Das zeitversetzte Lächeln des Herrn Löw (nebst gewittrigen Plaudereien im ZDF)

Was ist das für eine mediale Welt, in der ein Oliver Kahn mit dem ergreifend schlichten Tweet „Wir werden Europameister“ im Nu Abertausende von Followern um sich schart? Sind wir denn noch gescheit, sind wir noch zu retten?

Was ist das für eine mediale Welt, in der auf YouTube millionenfach (!) die Szene angeklickt wird, in der ein staunenswert schelmischer Bundestrainer Joachim Löw einem Balljungen die Lederkugel unter dem angewinkelten Arm wegschlägt? Und das auch noch während des überlebenswichtigen Spiels gegen Holland!

Ja, denkste. Just jene Szene wurde vor dem Anpfiff aufgezeichnet, dann aber als optisches Füllsel derart mitten ins Live-Geschehen montiert, dass es den Anschein hatte, der lächelnde Löw sei bei dieser Partie ganz entspannt im Hier und Jetzt.

Es handelt sich dabei zweifellos um eine Manipulation, um eine Täuschung, wenn auch in einem noch halbwegs harmlosen Fall.

Mutet man uns ähnliche Beschönigungen auch auf politischem Felde zu? Eine bestens gelaunte Kanzlerin, mitten in der Krise? Nun, das vielleicht gerade nicht, denn eben dann muss sie ja staatsfraulich ernste Miene machen. Und wohl kein Sender wird es – außerhalb der spärlichen Satireprogramme – wagen, einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken.

Dennoch ist dies ein Lehrstück, das zu noch mehr Misstrauen und Wachsamkeit Anlass geben sollte, als man sie ohnehin dem Fernsehen gegenüber hegt. Da wird eben keineswegs die reale Welt abgebildet, sondern allererst mit den Mitteln des Mediums konstruiert. Das wusste und weiß man sicherlich schon längst, doch muss man diese Erkenntnis ständig wachhalten. Sonst übertölpeln sie einen mit ihrem bildwütigen Erzählduktus.

Sicher. Auch Zeitungen spazieren ungleich mehr über den Boulevard als ehedem und im Hörfunk schrauben die meisten Sender ihre Anforderungen an die Konsumenten gleichfalls immer weiter herunter. Kaum noch längere Sätze, erst recht keine mit Schachtelung, kaum noch nicht-englische Fremdworte, die den Weg ins Programm fänden. Man fragt sich bang, auf welchem Niveau das eines Tages anlangen soll. Irgendwann werden vielleicht nur noch blanke Dreiwort-Äußerungen erwünscht sein. Vom landläufigen Mehrheitenfernsehen schweigen wir in solchen Zusammenhängen lieber gleich ganz.

Ach, es ist manchmal verdammt schwer, kein Kulturpessimist zu sein.

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P. S.: Ich lege ganz bewusst keinen Link zur besagten Szene auf YouTube.

P. P. S.: In diesen Minuten unternimmt das ZDF den schwierigen Versuch, die gähnende Zeit zu überbrücken, denn das Spiel Ukraine – Frankreich ist wegen eines heftigen Gewitters unterbrochen worden. Der Sprecher Béla Réthy ist wirklich nicht zu beneiden. Er flüchtet sich in Lehrsätze wie „Die Ukraine ist der zweitgrößte Flächenstaat Europas“ oder Menschheitsfragen wie „Was bekommt Michel Platini jetzt zu essen?“ Auch unternimmt er Ausflüge in die Fußballhistorie (Regenspiel 1974, Deutschland – Polen etc.). Überdies gibt’s Mutmaßungen zur Regelkunde, Wetterspekulationen und eine (Hahaha!) „Blitz-Tabelle“ der EM-Gruppe. Da bleibt kein Auge trocken.

Man erlöst Réthy mit Werbung und den heute-Nachrichten…

Das Schlimmste kommt jetzt: Sie schalten nach Usedom…aber gottlob nur ganz kurz.

Und nun gibt’s tatsächlich Fußball. Hoffentlich guten.

Réthy jedoch, einmal in Schwafelstimmung geraten, kommentiert auch jetzt noch den Blick zum Abendrothimmel über dem Stadion mit den goldenen Worten „Caspar David Friedrich hätt’s nicht schöner hinbekommen.“

Wir schalten um in die angeschlossenen Funkhäuser.




Brenne, blaues Flämmchen, brenne!

Hier meldet sich das stets rege Ressort Sex, Crime & Explosionen, denn es gab

Gasalarm!

 

Nun, so erschröcklich war es schließlich doch nicht. Aber als technischer Laie weiß man das nicht sogleich.

Das bläuliche Flämmchen war erloschen – und es roch auf einmal so streng. Also das Fenster angelweit auf und vorsichtshalber den Notdienst des Energieversorgers verständigt.

Den Fachmann, der daraufhin eintraf, den will ich preisen. Keine Angst. Dies wird keine Ode auf den Gasmann oder dergleichen. Aber ein Lob der Menschen, die sachkundig, unaufgeregt und freundlich ihre Obliegenheiten versehen. Wie es denn überhaupt in jedem, aber auch wirklich jedem Beruf solche unauffälligen Helden des Alltags gibt.

In diesem Falle war’s einer, der gewiss schon ein paar explodierte Häuser gesehen hat – und es oft mit ziemlich panischer Kundschaft zu tun bekommt. Wenn man ihm begegnet, so kann man sich vorstellen, wie er es vermag, beruhigend auf nervöse Menschen einzuwirken.

Indem er rasch und zielsicher zu Werke geht, findet er gleichwohl noch Zeit, jeden seiner Schritte knapp zu erläutern. Es war ein kleiner Schnellkurs in Sachen Gasboiler, Abgase, Rußverbrennung, Kaminzug usw. Schon mal über Thermoelemente nachgedacht? Man macht sich zu selten einen Begriff von den Mechanismen, die hinter unseren Bequemlichkeiten stecken.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Eine Riechprobe gab es obendrein. So wie Parfümhersteller ihre Düfte auf Teststreifen ziehen, so kann man auf einer Karte auch den Stinkstoff freirubbeln, der dem eigentlich geruchslosen Gas beigemischt wird. Früher roch das Zeug nach Schwefel, seit ein paar Jahren hat man umgestellt auf eine andere Substanz, die einen durch ihren Ekelfaktor unfehlbar alarmieren müsste.

Der Vorfall erwies sich als gänzlich harmlos. Nach wenigen Sekunden hatte sich die (anfangs zu riechende) Gaszufuhr automatisch ausgeschaltet. Sie ließ sich ebenso problemlos wieder in Gang setzen.

Viel Lärm um beinahe nichts. Folglich sieht man schon Einsatzkosten auf sich zukommen. Doch derlei Maßnahmen sind gratis – und warum? Es ist eigentlich nicht zu fassen. Damit gewisse Leute nicht am völlig falschen Ende sparen und womöglich „denken“: Da lass ich doch lieber den Nachbarn anrufen und dafür blechen. Das könnte dann schon der allerletzte Hirnimpuls gewesen sein.




Europa, die Krise und der Kick

Es ist mal wieder so weit: Ein großes Fußballturnier greift ab heute (mindestens) in die Freizeit vieler Menschen ein – bis hin zum persönlichen Ausnahmezustand.

Leute, die eigentlich gar keinen Schimmer haben, schwingen sich plötzlich zu erprobten Experten auf und nerven mit ihren Kurzschluss-Ansichten. Bald wird wieder alles beflaggt sein, was sich nicht wehren kann. Auch werden wieder grausige Maskottchen (siehe Schlumpf- und Schlumpfinchen-Bild) auf den Markt geworfen. Am innigsten stöhnt es sich freilich über jene, die mit dem niederziehenden Neutralitäts-Spruch „Der Bessere möge gewinnen“ aufwarten. Diese Lauen wird ausspeien der Fußballgott.

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Schlumpf und Schlumpfinchen, erhältlich bei einer großen Lebensmittelkette (Foto Bernd Berke)

Mag auch Europa politisch und ökonomisch ein wacklig gewordenes Projekt sein, so wird doch ab heute immerhin noch ermittelt, wer den erfolgreichsten Kick des Kontinents liefert – leider auch in einem Staatsgebilde von höchst zweifelhafter Statur, womit natürlich die Ukraine gemeint ist. Die Krisenländer Griechenland und Spanien sind jedenfalls mittenmang, die Spanier gelten gar als Mitfavoriten. Ich bin nicht so tollkühn, hier einen Tipp abzugeben. Es heißt, die Deutschen seien endlich mal wieder reif für einen Titel. Neuerdings kann man diese Annahme wieder füglich bezweifeln. Aber bitteschön…

Nur noch dies, aus Sicht des östlichen Reviers: Jogi Löws Entscheidung, im Kern mit dem „Bayern-Block“ anzutreten, kann einem Dortmunder nicht gefallen. Mit seiner Äußerung, bei der EM gehe es mit Verlaub nicht gegen Nürnberg oder Hoffenheim, verkennt Löw völlig, dass Borussia Dortmund just fünf Mal in Folge Bayern München bezwungen hat. Ja, ich springe weit über meinen Dortmunder Schatten und behaupte keck, dass nicht nur der Dortmunder Hummels, sondern auch der Schalker Höwedes in die erste Mannschaft gehört hätte.

Je nun, da gewichtet man eben seine Sympathien ein wenig anders und drückt (auch) den Polen die Daumen, die gleich mit drei BVB-Stammspielern antreten. Also gut, den Deutschpolen Podolski und Klose, den Deutschtürken Özil und Gündogan und ihren Mitstreitern wollen wir auch einiges, wenn nicht gar alles Gute wünschen.

Zur Lektüre – nicht nur in den Halbzeitpausen – empfehlen wir noch rasch zwei neue Bücher: Der Romancier und Dramatiker Moritz Rinke, seines zweiten Zeichens Stürmer des Schriftsteller-Nationalteams, versammelt ebenso liebevolle wie leichtfüßige Kolumnen zum Thema Nummer eins unter dem fast nietzscheanisch klingenden Titel „Also sprach Metzelder zu Mertesacker…“ (KiWi-Paperback, 201 Seiten, 7,99 Euro).

Weitaus ernster geht es in Thomas Kistners Sachbuch „FIFA Mafia. Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball“ (Droemer Verlag, 426 Seiten, 19,99 Euro) zu. Wenn auch nur ein Teil der Vorwürfe stimmt, so ist es schlimm genug bestellt. Nur gut, dass hier der Weltfußballverband am Pranger steht und nicht etwa die europäische Vereinigung UEFA, die ab heute wieder Reibach macht, aber selbstverständlich nur mit lauteren Mitteln, nech?




Schlechtgelaunte Fische?

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Haben wir unsere Mimik aus unvordenklichen Zeittiefen geerbt – oder deuten wir in alles, aber auch wirklich alles menschliche Verhaltensmuster hinein? Die vertrackte Frage werden wir hier nicht abschließend klären können.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Doch jüngst, vor einem Aquarium zu Bergen aan Zee (Niederlande) stehend, erhielt ich Anschauungsunterricht in Gestalt dieser beiden Fische. Man ist rasch geneigt, ihnen Griesgrämigkeit und schlechte Laune zu unterstellen. Dabei sind sie vielleicht ganz einverstanden mit sich und ihrer wässrigen Welt. Wer weiß?




Losung des Tages: Keine Gnade mit Computern – und dann weg mit dem Internet!

Das ist bedenklich: wie sehr unsereiner vom Online-Zugang abhängt.

Viele werden das empört von sich weisen: Wir doch nicht! Doch muss man ihnen glauben? Nein. Auch ihr seid süchtig, liebe Leute. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.

Die Sache verhält sich so. Ich bin für ein paar Tage in Urlaub und die Online-Verbindung streikt hier immer wieder.

(Werte Einbruchswillige, meine Lieben und ich können jede Sekunde zurückkehren – dann lauere ich sofort wieder mit meinem Schießgewehr, kawumm!).

Quälend offline also. Dabei ist man doch nur in Holland und nicht im Outback.

Es grenzt an Slapstick. Nur im Freien funktioniert der vom Haus des Vermieters kommende WLAN-Empfang, doch zuweilen lediglich dann, wenn ich das Notebook in einer bestimmten Zone des Grundstücks über Kopfhöhe halte, zähneknirschend das schüttere Empfangssignal abwarte und nun laaaangsam das Gerät senke, um mich schließlich wieder voooorsichtig hinsetzen zu können. Bis auf weiteres.

Es ist entwürdigend. Es ist demütigend.

Und nein: Ich will nicht ins Internet-Café.

Verfluchte Technik, die einen zum Deppen degradiert und sowieso auf Verschleiß beruht. Mit Computern samt allem Drum und Dran mag ich keine Nachsicht oder Geduld aufbringen. Wie denn auch?

Alle kennen das, gebt es nur zu! Man möchte die Apparatur anschreien, maßregeln oder am besten gleich vor die Wand klatschen. Man möchte das Display aufschlitzen, die Tasten oder die Platine herausreißen und überhaupt das vermaledeite Internet aushebeln, ankokeln, abservieren. Weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte. Von vorn beginnen.

Doch man muss ja so dringend Mails verschicken, Freunden bei Facebook dies und jenes mitteilen, seine Homepage, sein Blog oder sonstwas weiterführen. Das virtuelle Leben darf doch nicht pausieren. Man könnte sonst womöglich zur Besinnung kommen. Zur Einkehr gar!

Solcher Zwiespalt setzt wohl voraus, dass man eine lange Zeit des Lebens gänzlich ohne Internet verbracht hat. Den digitalen Eingeborenen (um die Formel ein allerletztes Mal zu verwenden) ist das nicht mehr begreiflich zu machen.

Weiß man denn selbst noch, wie es vorher gewesen ist? Wie man ohne Suchmaschinen und all die anderen Phänomene und Phantome sein Dasein hat fristen können? Sollte man etwa Bücher befragt oder sich bei Fachleuten erkundigt haben? Sollte man Dinge im Wortsinne begriffen haben?




Soziale Miniaturen (14): Klassentreffen

Vergangene Zeit... (Foto: Bernd Berke)

Vergangene Zeit… (Foto: Bernd Berke)

Kürzlich nach Jahrzehnten ein Klassentreffen gehabt. Vorher ein etwas mulmiges Gefühl: Wie würde das werden? Allgemeines Protzen mit Erfolgen, Titeln, Besitztümern? Herumreichen diverser Segelyacht-Fotos (selbstredend via iPhone) oder anderer Trophäen? Das angeblich übliche „Mein Haus, meine Frau, mein Sonstwas“…

Doch nein! Praktisch nichts von alledem. Fast möchte man von Milde und Weisheit reden, hie und da vermischt mit ein wenig Übermut der Sorte, die Demut keineswegs ausschließt. Es scheint, als wären wir in einem Alter angelangt, wo (wieder) andere Werte in den Vordergrund rücken. Wo sich etwaige Anmaßungen abgeschliffen haben. Wo sich das mehr oder weniger verbissene Konkurrieren zum großen Teil erledigt hat. Denn aus allen (jedenfalls aus denen, die zum Treffen erschienen sind) ist ja „etwas geworden“, man hat im Leben das eine oder andere bewirken können, wenn auch wohl nichts Weltbewegendes. Doch nun geht der Blick allmählich in andere Gefilde. Man muss das nicht näher erläutern, es steht ja allen bevor.

Ganz früh hatte man einigermaßen vergleichbare Sorgen, dann driftete es auseinander. Jeder suchte seinen Platz in der Welt einzunehmen und zu festigen. Jeder auf seine Weise, auf seinem Gebiet. Jeder, so gut er eben konnte. Manche auf verschlungenen Wegen, andere geradeaus draufzu. Und man weiß nicht, was besser ist. Im Bestreben war man einander wohl doch wieder ähnlich. Was ehedem nicht so zu ahnen war: Diese Jahrgänge haben wahre Arbeitstiere hervorgebracht, die sich für eine Aufgabe geradezu aufopfern können. Zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbetäubung ist der Grat oft schmal.

Nun herrscht auch wieder das Gefühl vor, ein und derselben Generation anzugehören. Noch dazu sind wir bis heute geprägt durch eben jenes Gymnasium, durch ganz bestimmte Lehrer(innen) und Mitschüler. So wird jetzt gleich wieder ein gemeinsamer Generalbass hörbar. Das war ja – neben dem und jenem Stoff – überhaupt ein Hauptzweck schulischer Bemühungen; dass man einige Grundtypen des Menschlichen in Nahsicht erleben konnte. Seinerzeit lebten sich Lehrer, sofern nicht angreifbar schwach, noch ziemlich schrankenlos vor den Klassen aus. Allen weiteren Erfahrungen zum Trotz: Im Hintergrund hat es – über alle Jahre hinweg – noch ein paar innere Instanzen und Haltungen gegeben, die sich aus jener Zeit herleiten.

Die anderen hatten sich vor zehn, fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Bei mir war’s wegen eines damaligen Schulwechsels erheblich länger her. Eine weite Zeitreise also. Im Grunde schockierend, wenigstens frappierend. Gesichter von damals, verwandelt von all der Zwischenzeit und rauhen Wirklichkeit. Das Klassenfoto aus alten Tagen durfte man nicht zu eingehend betrachten, sonst hätte einen Zeitweh erfasst.




Klagelied eines Zimmermädchens: So schlimm sind die betuchten Hotelgäste

Wo gibt es hierzulande noch zackig steile Hierarchien wie vor 60 oder 90 Jahren? Wo kann eine Arbeitswoche 70 bis 100 Stunden dauern – und das für ein äußerst bescheidenes Entgelt?

Im Hotelfach. Zumindest „ganz unten“, auf der Zimmermädchen-Ebene, muss sich das Berufsleben elend anfühlen. Ein privates Dasein gibt es auf dieser Stufe ohnehin nicht mehr.

Mit etwas Einfühlungsvermögen hat man sich das vielleicht schon vorstellen können. Doch die junge Frau mit dem Decknamen „Anna K.“ gibt – mit Hilfe zweier Ghostwriter – in ihrem Buch „Total bedient“ etwas genauere Einblicke ins Gewerbe.

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Ein preiswerteres Hotel - mit netteren Gästen? (Foto: Bernd Berke)

Nach dem Abitur hat diese Anna K. einige Praktika in Berliner Hotels und auf einem Kreuzfahrtschiff absolviert; mit dem Ziel, in die mittleren bis höheren Ränge des Metiers aufzusteigen. Ein Traum, der in immer weitere Ferne zu rücken schien. Flüchten schien höchst ratsam zu sein, anerzogenes Standhalten geradewegs in dauererschöpfte Verzweiflung zu führen. Gegen Ende ihres Leidenswegs kommt Anna K. auf die Idee, zunächst einmal eine Hotelfachschule zu besuchen, um danach womöglich in eine andere Branche zu wechseln. Nun ja.

Weite Teile des Buches geraten zur Gäste-Beschimpfung, zwischendurch wird das unmögliche Verhalten arroganter, neurotischer bzw. sadistischer Hotelchefs skizziert. Noch die letzte Gruppenleiterin (euphemistisch „Hausdame“ genannt) staucht Zimmermädchen nach Belieben zusammen.

