Viertes Gebot: Du sollst dich nicht über Neil Young ärgern!

Ich habe mir – aus altgedientem, bislang oft belohntem Vertrauen – gleichsam „blind“ Neil Youngs CD „A Treasure“ besorgt. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit ohne jedes Probehören, ohne jede vorherige Information, quasi hechelnd im Pawlowschen Reflex, auf den bloßen medialen Zuruf hin: „CD von Neil Young kommt auf den Markt“.

Und schon war das Ding bestellt. Hätte ich nur zur Kenntnis genommen, dass der Kanadier hier mit den „International Harvesters“ (benannt nach einem Landmaschinenhersteller, daher auch das sorgsam auf „verblasst“ getrimmte Coverbild mit Traktor) musiziert hat, so wäre ich hellhörig geworden. So aber habe eine bittere Enttäuschung mit einem ansonsten verehrten Musiker erlebt. Eigene Schuld. Über mich selbst muss ich mich ärgern, nicht so sehr über Neil Young.

Nebenbei: Ich habe die Platte auf eigene Rechnung gekauft, nicht etwa ein Rezensionsexemplar erhalten. Also kann ich mich frei von der Leber weg echauffieren. Ein recht angenehmer Zustand.

„A Treasure“ also, namentlich zum „Schatz“ deklariert. Doch es ist eine dieser elend putzmunteren Fiedel-Country-Platten, wie man sie in den Staaten sicherlich in ähnlichem Zuschnitt von etlichen Musikanten bekommen kann. Auch beim zweiten und dritten Hören will es sich nicht besser fügen.

Schon nach wenigen Nummern habe ich jenen Rufus Thibodeaux verflucht, der als Fiddler verzeichnet ist. Nicht, dass er sein Handwerk nicht beherrschte. Doch er darf sich penetrant in den Vordergrund spielen und unwiderruflich den flauen Charakter der Platte prägen. Der geht bisweilen in Richtung quietschfidele, biedere Lagerfeuer-Folklore. Genau davon wollte die Plattenfirma Young damals abbringen. Er blieb widerspenstig aus Prinzip. Man kann beide Positionen verstehen.

Schaut man etwas genauer hin, so wird schnell klar, dass hier eine Tournee von 1984/85 wieder aufgewärmt wird. Die Produzenten halten sich einiges darauf zugute, dass sechs Songs bisher noch nicht veröffentlicht worden sind. So what! Meinethalben mag es dokumentarischen Wert besitzen und im gesamten Oeuvre seinen gebührenden Platz einnehmen. Übrigens liest man in anderen Quellen von einer Tour 1985/86 und von fünf bisher unveröffentlichten Titeln. Habe ich Lust, in derlei Detailkunde einzusteigen? Nicht doch! Das sollen die Unentwegten unter sich ausmachen.

Da frage ich mich lieber: War ich beim Hören nur nicht in der passenden Stimmung? Nein, daran hat es wohl nicht gelegen. Selbst ein Neil Young hatte immer mal wieder schlaffere Phasen. Hin und wieder wird sehr deutlich, dass er im Grunde des Herzens auch ein verdammt konservativer Knochen ist. Die alten („uramerikanischen“) Werte und die Natur bewahren, jajaja. Gewiss. Bei uns wäre er wahrscheinlich für die schwarzgrüne Option zu haben. Was ja kein Vergehen ist, aber bitteschön: „Hey hey, my my, Rock’n’Roll will never die…“ Diese hymnischen Zeilen hat Neil Young schließlich selbst inbrünstig gesungen. Von Rock, Blues oder Punk-Anwandlungen aber spürest du kaum einen Hauch auf „A Treasure“.

Ich bin seit Anfang der 70er Jahre von Neil Young eingenommen, häufig auch hingerissen. Er gehört zu jenen, die einen quasi auf dem Lebensweg begleitet haben wie sonst nur wenige andere. Man ist ihm seither weit gefolgt, manche Biegung des Flusses entlang, bergauf und bergab, in verschiedenste Gelände, an ferne Gestade. Meistens bereitwillig, manchmal verzückt, selten widerspenstig.

Doch dies geschieht eben von Zeit zu Zeit gerade bei begnadeten Singer-Songwritern wie Bob Dylan (dessen dylanologische Anhängerschaft ungleich strenger ist) oder eben Neil Young. Sie tun einen Teufel, deine Erwartungen zu bestätigen. Längst ein Gemeinplatz: Sie durchlaufen Phasen des Suchens und Findens. Sie wollen sich nicht immerzu wiederholen und schiffen daher auf mehreren Fahrwassern. Auf einigen könnte man unbesehen mitfahren. Doch nicht auf jedem mag man ihnen folgen.

