannen.

Im deutschsprachigen Raum, vor allem in der Schweiz, so hieß es ergänzend,  gebe es bereits einige naturkundliche Museen, die als „Naturmuseum“ firmieren. Somit wäre Dortmund nicht allein auf weiter Flur. Und mit der Schweiz haben wir es ja sowieso, auch auf anderem Gebiet. Ich sage nur Favre, Bürki und Hitz.




Judith Kuckart ist Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“

Judith Kuckart wird die erste „Stadtbeschreiberin“ in Dortmund. Damit hat sich die Jury für eine bereits etablierte Autorin entschieden. Frau Kuckart lebt heute in Berlin, sie wird ihr Dortmunder Stipendium von Mai bis Oktober 2020 wahrnehmen, das heißt: in der Stadt wohnen und arbeiten.

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Autorin (Jahrgang 1959) hat eine westfälische Vergangenheit. Sie wuchs vorwiegend in ihrer Geburtsstadt Schwelm auf, verbrachte aber auch einen Teil ihrer Kindheit in Dortmund-Hörde. Später studierte sie Literatur- und Theaterwissenschaften an der Universität Köln und der Freien Universität Berlin, an der Folkwang-Hochschule Essen absolvierte sie außerdem eine Tanzausbildung. Seit 1999 ist sie zudem als freie Regisseurin tätig.

Bereits seit 1990 veröffentlicht sie Romane, zuletzt erschien im Juli 2019 „Kein Sturm, nur Wetter“ bei DuMont. Die Autorin hat bereits etliche Literatur-Preise und Stipendien erhalten, so wurde ihr beispielsweise 2009 der Literaturpreis Ruhr zuerkannt.

Judith Kuckart beschäftigt sich besonders intensiv mit den Themenkreisen Heimat und Herkunft. In Dortmund möchte sie ihren nächsten Roman ansiedeln. Außerdem plant sie, hier ein Theaterstück mit Laien zu produzieren.

Die Zeit intensiv nutzen

In der Begründung der Jury heißt es: „Judith Kuckart ist eine hervorragende und etablierte Literatin mit einem starken Bezug zu Dortmund und zur Region. Sie überzeugte durch ihre innovativen Kooperationsideen und die tiefe Auseinandersetzung mit den Inhalten des Literaturstipendiums. Sie ist engagiert und erfahren, kann gut vermitteln und ist eine Meisterin der Inszenierung. Sie wird die Zeit in Dortmund intensiv nutzen.“

Ganz prosaisch sei angefügt: Für die Dauer des Stipendiums steht der Autorin eine möblierte Wohnung in Dortmund zur Verfügung, außerdem bekommt sie monatlich 1800 Euro. Die Auszeichnung ist mit einer temporären Residenzpflicht in Dortmund verbunden.

Das Stadtbeschreiber-Stipendium soll künftig jährlich vergeben werden. Inhaltlicher Schwerpunkt ist – laut Stadtpressestelle – „die Transformation Dortmunds von der Stadt der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, Technik und Dienstleistungen“. In der Zeit ihres Stipendiums, so heißt es in der Pressemitteilung weiter, „arbeitet die Stadtbeschreiberin eng mit dem Kulturbüro, dem Literaturhaus Dortmund und weiteren Institutionen der regionalen Literaturszene zusammen, bringt sich in die Stadtgesellschaft ein und gibt den Diskursen aktuelle Impulse“.

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Hier ein Link zur Homepage von Judith Kuckart: https://judithkuckart.de/

Eine sehr kritische Einschätzung zur Institution „Stadtbeschreiber*in“ (noch vor der Wahl der ersten Preisträgerin für die Revierpassagen verfasst und also natürlich nicht auf Frau Kuckart gemünzt) findet sich hier.




Wie die Technik den Sport angetrieben hat – eine aufschlussreiche Ausstellung in der Dortmunder DASA

Sport und Technik? Das sind doch wohl zweierlei Dinge. Von wegen! Beides hat innig miteinander zu tun. Spätestens beim Besuch der Dortmunder Ausstellung „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ wird es klar.

Schrittmacher aus den 30er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gafahren wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink - DASA)

Auffälliges Schaustück: Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gebrochen wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink – DASA)

Die aus dem Mannheimer „Technoseum“ kommende, in der Dortmunder DASA nur unwesentlich veränderte Schau blättert – mit rund 330 Exponaten in sechs Kapiteln – viele Aspekte des populären Doppelthemas auf.

Gleich hinterm Eingang sieht man ein wuchtiges Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten Fahrradfahrer immer neue Geschwindigkeits-Rekorde aufstellten. Nach und nach galt das Prinzip praktisch für alle Sportarten: Ständige Optimierung und Leistungssteigerung bis ins Extreme setzten sowohl beim menschlichen Körper als auch bei Ausrüstung und Material an. Gezeigt werden dazu u. a. ein alter Skispitzenbiegebock (welch ein Wort!) aus dem Schwarzwald, diverse Bodenbeläge (Tartanbahn, Kunstrasen), ständig verbesserte Lauf- und Fußballschuhe, Räder, Schlitten, Speere und Sprungstäbe oder auch eine enorm wirksame Beinprothese für Paralympics-Teilnehmer.

Zuspitzung im Zuge der Industrialisierung

Mehr als verdächtig: In England, wo einst die Industrialisierung begonnen hatte, fing auch die leistungsgierige Zuspitzung des Sports an. Leistung im Sport und in der modernen Arbeitswelt haben eben verwandte Wurzeln im Kapitalismus – ein Zusammenhang, dem die Ausstellung ebenso gründlich wie unterhaltsam nachspürt, und zwar auch im Breitensport.

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich... (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich… Hier eine Auswahl in der Vitrine. (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Es zeigt sich, wie einheitliche Regeln, Normen und Spielfeld-Markierungen sowie zusehends verfeinerte Zeit-, Weiten- und Höhenmessungen die universelle Vergleichbarkeit der Leistungen sicherstellen sollten. So zeugt beispielsweise eine um 1840 gefertigte Stoppuhr mit Tintenschreiber (beim Drücken sonderte die Sekunden-Nadel punktgenau kleine Kleckse ab) vom Bemühen um exakte Resultate. Im weiteren Rundgang sieht man die Stoppuhr des legendären Fußball-Bundestrainers Sepp Herberger, mit der er seine Mannen scheuchte. 1954 hat es bekanntlich geholfen.

Doping begann in Pferderennsport

Doch längst nicht immer wurden Höchstleistungen auf fairem Wege erzielt. Es geht deshalb auch um Doping-Auswüchse. Diese nahmen ihren Anfang übrigens beim Pferderennsport, wo schon früh ziemlich viel (Wett)-Geld auf dem Spiel stand. Eigene Pferde wurden zuweilen heimlich aufgeputscht, gegnerische Tiere pharmazeutisch gehemmt. Nicht viel später nahmen Radfahrer zum Teil dieselben Mittel ein, die zuvor den Tieren verabreicht worden waren. Ein weites Feld, auf dem ausgerechnet Radsportler schon sehr früh aktiv gewesen sind. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

Überaus respektabel nehmen sich sinnfällig dargestellte Höchstleistungen aus: Mike Powells wahnwitziger 8,95-Meter-Weitsprung von 1991 wird mit schlichten Bodenlinien (un)fassbar gemacht, die 258 Kilogramm, die ein Gewichtheber stemmte, lasten quasi tonnenschwer am Boden. Wohl niemand wird sie vom Fleck rühren können.

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm zum Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm nach dem Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Als das Korsett sich allmählich lockerte

Das zeitliche und gesellschaftliche Spektrum reicht vom Bierkrug im Geiste des Turnvaters Jahn („frisch fromm fröhlich frei“) bis zu allerneuesten urbanen Trendsportarten, deren durchweg anglophone Namen man teilweise noch nie gehört hat.

Lehrreich auch die Geschichte der Sportbekleidung: Da verblüfft das eng geschnürte, aber im Vergleich zu „mörderischen“ Vorläufern schon ein wenig gelockerte Sportkorsett für die halbwegs emanzipierte Dame. Da staunt man über eine riesenhafte Badehose aus der Arbeitersport-Bewegung – und erst recht über den hautengen Original-Schwimmanzug eines Michael Phelps, der damit Dutzende von Goldmedaillen und Weltrekorden errang. Die der Haifisch-Haut nachgebildete Oberflächenstruktur steigerte die Leistung dermaßen effektiv, dass solche Anzüge alsbald verboten wurden.

Größere Tischtennisbälle eigens fürs TV

Wie bei DASA-Ausstellung üblich, kann man auch diesmal einiges selbst ausprobieren. So dürfen Besucher diverse Fitness-Geräte testen, sich selbst per Kamera und Monitor auf einem Zielfoto mit verzerrten Körper-Proportionen begutachten oder in einer Reporterkabine ausgewählte Spielszenen „live“ kommentieren. Man erfährt in diesem Zusammenhang, wie just das Fernsehen so manche Sportart nachhaltig verändert hat. Tischtennisbälle wurden vergrößert, weil die TV-Leute es für besser hielten. Medial und journalistisch lagen die Ursprünge ebenfalls in England: Bereits ab 1792 erschien dort das gedruckte Periodikum „The Sporting Magazine“.

Bei einem Ballspiel hinterm Schutznetz lässt sich zudem mit einer Art Hockeyschläger feststellen, auf welche Geschwindigkeit man das Spielgerät beschleunigt. Hier schon mal zwei Maßzahlen, mit untrüglicher Radarmessung ermittelt: Ausstellungs-Kurator Dr. Alexander Sigelen kam auf knapp 70 Stundenkilometer, ein Mannheimer Eishockeystar brachte es auf 165 km/h. Training zahlt sich eben aus.

Ein hochmodernes Trimmrad von 1905

Nur eine von etlichen Kuriositäten sei noch erwähnt: Geradezu hochmodern mutet das historische Trimmrad „Velotrab“ von 1905 an. Beim Pedaltreten hob und senkte sich der Sattel, als ob man auf einem trabenden Pferd gesessen hätte – eine derart pfiffige Idee, dass man sich fragt, warum sie seither nie wieder kommerziell aufgegriffen wurde.

Am Ausgang gibt’s eine Umfrage. Besucher(innen) sollen ihre Motivation zum Sport verraten. Geht’s ihnen in erster Linie um die Gesundheit, ums Gemeinschafts-Erlebnis, um Leistungssteigerung oder um körperliche Schönheit? – Und wie tut man seine Sicht der Dinge kund? Ganz sach- und fachgerecht: indem man Bälle in transparente Röhren wirft. Welche wird sich wohl am schnellsten füllen?

„Fertig? Los! Die Geschichte von Sport & Technik“. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1. Noch bis zum 19. April 2020. Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Katalog 29,95 Euro.

www.dasa-dortmund.de

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt im „Westfalenspiegel“ erschienen. Internet-Auftritt des Kultur-Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de




„Mammuts mag jeder!“ – Hammer Ausstellung versetzt uns in die letzte Eiszeit und ihre Tierwelt

Ein „Bildungs-Erlebnis“ versprechen die Veranstalter der neuen Hammer Ausstellung „Eiszeit Safari“ (modisch ohne Bindestrich). Betonung auf Bildung; Betonung gleichermaßen auf Erlebnis.

So ähnlich könnte es ausgesehen haben – vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein weibliches Mammut, ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

So ähnlich könnten wesentliche Teile der Fauna ausgesehen haben – damals, vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Rechts im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein Nashorn-Skelett, sodann ein zotteliges weibliches Mammut und ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

Die Schau führt uns etwa 15.000 bis 30.000 Jahre zurück, als weite Teile des heutigen europäischen Kontinents unter einer Eisdecke lagen. Betritt man die Räume im Obergeschoss des Gustav-Lübcke-Museums, so steht man zwar nicht Aug‘ in Aug‘ mit tausend, aber doch mit etlichen Tieren. Ko-Kuratorin Dr. Sarah Nelly Friedland gibt dazu gleich ein griffiges Motto aus: „Mammuts mag jeder!“

Präparate nach dem Stand der Forschung

Und tatsächlich fühlt man sich hier ein wenig in eine Safari-Situation versetzt – nur eben nicht mit Löwen, Elefanten und Giraffen, sondern mit den beherrschenden Tieren (sozusagen den „Big Five“) jener Vorzeit, als da beispielsweise gewesen sind: Mammut, Wollnashorn, Höhlenbär, Riesenhirsch und Steppenbison.