Doch die teilweise bestürzend reichen Gäste sind, wenn man diesem Buch glauben darf, mindestens ebenso übel. Wer im Hotel mit vier bis fünf Sternen eincheckt oder gar auf VIP-Rabatt logiert, der „vergisst“ demnach auch die letzten Reste passablen Benehmens. Grußlos vorbei rauschende Wichtigtuer (Zimmermädchen sind für sie nicht einmal Luft) gehören fast noch zur harmlosesten Spezies.

Angeblich verlässt kaum jemand das Zimmer, wie er es vorzufinden wünscht. Der betuchte Hotelgast ist nach dieser Lesart in aller Regel unfreundlich, anmaßend, streitsüchtig, querulantisch, gierig, schamlos und schmutzig. Gibt es Erotik-Kanäle oder eine Minibar, so bedient er sich freihändig und leugnet das hartnäckig, wenn es ans Bezahlen gehen soll. Um keinen lautstarken Ärger zu bekommen, erlassen sie an der Rezeption meist den Betrag. Wer beim Empfang so eingeschätzt wird, dass er weniger Krach schlägt, der bekommt eventuell ein schlechteres Zimmer. So zahlt sich Unverschämtheit auch noch aus.

Bitte sehr, man hat ja nur darauf gewartet: Bestellen allein reisende Herren abends den Zimmerservice, verstehen sie darunter nicht selten auch erotische Dienstleistungen, zuweilen liegen sie schon nackt auf dem Bett, wenn angeklopft wird. Und wer das weibliche Personal nicht anmacht, der bestellt sich die eine oder andere Hure aufs Zimmer.

Hier noch, abschweifend wie manche Passagen im Buch (die Protagonistin berichtet etwas geschwätzig von ihrer Partnersuche), ein kleiner Info-Service für Reisende: Zeigt die Naht des Lampenschirms zur Wand, so deutet das auf umsichtigen Hotelservice hin, zeigt sie hingegen ins Zimmer hinein, so kündet das von Schlamperei.

Übrigens gibt es heimliche Standardstrafen („Rache der Zimmermädchen“) für gar zu schlimme Hotelgäste. Dann meldet sich – keineswegs Zufall – das TV-Gerät gegen 4 Uhr morgens mit der Weckfunktion, oder die Toilettenschüssel wird bei erster Gelegenheit mutwillig mit der Zahnbürste des Gastes traktiert.

Die geradezu genüsslich in Und-das-war-ja-noch-gar-nichts-Manier ausgebreiteten Verfehlungen der Gäste sind auf Dauer wiederholungsträchtig. Auch der galgenhumorige Grundton (mit sparsam eingeträufeltem Moralin) hilft nicht über alle Holprigkeiten hinweg. Immerhin gestaltet sich die Lektüre leidlich unterhaltsam, dem eigentlich betrüblichen Thema zum Trotz. Den nächsten Hotelaufenthalt wird man jedenfalls geschärften Blickes antreten.

Anna K.: „Total bedient. Ein Zimmermädchen erzählt“ (aufgeschrieben von Isabel Canet und Matthias Stolz). Verlag Hoffmann und Campe. 221 Seiten. 16,99 Euro.




Ein knappe Skizze zur NRW-„Wahlarena“

Das politische Spiel (WDR-Fernsehen, 20.15 bis 21.45 Uhr) in der „Wahlarena“, übertragen aus Mönchengladbach, hat 90 Minuten gedauert. Und was ist da rund gewesen?

Das Publikum ist von infratest/dimap nach repräsentativen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Immer wieder werden Befragungsergebnisse eingeblendet. Volkes Stimme. Pflichtschuldigst zelebriert und rasch abgehakt.

Einstiegsfrage nach dem Umgang mit den Benzinpreisen.

„Wir müssen weg vom Öl“, sagt Sylvia Löhrmann (Grüne). Ein schöner Satz. Sagt sich schnell.

Arena = Gladiatoren? Ach was! Es bleibt so zahm.

Mal wieder ein grausliches Studiodesign. Und eine wahrhaft fahrige Kameraführung. Bloß nirgendwo verweilen.

Norbert Röttgen (CDU): „Unsere Antwort heißt Elektro-Mobilität.“ Folgt eine kleine Fensterrede gegen die Ölkonzerne. Den kleinen Pendler dürfe man nicht – na? na? – „im Regen stehen lassen“.

Hannelore Kraft (SPD): „Ölkonzerne in den Griff bekommen.“ Auch das sagt sich flott. Wie denn überhaupt in dieser Sechserrunde (Arena) noch ungleich holzschnittartiger argumentiert wird als bei einem Duell. Doch früher hat es noch mehr gestanzte Sätze und betonierte Meinungen gegeben.

Joachim Paul (Piraten): Zur Pendlerpauschale wird eine Position „noch entwickelt…“ – „Wir Piraten kopieren gerne“ (z. B. Ideen aus anderen Ländern). Ein wohlfeiler Lacher.

Mehr oder weniger sprechen sich alle für die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs aus, die Piraten wollen auf Fahrscheine verzichten. Und wer bezahlt’s?

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Freie Farbenwahl (Foto: Bernd Berke)

Thema Haushalt/Schulden

Christian Lindner (FDP): „Der Staat soll bescheiden sein.“ Die Wirtschaft muss schneller wachsen als der Staat. Ach, es gibt sie noch, die alte Tante FDP.

Kraft: Nicht zu Lasten der Kommunen sparen. Nicht zu Lasten der Kinder sparen. Und bloß nicht sagen, auf wessen Kosten man sparen will (gilt für alle).

Hier reden, so könnte man meinen, wandelnde Wahlplakate. Talking Heads.

Röttgen (CDU): Sparen mit uns ginge weitgehend schmerzlos. 2 Prozent der Subventionen einsparen, das täte nicht weh. Rotgrün geht euphorisch mit Steuereinnahmen um = verprasst das Geld. Vier Ausnahmen beim sparen: Familie, Schule, Kultur… (juchhu! Es hat einer Kultur erwähnt). Da vergisst man glatt die vierte Option. Röttgens traditionelle Suggestion: Sozis können mit Geld nicht umgehen.

Schwabedissen (Linke): Privaten Reichtum abschöpfen. Keine Kürzungsorgien im Haushalt.

Paul (Piraten): Bedingungsloses Grundeinkommen prüfen (auch fahrscheinfreies Fahren sollte just „mal ausprobiert“ werden). „Es gibt Überlegungen in Richtung Vermögenssteuer“… Aha. Und wohin führen die wohl eines fernen Tages?

Lindner: Rotgrüne Verschuldungspolitik wird zur Staatsphilosophie erklärt. „Legende der guten Schulden“ beenden…

Thema Arbeit/Löhne

Lindner (FDP): Bloß keinen Überbietungswettbewerb in Sachen Mindestlohn, etwa zwischen Gabriel und Gysi. Das führt nur zur höheren Arbeitslosigkeit.

Löhrmann (Grüne): Unterste Linie 8,50 Euro pro Stunde.

Kraft (SPD): „Auch da gilt es, klare Kante zu zeigen.“ (SPD-Wahlplakat „Klare Kante Kraft“)

Röttgen (CDU): Tarifparteien haben Vorrang.

Schwabedissen (Linke): 10 Euro Mindestlohn. Gewonnen! Ihr Lieblingswort: „absurd“.

Paul (Piraten): Für bedingungsloses Grundeinkommen. Kostet den Staat keinen Euro mehr = Nullsummenspiel. Es sollte wenigstens „mal untersucht“ werden. Dann übt mal schön.

Kraft (SPD): Arbeit ist wichtig für die Würde des Menschen. Wer könnte da widersprechen?

Der unvermeidliche Moderator Jörg Schönenborn würgt die laufende Debatte nach Minutenschema ab.

Thema Bildung/Kinder

Löhrmann (Grüne): Für Ausbau der Kitas und Verbesserung der Kitas. Das unsägliche „Betreuungsgeld“ einsparen und in Kitas stecken. Gegen aufgezwungene Kita-Pflicht. Doch wenn die Kitas gut sind, wären die Eltern schlecht beraten, wollten sie ihre Kinder nicht hinschicken. Statements wie aus dem Wahlomaten.

Lindner (FDP): Gegen Betreuungsgeld (hat aber im Bundestag dafür gestimmt).

Schwabedissen (Linke, zweifache Mutter): Für 150 Euro „Herdprämie“ lässt sich kein Kind erziehen. Kita sollte generell gebührenfrei sein. Auch für Millionäre?

Röttgen: 60-70% der Eltern lassen ihre Kinder in den ersten zwei Jahren ohnehin zu Hause. Die sollten gefördert werden – bei völliger Wahlfreiheit zwischen den Lebensmodellen. Ansonsten ist alles „in der Diskussion“ (hört sich in der faserigen Offenheit fast nach Piraten an).

Kraft (SPD): Wer Betreuungsgeld zahlt, glaubt wohl, er müsse keine weiteren Kita-Plätze schaffen…

Lindner (FDP): Erhalten Leute, die nicht in die Oper gehen, dann auch einen Scheck? (Juchhu, noch einer hat Kultur erwähnt – wie grinsbereit auch immer)

Paul (Piraten): Wir müssen erst mal kompetente Menschen befragen… Wir haben nicht auf alles eine Antwort, stellen aber die richtigen Fragen.

Lindner: Rotgrün trocknet Gymnasien in punkto Ganztagsbetreuung und Klassengrößen aus.

Löhrmann, Kraft & Röttgen (!) widersprechen gemeinsam. Oh, einsame FDP.

Schwabedissen (Linke): „Eine Schule für alle“ statt dieser chaotischen Schullandschaft.

Paul (Piraten): „Wir sind keine Linke mit Internet-Anschluss.“ Ein bis zwei Dutzend Schulen sollen neue Modelle erproben… Verwaltungskräfte einstellen, um Lehrer zu entlasten. Alle Lerninhalte digital vorhalten.

Schlussrunde/Koalitionsaussagen

Lindner (FDP): Wahrscheinlich ist eine große Koalition. Wir sind dann Opposition. Prinzip Hoffnung.

Kraft (SPD): Es wird wohl für Rotgrün reichen. Kann trotz vieler Nachfragen die Piraten nicht so recht einschätzen.

Paul (Piraten): Wir würden gern auf der Oppositionsbank lernen. Darüber hinaus jetzt keine Aussage.

Röttgen (CDU): Dies ist kein Lagerwahlkampf. Auch überraschende Koalitionen sind denkbar. Die Demokratie wird bunter.

Löhrmann (Grüne): Rotgrün bevorzugt.

Schwabedissen: Wer will, dass die SPD sozialdemokratisch ist und die Grünen ökologisch sind, muss die Linke wählen. Gut auswendig gelernt.

Und das Fazit? Diffus. Um das Mindeste zu sagen. Röttgen und Lindner rhetorisch gar nicht mal übel, aber mit ihren Positionen z. T. auf verlorenem Posten. Auch die Vertreterin der Linken gewandter als so manche ihrer NRW-Kollegen. Piraten bitte ein paar Jahre lang hinten anstellen und erst mal Positionen klären. Themen, bei denen die Grünen gern volkserzieherisch werden (Ökologie, Rauchverbot etc.), kamen kaum zur Sprache. Ich persönlich weiß immer noch nicht recht, was und wen ich am 13. Mai wählen soll. Zwischenzeitlich hatte ich schon erwogen, dem Wahllokal erstmals gänzlich fernzubleiben. Aber das darf ja wohl nicht wahr sein.




Schwarzgelb getränkt

Vor Jahresfrist war hier schon die Rede davon, dass – als Grundzug im Leben – gleich hinter der Erfüllung ein kaum merklicher Anflug der Enttäuschung lauern mag. Damals war die siebte deutsche Fußballmeisterschaft von Borussia Dortmund der Anlass, diesmal ist es die achte, die ein paar Worte hervorruft. Wer hätte das vor drei oder vier Jahren für möglich gehalten?

Wenn man seine ersten Dortmunder Stadionbesuche noch als Kind in der „Roten Erde“ absolviert hat, freut man sich natürlich zutiefst. Doch manchmal hätte man es jetzt gern eine Spur verhaltener. Die Regionalzeitungen im Dortmunder Dunstkreis haben es übertrieben. Sie sind heute von vorne bis hinten schwarzgelb getränkt und komplett durchjubelt. Ein Overkill. Bereits jetzt laufen ziemlich viele Leute (und längst nicht nur Kinder) alltags in BVB-Farben durch die Stadt, als wär’s die normalste Kleidung. Von der Klitsche bis zum Konzern will jede Firma bekunden, dass auch sie mit den Borussen schwerstens sympathisiere. Eine Stadt dreht durch. Vorerst bis zum Pokalfinale am 12. Mai.

Nun warnen – von außerhalb – nicht wenige Journalisten vor den Gefahren der Übersättigung. Da wird geunkt, die Dortmunder Mannschaft sei künftig womöglich nicht mehr „hungrig“ und gierig genug, um einen weiteren Titel anzusteuern. Eine Formel, auf die man sich vielfach geeinigt hat, einer plappert sie dem anderen nach. Wir werden sehen. Wenigstens international muss der BVB ja noch einiges zurechtrücken.

Die Süddeutsche Zeitung aus München hält es (etwa aus schierer Missgunst?) allerdings nicht einmal für nötig, die Entscheidung um die Meisterschaft auf ihrer heutigen Titelseite auch nur zu erwähnen. Souverän ist das nicht. Das Thema bleibt allein dem Sportteil vorbehalten. Diese absurde Abstinenz hat das Blatt, das jüngst abermals die ganze graue Ruhrgebiets-Tristesse auf seiner Seite 3 lang und breit geschildert hat, sozusagen exklusiv. Vielleicht folgt ja noch der übliche Bericht, in dem bescheinigt wird, wie überaus nötig die geschundene Revierseele solche Erfolg im Fußball brauche.




Hemden ohne Taschen – eine Verlustmeldung

Wo sind bloß die Brusttaschen geblieben? Welche textile Verschwörung ist da im Gange?

Gestern in drei Geschäften gewesen, um 1 bis 2 Oberhemden zu erwerben. Gestaunt. Geärgert. Nichts gekauft. Alle Hersteller scheinen sich – gleichsam über Nacht – darauf geeinigt zu haben, keine Brusttaschen mehr aufzunähen. Eine Verkäuferin begründet das mit dem schlanken Schnitt, der jetzt en vogue sei. Unsinnige Mode. Doch auch die Marke, die seit jeher für den umfänglicheren Herrn schneidert, lässt die Taschen weg. Also ist das mit dem engen Schnitt wohl nur eine Ausrede.

Es ist wie damals in den blöden 80er Jahren, als allüberall Bundhosen aufkamen – mit wahrhaft elefantigen Silhouetten. Wenn man engere Röhrenform haben wollte, schaute man in die (nicht mehr vorhandene) … Genau!

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Wozu ich Brusttaschen brauche? Welch eine Frage. Ich will da gelegentlich Notizzettel hineinstecken. Oder einen Stift. Eine Brille. Drei oder mehr Gummibärchen. Früher hatte die Zigarettenschachtel dort ihren angestammten Platz – nebst Feuerzeug. Egal. Das geht die Hersteller oder sonstwen einen Kehricht an. Ich brauche solch eine Tasche als beruhigende Verstau-Reserve, weil ja nicht alles in die Hosentaschen passt. So aber fingere ich ins Leere.

Man hat plötzlich keine Wahl mehr. Ganz so, als wäre realsozialistischer Mangel ausgebrochen. Oder bräsige Service-Verweigerung. „Haben wir nicht, kriegen wir auch nicht mehr rein.“

Hätte ich in der Branche was zu sagen, würde ich jetzt diese Nische bedienen. Sinngemäß: „Nur bei uns: extragroße Brusttaschen!“ Gut, am Slogan kann man noch feilen.




Hermann Ungars Roman „Die Klasse“: Ein Lehrer leidet wie ein Hund

Einer gegen alle: Der Lehrer Josef Blau fühlt sich immerzu von aufsässigen Schülern umzingelt und im Wesenskern bedroht. Falls er kein strenges Regiment führt und dabei jede Maßnahme strategisch plant, droht die allzeit schlummernde Rebellionsbereitschaft aufzulodern und ihn zu vernichten. So denkt Blau jedenfalls. Kein Augenblick, der nicht mit Angst getränkt wäre. Einer gegen alle, auch gegen sich selbst.

Hermann Ungar hat 1927 in seinem Roman „Die Klasse“ eine Innenansicht des Verfolgungswahns gezeichnet. Gemeint ist nicht nur die Schulklasse, sondern auch die Klasse als soziale Schichtung. Man kann hier schaudernd in die Gefühlswelt eines durch und durch verkorksten Pädagogen jener Zeit eintauchen. Vor allem in der ersten Hälfte liest sich das Buch über weite Strecken als aufregend dicht gewobenes Psychogramm, als beklemmende Studie einer Gemütskrankheit, die nicht nur zeitbedingte Seiten hat.

Das Elend dieses Lehrerdaseins wuchert weit über schulische Fragen hinaus. Auch privat fühlt sich dieser Josef Blau zuinnerst mickrig – neben seiner drallen Partnerin Selma, die ein Kind von ihm erwartet, was der Erzeuger freilich bloß als tragische Verstrickung erlebt, die er am liebsten aller Welt verschweigen würde. Mit dem feschen Leopold taucht just jetzt ein neuer Lehrertypus als Gegenfigur an der Schule auf; ein Mann der neuen Zeit, beliebt bei allen Schülern, Naturbursche und Turner, gewiss auch Frauenheld, wie Blau argwöhnt. Deshalb zwingt er Selma, der er pauschal Gelüste auf andere Männer unterstellt, bodenlange Röcke zu tragen und das Haar abzuschneiden, damit sie nur ja keine Begehrlichkeiten wecke. Das ganze puritanische Arsenal.

Zu allem Überfluss lässt sich Blau vom barock-gargantuesken „Onkel Bobek“, einer mit Inbrunst gezeichneten, vor Fress- und Sauflust schier berstenden Gestalt, eine namhafte Bürgschaft abschwatzen. Und das, obwohl der Lehrer (gerade im Vergleich zu seinen großbürgerlichen Schülern) in bescheidenen Verhältnissen lebt. Wehe also, wenn Bobek das Geld vertrinken sollte!

Auch damit noch nicht genug, es sammelt sich weiteres Unheil über diesem Hiob: Einziger Ratgeber Blaus ist eine Jugendbekanntschaft, ein mephistophelischer Mensch namens Modlizki, der alle Bürger mitsamt den Aufsteigern (auch Lehrer) hasst, jedoch mit den übelsten Schülern im zwiespältigen Bunde zu stehen scheint. Er geleitet die – wie man damals vielleicht gesagt hätte – „mannbaren“ unter ihnen auch schon mal ins „Frauenhaus“, vulgo Bordell, um sie zu verderben. Aus Lust an Skandal und Untergang flüstert er Blau einen Hinweis zu, wann es wieder so weit sein wird. Fürchterliche Folge: Der Schüler Laub (Obacht: die gleichen Buchstaben wie im Namen Blau) erhängt sich, weil er sich vom Lehrer am Ort der Fleischeslust ertappt sieht. Nun, das ist eben doch schon ein paar Jahrzehnte her.