Und jetzt freue ich mich schon mal auf seine nächste Neuschöpfung.

Neil Young: „A Treasure“. Reprise Records/Warner Music, Juni 2011, ca. 16 Euro.




Soziale Miniaturen (7): Herrenrunde

Kleinstädtisches Ausflugslokal, sonntags. Norddeutsche Herrenrunde am späten Nachmittag. Alle in den Sechzigern. Großväter, finanziell arriviert und arrondiert. Sie würden sich als gestandene Männer bezeichnen. Man ist mit dem Bürgermeister per Du.

Die ersten drei, vier Biere haben sie verdrückt. Man muss nicht lauschen, um manches zu hören. Jetzt schlägt einer vor, endlich mal den ersten Schnaps zu nehmen. Ein anderer möchte vorerst beim Bier bleiben. Gejohle am Tisch: „Entweder alle oder keiner!“ Man einigt sich schnell auf „alle“. Als einer im Lokal einen Weißwein trinkt, sind sie geradezu aufgebracht. Weißwein bei uns an der Küste! Unmöglich. Wahrscheinlich ein Pfälzer. Oder ein Schwuler. Hohoho.

Zwei Tische weiter begeht eine Frau den „Fehler“, diskret ihr Baby zu stillen. Die einschlägig geeichten Herren bemerken es trotzdem und rufen halblaut herüber: „Musste den Pullover richtig hochziehen, dann kommt das Kind besser ran.“ Launige Lachsalve der Marke „Nix für ungut“. Besser aber, dass die Frau es nicht vernommen hat oder es geflissentlich ignoriert.

Da kochen sie wieder im eigenen Saft.

Wenig später betritt ein junges Paar die Gaststätte. Die Herren stecken die Köpfe zusammen. Die Frau erinnert sie ohne Umschweife an „eine Professionelle“, wie sie es nennen. Tuschelnd werden Mutmaßungen ausgetauscht. Ach was, keine Vermutungen. Tatsachen! Man kennt sich aus im Leben. Ihnen kann niemand etwas vormachen.

Dann wird es wieder lauter: Im Nu ist man bei Kachelmann, Strauss-Kahn und dem berüchtigten Betriebsausflug der Versicherungsleute nach Ungarn. Man weiß Bescheid. Und man hat seine klaren Ansichten.

Noch bleibt es unausgesprochen, doch es zittert in der Luft: Die Welt ist voller Sex, wie soll man da widerstehen? Und diese jungen Dinger, also bitteschön! Zicken! Biester! Wenn nicht Huren…

Wenn man nur noch besser zurecht wäre, so wie früher. Und wenn die Alte zu Hause nicht wäre. Ja, dann würde man noch einmal durchstarten.

Soweit die Vorglühphase.




Paul Valéry: Das Denken am frühen Morgen

Es war ein ungeheures Unterfangen: Rund 50 Jahre lang (1895-1945) ist der französische Schriftsteller Paul Valéry in aller Heidenfrühe aufgestanden, um „geistige Gymnastik“ zu betreiben, wie er es nannte. Hätte er jeweils abendliche Bilanzen gezogen, so wäre sein Denken wahrscheinlich in andere Richtungen gegangen. In den Stunden zwischen Tau und Tag also sind jene zahlreichen „Cahiers“ („Hefte“) entstanden, insgesamt ein zerklüftetes, schluchtenreiches Textgebirge, eines der großen Zeugnisse menschlicher Denkanstrengungen. Vieles klingt noch heute so frisch wie ein neuer Morgen.

Valéry meidet es nach Kräften, auf ausgetretenen philosophischen Pfaden zu wandeln, jedes System ist ihm zuwider. „Die meisten Fragen der Philosophie scheinen mir nicht meine zu sein, abseitig und sogar bedeutungslos, – bar jeder Notwendigkeit…“ Auch verachtet er bloße Lektüren ohne Erfahrung und beflissene Gelehrsamkeit, die das Wissen bestenfalls häuft und sortiert, aber nicht umgräbt.