All diese Exemplare, über 60 an der Zahl, sind – teilweise sehr lebendig wirkend – von erfahrenen Herstellern in den Niederlanden und Spanien rekonstruiert und präpariert worden; nicht einfach nach Gusto, sondern nach wissenschaftlichen Vorgaben, dem Stand der Forschung entsprechend. In schützende Container verpackt, wurden all diese Tiere der Wanderschau mit fünf Lastwagen nach Hamm verfrachtet. Ergänzend finden sich einige Beispiele zur damaligen Vegetation, ausgewählte Zeugnisse der frühen Kultur und Mitmach-Stationen, an denen man z. B. mit spitzen Steinsplittern ritzen und schnitzen oder mit den Händen Tierfelle ertasten kann. Zum virtuellen Zugang kommen wir später noch.

Mysteriöse Geräuschkulisse

Es ist eine (mit moderaten Gruselmomenten angereicherte) Wohlfühl-Ausstellung, gedacht für die ganze Familie, mit verschiedenen Ansatzpunkten und Begleitheften für Kinder und Erwachsene. Vor den oder jenen gefletschten Zähnen oder der schieren Größe mancher Tiere könnte man sich fürchten, aber auch die unentwegt eingespielte Geräuschkulisse mit geheimnisvollen „Huuhuuu“-Rufen klingt für Menschenwesen nach steter Gefahr. Das ganze Arrangement wirkt ein wenig „amerikanisiert“, es ist auch ein Show-Aspekt dabei. Aber sei’s drum. Man wird nicht getäuscht, sondern bei den Sinnen gepackt. Und zu trocken soll es ja auch nicht geraten.

Die damaligen Menschen, hier repräsentiert von zwei Figuren, die man Urs und Lena getauft hat, hatten es in ihrem Alltag nicht leicht. Ihr Leben muss einem ständigen Survival-Training unter erschwerten Bedingungen geglichen haben. Aber was heißt hier Training? Es war höchst lebensgefährlicher Ernst.

Ein paar ausgewählte archäologische Fundstücke (Schmuck, Kleidungsreste) deuten freilich auch schon auf die Frühzeit eines sozialen, gelegentlich gar geselligen Lebens hin. Überdies gibt es beispielsweise Anzeichen dafür, dass damals Alte und Kranke gepflegt worden sind. Auch Höhlenmalerei dürfte es gegeben haben, nur ist sie unter hiesigen Bedingungen nicht so erhalten geblieben wie in Frankreich oder Spanien.

„Sie waren wie wir“

Besonders dann, wenn die jagdbaren Tiere jahreszeitlich massenhaft Gelände und Gebiete wechselten, haben sich die Menschen an verheißungsvollen Treffpunkten verabredet – nicht nur zum Halali, sondern auch im Sinne des gegenseitigen Kennenlernens, der Fortpflanzung und eines erweiterten Genpools. Nach allem, was man weiß und vermutet, könnte dabei die Monogamie die vorherrschende Beziehungsform gewesen sein. Kuratorin Sarah Nelly Friedland ist ohnehin überzeugt, dass ein Mensch von damals, trüge er nur moderne Kleidung und spräche er nicht in seinem eiszeitlichen Idiom, uns kaum als „andersartig“ auffallen würde. Kurzum: „Sie waren wie wir.“

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Paar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Figurenpaar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Und die Verteilung der Geschlechterrollen? Sei vermutlich auch nicht so starr gewesen. Frau Friedland ist überzeugt, dass (je nach Erfordernissen des Augenblicks) die Frauen auch schon mal gejagt und die Männer gesammelt haben.

Wobei auch das Wort Jagd eine Differenzierung verträgt. Tiere wurden nämlich längst nicht nur durch steinerne Geschosse zur Strecke gebracht, sondern vielfach auch durch Fallenstellerei. Statt der Bezeichnung Jäger bietet sich dafür der Begriff Wildbeuter an.

Natürlich geht es auch ums Klima

Und wie kalt ist es in der besagten Eiszeit gewesen? Nun, im Winter schon ziemlich arg. Doch in den Sommern konnte es sich wohl auch schon mal auf 20 Grad erwärmen. Das Gebiet des heutigen Westfalen darf man sich denn auch nicht als dauerhaft vereist vorstellen, sondern als karg bewachsene Steppe. In den fast waldlosen Weiten war übrigens der Besitz von kostbarem Holz (etwa für Speere) ein Glücksfall. Viel später, als sich weite Lande wieder bewaldeten, bedeutete genau dies das Ende einiger Tierarten. Sie konnten sich nicht mehr so frei bewegen, wie es hätte sein müssen. Verkürzt gesagt: Sie kamen nicht mehr richtig durch…

Überhaupt kommt man beim Thema Eiszeit natürlich nicht um die Klimadebatte herum, hie und da hebt die Ausstellung explizit darauf ab, u. a. mit einer wohlfeilen Fotomontage, die den Kölner Dom halb überflutet an einem südlichen Sonnenstrand zeigt, und mit einem Globus, der den Erdzustand bei heftig gestiegenem Meeresspiegel vor Augen führt. Auch das sind Gruselmomente.

Der Unterschied zwischen Eiszeit und Eiszeitalter

Damit es kein Vertun gibt: Auch wir leben – allen Debatten um Klimawandel und Erderwärmung zum Trotz – zwar in einer Warmzeit, dies aber im größeren Zusammenhang eines Eiszeitalters, das fachbegrifflich von einer Eiszeit zu unterscheiden ist. Für ein Eiszeitalter genügt es auf weite Sicht vieler Millionen Jahre, wenn zumindest eine Polkappe vereist ist. Das ist einstweilen noch der doppelte Fall. Aber wer weiß, wie lange noch. Zur Einschätzung der Dimensionen noch diese Zahlen: „Unser“ Eiszeitalter hat vor rund 33 Millionen Jahren begonnen, die letzte wirkliche Kaltzeit endete vor rund 11.600 Jahren. Eigentlich kein Stoff für die täglichen Nachrichten. Und doch…

Nach bisher eingependelten Rhythmen der Erdgeschichte stünde in 2000 bis 3000 oder auch erst in 15.000 Jahren der Beginn einer neuerlichen Eiszeit an. Über die Vorausdatierung streiten sich noch die Experten. Außerdem kann man sich gar nicht mehr so sicher sein, dass die Vorhersagen überhaupt eintreffen. Wenn die Menschheit so weitermacht wie jetzt, kommen vielleicht gar keine kältere Zeiten mehr. Apropos: Vor rund 160.000 Jahren haben in einer Warmzeit Nilpferde an den Flüssen gelebt, die wir heute Rhein und Neckar nennen.

Filmische Ergänzungen durch eine App

Die Wanderausstellung ist in Kooperation mit den federführenden Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim (gleichsam rockiges Kürzel: REM) entstanden. Ein Clou der Schau: Man hat eigens eine App entwickelt, mit der man (über Smartphone oder Tablet) die Hauptpunkte der Schau ansteuern und nach dem Scannen der Stations-Symbole mit einschlägigen Filmen und Tönen anreichern kann. Da wird beispielsweise vorgeführt, wie die Menschen damals wohl ihr Fleisch gekocht oder gebraten haben. Das Ganze funktioniert auch mit den Ausstellungsführern in Papierform, sie können ebenfalls via Kapitelnummer mit dem Smartphone angereichert werden. Damit in Hamm nicht alle Besucher mit tönenden Apparaten herumgehen, werden Kopfhörer ausgeteilt – und Leihgeräte, falls man selbst nicht ausgerüstet sein sollte.

Eine weitere Besonderheit stößt (!) wahrscheinlich erst Mitte Januar 2020 zur Ausstellung im Lübcke-Museum (neuer Direktor seit dem Sommer: der aus Neuss nach Westfalen gewechselte Dr. Ulf Sölter), und zwar ein veritabler Mammut-Stoßzahn, vor mehreren Jahren just auf Hammer Stadtgebiet gefunden und mittlerweile von Fachleuten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) museumstauglich aufbereitet. Wie hieß doch gleich die Losung? „Mammuts mag jeder!“

„Eiszeit Safari“. Eine Erlebnis-Ausstellung. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381 / 17-5714. Vom 1. Dezember 2019 bis zum 5. Juli 2020. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Heiligabend, Weihnachtsfeiertag, Silvester und Neujahr geschlossen. Eintritt 9 €, ermäßigt 7 €, Familienkarte 22 € (bis zu 2 Erwachsene und 3 Kinder). Umfangreiches Begleitprogramm, u.a. auch kindgerechte Aktionen („Fit für die Eiszeit“) im örtlichen Maximilianpark.

www.museum-hamm.de

 

 

 




„Pest!“ – Herner Museum für Archäologie beleuchtet die Geschichte der furchtbaren Seuche

Seltsames Phänomen: Ein solcher „Rattenkönig" (mit den Schwänzen verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/P. Jülich)

Rätselhaftes Phänomen als Ausstellungsstück, für zart besaitete Gemüter nur bedingt geeignet: Ein solcher „Rattenkönig“ (an den Schwänzen miteinander verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Die Pest ist weit mehr als „nur“ eine Krankheit. Diese Seuche, die im Laufe der Epochen Hunderttausende dahingerafft hat, ist überhaupt zu einem Mythos des Weltübels geworden, der auch etliche Redewendungen geprägt hat. Etwas hassen wie die Pest. Nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Und so weiter. Das LWL-Museum für Archäologie in Herne hat sich also an ein wahrhaft globales Schreckensthema gewagt. Die Ausstellung heißt einfach „Pest!“ Mit Ausrufezeichen.

Globales Thema? Aber ja. Während man früher in eurozentrischer Beschränkung gedacht hat, die fürchterlichen Pandemien im 6. Jahrhundert n. Chr., sodann – noch berüchtigter – im 14. Jahrhundert und schließlich im 19. Jahrhundert seien die Seuchen-Katastrophen schlechthin gewesen, muss man diese Sicht wohl revidieren. Die Pest dürfte seit jeher auf Erden viel weiter verbreitet gewesen sein. Mehr noch: Neuere Untersuchungen haben den Pesterreger schon in steinzeitlichen Funden nachgewiesen.

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. Unter dem Mikroskop sieht ein Floh, der die Pest von Ratten Menschen übertragen kann, so aus. (Foto: LWL/S. Leenen)

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. So sieht unter dem Mikroskop ein Rattenfloh aus, der durch seine Stiche die Pest auf Menschen übertragen kann. (Foto: LWL/Stefan Leenen)

Um solch spannende Erkenntnisse herum hat der Kurator Dr. Stefan Leenen die lehrreiche Ausstellung mit rund 300 archäologischen und kulturgeschichtlichen Belegstücken entwickelt; manche Exponate erzählen kleinere Geschichten, andere rufen wahre Epen wach.

Schnabelmasken nur die Ausnahme

In Herne räumt man mit einigen Legenden auf. So sind die immer wieder ikonisch abgebildeten Pest-Doktoren mit den langen Schnäbeln in Wirklichkeit die Ausnahme gewesen. Dennoch hat man ihnen eine imposante Masken-Installation gewidmet.

Der Rundgang beginnt mit dem kleinsten „Exponat“, dem nur unterm Mikroskop sichtbaren Erreger-Bakterium „Yersinia Pestis“. Das Exemplar ist natürlich tot, es kann keinen Schaden mehr anrichten. Es stammt übrigens aus Beständen der Münchner Bundeswehr-Hochschule. Ausschließlich dort darf in Deutschland an Pest-Bakterien geforscht werden.

Die in diesem Grab beigesetzten Toten starben nachweislich an der Pest (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr. (Foto: LWL/P. Jülich)

In Herne gezeigt: Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr.), dahinter ein Teil der großen Leuchtwand mit Totentanz-Motiven. (Foto: LWL/Peter Jülich)

In Europa wurde das Bakterium hauptsächlich durch Ratten verbreitet, die die Krankheit via Flohbefall übertragen haben. In anderen Weltgegenden waren es andere Nager wie etwa Murmeltiere. Solche (mikro)biologischen Zusammenhänge werden zu Anfang erläutert.

Skelette und Totentanz

Im Zentrum des Ganzen erhebt sich als Leuchtwand ein zehn mal vier Meter großes Schaubild, ein Totentanz nach traditionellem Vorbild, jedoch in moderner Gestaltung. Davor sieht man die ungemein gut erhaltenen Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. Man kommt nicht umhin, so etwas zu zeigen. Insgesamt geht man das Thema allerdings möglichst nüchtern an – ohne unnötige Gruseleffekte. Bloß keine Horror-Show!

Dennoch gibt es Gründe zum Erschrecken. Beispielsweise über hysterische Schuldzuweisungen, über mit Folter erzwungene Geständnisse. Die so rätselhafte Pest wurde oftmals Fremden und nicht selten jüdischen Bürgern angelastet. Davon zeugt etwa ein 1348 aufgesetztes Dokument aus Frankfurt, in dem bereits die posthume Verteilung jüdischer Habe „geregelt“ wurde.