Leider steigert sich die Geschichte von jetzt an geradezu haltlos in ein existenzielles, quasi-religiöses Läuterungsdrama hinein. Blau sieht nun überall Gotteszeichen, spricht gleichsam in Zungen, stammelt wie ein seltsamer Heiliger. Alles, was jemals von ihm ausgegangen ist, möge getilgt werden. Alle Menschen sind Schüler einer einzigen großen Klasse. Und überhaupt…

Trotz solcher Einwände lohnt es sich, Hermann Ungars Roman zu lesen. 1929 mit nur 36 Jahren gestorben, hat er ein schmales Werk geschaffen, das anfangs die Aufmerksamkeit, ja den Enthusiasmus Thomas Manns weckte, der allerdings bald vor Ungars Radikalität der Menschenschilderung zurückschreckte. Man hat ihn in einer Traditionslinie zwischen Kafka und Freud sehen wollen. Solche Vergleiche sind meistens misslich. Ungar ist Ungar. Und das ist in vielen Belangen mehr als genug.

Hermann Ungar: „Die Klasse“. Roman. Nachwort von Ulrich Weinzierl. Manesse Verlag. 320 Seiten, 19,95 Euro.




Wie sich Pflegedienste nennen

Wer zählt noch die putzmunteren Glossen über Friseurläden und deren abgrundtief pfiffige Namen? Nein, damit hat man längst aufgehört. So wohlfeil ließ es sich stets über haarige (!!!) Wortspielchen witzeln, dass einem die – na? na? – Haare (!!!) zu Berge standen. Harr, harr, harr.

Immer mit Herz... (Foto: Bernd Berke)

Immer mit Herz… (Foto: Bernd Berke)

An dieser Stelle also nichts mehr über Coiffeure als Wortjongleure. Im Rahmen unseres Forschungsbereichs „Sondersprachen“ (bisherige Projekte: Maklerdeutsch und Weinverkostungsjargon) wenden wir uns hingegen umso lieber den Pflegediensten zu, die in der Seniorenrepublik vielfach florieren, jedoch füglich auf sich aufmerksam machen sollten, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Stockseriös, wie wir sind, verlassen wir uns auf eine einzige Quelle, nämlich auf das bundesweite Verzeichnis http://www.pflegedienst.de
Dort lassen sich die Namen wohl aller relevanten Einrichtungen des Gewerbes aufrufen. Das wollen wir jedenfalls stark hoffen. Falls nicht, so haben wir eben Pech gehabt.

Gewiss. Das Gros der Pflegedienste benennt sich ausgesprochen nüchtern und sachlich. Wir wollen annehmen, dass dort just so und trotzdem nicht herzlos gearbeitet wird, wie wir überhaupt nur das Allerbeste vermuten möchten. Dass sich hinter Pfleko GmbH ein dezenter Hinweis auf Pflege-Kosten verbirgt, das halten wir unter allen Umständen für ausgeschlossen.

Manche Marktteilnehmer treiben sprachliche Blüten, dass einem Tränen der Rührung kommen. Idiom der Wahl ist vor allem das Lateinische, gelegentlich auch das Griechische, es klingt so gediegen, gebildet, vertrauenswürdig, so wissenschaftlich und human(istisch). Beispiele fürs antikisch gewandete Allzumenschliche:

Humanitas, Humanika, HU-MA, Harmonica, Angelus, Domus, Visita, Sanitas, Prosano, pro sana, Procura, Curatio, Manus, Sensorium, Philantrop (sic! Es fehlt das zweite „H“, als sei man in traurigen Tropen gelandet).

Ach, wer da mitmenscheln könnte! Mitunter wird auch auf Deutsch gesäuselt und geraspelt, das hört sich dann so herzerwärmend an:

Die Hausgeister GmbH, Hausengel, Engel, Sonnenblume, Die Sonne, Regenbogen, Sorgsam GmbH, Pflege mit Herz.

Englisch gilt hingegen als zu jugendlich und genießt daher in diesen Kreisen keine Dignität, es waren nur drei Beispiele zu finden:

Home Care, Home Instead, CarePlus.

Auf medizinische Fertigkeiten pocht man hingegen gern, etwa so:

MedKontor, medicur, medi top, Medi Vario, Medilux, Medicura, MOBImed, Vita Med, Aeskulap.

Mehr noch. Gerade hier, wo es sich bisweilen dem Ende zuneigt, wird das Leben inbrünstig beschworen:

pro vita, Mediavita, Samavita, Vital, Vivus, Coravita, movita.

Und wo manche Klienten vielleicht nur noch dahindämmern, wird das aktive Dasein im Versicherungs-Sound (Standardausführung) gepriesen:

Aktiv, Aktiva, Futura, Inova.

Schließlich jene Fügungen, die etwas origineller wirken sollen:

Hallo Schwester, OMA, doppel.herz, LichtBlick, Polonia, Camelot, Theseus, Pflegemanufaktur 24, Quo Vadis…

Ja, wohin nur, wohin? In einem Fall könnte übrigens eine Marken-Kollision vorliegen. Wir verraten aber nicht, in welchem.

Zur wissenschaftlichen Abrundung folgt nun noch ein

statistischer Nachspann:

Die Anzahl der verzeichneten Pflegedienste korreliert, von den ersten beiden Plätzen abgesehen, keineswegs mit den Einwohnerzahlen. Hannover und Düsseldorf fallen weit ab, Stuttgart und Essen hingegen erweisen sich geradezu als Pflege-Metropolen. Woran liegt’s? Mit der schonungslosen Recherche werden wir unser Forschungsteam „Städte mit und ohne Herz“ betrauen. Hier schon einmal die schockierende Liste:

Berlin 203
Hamburg 98
Stuttgart 65
Essen 49
München 46
Köln 42
Wuppertal 29
Bremen 26
Dresden 20
Frankfurt 20
Duisburg 18
Rostock 17
Nürnberg 16
Leipzig 16
Dortmund 16
Kiel 15
Wiesbaden 15
Düsseldorf 11
Hannover 11

P. S.: Ironiemodus aus. Bitte von sauertöpfischen, sozialpolitisch korrekten Kommentaren Abstand nehmen, so schwer es auch fällt. Dem Verfasser ist bewusst, dass viele Pflegekräfte aufopfernd tätig sind – und das zumeist für sehr bescheidenes Salär.




Zum Tod des „Revierflaneurs“

Sein Blog www.revierflaneur.de war eines der anspruchsvollsten im Lande. Seine stupend kenntnisreichen Streifzüge auch durch entlegene und buchstäblich erlesene Gefilde der Literatur haben oft genug Neuland erschlossen, Hochinteressantes, meist von den Rändern her betrachtet. Beobachtungen des Flaneurs in seinen Essener Revieren konnten noch das Unscheinbarste erhellen, ja leuchten lassen; ganz ohne alle Ruhrgebiets-Klischees.

Jetzt ist der „Revierflaneur“ Manuel Hessling verstorben. Viel zu früh. Bestürzend früh. Man will es nicht wahrhaben. Sein Tod lässt einen nicht in Ruhe. Ganz so, wie er in kontroversen Diskussionen ungern Ruhe gegeben hat.

Manches hat er harsch verweigert, mit großer, geradezu erhabener Konsequenz. Er war ein entschiedener Gegner und Verächter des Autowahns, der Fernsehverblödung. Unausweichlich schien ihm die Apokalypse, der Niedergang der Menschheit, doch ohne jeden Trost der Religion. Glühend hat er für den Atheismus gestritten, darin fast schon wieder gläubig.

Wir haben einige Jahre nebeneinander her geschrieben, er war stets der Fleißigere, in gewisser Hinsicht auch der Unerbittlichere, der sich am Schreibtisch geradezu aufreiben konnte, unbestechlich, doch manchmal hochfahrend im Urteil. Ungenaue Formulierungen waren ihm ein Gräuel. Seine Texte hat er geschliffen wie Diamanten. Doch gerade einen solchen Vergleich hätte er wohl nicht gemocht.

Im Kulturblog „Westropolis“ (WAZ-Gruppe, 2007-2010) haben wir parallel gebloggt – und uns gelegentlich auf langen Kommentarstrecken bis ins Grundsätzliche hinein gestritten. Zwischenzeitlich sind wir gar vom „Du“ zum „Sie“ zurückgekehrt. Auf dem weiten Felde des Streits, der Auseinandersetzung schien er sich besonders wohl zu fühlen, allerdings nicht ohne Hang zur Versöhnlichkeit. Doch er wollte, dass man das Streiten ernst nahm, dass man nicht ins Unverbindliche auswich. Jede Art von Larifari war ihm zuwider.

Wunderbare Literaturrätsel hat er seinerzeit ersonnen, die das Feuilleton jeder überregionalen Zeitung geschmückt hätten. Wie ein gütiger Herbergsvater hat er mehrmals die „Westropolis“-Autor(inn)en versammelt. Es waren beinahe schon familiäre Treffen. Da zeigten sich seine anderen, nicht minder gewichtigen Seiten: das Gesellige, Humorvolle, die wache Bereitschaft zum höheren Nonsens.

Von Haus aus war er Buchhändler – und gewiss einer, der lesekundige Menschen noch richtig beraten konnte, darin vielleicht auch einem erzieherischen Impuls folgend. In letzter Zeit hat er nach und nach Teile seiner riesigen Büchersammlung verkauft – und darüber geschrieben, bibliophile Preziosen wie Freunde verabschiedend. Es tat schon weh, davon zu hören. Ich habe mir vorgestellt, dass mit jedem abgegebenen Buch der Besitzer gelitten hat. Er hat diese Befürchtung abgetan, als ginge es just um irdische Güter, von denen man sich ohnehin irgendwann trennen muss.

In den letzten Jahren hat er sich aufs Schreiben für sein eigenes Blog konzentriert, das reiche Früchte trug. Jeglichen Tag unterzog er sich der Arbeit am Text. Ich habe versucht, ihn als Autor für die „Revierpassagen“ zu gewinnen, er hat sich Bedenkzeit erbeten und sich dann doch fürs eigene Gelände entschieden. Aus seiner Sicht war das wohl richtig, denn er war letzten Endes ein Einzelkämpfer.

An der Frequenz, nicht aber an der Qualität seiner Beiträge hat man schließlich merken können, dass ihn offenbar die Kräfte verließen. Ein großer Optimist ist Manuel Hessling nicht gewesen, doch in seinem letzten Blog-Artikel vom 5. März weht mehr als ein Hauch von Melancholie. Und wenn man einen Wunsch äußern dürfte, so wäre es dieser: dass sein Blog zum Lesen, Denken und Andenken bestehen bleibe. Wer weiß, was da noch nachwirkt.

Manuel Hessling hinterlässt seine Frau Ursula und fünf Kinder. Ihnen gilt alles Mitgefühl.




Gestern, heute, morgen am liebsten keine Grass-Debatte

Schon von Anfang an haben mich ein Unbehagen und eine ausgeprägte Unlust beschlichen, mich in die allfällige Grass-Debatte zu mengen. Schnellfertige Schuldzuweisungen, harsche Positionierungen und Denkverbots-Umständlichkeiten waren zu erwarten. Tatsächlich hat sich das mediale Gestrüpp inzwischen derart verheddert, wie man es aus manchen früheren Grass-Debatten kennt. Grass selbst möchte jetzt nicht mehr so recht zu seinem „Gedicht“ (literarisch drittklassig, weil platte Meinungsprosa, vom Inhalt mal abgesehen) stehen und sagt, er hätte es anders formulieren sollen. Mit anderen Worten: Die sprachlichen Mittel stehen ihm offenbar nicht mehr zu Gebote, er schreibt tatsächlich mit „letzter Tinte“.

Doch nun kein Wort mehr davon. Möge das Gerede über den eitlen Großdichter bald wieder abschwellen. Es gibt so vieles, was nicht gesagt werden mus…




Aprilscherz ohne Gnade

Die Milchstraße wird in Schmidtstraße umbenannt, um den Altbundeskanzler zu ehren. Heinrich und nicht Thomas Mann hat den Löwenanteil der „Buddenbrooks“ verfasst. Galileis Erben fordern  Entschädigungszahlungen vom Vatikan. Maschmeyer kandidiert für die FPD. Bundesligatrainer müssen künftig über 65 Jahre alt sein, wobei vielleicht für Jürgen Klopp eine Aussnahme gemacht wird.

Haha. Hahaha. Aber Achtung, Achtung: Das stimmt ja alles gar nicht. Haha. Reingefallen.

Worum geht’s? Nun, die FAZ-Sonntagszeitung gibt sich heute ganz puppenlustig. Die Redaktion hat die gesamte Seite 1 (abgesehen von Anreißern fürs Blattinnere, Wetter und Lottozahlen) mit allerlei Aprilscherzen dicht gemacht, vulgo abgefüllt, noch mehr vulgo: zugeschissen, wie man zuweilen unter hemdsärmeligen Journalisten zu sagen pflegt. Hoho.

Offenbar ist sonst in der Welt nichts los. Da kann man ja mal…

Dass ich es nur gestehe: Aprilscherze in Zeitungen fand ich schon immer reichlich fad und öd. Meistens knirscht es vernehmlich im logischen und humoristischen Gebälk, wenn die schmalen Einfälle länglich ausgeführt werden. Die Lektüre erweist sich oft genug als Zeitverschwendung. Noch erbarmungswürdiger sind anderntags die „Auflösungen“ der Scherze. Dann werden die Witze auch noch gnadenlos erklärt.




F. C. Delius zieht Bilanz – diesseits und jenseits der Ideologie

Wenn ein Büchnerpreisträger seinen neuen Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ nennt, so klingt das nach Resignation – und man möchte inständig hoffen, dass er es nicht so meint.

Tatsächlich scheint es, als hätte sich Delius hier noch einmal seines langen literarischen Weges vergewissern wollen. Zeitlich hebt es an mit dem eher unscheinbaren, doch recht glückhaften Auftritt des schüchternen jungen Schriftstellers beim Treffen der damals noch maßgeblichen „Gruppe 47“ im schwedischen Sigtuna.

Das ebenfalls ausgiebig geschilderte Nachfolgetreffen in Princeton/USA nutzte dann der junge Peter Handke ganz gezielt für seine furiose Generalattacke auf die „Beschreibungsimpotenz“ der deutschen Gegenwartsliteratur, also seiner lästigen Konkurrenz. Auch so hochfahrend konnte man sich damals also den Eintritt in die Kreise der Hochliteratur verschaffen. Im grob gewobenen Vergleich steht der bescheidene Delius jedenfalls nicht schlecht da. Auch so eine Marktstrategie.

Nicht nur im Vorfeld der APO-Jahre galt, dass Literatur, wenn sie den Namen verdient, vor platten Ideologien bewahrt – ein Credo, das Delius auch durch die teils dogmatisch erstarrende Nach-68er-Zeit beibehalten hat, als manche gar den „Tod der Literatur“ ausrufen oder die Literatur wenigstens in linke Dienste nehmen wollten. Auch in diesem Punkt möchte Delius sanft darauf hingewiesen haben, dass er damals nicht auf der falschen Seite gestanden hat. Was er sich freilich bis heute vorwirft, ist, dass er nicht vehementer gegen dröhnende Ideologen Einspruch erhoben hat. Wohl auch eine Frage des Temperaments.

Breit ausgemalt wird noch einmal der Konflikt mit dem eigentlich sehr literatursinnigen Verleger Klaus Wagenbach, der in den frühen 70er Jahren unter Einfluss von Baader-Meinhof-Apologeten geraten sei und daher sein Politprogramm für krude Stadtguerilla-Thesen geöffnet habe. Hier sitzt wohl noch ein Stachel: Derart ausführlich schlägt Delius noch einmal die Schlacht von vorvorgestern, dass es sich wie eine noch ausstehende, finale Abrechnung mit dem Wagenbach jener Jahre liest. Ganz so, als wollte Delius nun endlich seinen geistigen Nachlass ordnen und dabei seine damalige Rolle ein für allemal festhalten.

Doch beileibe nicht nur Wagenbach ist damals in den Strudel der Ideologie geraten. Zitat Delius: „Ein unerforschtes Gebiet: Wie sich die Sprache der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1970 ins Offensive, vom Fragen zum Behaupten gewendet, vom Konkreten und Sinnlichen abgewendet, radikalisiert und es sich im Abstrakt-Allgemeinen bequem gemacht hat.“ Jeder, der damals in bissige Polit-Debatten verstrickt war, wird diesen Ansatz seufzend bestätigen. Es waren giftige Jahre, in denen am Streit um die „richtige“ Linie nicht selten Freundschaften oder Beziehungen zerbrachen.

Für einen Schriftsteller, der sich als Teil der Linken begriff, die literarischen Kriterien aber keineswegs preisgeben mochte, müssen jene Zeiten eine stete Gratwanderung, ein schwieriges Lavieren gewesen sein. Zumal Delius sehr frühzeitig – bereits ab 1963 – mit Autorenkollegen in der DDR (Günter Kunert, Wolf Biermann, später Heiner Müller, Thomas Brasch usw.) Freundschaft geschlossen hat, deren Texte er unter schwierigen Bedingungen im Westen zugänglich machte, wenn es nur irgend möglich war. So einer konnte den Moskauer Doktrinen nicht mehr auf den Leim gehen.

Übrigens hat Delius als Lektor beim Rotbuch-Verlag auch die spätere Nobelpreisträgerin Herta Müller erstmals hierzulande herausgebracht. Das ist denn doch ein bemerkenswerter Befund: Gerade linke Literaten und Lektoren haben damals offenkundig ungleich mehr für Autoren aus dem Osten (und somit indirekt für den Fall der Mauer) bewirkt, als die notorischen „Kommunistenfresser“.

Es ist überhaupt eine „Lehre“ dieses Buches: Wer sich den Sinn für literarische Qualität bewahrt und als Kompass nutzt, der widersteht so mancher falschen Lockung. Delius benennt auch einige andere, die auf solche Weise unbeirrbar Kurs hielten; unter den Generationsgenossen vor allem Nicolas Born und Peter Schneider, dazu verehrte Vorbilder von großer geistiger Unabhängigkeit wie etwa Susan Sontag oder Walter Höllerer.

Die Lektüre dieser Delius-Rückblicke setzt ein ausgeprägtes Interesse für Zeit-, Literatur- und Verlagsgeschichte mit ihren Kollektiv-Experimenten speziell der 1970er Jahre voraus. Der Autor breitet auch noch einmal seine langwierigen juristischen Auseinandersetzungen mit dem Siemens-Konzern (nach der fiktiven Festschrift „Unsere Siemens-Welt“, um die es einen erbitterten Satirestreit gab) und mit dem damaligen Kaufhauskönig Helmut Horten aus.

Zuweilen weiß man nicht so recht, was Delius bei seinen „biografischen Skizzen“ (Untertitel) angetrieben hat. Mal lesen sich die Kapitel wie bloße Reminiszenzen für die archivarische Schublade, anderes klingt nach Rechtfertigung und Apologie, wieder anderes nach Materialiensammlung für ein Lesebuch zum Zeitgeist und zum Werkhintergrund des Autors. An manchen Punkten wäre eine präzise Nennung der Zitatstellen dokumentarisch hilfreich gewesen.