Hier ist ein originärer Selbstdenker am Werk, der die Frage, was der Mensch überhaupt tun und wissen könne, noch einmal von Grund auf angehen will. Leitlinien sind eine geradezu mathematisch anmutende Strenge, die alles Unbewiesene und Verwaschene verwirft, sowie ein waches Misstrauen gegen Verfälschungen durch Sprache und deren vorgeprägte Muster. Zugleich ist hier ein universell entflammbares, schweifendes Denken umtriebig unterwegs, das seine Gegenstände augenblicklich ergreift.

In der verdienstvollen „Anderen Bibliothek“ des Eichborn-Verlags ist jetzt unter dem Titel „Ich grase meine Gehirnwiese ab“ eine Auswahl aus den „Cahiers“ erschienen, die unter Schlagworten wie „Ich“, „Sprache“, „Denken“, „Wahrnehmung“, „Leibliches Denken“, „Selbstsorge“ oder „Skepsis“ einige Schneisen durchs Dickicht schlägt. Die Edition soll hinführen zu umfassenderen Ausgaben, die freilich auch von Vollständigkeit weit entfernt sind.

Valérys Aussagen wirken stets luftig und kristallin klar. Vielfach verdichten sich seine Erkenntnisse zu trefflichen Maximen, die zwar historisch, jedoch keineswegs gestrig sind. Man möchte Satz um Satz zitieren. Das spricht auch für die Übersetzung. Dringlich gewünscht hätte man sich allerdings die Datierung und somit historische Erdung der Aufzeichnungen. So schweben sie vielfach im luftleeren Raum.

Rupfen wir nur einige wenige Halme aus der „Gehirnwiese“:

Der Mensch wird bestürzend sichtbar als biologische Maschine unter dünnem Zivilisations-Anstrich. Seine Identität ist nur ein Phantom, obwohl er mehr oder weniger bestrebt ist, sein Ureigenes zu sammeln. Zitat: „Man glaubt, man sei derselbe. Es gibt keinen Selben.“ Alles bleibt fragmentarisch und zufällig, nichts mag sich runden und vollenden. Selbst die wildeste Leidenschaft ist brüchig: „Mitten durchs rasende Toben geht ein Strahl von Ist-mir doch-egal.“

Aber lässt sich nicht doch ein Kernbestand festhalten? „Was bewahrt sich durch alle Zustände? Was erhält sich im Schlaf, im Traum, in der Trunkenheit, im Entsetzen, dem Liebestaumel? Dem Irrsinn?“

Wo also soll der Gedanke sein Gravitationszentrum finden? Valéry macht den menschlichen Körper als Angelpunkt und Grenze allen Denkens aus. Pure Gegenwart und Schmerz begleiten uns von Kind auf, körperliche Impulse und Versuchungen, Reize und Reaktionen steuern alles Sinnen und Trachten. Wen überrascht es, dass Valéry auch sexuelle Energieströme als Triebkräfte ansieht, die den Geist bewegen?

Stets muss man laut Valéry mit der prinzipiellen Begrenztheit der Gattung rechnen: Der Mensch nimmt nur einen Bruchteil dessen wahr, was insgesamt vorgeht. Auch sieht er nicht die Dinge selbst, sondern taucht alles ins flackernde Licht seiner Erwartungen. So erblickt er beispielsweise keinen Baum, sondern lediglich Farbflecken, die dann erst im Kopf zum Begriff „Baum“ montiert werden. Die Malerei jener Zeit hat solche Gedanken reichlich „bebildert“.

Valéry versteht tief greifende Selbsterkenntnis als notwendige Basis des Denkens. Wort für Wort durchwandere er sich selbst auf der Suche nach (seiner) Wahrhaftigkeit. Nicht „Ich denke, also bin ich“, sondern „Ich bin, also denke ich“. Sein eherner Vorsatz klingt nahezu naiv, hat es aber in sich: „Die Aufgabe: – nicht mehr mit dem denken, was wir als falsch erkannt haben. Mit dem denken, was uns klar geworden ist.“ Wer sich ein halbes Jahrhundert lang um die Schärfung des Instrumentariums bemüht, der darf, ja der muss so sprechen.

Paul Valéry: „Ich grase meine Gehirnwiese ab“. Die Andere Bibliothek (Eichborn), 348 Seiten, 32 Euro.