Furchtbar auch die Anfänge dessen, was man fast schon als biologische Kriegführung bezeichnen könnte: Im 17. Jahrhundert wollte der venezianische Geheimdienst mit Pestsekret bestrichenen Filzstoff an Türken verkaufen. Der hinterhältige Plan wurde aber durchkreuzt.

Religiöse Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt (Foto: LWL/P. Jülich)

Eine von zahlreichen religiösen Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Breiten Raum nehmen religiöse Folgen der Pest ein, die vielfach als Strafe Gottes galt. Einige Objekte beziehen sich auf spezielle Schutzheilige wie Sebastian und Rochus oder auf die Entstehung von Bitt-Prozessionen, deren Nachfolger sich teilweise bis heute gehalten haben, so u. a. in Münster und Castrop-Rauxel. Apropos Westfalen: Im Gefolge der Pest lagen hier – wie auch andernorts – Wirtschaft und der Handel darnieder, ganze Landstriche entvölkerten sich.

Heilpflanzen mit Gold gemixt

Weiterer Schwerpunkt sind Versuche, die Menschen mit den damaligen Mitteln der Medizin zu kurieren. Wie u. a. Rezeptbüchern zu entnehmen ist, experimentierte man mit allerlei Heilpflanzen. Arme Leute fanden sie kostenlos am Wegesrand, für Wohlhabende wurden Mittel mit teuren Gewürzen und Gold gemixt. Geholfen hat beides nicht. Auch Tabaksrauch, Aderlass und Einläufe blieben wirkungslos.

Glaube, Aberglaube und Wissenschaft waren noch nicht streng voneinander geschieden. Doch ein bizarres Exponat wie jener Schwarze Hahn, der als Sinnbild des Urbösen heilsam auf Pestbeulen gesetzt werden sollte wie auf ein Ei, dürfte schon damals eher ungläubige Verwunderung ausgelöst haben.

Schwerstes Schaustück ist übrigens ein kapitaler Anker. Er gehörte zum französischen Schiff „Grand Saint Antoine“, mit dem 1720 die Pest nach Marseille kam.

Die Pest, so ein Fazit der Schau, ist ein steter Begleiter der Menschheit. Auch heute noch bricht sie manchmal epidemisch aus, zuletzt 2017 auf Madagaskar. Nur gut, dass man der Seuche seit Entdeckung des Pesterregers anno 1894 (vor 125 Jahren) nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist.

„Pest!“ LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Noch bis zum 10. Mai 2020. Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr.

https://pest-ausstellung.lwl.org/de/

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt erschienen, und zwar im „Westfalenspiegel“. Internet-Auftritt des Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de/




Vorgestern passiert, erst heute im Blatt – keine Hexerei, sondern Schlamperei

„Traktor-Kolonnen schieben sich langsam durch Dortmund“. So verkündet es die Aufmacher-Schlagzeile im heutigen Dortmunder Lokalteil, dessen „Content“ von den Ruhrnachrichten (RN) auch für die hiesige WAZ und die so genannte „Westfälische Rundschau“ (WR) geliefert wird.

Tolle Schlagzeile – nur leider einen Tag zu spät in der Zeitung. (Von den Ruhrnachrichten gelieferter Bericht in der WAZ vom 27. November 2019)

Ganz tolle Schlagzeile – nur leider einen Tag zu spät in der Zeitung. (Von den Ruhrnachrichten gelieferter Bericht in der WAZ vom 27. November 2019)

Die letztgenannte Zeitung ist, man weiß es in der Region, nur noch ein Phantom; ganz ohne eigene Redaktion. Seitdem das so ist, glauben offenbar manche beim verbliebenen Platzhirsch, also den Ruhrnachrichten, sie könnten sich schier alles erlauben. Ein mögliches Motto: Kommste heut‘ nich‘, kommste morgen. Ein weiterer möglicher Leitsatz: Print ist uns eh egal, Hauptsache, es steht in unserem Internet-Auftritt…

Wir halten fürs Protokoll fest, dass die oben zitierte Schlagzeile am heutigen Mittwoch, 27. November 2019, im Druck erschienen ist. Zumindest in der WAZ. Ob die RN es im eigenen Produkt auch so gehalten haben, wage ich zu bezweifeln (mag es aber nicht überprüfen, weil ich mir dazu nachträglich die RN besorgen, vulgo kaufen müsste). Das Ereignis, das da geschildert wird, trug sich jedenfalls bereits am Montag zu, mithin am 25. November 2019, und zwar morgens bzw. tagsüber. Haben die RN-Leute die Berichterstattung etwa zu spät geliefert – oder haben sie bei der WAZ gepennt? Fast schon egal. Das Ergebnis ist auf jeden Fall desolat.

Man muss wahrlich keine Journalistenschule besuchen oder bei einer Zeitung volontieren, um zu wissen: Vorgänge von gewisser Tragweite haben am nächsten Tag im Blatt zu stehen! Und nicht erst am übernächsten. Punkt.

Soll die nächste Titelzeile etwa lauten: „Blattmacher schieben sich langsam durch Dortmund“? Und wie durch schiere Hexerei liegt schon zwei Tage später ein Artikel gedruckt vor… Sarkasmus beiseite. Es ist natürlich kein Hexenwerk, sondern Schlamperei.

In derselben Ausgabe steht auch schon der Fortgang der Geschichte

Besonders peinlich wird die kaum glaubliche Verzögerung, weil in der heutigen Ausgabe des WAZ-Mantelteils auch schon der Fortgang des Bauernprotestes mit den vielen Traktoren erzählt wird. Da sind sie schon längst am Ziel ihrer Sternfahrt, nämlich in Berlin eingetroffen, um massiv gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Unterdessen befinden sie sich im Lokalteil desselben Tages noch in Dortmund und wollen sich erst noch nach Berlin auf den Weg machen. Wie soll man das nennen? Sagen wir’s mal ganz vornehm: Ungleichzeitigkeit.

Alles nur unwichtige Details? Von wegen! Sage niemand, der Traktoren-Auftrieb sei spurlos an Dortmund vorübergegangen! Über weitere Strecken ist der Stadtverkehr zeitweise zum Erliegen gekommen – wie in anderen Städten auch. Also haben viele Tausend Menschen davon gewusst oder haben es gar persönlich erfahren.

Eigentlich müsste sich das Blatt morgen bei den Leserinnen und Lesern für die Fehlleistung entschuldigen. Aber sie haben ja keine papierene Konkurrenz von Belang. Somit müssen sie bis auf Weiteres nichts befürchten. Oder wird es eines Tages frei nach „Gorbi“ heißen: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Leser?




Wie weit ist der Weg von Tegtmeier zu Gottschalk?

Also äährlich, Mensch! Dat kann doch nich wahr sein. „Tegtmeiers Erben“ nennt sich jene Preisvergabe, die seit 1997 fähige Leute aus Kabarett und Comedy ehrt – vorwiegend mit Ruhrgebiets-Schwerpunkt. Im Grunde eine Veranstaltung mit Hang zur regionalen Selbstbeweihräucherung. Doch welcher humorige Ruhri hat jetzt einen Tegtmeier-Ehrenpreis erhalten? Wenn ihr’s nicht wisst, kommt ihr nicht drauf.

Ein zechenschwärzeres Foto ließ sich beim besten Willen nicht auftreiben. (Aufnahme: BB)

Ein zechenschwärzeres Foto ließ sich beim besten Willen nicht auftreiben. (Aufnahme: BB)

Heraus mit der erstaunlichen Wahrheit: Es war Thomas Gottschalk, den man vielleicht mit Bayern oder Kalifornien (notfalls auch mit Mainz, wg. ZDF) assoziiert, aber doch nicht mit dem Revier! Laut WAZ soll er in seiner Dankesrede ein paar Ruhri-Töne angeschlagen haben. Donnerwetter! Und er habe schon als Kind diesen Tegtmeier alias Jürgen von Manger (1923-1994) imitiert. Aber hat Gottschalk etwas mit Kabarett oder Comedy zu schaffen? Nein. Er hat seine Verdienste auf anderen Gebieten. Und was verbindet ihn nun wirklich mit dem Ruhrgebiet? Eigentlich nichts.

Warum also musste ausgerechnet Gottschalk ausgerechnet diesen Preis bekommen? Weiß der Geier (höhö, ein zweiter Ehrenpreis ging just an den echt ruhrischen Alternativkarneval „Geierabend“). Die WAZ, die sich von Haus aus häufig zur überschäumenden Revierfreude verpflichtet fühlt, jubiliert jedenfalls in einer ausgefeilten Kulturseiten-Überschrift „Gottschalk wird zum Pottschalk“. Pott gleich Ruhrpott, dazu noch Schalk (im Nacken), ihr versteht?! Ach Gottchen. Nur gut, dass Gottschalk sich das Gesicht nicht zechenschwarz färben musste.

So hatte der Abend denn sein prominentes „Zugpferd“, was ein Hauptsinn der Wahl gewesen sein mag. Man braucht halt so einen, wenn man den Aufmacher-Platz im Fernsehen oder auf der Zeitungsseite oder erobern will – und sei’s „nur“ im Feuilleton. Mit den Namen der von Publikum und Jury gekürten Einzelpreisträger William Wahl (Bochum) und Moritz Neumeier (Schleswig-Holstein) wäre das wohl schwerlich gelungen.

Unterdessen ist es auch nicht mehr ganz leicht, geeignete Leute für den Literaturpreis Ruhr zu finden. Fast alle Autoren, die in Frage kommen, haben ihn ja bereits. Wer kriegt den nächsten? Gottschalk geht nicht schon wieder, er hat ja schon den Tegtmeier eingeheimst. Aber ein Promi muss her. Einer, der schon ein paar Zeilen geschrieben hat. Vielleicht Herbert Grönemeyer?




Beim Archivieren älterer Zeitungsbeiträge für die Revierpassagen – eine Selbstbegegnung und Selbstbefragung

Die WR-Kultur- und Wochenend-Rdekation, ca. Anfang der 1990er Jahre, der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend, dahinter (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, Johann Wohlgemuth, Hildegard Dörre. (Foto: Bodo Goeke)

Die WR-Kultur-/Fernseh- und Wochenend-Redaktion, ca. Anfang der 1990er Jahre, noch mit „altertümlich“ klobigem Computer-Gerät nebst mechanischer Schreibmaschine. Der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend; stehend (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Christel Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, der damalige Ressortleiter Johann Wohlgemuth und Hildegard Dörre, Leiterin der Wochenendbeilage. (Foto: Bodo Goeke)

Wisst Ihr, womit ich mich seit einiger Zeit plage (und auch amüsiere)? Nun, ich bin dabei, ein kleines Archiv für die Revierpassagen aufzubauen, das ältere Artikel aus meiner „Feder“ umfasst. Weitergehendes steht mir ja nicht zu. Zur Zeit reicht dieser ausgesprochen lückenhafte Rückblick von Anfang 1993 bis 2006, rückwärtige Verlängerungen bis in die 80er Jahre hinein sind vorgesehen (Update: und inzwischen begonnen).

Ab 2007 setzen dann allmählich die Texte für „Westropolis“ und ab April 2011 für die eigentlichen Revierpassagen ein, womit dann endlich auch andere Autorinnen und Autoren ins mehr- bis vielstimmige Spiel kommen. Gut so. Übrigens ist dies just der 4000. Beitrag, der bei den Revierpassagen zu finden ist. Nicht übel, oder?

Immerhin auffindbar

Was das Archiv anbelangt: Der eine oder andere Rückblick in die jüngere kulturelle Revier-Geschichte mag dabei abfallen. Und was soll ich Euch sagen: Es ist schon ein eigenes Ding, dermaßen in die eigene (berufliche) Vergangenheit zu blicken. Dazu gleich noch mehr.

Offenbar nehme ich mich ja selbst wichtig genug, um die eigenen Hervorbringungen der digitalen Mit- und womöglich Nachwelt zu hinterlassen. Muss mir das jetzt unangenehm sein? Wenn man sich zu sehr oder auch gar nicht wichtig nähme, wäre es womöglich gleichermaßen ein Alarmsignal.

Irgendwann im WR-Konferenzraum: das damalige Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Irgendwann während der 1980er Jahre im WR-Konferenzraum, als dort noch geraucht werden durfte: das damals noch bestehende, eigene Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Vieles ist jetzt schon von gestern oder vorgestern, punktuell meinetwegen auch „historisch“ im Sinne einer deutlich wahrnehmbaren und vom Jetzt abgesetzten Vergangenheit. Sicherlich gibt es prägnantere Zeugnisse jener Zeiten, doch was die Region angeht, dürfte hier die eine oder andere Kleinigkeit zu holen sein.  Vielleicht sucht ja mal jemand nach Dortmunder Theateraufführungen bzw. Kunstausstellungen der 80er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besser, als wenn es überhaupt nicht auffindbar wäre, nöch?