Offen klafft schließlich die Frage, ob die Bücher heute weniger oder gar nicht mehr helfen. Der letzte Text des Bandes ist Delius’ Dankrede zum Büchnerpreis, in der denn doch den Worten wieder alles Gewicht gegeben wird: „…am Ende entscheiden in der Literatur (…) allein die Sätze, der Satz. Die Energie und die Unruhe, die sich zwischen zwei Punkten entfalten.“ Es möge so bleiben immerdar.

Friedrich Christian Delius: „Als die Bücher noch geholfen haben“. Biografische Skizzen. Rowohlt Berlin. 304 Seiten. 18,95 Euro.




Das Revier möchte auch mal wieder Kohle sehen

Bislang waren die Touristik-Werber der Region Ruhr stets gehalten, das Revier als normalisierte oder gar potente Gegend mit einmaligen Monumenten und weitgehend gelösten Strukturproblemen zu verkaufen.

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Eindruck aus Dortmund-Dorstfeld (Foto: Bernd Berke)

Es sollten einem schier die Augen übergehen: Kulturelle und sonstige „Leuchttürme“, wohin man auch blickte, seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010 war gar eine Nachhaltigkeit sondergleichen wirksam, hieß es vollmundig. Mit Pauken und Trompeten wurde eine wachsende „Kreativwirtschaft“ ausgerufen. Selbst die bislang zum Himmel stinkende Kloake namens Emscher wird renaturiert und fließt auf manchen Strecken schon als lieblicher Bachlauf, in Dortmund lockt ein neuer See die Immobilienbranche. Blühende Landschaften also, so wie es Kanzler Kohl einst dem deutschen Osten versprochen hatte?

Doch halt! Schwenk um 180 Grad. Sieht’s in jenem Osten nicht längst ungleich edler, schmucker, aufgeräumter und ziviler aus? Damit verglichen, so klagen Stadtväter im tiefen Westen immer mal wieder, sei das Ruhrgebiet eine Landschaft auf Abbruch. Hier würden Schwimmbäder geschlossen, im Osten hingegen neue errichtet – vom seit 20 Jahren munter ostwärts fließenden Solidaritätsbeitrag, für den unter Finanznot ächzende Revier-Kommunen horrende Kredite aufnehmen müssen. Mit ähnlichem Drall geht es beileibe nicht nur um Schwimmbäder, sondern auch um Jugendzentren, Kinderbetreuung, kulturelle und städtebauliche Pretiosen sowie halbwegs ordentlichen Straßenbau. Dortmunds OB Ullrich Sierau (SPD), der sich gern weit aus dem Fenster reckt, nennt den „Solidarpakt Ost“ denn auch ein „perverses System“.

Mit großem Aufschlag hatte sich gestern die „Süddeutsche Zeitung“ das Thema zu eigen gemacht und im alarmierenden Ton das „Verbrechen am Tatort Ruhrgebiet“ kommentiert. Wenn nicht jetzt sofort (statt 2019) der einseitig zugunsten des Ostens aufgehäufte Soli abgeschafft werde, so könne das Ruhrgebiet bald kollabieren. Natürlich sind die Medien des Reviers darauf eingestiegen. Tenor, wie zu erwarten: Jetzt sollen die anderen mal für uns zahlen! Kohle her! Da ist einiges dran, und es wäre gut, wenn darüber mal richtig hartnäckig geredet würde. Doch man mag nicht so recht daran glauben und ließe sich so gern eines Besseren belehren.

Selbstverständlich hat das plötzliche Aufkommen der Debatte vornehmlich mit dem NRW-Landtagswahlkampf zu tun. Der Verfall der Ruhrgebiets-Kommunen kann – nach dem Verständnis der SPD-Stadtväter – weit überwiegend dem schwarzgelb-regierten Bund angelastet werden. Hannelore Krafts CDU-Gegenkandidat Norbert Röttgen wäre somit ein Teil der Misere, wie jetzt punktgenau lanciert wird. Der Mann, der sich nicht offen für Düsseldorf entscheiden mag, ist angeblich ohnehin chancenlos. Mit dem „Soli“ will man ihn vollends erwischen. Oberschlau eingefädelt?

Und womit locken wir jetzt die Touristen? Mit dem blanken Elend? Nein, nein, es wird ja mal wieder alles himmelblau und rosig.




Sarrazin hat es wieder getan

Was wird das wieder für eine mediale Aufregung geben! Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) hat ein neues Buch fertig, das in einigen Wochen erscheinen wird.

Dem welthistorischen Anspruch entsprechend, wird Sarrazin sein Buch demnächst im Luxushotel einer deutschen Metropole der Presse vorstellen. Mehr über diesen Termin zu verraten, wäre allerdings grob fahrlässig.

Dem bloßen Buchtitel nach zu urteilen, schafft der Mann diesmal Europa ab – oder wenigstens den Euro. Jedenfalls auf dem Papier. Da darf man wohl manche Schwänke über verschwenderische Südländer, insonderheit Griechen, erwarten. Und weiter, weiter: Wenn der Euro erst einmal weg wäre, könnte ihn der Türke nie niemals nicht bekommen. Alsdann hätten wir wieder unsere starke Mark ganz allein für uns. Hach!

Von solcher Autonomie Deutschlands haben schon andere geträumt.

Aber lassen wir das. Vorerst ist’s ja nur eine spontane Spekulation zu Sarrazins Schreibe. Doch sie wird schon nicht völlig fehlgehen. Darauf so ziemlich jede Wette.




Fußball? Nicht mehr ohne Maske!

Branchentypische Witzbolde sprechen vom „Maskenball“. Ballack hat eine getragen, Huntelaar und Subotic desgleichen. Dante, Höwedes, Mertesacker, Metzelder, Olic und Schürrle ebenfalls. Und so mancher andere. Es scheint geradezu ein Zeichen der Zeit zu sein: Kaum noch eine Begegnung in der Fußball-Bundesliga, bei der nicht wenigstens ein Spieler mit Maske aus Karbon aufläuft. Was hat das zu besagen?

Gewiss: Die Kicker wollen sich vor weiteren Gesichtsverletzungen schützen. Doch eine andere Botschaft ist ungleich stärker. Denn zugleich dokumentieren die Masken, dass der Träger die vorherige Blessur – etwa einen Nasenbeinbruch – noch gar nicht richtig auskuriert hat, aber trotzdem schon wieder am Ball ist. Ergo sendet er das Signal aus, zu den besonders harten Hunden des Gewerbes zu gehören. Das kommt an in den Fanblöcken, das steigert vielleicht sogar den Marktwert, wer weiß. Ja, bei den simpel Denkenden erstickt es unter Umständen auch die Frage, ob der und jener Recke vielleicht schwul sei.

Überdies sehen die Spieler mit solchen Schutzmasken nicht mehr wie verletzliche Individuen aus, sondern sie erscheinen als anonyme Monster. Denkt da jemand an die Guy-Fawkes-Masken der „Occupy“-Bewegung? Nun, wir sind hier wohl auf ganz anderem Gelände. Seit Zorro gab’s zahllose Figuren der Populärkultur, die hier insgeheim und ungewollt mitzitiert werden – bis hin zu Darth Vader oder den Furcht erregend muskulösen Kampfmaschinen mit ihren technoiden Panzerungen, die Teile der Comic- und Spielzeugwelt bevölkern. Mit derlei „body modification“ kann vielleicht gar den Gegenspielern unterschwellig Angst eingejagt werden.

Bevor ich das Phänomen überinterpretiere, fällt mir eine andere Erscheinung auf Fußballplätzen ein – jene Nasenpflaster der 90er, deren Verwendung bei der EM 1996 kulminierte. Sie sollten angeblich die Atem- und Laufleistung erhöhen, sind dann aber nach Studien, die diese Annahme widerlegten, sehr schnell in den Mülleimern verschwunden. Drum sollte man auch diesen Beitrag zügig gelesen haben, sonst ist der Gegenstand womöglich schon wieder hinfällig.




Sarah Kirschs „Märzveilchen“: Fern vom dröhnenden Lärm der Welt

Die Wochentage heißen hier beispielsweise Montauk, Mistwoch, Donner, Sonntach. Sie verteilen sich auf Monate wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandril, Mayen oder Junius. Hamburgs Schanzenviertel firmiert als Chancen-Viertel. Mit dem Internet verhält es sich so: „Sonst gab es nur Mist im Indernetz und man vergeudet seine herrliche Zeit.“

Wie soll man das finden, wenn jemand seine Notizen stellenweise so verdrechselt datiert und verballhornt: liebenswert versponnen oder auch ein bisschen albern?

Sobald man freilich weiß, dass hier die hochgeachtete Lyrikerin Sarah Kirsch am Werk ist, und wenn man nur einige Seiten liest, so lässt man es gern gelten. Denn auch in dieser Kurzprosa erklingt ja immer wieder dieser leise, ganz eigene, mitunter aufgerauhte Herzton, den man nicht missen mag.

Ihr neuer Band „Märzveilchen“ enthält Aufzeichnungen von Dezember 2001 bis September 2002. Ein recht kurzer Zeitabschnitt also, der inzwischen aus gemessener Distanz betrachtet werden kann.

Es ist kein Tagebuch im üblichen Sinne. Nicht tagtäglich stehen da Einträge, es gibt Lücken. Die Mitteilungen sind angenehm lakonisch, bisweilen etwas schnoddrig, hie und da behaucht mit Berlinischem Atem: „Beschäftige mir mit alle möglichen Texte.“

Sarah Kirsch hat sich von Lärm der Welt in einen entlegenen Winkel Schleswig-Holsteins zurückgezogen. Nur unwillig und widerstrebend lässt sie sich noch bei literarischen Anlässen sehen. Ihr Fazit nach einem solchen Abstecher: „Also ein Dichtertreffen brauch ich in diesem Leben nicht mehr…“

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Wiederholt betont sie, wie froh sie sei, beispielsweise nicht im Berliner Rummel zu leben und dort vom Wesentlichen abgelenkt zu werden: „Ich will viel lieber in Ruhe vertrotteln.“ Schon das beschauliche Städtchen Rendsburg genügt für den meisten Bedarf.

In der Abgeschiedenheit werden auch unscheinbare Glücksmomente festgehalten, so etwa beim Fernsehen nebst Strümpfestricken: „…und ruhe so wunderbar leichtherzig in mir, dass ich gar nicht genug davon kriege.“

Zwei gegenläufige, doch auch ineinander verwobene Hauptstränge ziehen sich durch diese Kurzprosa. Zum einen und vor allem die natürlichen Vorgänge im Jahreskreislauf. Jede Wetterwendung, jeder Vogelflug können dort draußen in Tielenhemme an der Eider zum Ereignis werden. Treffliches Zitat: „Es geschieht immer das Gleiche, worauf ich stets warte.“

Zum anderen registriert die Dichterin manche politischen und sonstigen Aufregungen, wie sie durchs Fernsehen in ihre oft sturmumtoste Klause dringen. Es sind gleichsam arge Störgeräusche aus der unselig betriebsamen oder auch katastrophalen Welt, die damals durch den 11. September 2001 gerade gründlich erschüttert worden war.

Überhaupt sieht die Autorin viel fern – von Rohmer-Retrospektiven über die Muppets bis hin zu Partien der Fußball-WM 2002. Auch Theaterinszenierungen verfolgt sie im TV. Man mag so nicht auf der Höhe aller landläufigen Debatten bleiben. Doch lässt sich wohl nur so ein lyrischer Ton finden und halten; indem man sich weitgehend verschließt vor den dröhnenden Verhältnissen und seinen Garten bestellt.

Es bleibt also Zeit fürs Schreiben und die Lektüre. Hervorbringungen der literarischen Großprominenz beurteilt Sarah Kirsch mitunter harsch. Während sie etwa V. S. Naipaul rühmt, heißt es über Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“ knapp: „Heldin eine Bankiersfrau. 750 Seiten in schlechter Sprache.“ Und über Günter Grass’ „Im Krebsgang“: „Dieses bürokratische Gerede – nie kann man fliegen, es ist ganz entsetzlich!“

Ungleich einlässlicher spürt sie den Meistern der Romantik nach, in deren Versen Hoffnung und Tröstungen der Natur aufgehoben sind. Der Buchtitel „Märzveilchen“ beschwört das gleichnamige Gedicht von Adelbert von Chamisso herauf, gegen Schluss zitiert Kirsch das „Herbstweh“ des Joseph von Eichendorff, das ins vollkommen Lautlose ragt:

„Bald kommt der Winter und fällt der Schnee, /
Bedeckt den Garten und mich und alles, alles Weh.“

Sarah Kirsch: „Märzveilchen“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA). 238 Seiten. 19,99 Euro.




Niederungen des Alltags (1): Räderwechsel beim Bobby Car

Werkstattbesuche sind meist ärgerlich. Reparaturen kosten reichlich, ohne Scherereien kommt man selten davon. Wie aber, wenn bloß ein Bobby Car umgerüstet werden soll? Da wird doch wohl alles ganz kinderleicht von der Hand gehen?

Testfall „Whisper Wheels“. Flüsterreifen also, die nachträglich ans Plastikauto montiert werden, wenn man’s gern etwas geräuschärmer hätte. Ein Unding übrigens, dass die deutlich leiseren Räder erst neuerdings serienmäßig drauf sind. Bei älteren Exemplaren muss man folglich werkeln.

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Die Anleitung ist etwas für Tüftler. Die Skizzen sehen verwirrend aus. Nach ersten vergeblichen Versuchen, die alten Reifen zu lockern, schaut man vielleicht ratsuchend im Netz nach – und findet virtuelle Kummerkästen.

Ein erschütternder Erfahrungsbericht auf www.doyoo.de trägt gar den windschiefen, nahezu apokalyptischen Titel „Leidensweg und Martyrium der Flüsterreifen“ und erzählt die Gräuelmoritat von angerosteten Metallclips, die nur mit einer Flex und Brachialgewalt hätten entfernt werden können. Im Fazit des Beitrags heißt es: „Es war wirklich ein Martyrium, ich habe nicht übertrieben.“ Was soll man dazu sagen? Dass viele Menschen nicht mehr wissen, was wirkliches Leiden ist?

Dermaßen gewarnt und wohl auch entmutigt, gibt man seine handwerklichen Bemühungen allerdings rasch auf.

Schließlich die scheinbar goldene Idee. Einfach mal bei einer richtigen Autowerkstatt nachfragen. Aber das hieße doch gleichsam, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Wäre das nicht peinlich? Und wenn schon.

Also hin. Dort feixt man freundlich, nimmt sich aber der Sache an. Doch ach! Auch dort ist man hilflos. Sie haben Angst, mit allzu groben Maßnahmen das Kinderauto zu zerstören. Wahrscheinlich fürchten sie, es käme dann eine Prozessflut auf sie zu…

Ja, ist es denn zu glauben?

Last Exit: Baby-Fachgeschäft. Und siehe, dort kennen sie das Problem. Es wächst das Rettende. Sie hämmern und schrauben an den richtigen Stellen. Hosianna!




Soziale Miniaturen (13): Ein Nachruf im bleibenden Zorn

 

 

 

 

 

 

 

Es ist einer gestorben, um den ich nicht richtig trauern mag.

Wie man hört, muss sein Sterben qualvoll gewesen sein. Kann man hier jegliches Mitleid verweigern? Eigentlich nicht. Sicherlich nicht.

Doch zu seinen Lebzeiten habe ich ihn als ein Charakterschwein hassen gelernt. Ja, ich schreibe diese furchtbaren Worte ganz bewusst hin und weiß, dass nicht wenige diese Zeilen unterschreiben würden. Mir ist schon geläufig, dass Hass und Feindschaft schlechteste Ratgeber sind. Auch verraten derlei entschiedene Abneigungen viel über einen selbst. Geschenkt.

Und überhaupt: Über die Toten darf nur Gutes gesagt werden. Es wäre in diesem Falle gar selbstlos. Eher schon neige ich zu einem Nachruf im bleibenden Zorn. Ich will nicht daran ersticken.

Meine nicht allzu tiefe Trauer betrifft denn auch eher allgemeine Sphären. Das Leiden an sich. Die Conditio humana. Hier ist ja ein Mitmensch verstorben. Auch mit ihm ist eine ganz eigene Weltsicht hinweg – wie krude auch immer. Auch er hat sein Innenleben gehabt. Nur hat er es niemals offen gezeigt, sondern mit aller Machtanstrengung einen Kraftkult der Unangreifbarkeit verkörpern wollen. Wie der sich immer über alle Alten und Schwachen lustig gemacht hat! Wie überaus dumm und kurzsichtig das gewesen ist. Es ist, als hätte er nun den allerhöchsten Preis für seinen Zynismus entrichtet.

Er wurde mitten im Weltkrieg geboren, wahrscheinlich hat man ihm in aller Kindesfrühe unerbittliche Härte eingepflanzt. Ebenso wahrscheinlich ist er im Innersten ein armes Würstchen gewesen, insgeheim um ein Zipfelchen Zuneigung bettelnd, freilich ringsum gepanzert. Solch einer wird dann unter gewissen Umständen zum gnadenlosen Schleifer und Galeeren-Einpeitscher, was elend sentimentale Anwandlungen vor hohen Feiertagen und im allfälligen Alkoholnebel nicht ausschließt.

Er hatte sich eine tigerhaft gefährlich klingende Stimmlage antrainiert, er hat sich – völlig ungebrochen, daher zunehmend lächerlich – als Alphamann geriert, hat dabei vielen die Motivation geraubt, sie erdrückt, vor den Kopf gestoßen oder gedemütigt. Etlicher Groll und unterdrückte Wut haben sich gegen ihn angesammelt. Umso betrüblicher, dass er höchst selten wirklichen Widerstand erfahren hat. Ein diktatorisches Lehrstück.

Für seine dumpfen Scherze aus dem Ungeist gesammelter Vorurteile hat er lachbereite Hilfstruppen gefunden, die sich wohl Vorzugsbehandlung oder wenigstens Schonung erhofften. Er hat sich sehr genau gemerkt, wer da nicht aus vollem Halse mittun wollte. Doch nie, nie hat man erlebt, dass er selbst wohlwollend oder gar herzlich über den Scherz irgend eines anderen gelacht hätte. Das hätte er sich selbst als Schwäche angerechnet.

Seine sterblichen Überreste sollen in Frieden ruhen, den er manchem Lebendigen nicht gelassen hat. Und damit gut.




„Mächtiger Körper, Wahnsinn im Glas“: Das Vokabular der Weinverkostung

In vino veritas! Wer wollte bestreiten, dass im Wein der Widerschein von Weisheit und Wahrheit funkeln kann? Das edelste aller Getränke spornt den Menschen seit jeher auch zu sprachlichen Anstrengungen an, mit denen er den zahllosen Geschmacksnoten halbwegs gerecht werden will – ein ähnlich schwieriges Unterfangen wie die verbale Umschreibung musikalischer Nuancen.