Museum Bochum: Anatol und seine Arbeitszeit

Anatol neben seinem Bild "Brief einer sterbenden Lehrerin" (Acryl auf Pressspan, 1996)

Anatols künstlerische Arbeiten zu sehen, das ist das Eine. Ihn reden zu hören, das ist das Andere. Wobei natürlich eins mit dem anderen zu tun hat. Eine Präsentation im Museum Bochum legt jetzt Gewicht auf die leibhaftige Gegenwart des inzwischen 80-jährigen, staunenswert vitalen und nach wie vor handfest arbeitsamen Künstlers, der für so genannte „Ringgespräche“ im Kreise interessierter Besucher in die Revierstadt kommt. Er verlegt also seine „Arbeitszeit“ (Ausstellungstitel) an den Ort, wo sonst „nur“ Hinterlassenschaften der Künstler anzutreffen sind.

Das hört sich einigermaßen harmlos an, kann aber im Falle Anatols geradezu durchtrieben sein, jedenfalls geistig ungemein produktiv. Jeweils zwei Stunden dauern die inspirierenden Runden. Wer den einstigen Beuys-Weggefährten einmal erlebt hat, zweifelt keinen Augenblick daran, dass er diese Zeitspanne ebenso mühelos wie unterhaltsam überbrückt. Fast schon meditative Qualitäten gewinnt beim schier uferlosen Erzählen sein rheinisch grundierter Singsang. Solch einer hörbar lebenskundigen Stimme darf man sich anvertrauen, sie trägt einen an andere, vielleicht ungeahnte Plätze.

Doch sollte man sich nicht nur aufs Treibenlassen in einem langen ruhigen Sprachfluss einrichten, sondern auch auf plötzlich aufblitzende Erkenntnisse. Gut möglich, dass man auf einmal etwas genauer weiß, was die mit Leben und Tod verwobene Kunst auf Erden kann und was nicht.

Man lausche.

Gar manche bezeichnende Anekdote hat dieser Künstler parat. Manchmal verliert er sich freilich auch im Geflecht seiner Sätze. Aus solcher Trance erwachend, zeigt er ein weises, menschenfreundliches Lächeln. Gern untermalt er seine Berichte gestisch, nahezu schauspielerisch. Wie einer geht und aufsteht, wie einer stockt oder stolpert, das wirft Schlaglichter aufs Leben.

Doch weiter, weiter im Fluss: Eben noch hat Anatol prägnante Passagen von Goethe oder Hildegard von Bingen zitiert. Nun berichtet er unversehens vom Errichten einer Blockhütte. Oder vom Bootsbau. Er weiß aus Erfahrung, wie man einen unsinkbaren Einbaum anfertigt. Anno 1973 begab sich jene spektakuläre Kunstaktion auf dem Rhein: Joseph Beuys sollte mit dem urtümlichen Wasserfahrzeug zurück zur Düsseldorfer Kunstakademie geholt werden, aus der man ihn hinausgeworfen hatte. Keine ganz ungefährliche Sache, zumal bei Hochwasser. „Beuys war der einzige, der keine Schwimmweste trug“, erinnert sich Anatol. Eine Heldenlegende? Ach, nicht doch! Nicht, wenn einer so verschmitzt parliert.

Längst hat Anatol den Mittelpunkt seines Schaffens zur Museumsinsel Hombroich (Neuss) verlegt. Düsseldorf, so lässt er wissen, habe er aus gutem Grund den Rücken gekehrt: „Schickimicki liegt mir nun einmal überhaupt nicht.“

Wer die verbleibenden Gesprächstermine mit Anatol (der sonst vorwiegend bildhauerisch tätig ist) versäumt, kann sich in Bochum an eine kleine Auswahl seiner Tafelbilder halten. Bildträger dieser neueren Arbeiten sind „ärmliche“ Materialien wie Pressspan und Pappe.

Die auf den ersten Blick oft unscheinbaren Figurationen setzen unter der Hand „Erscheinungen“ frei, eins entzündet sich am anderen und glimmt auf. Eine antike Amazone neben einer martialischen Polizistin. Michael Jackson beim bizarren Totentanz. Ein Kraftwerk, das ein Dorf überwölbt. Das mag sich plakativ anhören, ist es aber nicht. Besonders in den hauchzarten Aquarellen scheint alles dem allmählichen Verfall preisgegeben. Vor der Vergänglichkeit muss schließlich auch die Kunst ihre Segel streichen.

„Anatol – Arbeitszeit“ (Ausstellung bis 17. Juli), weitere öffentliche „Ringgespräche“ mit dem Künstler am 9., 16. und 22. Juni, jeweils 10 bis 12 Uhr. Museum Bochum, Kortumstraße 147.