Frühes Internet, Euro-Einführung, Rechtschreibreform

Zu ahnen sind – etwa gegen Mitte bis Ende der 90er Jahre – die Anfänge des Internets, zunächst noch tastend und zaghaft, später dann immer selbstverständlicher, schließlich auch schon vereinzelt im Überdruss. Sodann die wandelbaren deutsch-deutschen Fährnisse, der Sprung von den DM- in die Euro-Zeiten. Das Hin und Her um die Rechtschreibreform und um die Kulturhauptstadt Ruhr. Du meine Güte, 2010 ist bald auch schon wieder eine Dekade her.

Was subkutan noch alles zu gewärtigen wäre, möchte ich selbst nicht näher untersuchen, es liefe über die Maßen auf Selbstbespiegelung hinaus. Redaktionell ließe sich sagen, dass zeitweise einzelne Rezensionen unwichtiger genommen wurden. Stattdessen sollten – nach dem Willen gewisser Chefredakteure – Alltags-Phänomene aus feuilletonistischer Sicht betrachtet werden. Merksatz, den man nun wirklich nicht mehr hören mag: „Die Leute da abholen, wo sie sind…“ Das war vielleicht gar ein Vorläufer von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Vom Populären zum Populistischen sind es manchmal nur ein paar Schritte.

Wirkliche Debatten haben unterdessen die überregionalen Zeitungen angezettelt. Gelegentlich bis zum Exzess. Man sprach ja auch hochwichtig von „Debatten-Feuilleton“. Ganz ehrlich: Dazu hatten wir im östlichen Revier nicht die freien Köpfe und nicht die ausreichenden Mittel. Von der Personalstärke ganz zu schweigen.

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, vermutlich anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer zu Frank Bühnte. (Foto: Bodo Goeke)

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer (ganz rechts vorn) zu Frank Bünte (vorn Mitte, direkt links neben der hochgehaltenen Zeitung). (Foto: Bodo Goeke)

Seitenproduktion unter erschwerten Bedingungen

Über viele Jahre hinweg konnte das sehr überschaubare Team sich ja nicht einmal auf die Kulturseite konzentrieren, sondern musste gleichzeitig die Fernseh-/Medienseite sowie zeitweise auch noch die Wochenendbeilage erstellen und dabei etlichen „populären“ Phänomenen hinterher laufen, die einen von Kultur eher ablenkten.

Trotzdem glaube ich, dass wir – angesichts der Verhältnisse – oft ein passables bis achtbares Blatt gemacht haben. Jawoll! Vor allem, wenn man es mit manchen heutigen Entwicklungen im regionalen Kulturjournalismus vergleicht. Hie und da ist Kultur als eigenständiges Ressort ja schon gar nicht mehr richtig vorhanden… Auch hätten wir damals Firlefanz wie gereckte Daumen oder Sternchen-Wertungen nicht mitgemacht.

Technisch geht das rückwärtige Vordringen ins Gestrige so vor sich: Eitel genug, habe ich meine Print-Artikel aus der Westfälischen Rundschau (deren Kulturredaktion ich von 1982 bis 2009 angehört habe – ab 1998 als deren Leiter) über die Jahre hinweg getreulich aufgehoben. Neuerdings gibt es taugliche Apps, mit denen man per Smartphone solche Texte hurtig scannen und in digitale Dateien umwandeln kann. Es ist immer noch ein mühseliges Geschäft, weil die OCR-Programme beileibe noch nicht alle Buchstabenfolgen korrekt erkennen, doch immerhin: Man kommt recht zügig voran.

Woher stammen Schlingensief und Kerkeling?

Damit ich’s nur gestehe: Beim Verarbeiten der alten Texte sind mir vereinzelt auch peinliche Fehler aufgefallen, die „damals“ im hektischen Aktualitäts-Getümmel untergegangen sind. Gewiss: Man hat nach Möglichkeit die Texte der Kolleg(inn)en gegengelesen und selbst gegenlesen lassen. Doch nicht immer waren derlei Bemühungen von Erfolg gekrönt. Andere Ressorts waren da ganz bestimmt nicht besser, ich glaube sogar: Wir haben genauer hingeschaut. Dies und das hat sich freilich „versendet“, wie man in anderen Medien traditionell zu scherzen beliebt. Blöd nur, dass das Gedruckte so hartnäckig stehenbleibt.

Was man nicht alles geknipst hat: Hinweisschild im WR-Aufzug... (Foto: Bernd Berke)

Was man nicht alles geknipst hat: Etagen-Wegweiser im Dortmunder WR-Aufzug… (Foto: Bernd Berke)

Beim Archivieren habe ich die erkannten Fehler selbstverständlich korrigiert. Als da beispielsweise wären: die bodenlose Behauptung, Christoph Schlingensief sei in derselben Ruhrgebietsstadt geboren wie Hape Kerkeling. Humbug! „Schlinge“ stammte aus Oberhausen, Hape aus Recklinghausen. Richtig unangenehm auch ein Buchstabendreher dieser Sorte: „Konservationsstück“ statt „Konversationsstück“. Puh!

Ein andermal habe ich tatsächlich bei einer Uraufführung den Vornamen der (damals wie heute herzlich unbekannten) Stückeschreiberin verhunzt und Eva statt Vera hingesetzt. Nur schwer verzeihlich. Normalerweise gucke ich in derlei Fällen eher dreimal hin. Denn Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Nichtsdestotrotz ist es mir gleich zweifach passiert, dass ich den Namen von Armin Rohde „geringfügig“ falsch geschrieben habe. Und einmal ist mir der allerpeinlichste Fehler unterlaufen, als ich „Leientheater“ statt „Laientheater“ hingetippt habe. Das tut immer noch richtig weh. Drum schnell noch eine falsche Zahl hinterher: 1972 hätten die „Jungen Wilden“ bei der documenta Furore gemacht? Denkste. Es war natürlich 1982.

Ein ziemlich interessanter Beruf

Schon seltsam, sich selbst Jahrzehnte danach bei solchen Fehlern zu ertappen. Meistens aber waren die Sachen doch ziemlich korrekt, es geht ja insgesamt um mehrere Tausend Artikel. Und auch im Nachhinein bin ich noch mit manchen Beiträgen recht zufrieden oder einverstanden, obwohl ich im Rückblick die eigenen Marotten erkenne – und obwohl das Medium Regionalzeitung in der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) dem Schreiben hie und da recht enge Grenzen gesetzt hat.

Schon allein die Beschränkung auf maximal rund 140 bis 150 Zeilen à 27 Anschläge, ganz ohne Ansehen des Themas… Aber das war noch relativer Luxus, verglichen mit heute, wo es auch mit dem Betriebsklima bei etlichen regionalen Medien hapert. Ich könnte Rösser, Reiter und Gerittene nennen, lasse es aber füglich bleiben.

Viele Jahre lang die zweite, wenn nicht gar die erste „Heimat": Blick in den Raum der WR-Kulturredaktion, anno 2008. (Foto: Bernd Berke)

Viele Jahre lang zweite, wenn nicht gar erste „Heimat“: Blick in die leere WR-Kulturredaktion am Brüderweg 9, anno 2008, nunmehr mit Flachbildschirmen. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: Ja doch, man hat über die Jahrzehnte einen ziemlich interessanten Beruf ausgeübt. Manchmal hat es sich schön geballt. Etwa so: Am einen Tag ein Konzert von Neil Young erlebt, kurz darauf den großen Frank Sinatra (1993). Oder eine Ausstellung mit Christo. Bei ein- und derselben Buchmesse (1995) mit Rühmkorf und Gernhardt sprechen zu dürfen. Oder so ähnlich. Berühmte Kulturschaffende wie Günter Grass, Gerhard Richter oder David Hockney persönlich erlebt zu haben. Mit schreibenden Menschen wie Martin Walser, Dieter Wellershoff, Harry Rowohlt oder Wilhelm Genazino und etlichen anderen gesprochen zu haben. Wenn auch oft nur unter Zeitdruck in engen Verlagskojen der Frankfurter Buchmesse. Nur zu schade, dass man die entsprechenden Tonkassetten nicht aufgehoben hat, darauf war viel mehr Material, als dann gedruckt erscheinen konnte. Dahin, dahin.

Andere Namen, andere Zeiten

Apropos: Im Rückblick habe ich auch bemerkt, dass ich das Hauptaugenmerk auf eine damals zeitgemäße Autorengeneration gerichtet habe, die inzwischen längst abgetreten ist. Zwar nicht mehr Böll. Und nur noch halbwegs Grass. Aber noch Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Rühmkorf und Handke, sodann (bereits während des Studiums) Brinkmann und Nicolas Born, hernach beispielsweise Alexander Kluge, Botho Strauß, Paul Nizon oder eben Wilhelm Genazino. Jenseits der Landesgrenzen Cees Nooteboom, Milan Kundera, Lars Gustafsson. Um nur einige wenige zu nennen.

Noch deutlicher im Bereich Rock und Pop: Musikalisch in den 60ern und 70ern sozialisiert, war man in den frühen 80ern – wenn auch schon etwas widerwillig – noch halbwegs auf der Höhe. Dann wurde immer klarer: Man hat auch hierin „seine Zeit gehabt“. Der Rückgriff auf die eigenen „Idole“ hat nicht einmal mehr nostalgischen, sondern nur noch historischen Sinn. Wie bitte? Jaja, natürlich war die Musik nie wieder so gut wie damals.

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach „Feierabend". (Foto: Bernd Berke)

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach Spätschicht-„Feierabend“ abgelichtet. (Foto: Bernd Berke)

Bleisatz, grünes Flimmern usw.

Auch technisch ist so einiges an einem vorübergezogen. Los ging’s wahrlich noch mit Bleisatz, später flimmerten die frühen Computer-Terminals (alias „Tömmels“, wie wir sie nannten) grünlich vor sich hin, das waltete die Firma Atex. Jede Befehlskette war elend umständlich. Es ratterten noch die Fernschreiber („Ticker“) und der nach heutigen Begriffen ungemein langsame Bildfunk der Nachrichten-Agenturen. Wie schneckenhaft die Fotos aus dem Gerät gekrochen sind…

Irgendwann kam dann (Tele)-Fax auf, was einem anfangs geradezu hexerisch modern erschienen ist und neuerdings wieder eine kleine Renaissance erlebt. Dann der „Lichtsatz“, gleichfalls als letzter Schrei wahrgenommen und ebenfalls schon bald veraltet. Schließlich der Ganzseiten-Umbruch, die vielteilige Bildschirm-Wand im Konferenzraum, das Internet, das sich in allen Vorgängen rasant ausbreitete. Nun konnte jede(r) jedem in die Karten gucken. Zuweilen gar in Echtzeit.

Und heute? Online-Abos, Streaming, YouTube-Kanäle von allerhand „Influencern“ und „Aktivisten“, so genannte soziale Netzwerke etc. Eines nicht so fernen Tages wird einem die gedruckte Gazette wie ein liebenswertes Relikt vorkommen. Oder wie ein Kleinod.

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Gar nicht zu vergessen: Nach und nach sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen „von früher“ verstorben, mittlerweile auch aus Jahrgängen, die einem nicht fern liegen.




„Unboxing“-Videos: Wenn der Nerd die neuen Geräte auspackt

Screenshot aus einem Erklär-Video vom „Technikfaultier". Vorgeführt wird ein iPad von Apple.

Bildnis mit Gerät und Nutzer: Screenshot aus einem Erklär-Video vom sich selbst so nennenden „Technikfaultier“. Vorgeführt und gleichsam rezensiert wird hier das iPad 10.2 (2019) von Apple.

Ich muss ein Geständnis ablegen: Ich bin ein Fan von gut gemachten „Unboxing“-Videos.

Der Laie fragt entgeistert: Nanu? Nein, es hat nichts mit Boxen oder anderlei Körperverletzung zu schaffen, sondern ist ein eigenes, sehr weit verbreitetes Genre, zumal bei YouTube. Da treten zahllose Freaks und Nerds mit mehr oder minder ausgeprägten Spezialbegabungen an, um neue Geräte zu erklären. Stiftung Warentest 4.0, wenn man so will. Aber nicht ganz so stockseriös. Denn das käme beim wohl vorwiegend jüngeren Publikum auch nicht so gut an. Es wäre nicht „cool“ genug.