Von einem Schloss zum anderen... (Foto: Bernd Berke)

Von einem Schloss zum anderen… (Foto: Bernd Berke)

Der mindestens ebenso starke Hang zur Bequemlichkeit hat allerdings eine standardisierte, vielfach zu Formeln geronnene Sprache mit sich gebracht, die sich derart in Schwärmerei und Huldigung ergeht, dass oft genug die Gefilde des Lächerlichen gestreift werden. Da wird geraunt, rhapsodiert, psalmodiert und in die Harfe gegriffen, dass es nur so rauscht.

Aus zwei umfangreichen Weinkatalogen renommierter Häuser (Hanseatisches Wein- und Sektkontor sowie Tesdorpf) habe ich gängige Floskeln des Rühmens herausgepickt, wie sie nach der Verkostung offenbar so anfallen. Am Schluss dieses Beitrags finden sie sich in einer Auflistung, quasi fürs Vokalbelheft.

Mutmaßung: Wer die wichtigsten Signalwörter einigermaßen stilsicher anwendet, der ist schon ziemlich gut für den Verkauf gerüstet. In diesem Sinne ist es eine peinliche Entgleisung, wenn hie und da von „Powerwein“ gemunkelt wird. Die unbedarfte Wortschöpfung passt nicht in eine Welt, in der ansonsten Jahrhunderte währende Traditionen beschworen werden und in der etwa die Punktewertung des Wein-Gurus Robert Parker wie in einer Monstranz einhergetragen wird.

Bei all dem vermengen sich Begrifflichkeiten für Duft- und Geschmacksnoten manchmal bis zur Unschärfe. Überhaupt gewinnt man bei fortlaufender Lektüre solcher Beschreibungen den Eindruck, dass man die häufigsten Weinwörter nahezu beliebig kombinieren und stapeln kann – schon klingt es nach dem Jargon der Eingeweihten. Doch fragt man sich bang, wie die stille Post von den hochsensiblen Degustierern zu den Werbetextern gelangt. Ob da immer alles so ankommt, wie es gemeint war?

Vollmundige Lobpreisungen setzen bereits bei Gewächsen an der 12-Euro-Grenze ein, so dass bei edlen Tröpfchen zu mehreren tausend Euro pro Flasche auch sprachlich die Luft nach oben ganz dünn wird. Die stets selig schwelgenden Texter haben ihr Pulver, so scheint es, schon längst auf dem Gelände der moderaten Einstiegspreise verschossen. Was soll man verbal noch nachlegen, wenn man schon den einen oder anderen 25-Euro-Wein der „Weltklasse“ zugerechnet hat? Hier empfiehlt es sich vielleicht, die Fachsprache noch entschiedener zu systematisieren, also auf strenge Hierarchie zu trimmen und bestimmte Worte nur den teuersten Weinen vorzubehalten…

Es fällt auf, dass der Hanseaten-Katalog immerzu mit dem Begriff „Körper“ („saftiger Körper“, „mächtiger Körper“) wuchert und so manchen „Abgang“ („warm und schön lang“) getreulich verzeichnet, während es Tesdorpf eher mit Struktur, Statur und Finale hält. Im Großen und Ganzen aber überschneidet sich das wabernde Vokabular der Weinbeschreibung, wie es sich in vielen Jahrzehnten verfestigt hat. In aller Regel sind die angepriesenen Weine zumindest harmonisch und gut ausbalanciert, sodann beispielsweise nobel oder vital. Mit steigenden Preisen mehren sich denn doch Verzückungsworte wie diese: umwerfend, atemberaubend, betörend, hinreißend, bezaubernd, aristokratisch, majestätisch, zum Niederknien, monumental, unergründlich oder unbegreiflich. Man muss sich das mit tremolierender Stimme und weit ausholender Geste von einer gülden umrahmten Bühne herab gesprochen vorstellen. Oder gleich vor einem Altar mit Tabernakel.

Da wir hier in einem Kulturblog sind, folgen jetzt noch vier erlesene Wein-Vergleiche aus dem Reich der Künste. Bitte festhalten, es geht gleich scharf in die Kurve:

Tänzerisch wie der leichtfüßige Tanz des legendären Rudolf Nurejew.

Hier perlen die Aromen wie Bach’sche Fugen.

…zart konturiert wie ein Bild von Claude Monet

…überrascht mit aromatischen Wendungen wie eine Oper von Verdi

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So. Und nun der samt und sonders aus Originalzitaten geschöpfte Lernstoff, der beim nächsten Mal „sitzen“ soll, ganz nach dem altbewährten Motto: Hefte `raus – Klassenarbeit!

Kleines Weinbeschreibungs-Lexikon

ABGANG, FINALE & Co.

Erstaunlich frischer Abgang

Der Abgang ist warm und schön lang

Nachhaltiges Finale

Mit grandiosem Feuerwerk im Finale

Im Finale macht sich eine leicht malzige Würze bemerkbar

Mit einem sehr langen Finish

Ewig langes Finish

Konzentrierter, zugleich aber filigraner Nachhall

Tiefer und langer Nachhall

Langer, saftiger Nachhall

Beträchtliche Persistenz

Von beeindruckender Persistenz

FRUCHT

Die Aromen sind fruchtig und floral

Reife Frucht und kühle Mineralität wunderbar ausbalanciert

Geradlinig fruchtig

Schön prononcierte Fruchtaromen

Fruchtbetont

Delikate Frucht

Richtige Balance von Frucht, Frische und Volumen

Sehr schön ausgefeiltes Frucht-Säure-Spiel

Mit prallen Frucht-Aromen und überbordender Vitalität

Subtile, hochelegante Frucht

Üppige, elegante Frucht

Üppige und auskleidende Frucht

Saftig pikante Frucht

Brillanz der prallen Frucht

Feuerwerk delikat fruchtiger Aromen

GAUMEN

Der Gaumen ist samtig

Am Gaumen schmelzig und rund

Am Gaumen vielschichtig und samtweich

Am Gaumen sauber und erfrischend

Am Gaumen substanzreich und komplex

Am Gaumen wirkt er schlüssig und stimmig

Am Gaumen ein Schmeichler

Die Präsenz am Gaumen ist geschmeidig und sehr samtig, zeigt aber durchaus Kraft und Muskeln

…der den Gaumen liebkosend willkommen heißt

…dessen Präsenz am Gaumen einem Vulkanausbruch gleichkommt

Am Gaumen entwickelt sich ein regelrechter Sturm der Aromen

Der Gaumen wird von runden, samtigen Gerbstoffen zart gestreichelt

KÖRPER

Beeindruckt mit Frucht, gutem Körper und Tiefe

Hat einen vollen Körper

Mit charakteristischem und stabilem Körper

Mächtiger Körper

Am Gaumen mit tollem Körper

Der Körper ist stabil

Saftiger Körper

MINERALITÄT

Mineralische, erdige und leicht florale Noten

Hintergründige Mineralität

Beinahe salzige Mineralität

Rassige Mineralität

Hintergründige, feinherbe Mineralität

Säurespiel mit mineralischem Nerv

Cremige Mineralität

Erfrischende Mineralität

…ruht die Frucht auf einem mineralischen Kissen

NASE

Die Nase ist klar

Zeigt eine reife Nase

Vielschichtige Nase

Eine saubere, klare Nase

Hat eine konzentrierte Nase

STRUKTUR

Plus an Struktur und Kraft

Elegante Struktur

Subtile Struktur

Samtig-weiche, noble Struktur

Tiefgründig strukturiert

Von verwobener Struktur

Nobel strukturiert

Türmt sich die aromatische Struktur geradezu auf

Weit ausholende Struktur

Sehr reich in seiner Struktur

Verzaubernd strukturiert

Bezaubernd im reich strukturierten Duftspiel

Fein geschliffene Struktur

TANNINE

Angenehme Tanninstruktur

Seidenfeine Tannine

Seidige Tannine

Durch sechs Monate Barrique geschmeidig gewordene Tannine

Tanninrückgrat

Mit seidigen Tanninen gut strukturiert

Tannine sind fest und stabil

Runde Tannine

Weiche Tannine

Tannine sind fein und zurückhaltend

In Samt und Seide gehüllte Tannine

Zart schmelzende Tannine

Feinmaschige Tannine

Zarte, reife Tannine ummanteln den Säurenerv

TEXTUR

Die Textur ist viskos

Seidenfeine Textur

Feincremige Textur

Perfekt eingebundene Textur

TERROIR

Schieferkalk-Terroir

Schiefer-Terror

Terroirbezogen

Nektar des Bordelaiser Terroirs

VERSCHIEDENES

Spritzig frisch, lebendig

vital

juvenil

Mit dem besonderen „Pfefferl“

Maskulin im Auftreten

Geradezu muskulös

Blumige Akkorde

Herrlich saftig

Atemberaubendes Elixier, das sprachlos macht

Er ist tiefdunkel und deutet schon mit prächtigen „Kirchenfenstern“ Viskosität und Volumen an.

Samtig, sanft und auskleidend

„Outstanding“ schreibt Parker über diesen „Wahnsinn im Glas“.

Sensationell, nobel, feingliedrig, distinguiert und tiefgründig

Sagenhaft samtig, unglaublich dicht, hochelegant und doch kraftvoll

Kostümiert sich mit einem filigranen Duftspiel

Hinreißender Wein mit magischem Tiefgang

Komplexes aromatisches Geflecht

Schmeichelt den Sinnen wie eine warme, sternklare Nacht

…dass die Sinne nicht nur vibrieren, sondern beben

AROMEN, BOUQUET

Ananas Anis Apfel Aprikosen

Backpflaumen Beerenkonfitüre Birne Bittermandel Bitterschokolade Blaubeere Brioche Brombeere

Cassis

Datteln Dunkle Beeren Dunkles Steinobst

Eichenholz Erdbeeren Espresso Eukalyptus Exotische

Früchte Feigen Feuerstein Flieder Florale Komponenten

Gelbe Früchte Gewürzschränkchen Grapefruit

Haselnuss Himbeere Holunder Holz Honig Honigmelone

Jasmin Johannisbeere

Kaffee Kandierte Früchte Karamell Kernobst Kirsche Kirschkompott Konfitüre Koriander Kräuter der Provence

Lakritz Lavendel Lebkuchengewürz Leder Limetten Limonen Lorbeer Lychees

Mandelblüten Marillen Marzipan Maulbeeren Melone Minze Mokka Mokkabohnen

Nektarinen Nelke Nüsse

Orangenblüten Orangenschalen Orient-Tabak

Paprika Pfirsich Pflaumen Pflaumig-malzig-traubig Pfeffer Pilze

Quitte

Rhabarber Rosen Rosenholz Rosinen Rosmarin Röstaromen (dezente…) Rumtopffrüchte

Sandelholz Schattenmorellen Schokolade Schwarze Johannisbeeren Schwarze Oliven Schwarzer Tee Schwarzkirsche Stachelbeere Steinobst Süßholz Süßkirsche

Tabak Tarte au Citron Thymian Toastbrot Toffee Trockenfrüchte Trüffel

Vanille Veilchen

Waldbeeren Waldboden Waldfrüchte Walnüsse Weichselkirsche Weihrauch (Anmutung von…) Weinbergpfirsiche Weiße Blüten Weißer Pfeffer Wiesenblumen Wildkräuter

Zabaione Zartbitter Zedernholz Zigarrenkiste Zimt Zitronenbaiser Zitronengras Zitrusfrüchte Zwetschgen




Wer erweckt dieses frühere Kino zum Leben?

Blick durch die geschlossene Glastür: Foyer des früheren Film-Casinos in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Blick durch die geschlossene Glastür: Foyer des früheren Film-Casinos in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Ich muss gestehen: Ich bin überrascht. Heute habe ich bei Facebook das auch hier beigegebene Foto eingestellt und folgende Zeilen daneben gesetzt:

„Eine Schande, dass dieses Dortmunder Innenstadt-Kino seit Jahren geschlossen ist und vor sich hingammelt. Es ließe sich was draus machen. Dann müssten ‚nur noch’ ein paar Leute kommen und Filme gucken.“

Mit der Vielzahl qualifizierter Wortmeldungen und „Gefällt mir“-Markierungen, die diese knappe Äußerung hervorgerufen hat, hätte ich nicht gerechnet.

Bei dem früher ausgesprochen schmucken Kino handelt es sich ums einstige Dortmunder Film-Casino (Passage am Ostenhellweg, gegenüber von C & A), das 1956 den Spielbetrieb aufgenommen hat und bereits seit dem Jahr 2000 leersteht. Letzter Betreiber war Hans-Joachim Flebbe.

Wenn man durch die Glastür schaut, ahnt man noch heute, welch ein Kleinod hier verloren gegangen ist.

Jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, frage ich mich, wie dieser Ort wohl wieder zum (kulturellen) Leben erweckt werden könnte. Ich denke, dass man hier (für einen winzigen Bruchteil der Kosten des „Dortmunder U“) beispielsweise eine prächtige Stätte etwa für so genannte „Kleinkunst“ und musikalische Darbietungen hätte schaffen können. Allerlei kulturelle Mischformen wären möglich gewesen, die diese Stadt gewiss bereichert hätten. Theater, Literaturhaus, Café. Der kombinatorischen Phantasie wären zunächst einmal keine Grenzen gesetzt. Nur als reines Kino dürfte man die Immobilie wohl nicht mehr betreiben, denn Dortmund ist alles andere als eine Cineasten-Stadt und hat mit Roxy, Camera sowie Schauburg Lichtspielhäuser, die den örtlichen Bedarf decken.

Manche Reaktionen aufs heutige Facebook-Posting haben gezeigt, dass dennoch auch einige andere Leute von einer neuen Nutzung träumen. Einer rief gar spontan aus: „Also, wer traut sich???“ Mit anderen Worten: Wer nimmt das Herz und das Geld in die Hand, um hier etwas zu bewirken?

Was das Herz angeht, scheint es etliche Leute zu geben, die dazu bereit wären. Eine Legende der Dortmunder Szene gibt gar zu Protokoll, er habe schon kurz nach der Kino-Schließung versucht, hier mit tragfähigem Konzept einzusteigen – leider vergebens.

Inzwischen, so andere Stimmen, wäre es schon baurechtlich (Brandschutz etc.) nahezu unmöglich, hier wieder eine „Versammlungsstätte“ zu gründen, mit welchem Konzept auch immer. Die Pacht, so heißt es weiter, sei dem Vernehmen nach exorbitant hoch angesetzt und schrecke etwaige Interessenten ab. Auch ist von einer offenbar hartleibigen Eigentümerin die Rede, die nicht mit sich reden lassen wolle. Wer könnte das Eis brechen? Oder sind schon alle Chancen vertan?

Zu vermuten steht, dass das ehemalige Kino seit zwölf Jahren (außer Verdruss) gar nichts mehr einbringt und somit totes Kapital darstellt. Ein absurder Zustand.




Paul Nizon und die Goldadern der Kunst

Paul Nizon lebt und schreibt aus voller Brust elitär, die allermeisten Verhältnisse lässt er weit hinter sich liegen. Er grenzt sich streng ab, hält sich heraus aus dem gängigen Streit der Zeit, besteht auf „Niemandszugehörigkeit“. Kritiker, die ihm weniger gewogen sind, halten ihn für einen prätentiösen „Dichterdarsteller“. Nach üblichen Maßstäben ist der 1929 in Bern geborene Nizon ein Bewohner des Elfenbeinturms.

Jetzt sind seine Journale der Jahre 2000 bis 2010 erschienen. Sie erheischen langsame, einlässliche Lektüre und häufiges Innehalten.

Es gibt nur wenige, die ihr ganzes Dasein so sehr mit Mühsal und Triumph der Schriftlichkeit gleichsetzen, die so unbedingt das Künstlertum im althergebrachten Sinne beschwören. Zitat: „Nur das Wort gewordene oder besser Poesie gewordene Leben ist lebenswertes Leben.“ Konsequenz: „Und darum verachte ich all die kleine Verbrauchskunst, so amüsant oder bestechend oder interessant sie auch sein mag…“ Unerbittliche Forderung: „Nur das Bis-an-die-Grenze-Gehen zählt oder genügt in Sachen Kunst.“

Paul Nizons geistesaristokratischer Dünkel geht freilich einher mit ausgesprochener Sympathie für die Clochards und Verzweifelten. Auf den ersten Blick findet man seine Texte vielleicht nicht sonderlich „welthaltig“, doch kann man, seinen Schilderungen aus der Nahsicht folgend, bei jedem Schritt und jeder Wendung den Atem anhalten. Satz für Satz klingt seine augenblickliche Staunensbereitschaft an, er selbst sagt es so:  „…daß ich am Morgen beim Hinausgehen und Tagbegrüßen immer noch wie ein Kind voller Wundererwartung einhergehe…“ Daraus erwächst dann wortwörtlich „Sagenslust. SPRACHLUST.“

Die Journale nehmen einen sogleich gefangen, wenn er etwa zu Beginn rückblickend von den frühen Jahren in Paris spricht, wo er als „Lebensanwärter“ auf den „offenen Markt des Lebens“ tritt und sich alles vor schierer Erwartung anspannt, erhöhte Verletztlichkeit und drohendes Scheitern inbegriffen. Man fühlt sich hier nah am Zauber allen Anfangs, am schöpferischen Quell, doch auch im Zwiespalt. Das Schreiben gerät zur permanenten Selbst-Erfindung, darauf spielt wohl auch der Titel des Bandes („Urkundenfälschung“) an, der im gesamten Buch ansonsten nicht vorkommt. Das Ich ist eine fragile Fiktion, es muss jederzeit errungen werden, aus Worten hervorgehen.

Immer wieder vergleicht Nizon seine Art des Schreibens mit dem breiten, nie versiegenden Erzählstrom von Peter Handke und sieht sich selbst eher als Verschweiger, der nur wenigen Goldadern nachspüre; hingegen als manischen „Verschwender“ in den Journalen, „die den Seitenflügel meines Werks ausmachen“.

Nizons Fähigkeit zu rühmen zeigt sich auch und gerade in den Journalen. Die französische Lebensart, leuchtende Momente in Paris oder Rom, der „Schönheitsanfall“ angesichts der Erscheinung einer Frau – all das wird aus flüchtigen Momenten geborgen und als Kostbarkeit aufgehoben. Die Kehrseite: Zutiefst erschrocken notiert der Schriftsteller, dass vielleicht alles nur im relativ schmalen Werk bewahrt sei, dass er hingegen im äußeren Leben versagt habe.

Im Zeitrahmen dieser Tagebücher leidet Nizon an den Folgen einer Ehescheidung, andererseits gibt ihm die glückhafte Vollendung des Romans „Das Fell der Forelle“ Auftrieb. Hochgemutes Emporschwingen, quälerische Selbstzweifel und Selbstmitleid wechseln einander flackernd ab. Skepsis, den eigenen Ruhm betreffend und folglich auch Einkommens-Panik gehören zur Nachtseite der vogelfreien Existenz. Auch macht das Alter sich zunehmend bemerkbar, es sterben Freunde, jeder Tod bedeutet einen Weltverlust. Gallig bemerkt Nizon zudem, wie er sich etwa der gegenwärtigen Musikszene entfremdet habe, während ihn 1968 mit seinen kulturellen Begleiterscheinungen immerhin noch gestreift hatte.