Weitere Infos:

http://www.bochum.de/kunstmuseum




Soziale Miniaturen (6): Im Herrenhaus

Die ältere Dame trägt wochentags stets einen schwarzen Kaschmir-Pullover. Sie sagt, sie sei einst Schauspielerin bei einem weltberühmten Regisseur gewesen. Beinahe achtlos lässt sie auch Namen wie Marianne Hoppe oder Will Quadflieg herabtropfen. Sie macht kein Aufhebens davon, sondern handelt es ab, als sei es selbstverständlich, derlei Theaterprominenz gekannt zu haben.

Sie lebt in einem weitläufigen Herrenhaus mit riesigem Park. Nebenher vermietet sie einige Ferienwohnungen auf ihren Latifundien. Weitere Domizile liegen in einer deutschen Metropole und in Übersee.

Früh hatte sie die Schauspielerei aufgegeben und sich in gewisse Formen des Journalismus eingefunden. Anfangs hat sie triviales Geschichten für damals noch florierende Illustrierte geschrieben. Später hat sie – unter Pseudonymen – Unterhaltungsromane mit billigem Lebenstrost verfertigt und schließlich ähnlich gelagerte Stoffe fürs Fernsehen gestrickt. Irgendwann glaubte sie die schaumigen Träume vom jederzeit möglichen Aufstieg der kleinen Leute selbst. So etwas schreibt sich leichten Herzens im Herrenhaus.

Ihre größte Sorge ist ihre Tochter, die einer brotlosen Kunst nachgeht. Das ließe sich ja noch regeln. Doch weitaus schlimmer sei dies: „Sie bringt mir keinen vernünftigen Schwiegersohn“, sagt die Dame über die Tochter, die als Einzelkind gar zu zickig sei. Am liebsten würde die Mutter ihr einen passenden Mann suchen. Der müsste halt mit einem etwas kleineren Busen vorlieb nehmen und den „Wildfang“ bändigen… Dafür gäb’s allerdings ein ansehnliches Erbteil und eine doch recht hübsche Gattin obendrein. „Hier. Schauen Sie. Ich habe ein paar Fotos.“

Tiefer Seufzer. In einigen Jahren werde die Tochter 40 sein, dann werde es immer schwieriger, wenn eine so eigenwillig sei wie sie. Den Besten von allen habe sie verschmäht, vergebens weine sie ihm jetzt nach.

Ach, es ist ein Elend. Geradewegs illustriertenreif.




Soziale Miniaturen (5): Eheliche Lektionen

Sprachkursus bei der VHS. Auch ein Ehepaar im fortgeschrittenen Alter nimmt teil. Sie ist Studienrätin für eine Sprache, die der hier zu lernenden eng verwandt ist. Sie bewegt sich also stets vornan – mit kaum verhohlener, mühsam gebändigter, nur deshalb nicht offen triumphaler Gebärde. Ihre gelebten Jahre sucht sie derweil mit aufgesetzter Jungmädchenhaftigkeit zu überspielen. Es wirkt nicht sonderlich würdig.

Ihr Mann ist Physik-Professor, von spürbar anderer Wesensart als sie. Ein spröder Geselle. Er hat sich offenbar widerwillig „mitschleppen“ lassen. Dementsprechend mürrisch quält er sich durch die Lektionen. Macht er einen Fehler, so kommt die Kursleiterin gar nicht dazu, ihn zu korrigieren. Dafür fühlt sich seine Frau zuständig, die schon auf der Lauer liegt und ihn entweder vernehmlich anzischelt oder ihn gleich vor allen anderen abkanzelt, als wäre er ihr missratenster Schüler.

Es gibt keine Sprache, die man bei ihr würde lernen wollen. Die Redensart „Nichts von jemandem wissen wollen“.




Soziale Miniaturen (4): Sandburg

Ein zweijähriges Mädchen am Inselstrand. Selbstvergessenes Spiel. Die Eltern müssen nur zuschauen.

Da erscheinen zwei Gymnasialklassen (man bemerkt sofort den Mittelschichts-Habitus), sechstes und siebtes Schuljahr. Die Phase, in der es zu „knistern“ beginnt. Mindestens.