Und was hat es mit dem Wort „Unboxing“ auf sich? Nun, es steht schlicht und einfach fürs Auspacken neuer Ware (aus der Box/Schachtel holen), vor allem betrifft es technische Gerätschaften aus den Bereichen Computer, Smartphones oder Audio.

Gewiss, da gibt es Gähnstoff-Videos zum alsbaldigen Einschlafen, die das Entfernen jeder, aber auch wirklich jeder Umverpackung ausführlich im kaum bewegten Bild dokumentieren, bevor es dann schließlich bräsig zur Sache geht. Da wird halt rasch weggeklickt.

Die besseren YouTuber dieser Richtung gehen allerdings deutlich flotter und zielgerichtet zu Werke. Schließlich wollen sie möglichst einige Tausend Zugriffe ernten, um sodann von den Herstellern mit brandneuen Apparaten kostenfrei bemustert zu werden.

Nützliche Tipps – vorher oder nachher

Ist man drauf und dran, ein Gerät zu kaufen oder ist gar die Sendung schon unterwegs, kann man sich hier schon mal etwas schlauer machen, was Qualitäten, Mängel und Handhabung angeht. Häufig wird konkrete Vorfreude geweckt. Die gewiefteren „Influencer“ (verzeiht mir bitte dieses grippale Unwort) zeigen jedoch durchaus auch Schattenseiten der ausgepackten Ware, wenn auch zumeist freundlich-unterhaltsam verbrämt. Hin und wieder aber auch sehr freimütig.

Im Nachhinein, wenn man ein Teil schon erworben hat, gibt es hier noch manchen nützlichen Tipp. Wenn’s gut läuft, nimmt man dann noch rechtzeitig sein Widerrufsrecht wahr. Oder man lernt, mit den kleineren Mucken eines Geräts fertig zu werden. Oder man ist und bleibt angetan, nun aber quasi fundiert.

Man wird in diesen Filmen wohl nicht mehr versteckte werbliche Aussagen finden als – sagen wir mal – im Reise- oder Motorteil einer Tageszeitung (zwei besonders anfälligen Ressorts also). Es scheint weithin üblich zu sein, dass man ganz offen sagt, von der Industrie kostenlose „Rezensions-Exemplare“ bekommen zu haben. Gut so. Solche Transparenz hilft bei der Einschätzung.

Zwischen Warenfetischismus und persönlicher Eitelkeit

Mit der Zeit wird man den oder jenen Ratgeber (tatsächlich sind es auf diesem Gebiet meistens jüngere Männer) entdecken, dem man besonders vertraut. Einer, der mir schon durch seinen pfiffigen Spitznamen aufgefallen ist, zählt dazu. Er nennt sich „Technikfaultier“ und ist immer mal wieder für ein paar brauchbare Hinweise gut. Andere tun es ihm gleich. „Technikfaultier“ hat übrigens 226.000 Abonnenten bei YouTube (also mehr Dauernutzer als die meisten deutschen Tageszeitungen) – vom virtuellen „Laufpublikum“ ganz zu schweigen.

Viele Unboxing-Videos zeigen lediglich das besprochene Gerät, was sehr leicht in Warenfetischismus ausarten kann. In anderen Beiträgen lassen sich auch die Urheber blicken – oft nicht ganz uneitel (manche hören sich sehr gerne reden), gelegentlich auch mitsamt ihrer Wohnungseinrichtung oder anderen Accessoires. Es muss eben jeder selbst wissen, wie er sich und seine Lebensweise vor einem potenziellen Millionen-Publikum offenbart.

„YouTuber(in)“ als Berufswunsch bei Kindern

Wo wir schon mal so traulich beim Thema sind: Bereits unter Acht- bis Zehnjährigen kursiert derweil „YouTuber(in)“ als häufiger Berufswunsch. Tierärztin und Fußballspieler können damit noch halbwegs mithalten – aber dann wird es schon dünn. Nun gut, das gibt sich in ein paar Jährchen.

Ein anderer, jedoch verwandter Fall sind die unzähligen Erklärvideos im Netz, die einem auch noch die letzten Kniffe en détail beibringen sollen: beispielsweise, wie, womit und was man kochen oder grillen soll; beispielsweise, wie, wann und warum man Rasen mäht oder Flecken entfernt – und das sind nur die populärsten Beispiele. Es gibt da wahrhaft exotische „Lebenshilfe“, die einem in netzlosen Zeiten so nicht zur Verfügung gestanden hat. Ganz ehrlich: Es sind darunter womöglich unbedarfte, aber keineswegs die unsympathischsten Seiten im www.

 




Schrecken und Schönheit der Natur – Münster zeigt grandiose Landschaftsbilder von William Turner

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour's Mouth..." (Schneesturm – Ein Dampfschiff...), 1842, Öll auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856 - Inv.-Nr. N00530)

William Turner: „Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour’s Mouth…“ (Schneesturm – Ein Dampfschiff…), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Da weiß man gar nicht mehr, wo vorn und hinten, oben oder unten ist: In seinem Ölbild „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten, um 1827) hat der englische Maler William Turner (1775-1851) Zustände des Meeres – und des Himmels? – aufeinander geschichtet, miteinander überblendet. Man könnte es fast für ein Farbfeld-Werk des 1970 verstorbenen Mark Rothko halten. War Turner, der doch in der Romantischen Epoche lebte und wirkte, etwa schon ein Abstrakter avant la lettre, also bevor man Abstraktion als solche definiert und bezeichnet hat?

Die Kuratorin Judith Claus, die das Konzept zur Turner-Ausstellung im Münsteraner LWL-Museum für Kunst und Kultur entwickelt hat, hält dagegen: Turner habe niemals abstrakt gedacht. Erst recht nicht habe er angestrebt, die Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen, sie zu „überwinden“. Das sei nur unsere rückblickende Auffassung – im Wissen um die seither entfaltete und auch schon wieder historisch entrückte Moderne.

William Turner: „Three Seascapes (Drei Seeansichten)", um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856. Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten), um 1827, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Man möchte freilich bezweifeln, dass einem reflektierten und belesenen Künstler wie Turner derlei Bilder gleichsam unwillentlich unterlaufen sind. Vielleicht ist ja die Abstraktion eine der Urformen künstlerischer Entäußerungen, die – unabhängig von der Epoche – hin und wieder aufgeleuchtet haben, bevor sie in einen breiten Zeitstrom eingeflossen sind? Ein weites Feld für Fragen und Erwägungen…

Auswahl aus einem riesigen Fundus

Erfreuliche Tatsache ist jedenfalls, dass Münster nun mit rund 80 Werken des berühmten – nennen wir nur einmal den vollen Namen – Joseph Mallord William Turner glänzen kann.

David Blayney Brown, Kurator für britische Kunst an der Tate in London, hat die Werke aus einem riesigen Turner-Fundus (rund 30.000 Arbeiten auf Papier, etwa 300 Gemälde und 280 Skizzenbücher) ausgewählt, den der Maler selbst einst der britischen Nation vermacht hat. Man könnte Dutzende von Turner-Ausstellungen bestreiten – mit immer wieder anderen Schwerpunkten. Jede Auswahl wäre ein anderes, ein weiteres Statement über diesen genialen Künstler.

Manche erinnern sich: Anno 2001/02 hat das Essener Folkwang-Museum mit Turner geprunkt, seither war in unserer näheren Umgebung praktisch nichts Wesentliches mehr von ihm zu sehen. Diese Münsteraner Schau, die anschließend in Nashville und Quebec gastieren wird, ist im Kern eine Übernahme aus dem Kunstmuseum Luzern (Schweiz). Dort hat man, nur zu verständlich, besonderen Wert auf Turners Reisebilder aus schweizerischen Gefilden gelegt. In Münster rückt dieser Aspekt etwas beiseite. Man hat hier zusätzlich 30 Werke von Vorbildern und Zeitgenossen Turners beschafft, darunter etwa Caspar Wolf, John Martin und John Constable. Hier kann man folglich – bei dezent gedämpftem Licht und auf Wänden in aparten Blau- und Petrol-Tönungen – vergleichen, kann eine Ahnung davon bekommen, was Turners Kunst eigentlich ausmacht.

Ungeahnte Erscheinungen aus Licht und Farbe

Wenn es noch einer Beweisführung bedurft hätte: Wo andere Künstler den romantischen Konventionen mehr oder weniger verhaftet blieben, hat Turner – nach einem gleichfalls „romantischen“ Frühwerk – der Kunst vordem ungeahnte, faszinierende Sphären erschlossen. Wie überaus duftig und schwebend zart sind seine Aquarelle, wie allseits entgrenzt viele seiner Landschaften. Da geht es nicht mehr um konkrete Konturen, sondern um subtile Stimmungswerte und ja: um manchmal geradezu überirdische Erscheinungen des Lichts und der Farbe. Es ist dies eine Ausstellung zum Schwelgen und zur bleibenden Erinnerung.

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons" (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1802, Exhibited 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier (© Tate: Accapted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden), um 1810, Graphit, Kreide, Aquarell und Gouache auf Papier. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Phänomene, die zuvor allenfalls Beiwerk waren, hat Turner beherzt in den Vordergrund gerückt. Man schaue etwa das Bild „The Fall of an Avalanche in the Grisons“ (Der Niedergang einer Lawine in Graubünden, um 1810) an. Bereits in diesem recht frühen Werk löst sich jede fassbare Wirklichkeit in ein ungeheures Toben der Elemente auf. Der Untertitel der Ausstellung heißt denn auch „Horror and Delight“, also etwa Schrecken und Freude, die einen angesichts der gewaltigen Natur erfassen können. Zuweilen dies, zuweilen das, manchmal beides zugleich oder abwechselnd. Das Begriffspaar „Horror and Delight“ stammt aus dem Konzept des Erhabenen (englisch: sublime) des britischen Schriftstellers Edmund Burke (1729-1797), dessen Gedanken die Epoche der Romantik und somit auch Turner geprägt haben.

Im Sommer reisen und skizzieren, im Winter malen

Turner reiste (nach Napoleons gegen Großbritannien verhängter Kontinentalsperre – Insel vs. Kontinent ist beileibe nichts Neues) in den Sommermonaten immer wieder durch Europa, und zwar teilweise sehr beschwerlich und unbequem, auch schon mal mit dem Maulesel durchs Gebirge. Er fertigte, vorzugsweise in der Schweiz und in Italien, zahllose Skizzen an, deren Essenzen er hernach im Atelier während des englischen Winters zu Gemälden ausarbeitete. Er war also (auch mangels farbtechnischer Möglichkeiten) noch kein Freiluftmaler wie später die Impressionisten. Dennoch dürfte er auch dieser Richtung Wege gewiesen und geebnet haben.

William Turner: „Peace – Burial at Sea" (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Peace – Burial at Sea“ (Frieden – Bestattung auf See), 1842, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Er ist zwar im Sommer gereist, soll aber stets dann freudig erregt gewesen sein, wenn schlechtes und schweres Wetter herrschte. Extreme unter dramatisch bewölkten Himmeln kamen ihm entgegen. So verwundert es auch nicht, dass Turner ein Meister der stürmischen Seestücke gewesen ist. Ein grandioses Beispiel dafür ist ein Bild des Spätwerks mit schier endlosem Titel, das wir der Einfachheit halber mit dem ersten Wort als „Schneesturm“ (1842) bezeichnen wollen: Man sieht ein Dampfschiff („Ariel“) auf offenbar höchst gefährlicher Fahrt, es sendet Leuchtsignale aus.

Was ist schon der „Inhalt“ eines Bildes?

Doch solch nüchterner Beschreibungsversuch erfasst keineswegs ein Bild, auf dem alle Umrisse in ein gleißendes Irgendwo zerstoben sind; wie man denn überhaupt beim späten Turner Probleme bekommt, wenn man den „Inhalt“ eines Bildes schildern möchte. Allein auf die Atmosphäre kommt es an. Im länglichen Bildtitel war es Turner übrigens wichtig zu betonen, dass er selbst diesen Sturm erlebt habe. Die von ihm verbreitete Legende, mit der sich allerdings auch andere Maler bei ähnlicher Gelegenheit schmückten, besagt, dass er sich beim Unwetter sogar an einen Schiffsmast angebunden habe, um das Tosen der See am eigenen Leibe zu erfahren…

Der als wortkarg, in eigener Sache aber auch als eloquent geltende William Turner war eben ein geschickter Selbst-Vermarkter, der keine Chance ausließ, seine Werke auszustellen. Bereits mit 32 Jahren erhielt er an der Royal Academy School of Arts in London eine Professur – just für Perspektive, die er als Künstler so entschieden und nachhaltig auflöste. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Turner war damit recht bald ein gemachter Mann.