Die künstlerischen Leitsterne Nizons erstrahlen in etlichen Passagen, in erster Linie Vincent van Gogh und Robert Walser, außerdem – schon widersprüchlicher gefasst – Elias Canetti, mit dem Nizon befreundet war und den er als wichtigste Begegnung seines Lebens bezeichnet, wenngleich er ihn auch als bedrohlich empfunden hat.

Zumal die Anfänge („künstlerische Inkubationszeit“) werden noch einmal eingehend bilanziert. Einige Essenzen klingen ehern kulturkonservativ. So stellt der einstige Museumsmann Nizon über die Kunst seit Kandinsky fest: „Das Abstrakte war wohl doch ein Irrweg.“ Verächtlich erwähnt er Rap und Poetry Slam als niedere Formen. Und er spricht sich vehement gegen Kulturrelativisten aus, die beispielsweise die nordafrikanische Rai-Musik in einem Atemzug mit Schubert nennen. Er selbst weiß, dass seine Haltung eurozentrischem Hochmut entspricht – und steht dazu.

Überhaupt gleichen die Journale über weite Strecken dem Versuch, auf dem Felde der Künste so etwas wie großbürgerliche Dignität, jedenfalls hochveredeltes Herkommen zu behaupten. Ein solches Unterfangen steht quer zur Jetztzeit, es  kann geradezu heroisch genannt werden. Wohlfeile Bekräftigungen landläufiger Meinungen finden sich anderswo zuhauf. Hier aber geht es um Werte jenseits des Tages.

Paul Nizon: „Urkundenfälschung. Journal 2000-2010“. Suhrkamp Verlag. 376 Seiten. 24,95 Euro.




„Stilvoll und lichtdurchflutet“ – Maklerdeutsch ist pure Poesie

Wer sich auf Wohnungssuche begibt, der lernt nach und nach die sprachlichen Bemäntelungen kennen, die in der Maklerzunft üblich sind. Sie lassen sich in manchen Punkten mit den notdürftig beschönigenden Formeln in Arbeitszeugnissen vergleichen.

Hier wie da werden Texte nach Baukastenprinzip aus Standardfloskeln gefügt. Hier wie da verständigt man sich gleichsam im ironisch gebrochenen Modus mit kaschierten Hintergedanken. Es gibt sozusagen eine imaginäre Interlinearversion, die den eigentlichen Sinn enthält.

Damit driftet das Genre der Immobilien-Annonce in literarische Gefilde. Nicht, dass jemand von Rosstäuscherei spreche! Nein, hier sickert Poesie in den tristen Alltag, die Makler schildern uns in herzerwärmenden Worten die herrlichsten Idyllen.

Der Befund ist gewiss nicht neu – und doch staunt man immer wieder über die Chuzpe, pardon, über die dichterische Freiheit, mit der hier die Tatsachen aufs Prächtigste verwandelt werden.

So ahnt man ja längst, dass eine Bleibe, die „mit inneren Werten“ angepriesen wird, just der äußeren Werte ermangelt, sprich: Es herrscht umfangreicher Renovierungsbedarf. Ähnliche Unbill verheißt die Formulierung, bei diesem Objekt könne der Mieter/Käufer seine Phantasie spielen lassen. Dann erfordert es enorme Vorstellungskraft, sich die Behausung als bewohnbar auszumalen. Ähnliches gilt, wenn vom „Potenzial“ einer Wohnung die blumige Rede ist.

Hier schmieden sie betörende Texte... (Foto: Bernd Berke)

Hier schmieden sie betörende Texte... (Foto: Bernd Berke)

Im gängigen Maklersprech kehrt eine an sich schon hübsch-hässliche Vokabel häufig wieder, nämlich „stilvoll“. Damit werden beileibe nicht nur Jugendstilfassaden, Stuckornamente oder dergleichen historische Reminiszenzen bezeichnet, sondern das nostalgische Anwandlungen evozierende Wort wird nahezu wahllos ausgestreut. Selbst die triste Baulichkeit lädt in dieser Lesart „zum Verweilen ein“.

Zu den Klassikern im Maklerianischen, die man geradezu liebgewinnen kann, zählt natürlich „lichtdurchflutet“. Das Wort benennt eigentlich alles, was nicht eben stockfinster ist. Jedes Fensterlein erfährt damit seine Würdigung. Kurzum: Die frei fabulierende Maklersprache lehrt uns, auch die kleinen, unscheinbaren Dinge wieder zu schätzen. Obwohl: Was heißt denn hier klein? Eigentlich ist ja per se immer alles „großzügig“. Darunter tun sie’s nur höchst ungern.

Aus immer gern genommenen Versatzstücken lässt sich – fast ohne näheres Ansehen einer konkreten Wohnung – eine idealtypische Anzeige generieren. Ich probier’s mal:

„Absolute Rarität: Repräsentative, lichtdurchflutete XYZ-Zimmer-Wohnung mit besonderem Charme, rundum stilvoll, äußerst großzügig geschnitten. Ruhig und doch zentral gelegen, optimal angebunden. Parkähnliches Grundstück in bevorzugter, gehobener, durchgrünter Lage in Waldnähe, traumhafter, unverbaubarer Fernblick mit idealer Südwest-Ausrichtung. Mit viel Liebe zum edlen Detail aufwendig und hochwertig kernsaniert. Gönnen Sie sich den Luxus, Sie haben es sich verdient: Diese Wohnung besticht mit einzigartigen Elementen, wird höchsten Ansprüchen gerecht und lässt keine Wünsche offen…“

Na, und so weiter. Doch wehe, wenn man die Hütte besichtigt.

Selbstverständlich beschränkt sich die Flunkerei nicht auf die Sprache, sondern setzt sich kongenial in der Bebilderung fort. Man muss das Geschick bewundern, mit dem unliebsame Schattenseiten ausgeblendet werden. Und man kann im Umkehrschluss mutmaßen: Was nicht im Bild auftaucht, liegt wohl besonders im Argen. Die Defizite ließen sich beim besten Willen nicht mehr ausbügeln, also ließ man sie kurzerhand weg.

Aber was soll’s? In allen Zweifelsfällen tritt eh dieser klein gedruckte, doch eherne Kernsatz in Kraft: „Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben wird keine Haftung übernommen.“




Der bleiche Abschied des Christian Wulff

Abgang durch die Flügeltür: Wulff und Ehefrau, abfotografiert vom ARD-Fernsehbild

Abgang durch die Flügeltür: Wulff und Ehefrau, abfotografiert vom ARD-Fernsehbild.

Christian Wulff ist um 11 Uhr als Bundespräsident zurückgetreten. Die Beweggründe sind hinlänglich bekannt, man mag eigentlich schon gar nichts mehr darüber hören. Jetzt hat wenigstens diese Quälerei ein Ende. Freilich: Hinter den Kulissen wird gewiss schon um die Nachfolge gestritten. Es darf munter bis haltlos spekuliert werden. Durchaus denkbar, dass sich manche Politiker dieses Amt nicht mehr antun wollen.

Vor Wulffs Erklärung richteten sich die TV-Kameras immer und immer wieder auf die geschlossene Flügeltür, durch die Wulff den Saal betreten sollte. Es war das Nicht-Bild, gleichsam die weiße Leinwand dieses Vormittags. Durch Spalt unter der Tür sah man schließlich schon, wie jemand (nervös?) hin und her ging. Und ach, an solchen Tagen nehmen sich manche Fernsehleute unendlich wichtig.

Wulffs erste Worte rührten noch einmal an die Integrationsdebatte, die er nach eigenem Beteuern hatte befördern wollen. Für solche Zukunftsfragen, so seine Einlassung, werde ein Bundespräsident gebraucht, der uneingeschränktes Vertrauen genieße… Nach wie vor sei er überzeugt, von allen Verdächtigungen vollständig entlastet zu werden. Die Berichterstattung mancher Medien habe ihn und seine Frau „verletzt“.

Das war’s schon. Banal genug, ein bleichblasser Abschied. Grotesk das Missverhältnis zur mühsam gewahrten gravitätischen Form. Doch wie will man’s anders machen?

Für Sekunden habe ich es für möglich gehalten (für möglich halten wollen), dass Wulff – mitten im Satz – bitterlich weinend zusammenbricht und sich bebend an seine Frau klammert. Doch so etwas geschieht nicht im Staatstheater.

Angela Merkel erhob Wulff in ihrer schmallippigen Erklärung kurzerhand zum Integrations-Präsidenten, der wichtige Impulse gegeben habe. Beschönigung muss in solchen Fällen wohl sein. Über die Gegangenen nur Gutes. Man wird sehen, was die Ermittlungsbehörden noch herausfinden.

Doch von tragischer Fallhöhe kann man hier wahrlich nicht mehr sprechen. Allzu gewöhnlich waren die Umstände, die zum Rücktritt geführt haben.




Kultur im Revier: Jetzt geht es ans Eingemachte

Man muss diese Nachrichten nur sammeln und bündeln, um die Zeichen der Zeit zu erkennen: Ganz offenkundig geht es in Sachen Ruhrgebiets-Kultur ans Eingemachte.

Die Schamfrist nach dem Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ist längst vorüber. Schon damals haben manche prophezeit, dass „danach“ die Sense kreisen werde.

Vor einigen Wochen hieß es, das Museum Bochum werde mutmaßlich im Jahr 2022 geschlossen. Komplett. Unwiederbringlich. Unglaublich. Dieses Menetekel sorgte immerhin für vernehmlichen Aufruhr, vor allem im Kreise der übrigen Kunstmuseen des Reviers.

Schon allein die Frage, was in einem solche Falle mit den gesammelten Beständen geschehen soll, lässt einem nicht nur in juristische Abgründe blicken. Der Image-Schaden für die gesamte Region wäre kaum zu ermessen. Dabei war doch 2010 ausposaunt worden, man wolle sich mit Kultur gleichsam neu erfinden. Was ist davon geblieben? Vor allem diffuse Erwartungen an eine „Kreativwirtschaft“, zu der alles und jedes und nichts gehört. Und der zwanghaft unbeirrbare Glaube an „Leuchttürme“ wie das „Dortmunder U“, deren Folgekosten ins Monströse zu wachsen drohen.

"Leuchtturm" mit immensen Folgekosten: Kulturzentrum "Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

"Leuchtturm" mit immensen Folgekosten: Kulturzentrum "Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Durch Sparmaßnahmen gefährdet ist derweil auch das Mülheimer Museum Alte Post. In Hagen wird unterdessen allen Ernstes erwogen, ein Gemälde von Ferdinand Hodler zu veräußern, um den Haushalt zu sanieren, ach was: um dem maroden Etat ein winziges Pflästerchen aufzukleben. Allerorten kann man leicht ausrechnen, dass selbst radikaler Kulturabbau im Gesamthaushalt kaum als wesentliche Ersparnis spürbar wäre.

Ein weiteres Phänomen ist aus etlichen Spardebatten sattsam bekannt: Zunächst wird die ganz große Keule geschwungen (völlige Schließung etc.), damit die Betroffenen hernach eine heftige Budgetkürzung fast schon als Wohltat und Rettung begrüßen.

Öffentliche Zuschüsse für Kultur gelten leider immer noch als „freiwillige Aufgaben“ und werden – so hat es den Anschein – oftmals von oben herab gnädig gewährt. Üblicher Begleitumstand ist das Geschrei derer, die Kindergärten, Schwimmbäder und die Verfüllung von Schlaglöchern gegen kulturelle Belange ausspielen.

Alles nur Alarmismus, gegenstandslose Kahlschlag-Ängste? Wohl kaum!

Allein heute sind drei knappe Meldungen (!) erschienen, die in die gleiche Richtung weisen, nämlich abwärts.

1) Theater- und Konzert-Gastspiele im Wittener Saalbau stehen samt und sonders auf der Streichliste, weil die Stadt sich derzeit nicht in der Lage sieht, konkrete Förderzusagen zu geben. Selbst die bundesweit renommierten Wittener Tage für Neue Kammermusik wären vom befürchteten Kahlschlag betroffen. Geld gibt’s, wenn überhaupt, nur kurzfristig, Veranstaltungen müssen hingegen von langer Hand geplant werden.

2) Das vom Westfälischen Literaturbüro (Unna) organisierte Krimifestival „Mord am Hellweg“ muss deutlich abspecken. Der „schlankere“ Auftritt könnte die Werbewirksamkeit schmälern.

3) Unsanftes Erwachen aus der „Traumzeit“: Die Finanzierung des gleichnamigen Duisburger Festivals ist nicht gesichert, wahrscheinlich muss man zumindest einen Programmtag opfern. Auch gibt es Gedankenspiele, künftig nur noch alle zwei Jahre – im Wechsel mit dem „Akzente“-Festival – eine „Traumzeit“ auszurufen.

Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Nicht auszuschließen, dass demnächst beunruhigende Botschaften aus Schwerte kommen, wo der Bestand der örtlichen Festivals (Kleinkunstwochen und Welttheater der Straße) nach dem Ausscheiden des langjährigen Kulturamtsleiters Herbert Hermes erstritten sein will. Aber wir wollen das Übel nicht herbeireden, sondern im Gegenteil an die Stadt appellieren, hierbei größte Umsicht walten zu lassen. Viel gibt es sonst nicht, was den Ruf dieser 50000-Einwohner-Gemeinde hinaus trägt.




Moden und Marotten im Journalismus (2): Stocksteife Scheinobjektivität

Beim Deutschlandfunk halten sie traditionell große Stücke auf sich. Doch auch außerhalb der eigenen Reihen gilt der Sender viel. Gar mancher glaubt, er sei die Hörfunk-Entsprechung zur FAZ. Das lassen wir mal dahingestellt.

Höchst schätzenswert sind – nehmt alles nur in allem – die thematisch breit gefächerten Hintergrundberichte des DLF. Gerade in Zeiten des sonst weithin grassierenden Dudelfunks mit seinen lachhaften Kürzestbeiträgen, sind die ausführlichen Wortstrecken, die hier gepflegt werden, umso wohltuender. Noch auf jedem meiner Radios habe ich die Station gespeichert, um sie nach einfachem Knopfdruck hören zu können. So weit, so gut.

Nun aber, ach: die Nachrichten! Diese stets offiziös, ja vielfach halbamtlich und staatstragend klingenden Bulletins. Immer mal wieder wundert man sich, welche News hier in den Vordergrund geschoben werden. Wenn nichts Gravierendes geschehen ist, so rückt hier in der Regel ein Sachverhalt nach oben, zu dem Minister(in) XYZ oder ein Spitzenverband Stellung genommen haben.

Hier zählen Politikerworte noch etwas, hier werden sie getreulich und konjunktivisch einwandfrei referiert; oft genug auch dann, wenn sie von minderem Gewicht sind. Hier schafft es zwischendurch auch schon mal der Hinterbänkler mit zwei oder drei gestanzten Sätzchen an die Spitze der Neuigkeiten. Da wird „betont“, „eingeräumt“ und „nicht ausgeschlossen“, dass es nur so seine Art hat. Zudem gewinnt man den unguten Eindruck, hier werde ängstlich vorauseilend nach Parteienproporz austariert. Nie erlauben sie sich saloppe Ausdrucksformen, niemals ein Augenzwinkern. Wo käme man da hin?

Auf den Skalen älterer Radios werden Stationen noch namentlich genannt. (Foto: Bernd Berke)

Auf den Skalen älterer Radios werden Stationen noch namentlich genannt. (Foto: Bernd Berke)

Wie soll man das steifleinene Gebaren im Rahmen unserer Reihe nennen? Um eine Mode handelt es sich bei dieser betulichen Nachrichtengebung wahrlich nicht. Eher schon um eine Marotte, um etwas Verschrobenes. Es lassen sich tatsächlich Parallelen zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung ziehen. Man schaue sich nur allwochentäglich deren staubtrockene Anti-Schlagzeilen über dem Aufmacher der Titelseite an, beispielsweise gestern: „Russland lobt Assad: Sie sind sich Ihrer Verantwortung bewusst“. Dem entspricht im drögen Duktus etwa die DLF-Nachricht vom 7. Februar um 23 Uhr: „Syriens Staatschef Assad hat zugesichert, die Gewalt in seinem Land zu beenden.“

Der Unterschied zwischen den beiden mehligen Mitteilungen: Während man der FAZ-Zeile noch einen empörenden Nebensinn ablauschen kann, tönt der DFL-Satz in seiner Scheinneutralität schmerzlich falsch. Nein, das ist keine Objektivität, das ist erst recht keine liebenswerte Knarzigkeit und Knorrigkeit mehr, sondern kritikloses Herbeten vorgegebener Positionen – welchen Ursprungs auch immer.




Soziale Miniaturen (12): Gewaltsamer Augenblick

Er hat einen Schnäuzer wie aus 70er-Jahre-Pornos und trägt ungemein spitze Schuhe. So spitz, dass es schon lächerlich wirkt. Ein Überbleibsel aus einer anderen Ära. Die Parodie auf einen Zuhälter von damals.

Seine ganze Aufmachung steht pfeilgerade für Aggression, für Zustechen und Aufschlitzen. Und das ist nicht parodistisch, sondern bedrohlich.

Wie solch ein Mensch wohl sein tagtägliches Leben zubringt, aufs Ende zu und durch alle Wiederholungen hindurch?

Mit den Schuhspitzen wippt er ungeduldig. Fast schon ein Trommelfeuer. An der Supermarktkasse (immer wieder ein Ort für zwischenmenschliche Studien) sitzt mit gesenktem, vor Anspannung hochrotem Kopf eine junge Frau, die hier neu angefangen hat und daher etwas langsamer scannt. Dafür hat er absolut kein Verständnis. Immer drängender werden seine Laute des Unmuts, zunächst noch gemurmelt, dann vollends vernehmlich.

Nun aber steht hinter ihm einer, der die Rolle des Couragierten annimmt und unvermittelt fragt: „Wollen S i e den Job machen?“

Der zielgenaue Satz wirkt wie ein Zündfunke. Der mit den spitzen Schuhen wendet sich abrupt um, nimmt gleich eine kampfbereite Haltung ein: „Willst Du mich hier anlabern?“

Es ist, als würde sich da ein Schwall von archaischer Kriegslust in den Raum ergießen. In jedem Augenblick droht der Erstschlag niederzugehen. Für einige Sekunden lodert Gefahr. Alle anderen schauen schon, wohin man in Deckung springen kann.

Doch sei’s ein Rest an sozialer Kontrolle im Geschäfts-Gedränge, sei’s eine andere Hemmung: Die Lunte brennt ins Leere. Nur noch eine Lichtspur der Gewalt züngelt und zischelt hernach im Raum.

Vielleicht hat später am Tag jemand für diesen Einhalt büßen müssen.