Zunächst die Mädchen. Eine von ihnen kümmert sich sogleich rührend um das Kleinkind, baut eine Sandburg mit ihm. Ganz aus freien Stücken. Ganz geduldig. Die anderen schauen interessiert hin, freilich mehr oder weniger verstohlen; manche vielleicht auch mit dem Vorbehalt, ob das denn „cool genug“ sei. Die eine, sozusagen Pionierin, macht unverdrossen weiter – und bricht alsbald den Bann. Ein ums andere Mädchen schließt sich dem Spiel an, bis schließlich ein ganzer Kreis beisammen ist, alle um das Kleinkind geschart, das beglückt lacht.

Von der so vereinten Mädchengruppe werden nun auch die Jungen angelockt, die mit lässigen Gebärden herbeischlendern, einige großspurige Gesten des Burgenbaus vollführen, ein paar Sprüche klopfen und sich dann rasch wieder zurückziehen. Bis auf weiteres.

Sieht aus, als würde vieles so bleiben.




Soziale Miniaturen (3): Profis

Vierköpfige Schülergruppe, nachmittags. Ungefähr 9 bis 10 Jahre alt. Plötzlich entfährt dreien von ihnen der gegen den Vierten gewendete Ruf: „Loser!“ Tadellos ausgesprochen, geradezu mit Kennerschaft dahingesagt. Man merkt die medial vermittelte Gewohnheit. Sagt man so. Macht man halt. Kommt in jedem dritten „Tatort“ vor. Anlass zweitrangig. Und sie kennen noch ganz andere Worte…

Dann die unvermeidliche und doch erstaunliche Steigerung: Die Drei skandieren „Mob-bing, Mob-bing, Mob-bing…“ Sie ironisieren es und lassen es doch nicht bleiben. Sie mobben sozusagen auf höherer Ebene, laut und schmutzig – und stehen zugleich drüber, sind abgebrühte Profis.

Zutiefst dümmlich und zugleich hochreflektiert.

Doch, das geht. Anything goes.




Soziale Miniaturen (2): Kontoauszug

Ein stilecht abgewrackter Punk schlurft daher, heftig tätowiert, flächendeckend gepierct. Wie es das Klischee verlangt.

Auf seinem rissigen Shirt prangt die Aufschrift „Ihr seid alle ätzend!“ Hasserfüllt die ganze Haltung, jeder Blick Abwehr und Angriff. Oh, der hat Schluss gemacht mit allen Übereinkünften. Der ist sternenweit entfernt von jedem Spießertum, von jeder Normalität. Fast könnte man ihn beneiden.

Doch was tut er jetzt? Er nestelt aus dem abgewetzten Rucksack seine EC-Karte der Volksbank hervor, verschafft sich routiniert Zutritt zum Raum mit den Geldautomaten seines Vertrauens. Zieht alsdann noch die Kontoauszüge, damit das gleichfalls seine Ordnung hat. Gewiefte Marketing-Strategen könnten mit ihm ein Filmchen drehen und so für die allseits tolerante Bank werben. Man will nicht wissen, über wie viel Geld er verfügt. Doch posiert er mit blindwütiger Verachtung gegen allen Besitz. Darf man das nicht Verlogenheit, gar Idiotie nennen?

Jaja, gewiss: „Das System hat alle vereinnahmt, man kann ihm nicht entrinnen.“ Welch eine betrüblich billige Schlussfolgerung aus solch einem winzigen Vorfall. Doch ist sie falsch?




Gütige Diktatur

Der und jene könnten Anwandlungen haben. Sie könnten sich wünschen, eine „gütige Diktatur“ zu errichten. Dann würde vieles geradezu hingebungs- und liebevoll verboten, ja das Ungefüge würde gleichsam zärtlich von der Erde weggestreichelt.

Wohlig ließe man sich treiben zwischen zeitweiligem Überdruss und bleibendem Widerwillen gegen Dinge und Worte. Wachsende Verbotslust. Anschwellende Verfügungslaunen.

Nun aber frisch begonnen:

Internet? Schluss mit dem infantilen Quatsch. Fernsehen? Ab dafür! Mobiltelefonie? Weg damit. Schleunigst. Keine Leute mehr mit Headsets, die vor sich hin palavern und den Anschein erwecken, als führten sie wirre Selbstgespräche. Ist doch peinlich.

Stracks kommen nun die so genannten SUVs an die Reihe. Diese gewaltförmigen „Spaß“-Tonnagen mit gefühlten tausend PS. Alltagskriegsgeräte, Macht-Maschinen. Ab zum Schrottplatz, wo sie alle sinnvoll zu Granulat zermahlen werden. Wie lieblich das bröselt.