Schon mit 14 Jahren an der Kunst-Akademie

Die Academy war damals quasi noch eine Neugründung, Turner gehörte zur ersten Generation, die dort ausgebildet wurde, schon mit 14 Jahren studierte er dort. Erstaunlich genug: gleich in einem Pionier-Jahrgang der vielleicht allergrößte, nachher schwerlich übertroffene Künstler. Hatte er denn gar keine Schwächen? Nun ja. Er war so klug, sich sogleich auf Landschaftsmalerei (damals noch ein unterschätztes Genre) zu verlegen, als Porträtist oder überhaupt als Darsteller menschlicher Figuren wäre er hingegen wohl nicht zu solchem Ruhm gelangt.

Etliche Bilder, zumal im Spätwerk, gelten als „unvollendet“, doch in manchen Fällen ist es kaum auszumachen, ob Turner wieder unterwegs zu ganz neuen Ufern war oder ob er ein Bild aufgegeben hat. Vor allem sein Spätwerk überforderte die Auffassungsgabe vieler Zeitgenossen, Karikaturisten verspotteten ihn. Den Hämischen galt er als „Kleckser“, der die Farbe wild und willkürlich verteilte – auf einer furchtbar witzigen Zeichnung ging er gar mit einem Wischmop auf die Leinwand los. Welch eine gehässige Verkennung!

Die Sintflut – und der Morgen danach

Zum Finale hebt die Ausstellung geradewegs ins Metaphysische ab. Da finden sich etwa Bilder, mit denen Turner geisterhafte Meeresungeheuer beschwört. Solche Visionen steigern sich schließlich ins Universelle: Turner unternimmt 1843 nichts Geringeres, als den Abend des Weltuntergangs durch die Sintflut darzustellen, ein mystisches Licht erstrahlt über der Finsternis – und er zeigt auf einem zweiten Bild den Morgen danach, an dem aus kreisender Bewegung in verheißungsvoller Helligkeit etwas gänzlich Neues zu entstehen scheint.

William Turner: „Light and Colour (Goethe's Theory) - the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis" (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (©Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

William Turner: „Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis“ (Licht und Farbe (Goethes Farbenlehre) – der Morgen nach der Sintflut – Moses schreibt das Buch Genesis), 1843, Öl auf Leinwand. (© Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, Photo © Tate, 2019)

Hochinteressanter Hintergrund: Damals waren Weltuntergangs-Bilder auch bei Künstlern wie John Martin sozusagen en vogue, weil allenthalben große gesellschaftliche und existenzielle Verunsicherung herrschte. Die Französische Revolution hatte vieles zuoberst und zuunterst gekehrt, die beginnende Industrialisierung weckte bis dahin unbekannte Ängste, ein katastrophaler Vulkanausbruch in Indonesien bescherte Europa einen weitgehend sonnenlosen Sommer. Ein baldiger Weltuntergang galt damals als wahrscheinlich. Kommt uns solch eine Zeitstimmung denn nicht bekannt vor?

Apropos Endlichkeit: William Turner hat über seine Lebenszeit hinaus gedacht, er war vehement auf Nachruhm aus. Der britischen Nation vermachte er seinen Nachlass unter der Bedingung, dass die 1824 gegründete National Gallery eigens eine Raumflucht für seine Werke errichtet und zwei seiner Bilder direkt neben Arbeiten seines großen Vorbildes Claude Lorrain (1600-1682) gehängt werden. All das ist eingetreten, er selbst hat eine Ehrengrabstätte in der St. Paul’s Cathedral zu London bekommen. Und das mit dem bleibenden Nachruhm ist ganz offensichtlich auch Wirklichkeit geworden.

„Turner. Horror and Delight.“ – 8. November 2019 bis 26. Januar 2020. Münster, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz. Geöffnet Di-Do 9-18, Fr 10-20 Uhr, am zweiten Freitag im Monat bis 24 Uhr (dann auch freier Eintritt ab 18 Uhr). Sonst: Eintritt 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro, freier Eintritt bis 17 Jahre. Besucherdienst: 0251 / 5907 201. Katalog in der Ausstellung 27 Euro (im Buchhandel 39,80 Euro).

Weitere Infos: www.lwl-museum-kunst-kultur.de

Unter www.turner2019.de gibt es ein neuartiges „Digitorial“, sprich: einen virtuellen Ausstellungsrundgang zur Vor- oder Nachbereitung des Besuchs.




Befürchtungen vor der Münsteraner Turner-Ausstellung: Was der Brexit für kulturellen Austausch bedeuten könnte

Deutsch-britisches Museumsteam: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Deutsch-britisches Ausstellungs-Team mit Brexit-Befürchtungen: Kuratorin Dr. Judith Claus, Münsters Museumsleiter Dr. Hermann Arnhold (Mi.) und David Blayney Brown, Senior Curator of British Art der Londoner Tate. (Foto: Bernd Berke)

Münster lockt ab 8. November (bis zum 26. Januar 2020) mit einer Ausstellung über den ruhmreichen britischen Maler William Turner (1775-1851). Das LWL-Museum für Kunst und Kultur zeigt 75 Leihgaben aus der Tate London, ergänzt um einige Werke von anderen Künstlern jener Zeit. Wir werden darauf zurückkommen. Doch jetzt erst einmal zu einem anderen Thema. Um einen legendären Monty-Python-Spruch anzuwenden: „…and now to something completely different.“

Denn: Moment mal! Da war doch was? Etwas, was man eigentlich schon gar nicht mehr hören mag? Richtig: der unvermeidliche Brexit. Bei der heutigen Pressekonferenz im Vorfeld der Turner-Schau wurde deutlich, was der EU-Austritt Großbritanniens auch in kultureller Hinsicht bedeuten könnte. Nämlich nichts Gutes. Also doch kein völlig anderes Thema, sondern ein (fataler) Zusammenhang.

Strenge Grenzkontrollen und Zölle auch für die Kunst?

Museumsleiter Dr.  Hermann Arnhold ergriff die Gelegenheit, um seine Besorgnis auszudrücken. Er befürchte einen großen Rückschritt für den kulturellen Austausch mit Großbritannien. Mit Blick auf das ursprünglich vorgesehene Brexit-Datum (31. Oktober 2019) habe man alles daran gesetzt, sämtliche Bilder schon vor diesem Stichtag in Münster zu haben. Andernfalls hätten langwierige bürokratische Grenzkontrollen und diverse Zölle gedroht. Renommierte Kunstspeditionen haben sich für die Zukunft schon auf derlei Fährnisse eingerichtet, und zwar auch für den Fall eines geregelten Brexit; vom Chaos eines ungeregelten Austritts ganz zu schweigen. Oder sollte es doch noch ein paar Fünkchen Hoffnung für einen Verbleib geben? Das wäre ja…

Europa besteht nicht nur aus der Wirtschaft

Europa, so Arnhold weiter, sei eben nicht nur ein gemeinsamer Wirtschafts-, sondern auch ein Kulturraum. Gerade Menschen, die mit Kultur zu tun hätten, seien meistenteils überzeugte Europäer. David Blayney Brown, als Senior Curator of British Art der Londoner Tate für die Turner-Auswahl zuständig, pflichtete dem deutschen Kollegen bei, wobei gleichsam leise Seufzer mitklangen. Es kämen schwere Zeiten auf Großbritannien zu. Umso erfreuter zeigte sich Brown, jetzt noch diese bedeutsame Kunst-Kooperation mit Münster ins Werk zu setzen.

Das von Arnhold geleitete Haus am Münsteraner Domplatz hat in den letzten Jahren regelmäßig Ausstellungen mit britischer und US-amerikanischer Kunst gezeigt, u. a. „Das nackte Leben – von Bacon bis Hockney“ sowie Retrospektiven zu Henry Moore und Sean Scully. Die Planungs- und Vorlauf-Zeiten für solche Schauen müssten künftig – im Schatten des Brexit – länger veranschlagt werden. Trotz alledem oder jetzt erst recht hat man bereits mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung begonnen, die 2023/24 zu sehen sein soll. Thema? Noch geheim. Aber es hat gewiss etwas mit England zu tun. Denn das kommt ja nun hoffentlich gar nicht in Frage: auf Kunst von der Insel zu verzichten.




„Zupacken Ehrensache“: Wie die Ruhris mit einem „Kumpeltaler“ geködert werden sollen

Leider nur eine sozusagen symbolische Behelfs-Illustration: Förderturm der Dortmunder Zeche Zollern II/IV, die seit vielen Jahren Zentrale des Westfälischen Industriemuseums ist. (Aufname vom 18. Mai 2016: Bernd Berke9

Leider nur eine sozusagen symbolische Behelfs-Illustration: Das Foto zeigt den Förderturm auf dem Gelände der Dortmunder Zeche Zollern II/IV, die seit 1979 Zentrale des Westfälischen LWL-Industriemuseums ist. (Aufnahme vom 18. Mai 2016: Bernd Berke)

Da will eine Braunschweiger Münzhandelsgesellschaft Silbertaler zu je 10 Euro verhökern und kommt uns mit lauter Revier-Klischees der längst abgetanen Sorte. Details gefällig? Bitte sehr, der Prospekt liegt uns vor:

Da sieht man gekreuzte Werkzeuge („Schlägel und Eisen“), dazu den mit schwarzrotgoldenem Unterstrich ergänzten Schriftzug „BERGBAU TRADITION im Ruhrgebiet“ (ohne Bindestrich), außerdem eine Lore mit der Aufschrift „Glückauf“, einen Bergmann mit Geleucht, weitere Bergleute bei der Arbeit. So wanzt man sich an Ruhris heran, so leicht wickelt man sie um den Finger. Denkt man in Braunschweiger Reklamestuben und anderswo.

Aber es kommt noch besser. Vom Flyer her schaut uns in schwer „authentischem“ Schwarzweiß an: ein kerniger Kumpel, der einem just kumpelhaft zuzuzwinkern scheint – aber nur ganz leicht angedeutet, denn gleich muss er sicherlich wieder zur Maloche auf Zeche. Und wenn die nun geschlossen wäre? Vielleicht ist es ja auch ein Schauspieler. Schade eigentlich, dass wir (wegen der Bildrechte) auf eine Wiedergabe der Illustration verzichten müssen.

Jedenfalls will der kräftige Kerl (bzw. seine Hintermänner) auch an unsere „Kohle“ ran, nämlich an je zehn Euro. Oder zwanzig. Oder dreißig. Mehr aber nicht, denn von diesen Münzen werden „max. 3 Exemplare pro Haushalt“ abgegeben, vorzugsweise und „einmalig günstig“ an „Bürger des Ruhrgebiets“. Limitierung also. Lässt mächtige Wertsteigerung für die Zukunft erhoffen, oder? Wer kann da Nein sagen? Denn wie heißt es so schön, in listiger Anknüpfung ans Arbeitsethos der Bergleute: „Hier ist zupacken Ehrensache. Noch heute sichern!“

Kurz noch einen Blick auf die Rückseite der Medaille: wiederum Schlägel und Eisen, Eichenblätter, in die Bildtiefe führende Bahngleise und eine Förderturm-Silhouette à la Zollverein. Weltkulturerbe, versteht sich. Alles furchtbar gediegen. Wie aus Zeiten, als noch echte Wertarbeit gezählt hat.

Stolz des Reviers im Spiegelglanz

Was man da käuflich erwerben soll, nennt sich ungelogen „Kumpeltaler“. Wir erfahren, das Ganze sei der „Stolz des Reviers“, und zwar „in echtem Silber!“ Wer’s nicht glaubt, dem wird zusätzlich versichert: „…höchste Qualität Spiegelglanz!“ Okay, und wie sieht’s mit dem Feingehalt aus? „333/1000″. Man schaue (unter dem Link) nach. Der Promille-Wert ist alles andere als üppig, er deutet eben nicht auf sonderliche Werthaltigkeit hin.

Natürlich heißt es im Werbefaltblatt außerdem „Schicht im Schacht im Ruhrgebiet“. Diese Formulierung hat sich halt durchgesetzt und ist quasi verpflichtend, auch wenn sie in diesem Falle damit ein bisschen arg spät dran sind. Die letzte Ruhrgebietszeche hat am 21. Dezember 2018 dicht gemacht. Auch schon wieder fast ein Jahr her.

Aber was soll uns diese Nüchternheit! Kehren wir lieber zur schwärmerischen Poesie zurück. Die Münzen, so die weitere Einlassung, seien eine „einzigartige Würdigung der großen Bergbautradition des Ruhrgebiets“. Hat ja auch sonst niemand gewürdigt. Da bedurfte es bestimmt erst dieser Münz-Edition. Laut Prospekt zollt sie „der Leistung der Bergleute Respekt.“ Denn was waren und sind die Kumpel, mal im Telegrammstil gesagt? „unermüdlich ++ unersetzlich ++ unvergessen“. Is‘ klar, woll? Was für ein Ruhrgebiets-Geschwurbel!