Moden und Marotten im Journalismus (1): Kunterbunte Spielzeugwelt

An dieser Stelle sollen ab jetzt in loser Folge Moden und Marotten des journalistischen Handwerks aufgegriffen werden; vorwiegend aus dem Print-Bereich, aber auch schon mal aus anderen Medien. Frisch ans Werk:

Aus dem Arsenal der journalistischen Illustration (Foto: Bernd Berke)

Aus dem Arsenal der journalistischen Illustration (Foto: Bernd Berke)

Schon seit Jahren fällt die Neigung auch intelligenter Blätter auf, mehr oder weniger komplizierte Themen mit Spielzeug zu bebildern, vorzugsweise mit Playmobil-Figuren (oder artverwandten Produkten anderer Marken). So wird etwa ein Krankenhaus-Set herangezogen, um medizinische oder gesundheitspolitische Beiträge zu bebildern. Modellautos und Modellbahnen mitsamt den zugehörigen Spielzeuglandschaften liefern ebenfalls reichlich Anschauungsobjekte.

Die unterschwellige Botschaft lässt sich einigermaßen klar herauspräparieren: Hier, lieber Leser mit dem Laienverstand, wirst du (welch’ schreckliche Chefredakteurs-Formel) „da abgeholt, wo Du bist“. Hier wird dir ein schwieriges Thema auf leichthändige, ja geradezu kinderleichte Weise näher gebracht. Du wirst Spaß und Freude an der Lektüre haben. Steig ein, lies mit!

Die Frage ist, ob sich solche Bilder insgeheim auf den Text auswirken und sich die Wortjournalisten zu Simplifizierungen hinreißen lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass sich die Methode eigentlich längst verbraucht hat und nur noch streng dosiert eingesetzt werden sollte.

Vielleicht wäre es noch interessant herauszufinden, wer damit eigentlich angefangen hat. Haben Bildredakteure und Fotografen diese Möglichkeit entdeckt und seither weidlich ausgereizt, oder haben Texter die ersten Anstöße gegeben?

Ausschnitt aus der heutigen FAZ-Sonntagszeitung (Sportteil)

Ausschnitt aus der heutigen FAZ-Sonntagszeitung (Sportteil)

Gleichklang auf Biegen und Brechen

Weeil wir schon einmal dabei sind, folgt hier gleich eine zweite Marotte aus dem Geiste der „flotten Schreibe“:

Sie ist just heute mal wieder in der FAZ-Sonntagszeitung (am Fuß der ersten Seite im Sportteil) zu besichtigen. In der dortigen Ankündigungsleiste stehen die Worte „Anmut“, „Armut“ und „Unmut“, die auf völlig verschiedene Themen verweisen, nämlich auf Pole Dancing als Fitnesstrend, auf den Handballnachwuchs und auf den in Ungnade gefallenen Fußballer Cacau vom VfB Stuttgart. Schwankt da nicht das sprachliche Gerüst?

Der Dreiklang der Anreißer soll freilich suggerieren, dass hier „aus einem Guss“ gearbeitet worden ist. Die Redaktion hat konferiert und ein übergreifendes Konzept entwickelt, das nicht zuletzt am sprachlichen Feinschliff zu erkennen ist. Es könnte allerdings auch sein, dass hier die Chefetage nach unten „durchregiert“ und die Wortreihe angeregt hat, um es euphemistisch zu formulieren.

Das häufig verwendete, meist arg bemüht wirkende Mittel erweist sich ja auch schnell als unguter Zwang. Nicht nur die Worte werden in ein Schema gepresst, sondern oft genug auch die Sachverhalte. Solche Vereinheitlichungswut kann geradezu den Eindruck erwecken, die Worte sollten strammstehen.




„Haus der Löcher“: Ödnis im Porno-Paradies

Keine Frage: Es wäre eine hehre Aufgabe der Literatur, der überall waltenden Pornographie etwas entgegenzusetzen oder beizugesellen, durchaus des Schweißes der Edlen wert. Es warten wohl insgeheim viele auf den großen Anti-Porno, der geil und reflektiert zugleich sein müsste. Und er müsste weit über bloße Akte hinausweisen.

Doch wie soll man’s anfangen? Soll man die gängigen „Schweinereien“ zu übertrumpfen oder gezielt zu konterkarieren suchen? Soll man sich der Flut entgegenstemmen oder auf ihrem Kamm mitschwimmen? Soll man tiefer in die Materie eindringen oder leichthändig die Oberflächenphänomene parodieren? Oder, oder, oder. Eins darf man ohne weiteres argwöhnen: Wer auf diesem Gebiet noch Gehör finden will, muss sich zumindest schon mal ein paar aberwitzige Stellungen ausdenken.

Ein schwieriges Feld, fürwahr. Und so hat sich der 1957 in Rochester/New York geborene, vom Feuilleton ungemein hoch gehandelte Nicholson Baker, der schon mit ambitionierten Erotika zu Telefonsex und Voyeurismus hervorgetreten ist („Vox“, „Die Fermate“), mit seinem neuen Roman „Haus der Löcher“ im Prinzip an etwas Gigantisches gewagt.

Doch ach! Besagtes „Haus der Löcher“ ist eine sexuelle Wellness-Oase brünstiger Phantasien, zuvörderst den schönen und jungen Menschen vorbehalten wie nur je im handelsüblichen Porno. Im Klartext: Ein paar tolle Titten, ein Prachthintern oder ein beachtlicher Schwanz sollten schon vorhanden sein, um in diesem Möchtegern-Pornotopia mitspielen zu dürfen, in dem ansonsten selbst Kalauer-Figuren wie das „Ungeheuer von Cock Ness“ verbal willkommen sind. Männer müssen für den Aufenthalt auch schon mal kräftig zahlen. Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor, und zwar nicht aus utopischen Romanen.

Je nach mentaler Disposition wird man/frau beispielsweise durch den Trockner im Waschsalon, eine Kuli-Mine oder halt durchs Loch in der Eichel ins rundum permissive Porno-Paradies eingesogen. Wir lesen von einigen Transfers solcher Art. Auch das verbraucht sich rapide. Wie überhaupt das wogende Rein und Raus oder Auf und Ab von hoher Redundanz ist, darin ganz dem hundsgewöhnlichen Porno verhaftet. Das rein körperliche Repertoire ist ja auch begrenzt, spätestens der Marquis de Sade hat es schon ziemlich komplett durchkonjugiert.

Im Haus der Löcher überwiegt bei weitem die Damenwahl, doch wie versessen sind die Frauen hier aufs primäre maskuline Geschlechtsmerkmal! Typisches Zitat: „Ich muss jetzt von einem Schwanz gebohrt werden.“ Man verzeihe die Wortwahl, doch es ist annähernd die des Buches: Die Frauen wollen sich stets gleich eine Phalanx von ragenden Gemächten einverleiben, ganze Kohorten von zuckenden Gliedern, Kompanien von unentwegt spritzenden Dödeln. Ganz egal, in welche Körperöffnung. Es ist buchstäblich penetrant.

Immerhin herrscht ein höflicher Umgangston und es wird niemand gegen seinen/ihren Willen missbraucht. Freilich schweben auch schon mal vollends kopf- und körperlose Geschlechtsteile in der Gegend herum. Es geht aber auch so: Gleich zu Beginn macht sich ein vereinzelter Arm nützlich, der die weiblichen Lustpunkte perfekt bedient. Man ahnt schon: Hier sind keine Individuen zugange, sondern pornographische Prototypen.

Nun mag man immerhin mutmaßen, dass die deutsche Sprache in diesen Dingen zu grob und ungelenk, also einfach nicht geeignet sei, um derlei surreal sich gebende und doch rasch monoton wirkende Vorstellungswelten nachzuzeichnen. Doch das wäre erstens eine Ausrede vom Kaliber, dass der Rasenzustand an der 0:5-Niederlage schuld war. Und zweitens: Auch im US-Original („House of Holes. A Book of Raunch“) wird sich wohl so manches unfreiwillig lachhaft anhören. Bemerkenswert an manchen deutschen Rezensionen ist, wie diesem Autor sogar zugestandene Langeweile oder Lachhaftigkeit kurzerhand just als Stärken zugerechnet werden. Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ (Ina Hartwig): „Großartig, wie er nebenbei eine Müllhalde sprachlicher Geschmacklosigkeiten auftürmt…“ Lobhudelei im Handumdrehen, wie beim billigen Zaubertrick. Warum eigentlich?

Hier muss man ein paar Zitate anführen, um den Tenor zu erhaschen (empfindsame Gemüter sollten bitte darüber hinweg lesen):

„Tendresse fuhr mit der Zunge über Neds runzlige Sackigkeit, dann sog sie das ganze linke Ei wie eine neue Kartoffel in den Mund.“

„Schon kam die Gewaltigkeit von Chucks Dödel herausgeschnellt…“

„Sie warf den Kopf zurück und öffnete den Mund für Chucks Schwanzheit… Stopf mir dein Fickvieh in den Mund…Chucks Donnerrohr von Dödelfleisch schob sich in sie hinein…dann rammte er ihn wieder in ihren Kopfbahnhof.“

„Und alle würden sie sagen: ‚Ja, du Fickgenie, wir wollen diesen soßensatten Fleischklops von einem Schinkensteak von einem Dödel.“

In der Peniswaschanlage (ja, so was gibt’s hier) heißt die Losung fürs weibliche Dienstpersonal: „Schrubbeln, nicht rubbeln.“

„Sie überlegte und runzelte die Stirn. ‚Ich werde ihre Schwanzpfähle vergöttern.’“

Fragt sich, was es in solch forciert frivolen Kontext noch zu überlegen und zu runzeln gibt. Wer wird sich denn da noch zieren?

Genug, es reicht. Man hält es mit wachsendem Missvergnügen vielleicht über 100 oder 120 Seiten aus; zur Not auch noch über 150 Seiten, versehen mit dem Porno-Prinzip Hoffnung („Vielleicht kommt ja doch noch etwas richtig Scharfes“). Doch vergebens. Ich habe mich bei diesem eintönigen Endlos-Gerammel zunehmend gelangweilt und bin schließlich kurz vor den Schlussnummern ausgestiegen. Und wahrlich: An keiner einzigen Stelle kommt man in Versuchung, Lektüre begleitende Maßnahmen zu ergreifen.

Wo der Autor vielleicht frohgemut ausgezogen ist, neue Formen der Sinnlichkeit zu erkunden, tut sich auf Dauer weites Ödland auf. Da hilft auch die Mühsal nicht, den Penis mit etlichen putzigen Namen zu belegen. Auch der „Schniedel“ ist keine (Er)lösung. Erst recht nicht der „Fotzenspalter“, der „Pollock“, der „Lincoln“, der „Malcolm Gladwell“ oder der „Johnnystock“, der unverdrossen Austern knackt.

Das imaginäre „Flugzeug, das herumfliegt und aus den Städten schlechten Porno absaugt“, hat in diesem Roman seine Hauptlast gleich schon wieder abgeworfen. In vielen Phasen wird man Zeuge eines wahren Taylorismus der Lust, Akkordarbeit im Geschlechtsverkehr inklusive. Da sind schon niedliche Sportarten wie „Muschisurfen“ auf dem See eine kleine Erholung.

Eine Essenz des ganzen Geschiebes wird auf Seite 233 gezogen: „Ich will wohl nur einen gutaussehenden Mann für hirnlosen Spaß in der Kiste.“ In Ordnung. Dann tut’s doch einfach. Aber müsst ihr uns damit dermaßen zuschwallen?

Nicholson Baker: „Haus der Löcher“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, 317 Seiten. 19,95 Euro.




Zurüstungen für die heimische Kaffeefabrik

In Versuchung geraten, eine nagelneue Kaffeemaschine zu kaufen. Einen von diesen polierten Lifestyle-Apparaten als Schaustück für die Küche, ihr wisst schon. Rasch vom Wunsch kuriert gewesen.

Der fix geschulte Fachverkäufer schüttet Familie B. mit Fachbegriffen zu und weidet sich daran, dass wir so gut wie nichts richtig verstehen. Wir sollen offenbar weichgekocht werden, bis wir dastehen wie Trottel. Doch mit dem erlösenden Kauf tritt man ja garantiert ein in die strotzmodern mittelschichtige, allzeit kreative, rundum verwöhnte, prenzlauerberghafte, politischökologischkorrekte Gesellschaftsschicht, welche die schicken Innenstadtviertel der Metropolen okkupiert. Keine Angst: Das Fass mit den Aufschriften „Gentrifizierung“ und „Bionade-Biedermeier“ machen wir an dieser Stelle nicht weiter auf. Friede den Altbau-Idyllen. Einstweilen.

Zurück zum Schnellkursus in Sachen häuslicher Kaffeefabrik. Mit Imponiergeste zeigt der Ladenschwengel sündhaft teure Boliden vor, mit denen man – wenn’s hoch kommt – gerade mal je zwei Tässchen Espresso, Cappuccino oder Latte auf einmal herstellen kann. Ergo: Wenn etwas mehr Besuch kommt, muss jemand permanent an der Maschine stehen und für stetigen Nachschub sorgen. Wenn einem das keine 1200 Euro oder mehr wert ist, dann gehört man eben nicht dazu!

Dessen ungeachtet, schwafelt der auf smart getrimmte Verkäufer über die konkurrierenden Systeme der Vollautomaten und Siebträger. Nein, nicht Vollidioten und Sargträger. Bitte sachlich bleiben!

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Doch weiter, weiter, bloß kein Innehalten, man könnte sonst zur Besinnung kommen: Nun geht’s um Einknopf-Bedienungen und die „absolut erforderlichen“ 15 Bar Druck. Auf den Einwand hin, man könne Espresso – wie viele ältere Italiener dies tun – doch auch mit herkömmlichen Metallkännchen (siehe Foto) machen, empört er sich geradezu. Das sei doch kein Espresso, sondern nur Mokka. Ach, wir müssen wohl hoffnungslos zurückgebliebene Bergbauern sein. Er geißelt alles, was vordem war. Und er geißelt uns mit.

Mal ernsthaft ins große Ganze aufgeblendet: Es ist der Geräteindustrie im Verein mit den Röstern offensichtlich gelungen, auf breiter Front das heimische Kaffeebrühen völlig neu zu definieren. Wahrscheinlich nennen sie es Kaffee 2.0 oder so ähnlich. Das Pulver häufelt man demnach nicht mehr selbst, sondern bekommt es in Dutzenden Sorten als Einheitsmenge fertig dosiert vorgesetzt.

So kommt es, dass die Tasse mit Pad- und Kapselsystemen ungleich mehr kostet und dass man möglichst immer wieder dieselbe Marke kaufen muss. Schon die bloße Vorstellung, dass jemand fragt „Liebling, haben wir noch Pads im Haus?“, lässt den hohen Affigkeits-Quotienten ahnen.

Vom wachsenden Abfallaufkommen mal abgesehen. Auch würde man gern wissen, wie viel Strom all die automatischen Spülsysteme und Warmhalteplatten fressen. Die meisten dieser Geräte haben tatsächlich überhaupt keinen Ausschalter mehr. Vier bis sechs Großkraftwerke laufen vielleicht nur für Kaffee. Aaaargh!

Da hilft nur harsche Konsumverweigerung: Die gute alte Kaffeemaschine für acht bis zehn Tassen tut’s in aller Regel auch; es wäre gut, wenn sie bald unter Denkmalschutz stünde. Meinethalben plus Espressokanne und Milchaufschäumer, wenn’s denn unbedingt mal der unsägliche Latte Macchiato sein muss. Jawohl, laut Duden ist das Gesöff maskulin. Nix mit „Ich sitz‘ hier und trinke meine Latte…“

Wie bitte? Ausdifferenzierung des Geschmacks sei auch ein Stück Kultur? Na, geschenkt. Hauptsache lecker, woll?




Oberhausen zeigt die Plakate von Keith Haring: Schlicht und einfach universell

Die meisten kennen Keith Haring vor allem als legendären Graffiti-Künstler. Doch irgendwann drängten seine Schöpfungen vom buchstäblichen Underground (ab 1979 bildliche „Kurznachrichten“ auf freien Werbeflächen in der U-Bahn von New York) in den oberirdischen öffentlichen Raum, sodann auch in Galerien, Museen und auf Plakatwände, ja sogar in die Produktwerbung. Jetzt ist unter dem Titel „Short Messages“ sein komplettes Poster- und Plakatschaffen (85 Entwürfe) im Schloss Oberhausen zu sehen. Die Leihgaben stammen aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Haring (1958-1990) ist nur 31 Jahre alt geworden, er starb an Aids. Doch in der kurzen Spanne zwischen 1982 und 1989 ist in eminent starken, bis heute nachwirkenden Ansätzen bereits ein veritables Lebenswerk von ganz eigener Güte entstanden. Man vermag sich kaum vorzustellen, was daraus noch hätte sprießen und blühen können.

Für hehre Anliegen wie etwa atomare Abrüstung oder Leseförderung zog Haring ebenso plakativ zu Felde wie für eigene Ausstellungen oder für Alkohol- und Zigarettenreklame (Absolut Vodka, Lucky Strike). In allen Fällen gab er sich ersichtlich gleichermaßen Mühe, zur optischen Essenz zu gelangen. Eine Neigung zu kommerziellen Darbietungen kam nicht von ungefähr: Von 1976 bis 1978 hatte er in Pittsburgh Werbegraphik studiert.

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Schon früh sind die wesentlichen Zeichen und Chiffren beisammen, die immer und immer wiederkehren, so beispielsweise Hund, Roboter, Engelswesen, vor allem aber das „Strahlen-Baby“ (sozusagen ein zweites Ich des Künstlers) und überhaupt von Strahlkränzen umfasste Figuren, die in ihrem schlichten Sosein und simplen Aktionen aufleuchten, vor allem anfangs so selbstgewiss und optimistisch, dass es europäischen Betrachtern wohl ganz besonders auffallen muss. In der besagten Wodka-Reklame steigert sich denn auch eine Menge unter der Flaschen-Apotheose so selbstverständlich in Verzückung hinein, als könnte es gar nicht anders sein.

Einfachste Handlungsmuster (Fußtritt, Schlag) bezeichnen andererseits auch die Richtung etwaiger Attacken. In „Crack Down“ wird das verhasste Rauschgift schlichtweg zertreten. Weg damit! Es heißt, der kleine Keith hätte unter Anleitung seines Vaters schon mit 3 Jahren Comics kopiert. Man glaubt es ohne weiteres. Es waltet eine höchst prägnante Strichmännchen-Ästhetik, unter der die wenigen Textzeilen nahezu verschwinden. Die universelle Botschaft versteht sich auch und gerade so.

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Aber Vorsicht: Wer sich in flotten Deutungsversuchen erginge, käme nicht so schnell an ein Ende. Hin und wieder windet Haring seinen überschaubaren Kosmos ins wuchernd Ornamentale, ja Labyrinthische, so dass man doch mühselig entwirren und entziffern muss. Auch arbeitet er bisweilen „gegen den Strich“, indem er etwa zum Jazzfestival von Montreux (1983) Breakdance-Figuren ihre dynamischen Spiralen vollführen lässt. Wer den gar hübschen Fachbegriff dafür vermissen sollte, erhält ihn hier gratis dazu: „Figura serpentinata“. Schlängelnd verdrehte, verzwirbelte Welt.