Übrigens, damit das klar ist: Gockelhaftes Skrotumkratzen zieht allgemeine Ächtung nach sich. Nein, nicht Achtung. Ächtung.

Wenn wir schon mal sackerment dabei sind: Sofort runter mit Rucksäcken, deren Träger(innen) sich immer im falschen Moment raumgreifend umdrehen. Weitere Begründung überflüssig. Ist ja `ne Diktatur.

Die MP3-Stöpselei, der vollverkabelt einher tapernde Passant? Selbstverständlich streng verboten. Das Zeug ist samt Zubehör bei den Sammelstellen abzugeben.

Strikt unterbunden wird überhaupt das Geschrei um angebliche „Must-haves“ und vermeintlich unverzichtbare Marken. In stinkreichen Vierteln von Frankfurt/Main, so heißt es, werden Schüler gemobbt, die nicht das neueste iPhone, sondern nur ein gewöhnliches Handy bei sich tragen. Für derlei Drangsalierung betrüge das Strafmaß in der „gütigen Diktatur“ fünf Jahre Computerspielverbot nebst Bücherlesezwang und Sozialdienst.

Schließlich das tägliche Alarm- und Sirenengeheul der medialen Hypes: Ab in den Orkus, Deckel drauf. Ruhe im Karton!

Nun mögen manche einwenden, hier werde dem Leben jegliche Farbe und Freude ausgetrieben, man lande so geradewegs im eisgrauen Kommunismus altbekannter Prägung. Wartet nur, bis es erst richtig anfängt, bis Geld und Besitz gänzlich abgeschafft werden und das Paradies auf Erden befohlen wird!

Danke für die Aufmerksamkeit.




Kraut und Rüben im Regal

Als die Frankfurter Rundschau (FR) weitaus bessere Zeiten gesehen hat als heute, gab’s dort im Feuilleton eine Kraut-und-Rüben-Rubrik, welche da schlichtweg hieß: „Neue Bücher, die FR-Leser interessieren könnten“.

Unter dieser Larifari-Zeile ließen sich Bände auflisten, die die Verlage der Redaktion geschickt hatten und wofür die Lesekapazität und/oder der Platz im Blatt mutmaßlich nicht reichen würden. Man darf annehmen, dass eine Sekretärin die dürren bibliographischen Angaben abgetippt hat und die Redakteure somit ein paar Sorgen weniger zu haben glaubten.

Waghalsige Überleitung: Auch ich habe es nicht geschafft, alle mir zugesandten Bücher gewissenhaft von A bis Z durchzulesen, wie es sich für eine tragfähige Rezension gehören würde. Also muss ich es hie und da bei Schnelldurchgang und Kurzvorstellung belassen – wie es bisweilen noch jedem Kritiker und jeglichem Publikationsorgan ergeht. Zur Sache:

Nach dem fulminanten Erfolg von Zeitschriften, die das angeblich naturnahe Landleben konsumträchtig preisen, sind auch die Büchermacher hellhörig geworden. Man hat da einen „Trend gewittert“ und bedient ihn nun emsig. „Landleben. Ein Sehnsuchts-Lesebuch“ (Diogenes-TB, 363 Seiten, 10,90 Euro) passt in dieses Raster. Es versammelt (gleichsam als „Best of“) Textauszüge aus einschlägiger Literatur zwischen Tschechow („Das neue Landhaus“), Judith Hermann („Sommerhaus, später“), Adalbert Stifter („Der Waldsteig“) und natürlich Henry David Thoreau („Walden“). Es mag ja sein, dass man beim Durchstöbern die eine oder andere Anregung bekommt, der man später nachgeht, doch mich erinnert das Verfahren allzu sehr an die Barbarei, einzelne Sätze aus musikalischen Werken zu reißen und in allseits bekömmlichen Radioprogrammen abzududeln.