Nachdenken über Städtebau, Rechtsradikalismus und die autoritäre Persönlichkeit – Vorträge von Theodor W. Adorno

Also schrieb Botho Strauß in seinem 1981 erschienenen Buch „Paare Passanten“ über Theodor W. Adorno, anlässlich einer Lektüre der „Minima Moralia“: „Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen.“ Tatsächlich sind inzwischen etliche weitere Jahre vorübergezogen, seit Adorno, der Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, seine Wirksamkeit vollends entfaltete. Doch eine Wiederbegegnung lohnt sich immer noch und allemal.

Jetzt sind gesammelte „Vorträge 1949-1968″ Adornos im Rahmen der Nachgelassenen Schriften bei Suhrkamp erschienen – wissenschaftlich sorgsam eingeordnet in die „Abteilung V – Vorträge und Gespräche, Band 1″.

Doch man muss hier keine Angst vor knochentrockenem Dozieren haben. Gewiss, Adorno (1903-1969) bewegt sich stets auf beachtlichen theoretischen Höhen, doch hat er gerade in seinen öffentlichen Vorträgen auch spürbar versucht, auf sein jeweiliges Publikum einzugehen, zuweilen gar geradezu unterhaltsam an dessen Verstand zu appellieren. Selbst beim wahrlich ernsthaften Vortrag über Rechtsradikalismus verzeichnet die Niederschrift einige Lacher im Publikum. Es war das Gelächter der Erkenntnis.

Was die Schönheit einer Stadt ausmacht

Das Themenspektrum der 20 Vorträge ist vielfältig und größtenteils von bleibender Relevanz. Es reicht von überaus differenzierten (wenn auch heute nicht mehr in allen Punkten nachvollziehbaren) musiktheoretischen Erwägungen und allgemeinen soziologischen Analysen („Die menschliche Gesellschaft heute“, 1957) über Fragen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg („Städtebau und Gesellschaftsordnung“, 1949) bis hin zu einer nach wie vor aufschlussreichen Betrachtung über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ aus dem Jahre 1967, als die NPD aufkam. Apropos: Historische Differenzen und Details werden in einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat am Ende des Bandes erschlossen.

Gehen wir – anhand von drei prägnanten Beispielen – chronologisch vor. 1949, als weite Teile Deutschlands noch in Kriegstrümmern lagen, empfahl Adorno einen demokratischen Wiederaufbau, an dem möglichst auch die Bürger beteiligt werden sollten – damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, heute zumindest formal vielfach üblich. Die „Schönheit“ von Städten als Mischung aus organisch und historisch Gewachsenem ist für Adorno nicht so sehr eine rein ästhetische Frage, sondern vielmehr eine soziologische: Sie habe sich phasenweise ergeben, wenn die Interessen der einzelnen Bewohner mit denen des Gemeinwesens übereinstimmten.

Im Geiste der Moderne

Diese Zeiten, in denen Wohnen und Arbeiten noch nicht räumlich getrennt waren, sind allerdings 1949 längst Geschichte. Und so rät Adorno denn auch zum Wiederaufbau im Geiste der Moderne, keineswegs zur Wiedererrichtung historischer Altstädte, deren gesellschaftliche Grundlagen entfallen seien. Ein Wiederaufbau des alten Nürnberg, so sein Beispiel, würde nur auf eine Spielzeug-Variante der Historie hinauslaufen. Ein entschiedener „Gegenschlag“ zum Gewesenen würde hingegen verbliebende Traditionen erst recht zur Geltung bringen.

Immer noch hochinteressant und in so manchen Punkten weiterhin gültig ist auch Adornos Vortrag über „Die autoritäre Persönlichkeit“ (1960). Auf der Grundlage langjähriger Untersuchungen arbeitet er abermals einige Kernpunkte seiner Thesen heraus. Die autoritätshörige Persönlichkeitsstruktur ist nach seiner Ansicht die Basis aggressiv-nationalistischen Unwesens. Der weit verbreitete Typus lasse lebendige Erfahrungen, die ihn verunsichern könnten, gar nicht mehr an sich heran. Also verhärteten sich seine irrationalen Vorurteile zusehends. Auch wenn heute andere Sozialtypen vorherrschen mögen, so erkennt man doch einige Züge dieser charakterlichen Prägung heute wieder, vielleicht sogar im wachsendem Maße – so etwa auch im „finsteren und brütenden Einverständnis“, das derlei Gruppierungen kennzeichne. Muss man da noch eigens Ross und Reiter unserer Tage nennen?

„Technik der plumpen Lüge“

Womit man beinahe bruchlos zum Thema Rechtsradikalismus überleiten kann. In seinem Vortrag von 1967, kurz vor dem Scheitelpunkt der bundesdeutschen Studentenrevolte, registriert Adorno, welche Teile und Regionen der Gesellschaft noch oder schon wieder für rechtsradikale Ideologien anfällig seien. Adorno befindet, dass diese Ideologie kein zusammenhängendes Theorie-Konstrukt ausgeformt hat, sondern weit überwiegend nur aus Propaganda und Machttechnik bestehe.

Unter dem Eindruck einer seinerzeit erstarkten NPD gerät das Phänomen in den Blick, dass von rechts (z. B. seinerzeit in der National-Zeitung) ganz bewusst an den Grenzen des „Sagbaren“ operiert wurde. Kommt einem nicht auch das neuerdings wieder bekannt vor? Auch geht es um systematische Fake-Behauptungen, die Adorno damals natürlich noch nicht so genannt hat. Er sprach von „solchen völlig irren und phantastischen Geschichten“ sowie von der „Technik der plumpen Lüge“. Oh, schreckliche Wiederholung!

Wahrheit im Dienste der Unwahrheit

Weiteres Zitat, bezogen auf rechtes Imponiergehabe: „Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben um ihrer (Un)kontrollierbarkeit willen dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von Autorität verleihen.“ Von Adorno erfundenes, aber triftiges Beispiel einer infamen Lüge aus rechten Kreisen: „Was? Das weiß doch jedes Kind! Und Sie wissen nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefordert hat, daß alle Deutschen kastriert werden sollen?“

Bemerkenswert auch Adornos fein unterscheidende Sicht auf den Umgang mit der Wahrheit: „Ich möchte (…) darauf hinweisen, daß keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie (…) tritt…“ Dieser Umstand müsse bei der Gegenwahr berücksichtigt werden.

Überhaupt erwägt Adorno am Rande auch taugliche Abwehrstrategien gegen rechte Umtriebe. So solle man nicht moralisieren, sondern jenen Leuten, die noch erreichbar sind, deren eigene und eigentliche Interessenlage ganz klar vor Augen halten und die Tricks ihrer Anführer entlarven. Ob es (noch) hilft?

Theodor W. Adorno: „Vorträge 1949-1968″ (Hrsg.: Michael Schwarz / Theodor W. Adorno Archiv). Im Rahmen der Ausgabe „Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften, Abteilung V: Vorträge und Gespräche, Band 1″. Suhrkamp, 786 Seiten, 58 Euro.

 




Feiertagskinder, der Norden und literarische Hasstiraden – drei Neuerscheinungen von Gewicht

Im Vorfeld der Buchmesse stellen wir drei empfehlenswerte Neuerscheinungen vor:

Man mag Eduard von Keyserling (1855-1918) einsortieren, wie man will: generell als modernen Klassiker, schon etwas spezieller als einen „Impressionisten“ der deutschsprachigen Literatur, persönlich als prägenden Protagonisten der Schwabinger Bohème um 1900 – und was dergleichen Schubladen mehr sind. In Wahrheit überragt er solche Zuschreibungen bei weitem. Dass wir so einen hatten in unserer Literatur, ist ein Glücksfall.

Und so ist es durchaus erfreulich, dass sein Werk jetzt wieder präsent ist, weil der Manesse Verlag die „Schwabinger Ausgabe“ seiner Werke herausbringt; allerdings nicht im sonst verlagsüblichen, handlichen Kleinformat, das von der Inhaltsfülle gesprengt worden wäre.

Mit dem Titel „Landpartie“ über den gesammelten Erzählungen (Zeitrahmen von 1882 bis 1918) bewegt man sich verbal in den Gefilden jener Landlust, wie sie seit Jahren zum Zeitgeist gehört. Eduard von Keyserling hat mit derlei Moden natürlich nichts gemein. Möge der leise Anklang seinem Schaffen nur mehr Leser(innen) zuführen.

Jetzt ist der zweite Band der Ausgabe erschienen, er heißt „Feiertagskinder“ und enthält die späten Romane des Schriftstellers: das hier bereits ausführlicher besprochene Werk „Wellen“ (1911), außerdem „Abendliche Häuser“ (1914), „Fürstinnen“ (1916) und eben „Feiertagskinder“ (posthum 1919); jeder einzelne ein Meisterstück für sich.

Es ist ein Buch von einigem Gewicht und doch im Fortgang von wundervoller Leichtigkeit. Welch eine erlesene Noblesse und Eleganz im Stil, die ungeahnte Nuancen erfasst! Zu gewärtigen ist der wehmütige, freilich mit feinfühliger Distanz gestaltete Abschied von überkommenen Sitten und Werten Europas. Es ist große Literatur einer Dekadenz-Epoche, die im furchtbaren Ersten Weltkrieg mündete. Sage bloß niemand, das alles gehe uns nicht mehr viel an.

Am Schluss des Bandes finden sich – hinter den hilfreichen Anmerkungen – noch ein paar Keyserling-Würdigungen berufener Zeitgenossen, so etwa von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann. Letzterer benennt die literarischen „Verwandten“ Keyserlings: allen voran Fontane, sodann Turgenjew und Herman Bang. Wahrlich eine würdige Reihe. Und was schrieb der wunderbare Robert Walser über Keyserling? Diese Zeilen: „Er kam mir vor wie das Prachtexemplar eines Löwen… Der Löwe ist doch König in seinem Reich. Ein aussterbender König. Ein solcher war auch Eduard von Keyserling.“

Eduard von Keyserling: „Feiertagskinder“. Späte Romane (Hrsg.: Horst Lauinger). 720 Seiten, 28 Euro.

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Gleich eine ganze Himmelsrichtung hat sich Bernd Brunner vorgenommen. Sein neues Buch „Die Erfindung des Nordens“ firmiert laut Untertitel als „Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“. Gut möglich, aber nicht wesentlich, dass Brunner beim Verfassen eines früheren Buches („Als die Winter noch Winter waren“) auf die nördliche Idee verfallen ist.

Der Autor beleuchtet das Thema von allen Seiten her. Da kommt etwa der Norden als Phantom früherer Zeiten in Betracht, als die Erde noch nicht „entschleiert“ war und jene Terra incognita dort droben mancherlei Phantasien beflügelte. Es geht um Grundsatzfragen wie die, was und wo überhaupt der Norden sei. Für Goethe hat er bereits nördlich des Brenners begonnen, andere siedeln ihn viel näher am Nordpol an. Die geistigen und geographischen Grenzen sind allemal fließend.

Ferner erfahren wir, wie sich die Idee vom Norden u. a. in Opposition zu den Vorstellungen vom Süden konstituiert und entwickelt hat. Selbstverständlich spielt auch die fatale Ideologie vom „Nordischen“ eine Rolle, die von den Nazis auf die Spitze getrieben wurde. Und schließlich reicht das Spektrum bis hin zum herzzerreißend aufrüttelnden Klimawandel-Inbild aus unseren Tagen: dem Eisbären auf schmelzender Scholle.

Eine Charakteristik der im Norden lebenden Menschen gehört überdies ebenso zum üppigen Lieferumfang wie die Ansichten von Philosophen und Schriftstellern, die sich zum Norden geäußert haben.

Ein äußerst weites Feld also – und ein kundiger Autor mit weitem Horizont, der ähnlich spannende Bücher schreibt wie einst der Historiker Wolfgang Schivelbusch, der beispielsweise bahnbrechende Studien zur Geschichte der Eisenbahnreise, der künstlichen Helligkeit und der Genussmittel verfasst hat.

„Die Erfindung des Nordens“. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung. Verlag Galiani Berlin. 240 Seiten mit Bildteil. 24 Euro.

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Karl Heinz Bohrer dürfte einer der profiliertesten Intellektuellen der Republik sein. Wenn sich dieser Homme de Lettres ein Thema vornimmt, gewinnt es sozusagen wie von selbst Dringlichkeit und Dignität. Sein jüngstes Werk heißt „Mit Dolchen sprechen“ und handelt vom literarischen Hass-Effekt. Der Dolch-Titel leitet sich übrigens von einer Szene in Shakespeares „Hamlet“ her.