Das allererste Plakatmotiv kam zur großen Antiatom-Demo (12. Juni 1982 in New York) heraus, Keith Haring ließ 20000 Exemplare auf eigene Kosten und daher auf preiswertem Papier drucken. Aus gleichem Grund sind manche Exponate heute so empfindlich, dass man auch in Oberhausen nicht umhin kommt, das Licht zu dimmen.

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Interessante Querverweise ergeben sich, weil Haring gern mit Künstlern wie Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat oder Yoko Ono kooperiert hat. Sogar der Eigenbrötler Roy Lichtenstein (den Oberhausen im letzten Jahr präsentiert hat) ließ sich zu einer solchen Gruppenarbeit herbei. Wiederum fürs Jazzfestival in Montreux (1986) hat Warhol ein Notenbild angelegt, zwischen dessen Linien sich typische Haring-Figuren tummeln. Allerliebst.

Für seine Ausstellung im Stedelijk Museum zu Amsterdam plakatiert Haring 1986 seinen Namen und bezieht ihn bildwitzig auf den Hering. Hier strotzt sein Schaffen noch vor ungebändigter Kraft.

1987 dann die niederschmetternde Diagnose: Keith Haring leidet an Aids. Nun entwirft er vor allem Plakate zum Kampf gegen die Immunschwäche und zum schwulen Selbstbewusstsein – mit aller grellen Dringlichkeit. Den rosa Winkel, den die Nazis zur Brandmarkung der Homosexuellen benutzt hatten, dreht er kurzerhand um, so dass er als Pyramide historische Dignität gewinnt und gleichzeitig zukunftsfroh himmelwärts weist.

Eine Haring-Figur, die denkbar kurzlebige Seifenblasen in die Luft pustet (und auf diese eh schon vergänglich schillernden Gebilde auch noch einsticht), mag als zeitgemäßes Todesbild gelten. Ab 5. Februar wird diese Qualität im ungewohnten Kontext womöglich noch deutlicher. Dann werden an gleicher Stätte auch einige Todesdarstellungen aus der frühen Neuzeit gezeigt.

Keith Haring: „Short Messages“. Poster und Plakate 1982-1990. Vom 22. Januar (Eröffnung 19 Uhr) bis zum 6. Mai 2012. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 Euro (ermäßigt 3,50 Euro), Familie 12 Euro. Infos/Buchung Schulführungen 0208/41 249-28. Internet http://www.ludwiggalerie.de




Schwerte: Langjähriger Kulturamtsleiter Herbert Hermes geht (nicht so ganz)

Zäsur fürs Kulturleben der Stadt Schwerte: Ende Januar hört der langjährige Kulturamtsleiter Herbert Hermes auf. Gestern wurde er im Kreise von Freunden und Wegbegleitern in der Schwerter Rohrmeisterei standesgemäß verabschiedet. Bis zuletzt hatte Hermes nichts von dieser Festivität geahnt. Schwerter können schweigen…

Fast 30 Jahre lang hat Hermes in Schwerte gewirkt – und dabei so wichtige Reihen wie die Schwerter Kleinkunstwochen oder das Welttheater der Straße begründet und kontinuierlich weiter entwickelt, bis sie überregionale Bedeutung erlangt hatten. Angesichts der nicht immer Vertrauen erweckenden Schwerter Lokalpolitik bleibt zu hoffen (und zu erstreiten), dass derlei Schöpfungen weitgehend erhalten bleiben und dass seiner Nachfolgerin Heike Pohl nicht allzu große Steine in den Weg gelegt werden.

Eine Überraschung für den scheidenden Kulturamtsleiter: Der Stelzenvogel schickt Herbert Hermes mit Konfetti in den Unruhestand. (unscharfes Foto: Bernd Berke)

Eine Überraschung für den scheidenden Kulturamtsleiter: Der Stelzenvogel schickt Herbert Hermes mit Konfetti in den Unruhestand. (unscharfes Foto: Bernd Berke)

Zu Hermes‘ Abschied gab es ein achtbares Kulturprogramm mit Auftritten von Fred Ape, den „Bullemännern“ und anderen.

Herbert Hermes will auf seine reiferen Tage noch ein Studium der Kunstgeschichte in Angriff nehmen und fürderhin ehrenamtlich Kulturarbeit leisten. Möge er damit nicht einfach das Stadtsäckel entlasten, sondern zusätzliche Kräfte entfalten helfen.

Von der Leinwand abgeknipst, als ein kurzer Film über Hermes lief.

Von der Leinwand abgeknipst, als ein kurzer Film über Hermes lief.




Christian Wulff und das „Stahlgewitter“

Wenn man der Süddeutschen Zeitung glauben darf (und das darf man meistens), so hat Bundespräsident Christian Wulff beim Neujahrsempfang für seine Mitarbeiter gesagt, er sei zuversichtlich, „dass dieses Stahlgewitter bald vorbei ist“. Damit meint er nicht etwa, er habe im Schützengraben um sein Leben gezittert, sondern er spielt auf die gelegentlich scharfe, wenn auch keineswegs lebensgefährliche Debatte um seine Amtsführung an.

Nur zur Erinnerung. Der Ausdruck „Stahlgewitter“ ist vor allem durch Ernst Jüngers Buch „In Stahlgewittern“ bekannt und berüchtigt geworden. Geschildert werden (teils rauschhaft empfundene) Fronterlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, an einer Stelle ist etwa von „Blutdurst, Wut und Trunkenheit“ die Rede.

Nach all den Diskussionen um günstige Kredite und Urlaube sowie über Wulffs Verständnis von Pressefreiheit, scheint der Noch-Bundespräsident nunmehr noch einen weiteren Schauplatz eröffnen zu wollen. Darf es denn wahr sein, dass unser oberster staatlicher Repräsentant die Kriegsmetapher dermaßen unreflektiert verwendet? Schon im Zusammenhang mit der „Bild“-Zeitung soll er ja das Wort „Krieg“ im Munde geführt haben. Geht es denn mal ein paar Nummern kleiner und weniger martialisch?

Wie ein Freund bei Facebook ganz richtig vorgeschlagen hat, sollte Christian Wulff mal einen Soldatenfriedhof aufsuchen. Vielleicht konmt er dort wieder zur Besinnung.

Soldatengräberfeld auf dem Dortmunder Hauptfriedhof (Foto: Bernd Berke)

Soldatengräberfeld auf dem Dortmunder Hauptfriedhof (Foto: Bernd Berke)




Die Angst des Kindes auf dem Schulhof

Mit „Das Haus“ setzt Andreas Maier seinen hessischen Familienzyklus fort, den er mit „Das Zimmer“ begonnen hat. Dort hatten sich biographische Erkundungen über einen geistig beschränkten Onkel zur besonderen Heimatkunde geweitet. Diesmal wird die Sonde zunächst in die allerersten Räume der eigenen Kindheit geführt.

Schon wie das Licht zwischen den Etagen des elterlichen Hauses fließt, zählt zu den wesentlichen, elementaren Einflüssen aus dieser persönlichen Frühzeit, die allem Selbst-Bewusstsein vorausgeht. Naturnahe Rhythmen von Parks und Gewässern oder auch die Beschaffenheit der Luft wirken sich gleichfalls tiefgreifend aus: „…und ich atme es, und es ändert meinen Atem und ändert mich, ohne daß ich es merke, denn alles geschieht noch unbewußt.“

Man fragt sich, wie einer auf solch unvordenkliche Erfahrungen zurückgreifen und sie in stupende Nahansichten verwandeln kann. Und man fragt sich, inwiefern hier überhaupt noch zwischen Autor, Ich-Erzähler und Figuration, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden ist. Schluss mit derlei Spitzfindigkeiten. Über allem wölben sich die Setzungen der Sprache. Und die erfasst hier Gefühle an der Grenze des Sagbaren, weit über das Familienübliche hinaus. Zitat: „Auch bei uns wurden immer nur die Geschichten erzählt, die man guten Gewissens erzählen kann, wie in jeder Familie.“

Man ist hier stilistisch weit entfernt von Peter Kurzecks (ebenfalls in der hessischen Provinz angesiedelten) Kindheits-Erinnerungen „Ein Sommer, der bleibt“ mit jener wunderbar genauen, nie verwaschenen, doch letztlich auch milden Observanz zwischenmenschlichen Seins. Und während Schriftsteller wie etwa Gerhard Henschel der eigenen Kindheit auch etlichen Trubel und Vergnügen ablauschen, geht es bei Andreas Maier ausgesprochen ernsthaft und existenziell zu.

„Das Haus“ erweist sich als nüchternes Protokoll einer grundsätzlichen und entsetzlichen Fremdheit in der Welt. Sozialbeziehungen, zu denen man den kleinen Andreas drängen will, misslingen kläglich. Er verfällt am ersten (und somit auch schon letzten) Kindergartentag gleichsam in eine Schockstarre angesichts all der anderen Kinder, deren routinierte Verhaltensweisen er als prinzipiell unecht empfindet. Sie kommen ihm vor wie „Handlungsautomaten“. Bittere Bilanz: „Ich war zum ersten Mal unter Menschen. Unter Menschen und allein.“

Einzig im ruhigen, selbstversunkenen Fürsichsein fühlt sich der Junge aufgehoben. Lange, einsame Bastelnachmittage oder nächtliche Stille bergen so etwas wie Erfüllung. Zu diesen Zeiten erzählt der Kopf (oder sonst eine kaum greifbare Instanz) Geschichten, „die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin“. Ganz offensichtlich sprudelt da ein Quell dessen, was später zur literarischen Weltaneignung führen wird.

Sobald jedoch die anderen als Gruppe oder gesichtslose Menge ins Spiel kommen, öffnet sich der Höllenschlund. Wenn seine ältere Schwester mit ihren Freundinnen feiert, erfüllt rücksichtslos lärmendes Chaos das Haus, die horrible Schwadron okkupiert auch noch das letzte Rückzugsgelände. Als ähnlich bedrohlich werden im zweiten Teil (Hauptkapitel: „Drinnen“ und „Draußen“) die Horden auf dem Schulhof geschildert, deren Nachstellungen und Zumutungen Andreas kaum entkommen kann. Überhaupt ist das unentwegt interagierende Kollektiv der Mitschüler für ihn kaum erträglich, „weil sie so seltsam schnell und laut und bunt und grimassierend wurden“. Die Versuchung, einfach nicht hinzugehen, also zu schwänzen, schwillt im Laufe des frühen Morgens zusehends an.

Doch auch das Rettende wächst. Vor dem ganzen, angsterfüllten Hintergrund, erhält die an sich unscheinbare Episode mit jener Manuela aus der verrufenen Sozialsiedlung einen tröstlichen Schimmer. Als weiteres Wunschbild steht am Schluss die Euphorie eines Alleinseins im Haus, wobei anfängliche Lähmung in einen schönen Stillstand übergeht. Auch darin kann sich ein Glücksversprechen zeigen.

Andreas Maier: „Das Haus“. Roman. Suhrkamp Verlag, 165 Seiten. 17,95 Euro.

P. S.: Kleiner Hinweis ans Lektorat. Das ZDF ist nicht, wie Andreas Maier auf Seite 21 schreibt, im Jahr seiner Geburt (1967) „seit genau einer Woche auf Sendung“ gewesen, sondern bereits 1963 gegründet worden.




Das Team der Revierpassagen wünscht frohe Festtage




Lob des Scheibenwischers

An einem solchen Regentag *** kann man glatt drauf kommen: Es gibt Dinge, die offensichtlich nicht mehr wesentlich zu verbessern sind. Seit etlichen Jahrzehnten, ja in diesem Falle seit über einem Jahrhundert, sind sie weitgehend gleich gelieben. Hier reden wir nicht vom Rad, sondern vom Scheibenwischer.

Eigentlich eine simple, altmodisch anmutende Sache. Mechanisch, in stupiden Wiederholungsmustern gefangen, wenn auch inzwischen mit Regensensor versehen und raffinierter geschaltet als früher, nämlich in vielfältigen Intervallen. Aber ansonsten sieht er beim Billigauto ähnlich aus wie beim luxuriösen Fahrzeug. Fast schon gleichmacherisch.

Nur ein bisschen schade, dass seine knarzende und klackernde Verwandtschaft verschwunden ist – die Kurbel, mit der man die Scheiben herauf und herunter gedreht hat; der Winker, der längst durch den schnöden Blinker ersetzt wurde.

Ich bin ungefähr das Gegenteil von einem Ingenieur und habe von der Materie keine Ahnung. Über Parallelogramm- oder Doppelarmscheibenwischer sowie über gelenklose Flachbalkenwischer habe ich mir bislang nicht den Kopf zerbrochen und mag das auch künftig nicht tun. Wahrscheinlich machen Gummisorten feine Qualitäts-Unterschiede aus. Sei’s drum.

Als Laie kann ich mir vorstellen, dass man vielleicht schon Föntechniken zur Scheibentrocknung erprobt (nach dem Vorbild der Waschanlagen) oder gar an Lösungen im Nano-Bereich werkelt. Nur zu!

Wir warten das mal in aller Ruhe ab. Jetzt aber ein Hoch auf die Amerikanerin Mary Anderson! Jawohl, eine Frau hat den Scheibenwischer erfunden, 1903 erhielt sie das Patent. Und schon damals bestand die Vorrichtung aus einem Gummiblatt, welches auf einem Schwingarm saß, der sich sinnreich hin und her bewegen ließ. Einfach genial!

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*** Jaja, ich weiß, dass manche heute auch im Schnee stecken




Sechs Hinweise zum Fest: Was man ganz früher einmal „Das gute Buch für den Gabentisch“ genannt hat

Hui, hier kommen in jahreszeitlich üblicher Eile noch ein paar Hinweise auf Bücher, die sich (auch) als Weihnachtsgeschenke eignen. Den gereckten Daumen oder alberne Punktwertungen schenken wir uns – wie immer. Und überhaupt…

Unsterbliche Verse
Wenn man Ströme und Strömungen der europäischen Lyrik zurückverfolgt, so gelangt man früher oder später auch an diese ewig frische Quelle: Francesco Petrarcas Gedichtsammlung „Canzoniere“. Jetzt ist eine neue Auswahl der unsterblichen Verse erschienen, die um die zwischen Hoffen und Bangen geliebte Laura kreisen. Karlheinz Stierle hat in seiner Übersetzung versucht, den Reimen so gut zu folgen, wie es im Deutschen nur irgend geht. Eine Herkulesaufgabe, deren Resultat freilich leichthändig wirken muss. Die zweisprachige Ausgabe ziert jede gute Bibliothek. (Insel Verlag, 274 Seiten, 24,90 Euro).

Ins Gelingen verliebt
Wir bleiben in den Gefilden der Sehnsucht. Hanns-Josef Ortheil ist ein Schriftsteller, der ein Projekt verfolgt, mit dem man nur zu gern sympathisiert: Unermüdlich versucht er, glückhaft ausgehende Geschichten erzählbar zu machen, also nicht an den Klippen von Kitsch, Kolportage und Konvention zu scheitern. Man weiß ja: Negatives lässt sich in aller Regel süffiger vortragen und gilt unserem auf Abstürze versessenen Zeitgeist als glaubwürdiger. Mit „Liebesnähe“ unternimmt Ortheil den nächsten Anlauf in gegenläufiger Richtung. Ein Mann und eine Frau treffen sich per Zufall im Hotel – und es entspinnt sich etwas. Ortheil zieht virtuos an den Fäden dieser Verstrickung. Und in den schönsten Passagen klingt seine Sprache nahezu musikalisch. (Luchterhand, 394 Seiten, 21,99 Euro)

Zeiten der Trauer
Ein ungeheuerliches Buch an den Grenzen menschlicher Kraft. Der Niederländer A. F. Th. van der Hejden unternimmt es, den Unfalltod seines einzigen Kindes literarisch zu fassen. Das ist natürlich letztens unmöglich, doch kann man den Heroismus nur bewundern, mit dem dieser großartige Autor dem Tod sozusagen Hoheitsgebiete abtrotzt, wie er die Stirn erhebt gegen das Leiden, das nie mehr aufhören wird. Der 21jährige Tonio (der Vorname ist auch der Romantitel) wurde im Mai 2010 auf seinem Fahrrad tödlich von einem Auto erfasst. Dass der Roman schon vorliegt, lässt darauf schließen, dass van der Hejden von Anfang an keine andere Wahl hatte: Er musste wie besessen versuchen, das Unglück schreibend – nein, nicht zu bewältigen oder mit ihm „fertig“ zu werden, sondern es überhaupt zu ermessen, auszuloten. Die Lektüre ist schmerzlich, erschütternd, ja niederschmetternd, birgt aber auch Trost weit über den Tag hinaus. (Suhrkamp, 672 Seiten, 26,90 Euro)

Held des Scheiterns
Auf Italo Svevo kann man schwören. Seine (und ein paar andere) Bücher würde ich ohne Zögern auf jene einsame Insel mitnehmen. Jetzt ist sein epochaler Roman „Zenos Gewissen“ in neuer Übersetzung (von Barbara Kleiner) erschienen. Es gibt in der Weltliteratur schwerlich einen grandioseren Helden des Scheiterns als diesen Zeno, der zudem die Kunst des ziselierten Selbstbetrugs zur Perfektion erhebt. Allein seine hochkomischen Versuche, das Rauchen aufzugeben, gehören in jede Anthologie zum Tabaklaster. Auch in erotischen Angelegenheiten stellt er sich kaum geschickter an. Eine überaus subtile Neurosenbeschau. Ein Klassiker sondergleichen. Bloß nicht versäumen! (Manesse, 798 Seiten, 24,95 Euro)

Illustrierte Liederschätze
Zum 80. Geburtstag des famosen Künstlers Tomi Ungerer wurde kürzlich ein Standardwerk neu aufgelegt. „Das große Liederbuch“ verdient diesen Namen wahrhaftig. Hier werden reichlich Schätze verwahrt: 204 deutsche Volks- und Kinderlieder sind mit Texten und Noten versammelt. Ungerers herrliche Illustrationen machen den bemerkenswert preisgünstigen Band vollends zum Genuss. Und nein: Es ist in keiner Faser ein deutschtümelndes Buch, sondern die liebevolle Aufbereitung kulturellen Erbes. (Diogenes, 273 Seiten, 19,90 Euro)

Nachkriegs-Krimi
Schließlich ein Krimitipp: Der seit langem in Herne lebende Jan Zweyer hat seinen Hauptkommissar Peter Goldstein unter drei Regimes ermitteln lassen – in der Weimarer Republik (Buchtitel „Franzosenliebchen“), zur NS-Zeit („Goldfasan“) und nun in der deutschen Nachkriegszeit. „Persilschein“ spielt im Ruhrgebiet des Jahres 1950. Wie der Titel ahnen lässt, führt die Handlung in Abgründe der Nazi-Vergangenheit. Dass Zweyer seine spannenden Fälle vor akribisch recherchiertem Geschichtshintergrund ausbreitet, verleiht seinen Krimis zusätzliche Tiefenschärfe. Die nunmehr abgeschlossene Trilogie ist ein achtbares Stück Ruhrgebiets-Literatur. (Grafit Verlag, 320 Seiten Paperback, 11 Euro)