In Zeiten des allgegenwärtigen Hate Speech – nicht nur, aber besonders im Internet – kann Bohrers Untersuchung erst recht Aufmerksamkeit beanspruchen. Der Autor geht gleichermaßen mit Inspiration und Gründlichkeit vor. Die Entfaltung der literarischen Hassrede wird von Marlowe und Shakespeare über Baudelaire, Strindberg, Céline und Sartre bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und zum aktuellen Literaturnobelpreisträger Peter Handke verfolgt.

Man ahnt bei dieser Aufzählung schon, dass zumal die neuere österreichische Literatur hier einiges zu bieten hat. Mit Michel Houellebecq schließlich gelangt, wie Bohrer darlegt, das von Hass getriebene Schreiben an einen (vorläufigen) End- oder Wendepunkt.

Man fragt sich, wieso bisher noch niemand dieses zentrale Thema dermaßen genau in den Blick genommen hat. Es wird deutlich, dass der Hass geradezu ein grundlegendes Element des Literarischen ist, welches die Sprache überhaupt (ver)formt und verwandelt. Und immer wieder war zu sehen: Wer sich in einen Hass hineinsteigert, ist auf dem Wege, auch die Ausdruckskraft seiner Sprache zu steigern. Allerdings bedarf es dazu sprachlichen Könnens auf hohem Niveau. Einer, dem nur dumpfe Kraft- und Schimpfworte zu Gebote stünden, der gehörte ganz und gar nicht in solche Zusammenhänge. Fluchen reicht nicht.

Karl Heinz Bohrer: „Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt“. Suhrkamp Verlag, 493 Seiten, 28 Euro.

 




„Katarstrophale Katarstimmung“ oder: Bloß nicht auch noch eine Fußball-WM im Wüstenstaat!

Symbolbild sondergleichen zur Fußball-WM: ein zerbrechlicher Fußball (als Spardose) und ein Miniatur-Globus. (Foto: Bernd Berke)

Symbolbild sondergleichen zur Fußball-WM, die Objekte waren jedenfalls gerade greifbar: ein zerbrechlicher Fußball (als Spardose) und ein Miniatur-Globus. (Foto: Bernd Berke)

Von den derzeit laufenden Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Katar habe ich keine einzige Minute im Fernsehen geschaut. Die Veranstaltung geht mir komplett gegen den Strich. Dabei habe ich vor Jahr und Tag mal gern und gespannt zugesehen, wenn gelaufen, gesprungen und geworfen wurde.

Jetzt reicht mir schon, was ich da lesen muss, ich brauche die abstruse Quälerei von Doha nicht auch noch zu betrachten. Diese extremen Bedingungen. Athleten, deren Gesundheit den feisten Funktionären offenbar egal ist, kollabieren reihenweise in der Hitze. Das gähnend leere Stadion. Auch das haben die Sportler nicht verdient. Ganz zu schweigen davon, dass dies – nicht nur wegen brachialer Klimatisierung – ungemein klimaschädliche Spiele sind. Und dann noch so groteske Maßnahmen wie die Startblock-Kameras, die von unten quasi in den Schritt der Sportler(innen) blicken.

Es ist vielleicht die beknackteste Sportveranstaltung aller Zeiten. Und das will was heißen. Na, okay, das mit den Gladiatoren im Alten Rom war noch etwas schlimmer.

Wer wird denn da an Korruption denken?

Wie gesagt: Früher wäre mir das nicht passiert. Da hätte ich den einen oder anderen Wettbewerb verfolgt. Mit etwa zehn Jahren wollte ich ja selbst später Olympionike werden und habe im Hinterhof dafür „trainiert“. Das hat sich gegeben. Doch auch später habe ich mich noch für die olympischen Kernsportarten interessiert, jedenfalls medial. Aber seit den diversen Doping-Vorfällen (die sich teilweise zum Doping-System verflochten haben) hat das Interesse schon arg nachgelassen. Und nun, da die Entscheider beim Weltverband gemeint haben, solch ein Ereignis ausgerechnet nach Katar vergeben zu müssen, ist es vollends vorbei. Wieviel Geld da wohl in welche Taschen geflossen ist?

Okay, ich kann die bemühten Wortspiele eigentlich schon jetzt nicht mehr verknusen, obwohl ich sie mir für die Überschrift mal kurzerhand ausgeliehen habe: Es herrsche Katarstimmung, das Ganze sei eine Katarstrophe. Wat ham wer gelacht. Aber inhaltlich ist ja was dran.

Und nun mal in die nähere Zukunft geblickt, aufs Jahr 2022, wenn im dort etwas kühleren November und Dezember (!) die Fußball-WM gleichfalls in Katar ausgetragen werden soll, jedenfalls nach dem Willen der FIFA. Gleich zwei Ereignisse dieses globalen Kalibers haben die Sport-Gewaltigen also an den winzigen Wüstenstaat Katar vergeben. Wer wird denn da an Korruption denken? Na, fast alle! Natürlich ist Katar keine Fußballnation und wird auch nie eine werden – was freilich noch eines der geringeren Probleme an der bizarren Veranstaltung ist. Es geht nur um einen Zirkus für ein paar Scheichs und deren Gefolge.

Auch als Fußball-Anhänger, der seit Jahrzehnten keine WM verpasst hat, muss man entschieden NEIN dazu sagen! Allein schon der Umstand, dass – wie auch das wirtschaftsfreundliche Handelsblatt berichtet – beim Stadionbau unfassbar viele Arbeiter umkommen (und umkommen werden), sollte zur sofortigen Stornierung und Neuvergabe des megalomanen „Events“ ausreichen. Wie wär’s denn beispielsweise, wenn der neue DFB-Präsident Fritz Keller seinen gewiss nicht ganz geringen Einfluss in diesem Sinne geltend machen würde?

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P. S.:  …und wenn ein Mainzer den Zehnkampf gewinnt, ist das in diesem größeren Kontext auch nur eine Randnotiz.

Nachtrag: Auch der Guardian berichtet dieser Tage über den massenhaften Tod von zugewanderten Arbeitern in Katar. Ernsthaft untersucht werden diese furchtbar häufigen Fälle offenbar nicht.




Ein ganz besonderes Abenteuer in der urbanen Dunkelheit: Unfassbare 247 Dates hintereinander!

(…und was sich dahinter verbirgt)

Schier unglaubliche Abenteuer in der urbanen Nacht: „Du, die Stadt und 247 Dates.“ So steht es in großen weißen Lettern auf einem dunklen Großstadtfoto mit flirrenden Lichtern. „Bright Lights, Big City gone to my Baby’s Head“, wie es im verheißungsvoll lockenden Blues-Klassiker heißt.

Die WAZ in der Zeitungsrolle unterm Briefkasten... (Foto: BB)

Funke-Produkt: die WAZ in der Zeitungsrolle unterm Briefkasten… (Foto: BB)

Vor sich sieht man außerdem einen Fahrradlenker, den man imaginär selbst in den Händen hält. Man bewegt sich auf einem wunderbar breiten, bestens markierten Fahrradweg, wie er in der Republik (und erst recht im Ruhrgebiet) wahrlich selten anzutreffen ist. Besser noch: Von Autoverkehr ist links und rechts so gut wie nichts zu sehen. Freie Fahrt! Was will man mehr?

In welche herrliche Welt entführt man uns denn da?

Es geht um einen Job. Offenbar um einen Top-Job. Wörtlich um „…einen fair bezahlten, sicheren und verantwortungsvollen Job in einem traditionsreichen Unternehmen“. Wow! Da dürfte ja wohl eine ordentliche Vergütung drin sein.

Doch dann die gelinde Enttäuschung, die ernüchternde Realität: Es geht darum, dass man sich als Zeitungs-Zusteller für die Funke-Gruppe bewerben soll. Das hat es also auf sich mit der Stadt und 247 aufregenden „Dates“: Man soll – in aller Herrgottsfrühe, bei Wind und Wetter, an sechs Tagen pro Woche – 247 Adressen mit Zeitungen des Essener Konzerns beliefern. Beispielsweise. Vielleicht sind es ja auch ein paar Exemplare mehr. Oder weniger. Egal. Jedenfalls ist es ein Knochenjob.

Und die „faire Bezahlung“? Nun ja. Mindestlohn plus Nachtzulage. Für ein paar Stündchen. Ein kleines Zubrot halt. Mehr nicht. Und das Fahrrad? Weiteres Zitat aus der Annonce: „Du bist… mobil – ein eigener PKW wünschenswert“. Ach so. Und die verantwortungsvolle, „eigenverantwortliche“ Tätigkeit? Tja, man muss halt zusehen, wie man klarkommt. Und wenn etwas schief läuft, ist man eben verantwortlich. So einfach ist das. Und die aufregende Großstadt? Naja, es sind halt nicht die Tageszeiten, in denen das Leben pulsiert. Und die Haushalte in Datteln oder Castrop-Rauxel müssen eben auch beliefert werden. Jedenfalls die, die überhaupt noch Print-Produkte abonniert haben.

Übrigens haben es die Zeitungshäuser im Ruhrgebiet gar nicht gern, wenn man ihre Zusteller bei der Arbeit begleitet – jedenfalls dann nicht, wenn man es im Auftrag eines anderen Mediums tun möchte. Da werden Anfragen zuallermeist abschlägig beschieden, wie man hört.

Generationen von „hauseigenen“ Volontären haben hingegen frühe Reportage-Erfahrungen sammeln dürfen, indem sie einmal mit den Leuten mitgegangen sind, die früher „Boten“ genannt wurden und seit etlichen Jahren Zusteller heißen – ganz ähnlich, wie Lehrlinge irgendwann zu Auszubildenden mutiert sind und Volksschulen zu Grundschulen. Was natürlich alles ändert.




Was wollt ihr: Kreuzfahrt oder nach Wanne-Eickel radeln?

Inkognito beim Fahrradfahren – aber nicht nach Wanne-Eickel. (Schattenriss-Selfie: BB)

Inkognito beim Fahrradfahren – aber nicht nach Wanne-Eickel. (Schattenriss-Selfie: BB)

Heute steht in der FAZ-Sonntagszeitung (FAS) ein Beitrag über Klassenfahrten, die im Schnitt zusehends teurer geworden sind.

Warum das so ist? Weil u. a. Agenturen eingeschaltet werden, die kostspielige Erlebnistouren zu Komplett-Paketen schnüren, damit die geplagten Lehrer organisatorisch entlastet werden und verwöhnte Schüler halbwegs zufrieden sind. Die Eltern bezahlen den Aufwand ja, wenn auch wohl vielfach mit Murren.

Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel? Dann aber auch mit der richtigen Klingel! (Foto: BB)

Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel? Dann aber auch mit der richtigen Klingel! (Foto: BB)

Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Es kommt im selben Artikel nämlich noch besser. Dieser Tage gab’s Zoff und allfälligen Shitstorm, weil ruchbar wurde, dass zwei Leistungskurse eines Frankfurter Gymnasiums nach Oslo und Kopenhagen aufbrechen werden, und zwar per Kreuzfahrtschiff… Ein beteiligter Lehrer begründete das enorm klimaschädliche Vorhaben laut FAS im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk so: „Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel fahren – das wollen die Schüler nicht.“

Da sagen wir mal: „Setzen! Sechs!“

Nun hätte der Lehrer auch die seinem Standort viel näher liegenden, pulsierenden Metropolen Offenbach oder Darmstadt-Wixhausen als Beispiele nehmen können, aber nein: Der studierte Mann hat sich wohl gedacht, größtmöglichen Abscheu vor Piefigkeit mit einer Ortsbezeichnung aus dem Ruhrgebiet ausdrücken zu können. Und also gibt’s mal wieder dümmliches Revier-Bashing – ausgerechnet noch, um völlig unnötige Kreuzfahrten zu verteidigen. Ob zu den Leistungskursen wohl auch Schülerin(innen) gehören, die bei „Fridays for Future“ mitmachen? Sehr wahrscheinlich.

Und jetzt? Damit der besagte Lehrer auch mal was lernt, gibt’s noch eine kostenlose Lektion mit einem uralten Kalauer: Wie heißt Wanne-Eickel auf Lateinisch? – Na, Castrop-Rauxel natürlich!

Der weiß aber auch nix.

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Hier noch ein Ruhrgebiets-Quiz für Hessen, Schwaben, Bayern etc.: Zu welcher Revierstadt gehört eigentlich Wanne- Eickel?

a) Essen
b) Bottrop
c) Herne
d) Gelsenkirchen