Im selben Verlag weckt man gärtnerische Frühjahrsgefühle auch mit sehr zartsinnigen Cartoons: Sempé „Für Gartenfreunde“ (Diogenes, 76 Seiten, 10,90 Euro) beweist abermals die unvergleichlichen Fähigkeiten dieses französischen Zeichners. Der Garten erscheint hier als letztes, oft ach so geringfügiges Refugium in brutalen Stadtlandschaften, aber auch als flirrende ländliche Idylle und erhabener Seelentrost. Wie Sempé das spielende Kind in jedem Menschen aufspürt und wie er das Individuum gegen alle kollektiven Zumutungen in Obhut nimmt, das ist so feinnervig und zugleich so groß gesehen, dass einem der Atem stockt. Keine Spur von Hass ist hier zu finden, im Gegenteil: Unverdrossene, unverbrüchliche Menschenliebe vibriert in jedem Strich. Chapeau!

Gesammelte Kolumnen enthält dieses Buch: Susanne Wiborg „Bin im Garten!“ (mit Bildern von Rotraut Susanne Berner, Kunstmann Verlag, 182 Seiten, 16,90 Euro). Hier darf man sich wirklich tief eingraben in die Gartenwelt. Nicht-Liebhaber dürfen staunen, müssen aber wohl letztlich draußen bleiben. Schon ein speziell versessenes Völkchen, diese Menschen mit dem grünen Daumen.

Noch so ein Zug der Zeit, diesmal „auf Lunge“: Abgesänge auf die Kultur des Rauchens und des Tabaks, der ja auch gleichsam gärtnerisch betreut sein will. In dieser Saison beispielsweise Gregor Hens‘ „Nikotin“ (S. Fischer, 190 Seiten, 17,95 Euro). Der 1965 geborene Schriftsteller hat mit dem Rauchen aufgehört, erinnert sich aber mit einer gewissen Dankbarkeit an so manche Zigarette und ihre zeichenhafte biographische Bedeutung. Hier darf jeder (gewesene) Raucher von Herzen mitseufzen. Und vielleicht lässt sich die unstillbare Vehemenz der Nikotinsucht ja tatsächlich auf andere Mühlen lenken?

Schon der Lokalstolz gebietet es, einen Krimi aus dem derzeit wohl einzig nennenswerten Dortmunder Verlag zu erwähnen: Lucie Flebbe „Fliege machen“ (Grafit Verlag, 251 Seiten Paperback, 8,99 Euro). Grafit hat unter Ägide seines Gründers und langjährigen Chefs Rutger Booß (der inzwischen ausgestiegen ist) den deutschsprachigen Regionalkrimi sozusagen miterfunden. Mit der Glauser-Preisträgerin Lucie Flebbe („Beste Newcomerin“) haben die Dortmunder erneut ein Talent entdeckt. Die Geschichte spielt im Bochumer Obdachlosenmilieu.

Uralte Frauen- und Männerfrage, immer wieder neu zu stellen: Geht es vielleicht auch ohne einander? Diesmal versucht sich Siri Hustvedt in dieser Disziplin. Ihr Roman „Der Sommer ohne Männer“ (Rowohlt, 253 Seiten, 19,95 Euro) beginnt mit der Krise einer altgedienten Ehe und nimmt das Frauenleben an und für sich ins Visier. Selbsterfahrung? Gewiss. Auch das. Doch auf beachtlichem Niveau, geweitet ins allgemeiner Gültige. Haben wir von dieser Autorin etwas anderes erwartet? By the way: Ich würde mal gerne Mäuschen spielen in ihrer Ehe mit Paul Auster. Ob es da noch Streit um Wichtigkeit und Ruhm gibt?

Einer der merkwürdigsten Hypes des literarischen Frühjahrs ist wohl die vom Verlag herbeigeredete Wiederauferstehung eines Romans von 1946, der in den frühen Vierzigern spielt: Hans Fallada „Jeder stirbt für sich allein“ (Aufbau Verlag, 704 Seiten, 19,95 Euro). Die eindringliche Schilderung Berlins in der NS-Zeit und einer hoffnungslosen Widerstands-Geschichte kommt auf Umwegen über Frankreich, die USA und einige
weitere Länder zu uns zurück. In der Ferne gilt Fallada nun angeblich als eine der Größen der deutschen Literatur. Der Roman liegt hier erstmals auf Deutsch in ursprünglicher Gestalt vor – mitsamt der zwischenzeitlich getilgten Stellen, die ein Lektor aus Gründen politischer Korrektheit eliminiert hatte. Der Text wirkt somit roher und unbehauener als vordem. Man lese – oder man lese nicht. Mit der brunzdummen „Must have“-Attitüde der aufgekratzten Marketing-Leute ist auf diesem Gebiet eh nichts zu holen.




Abgesang auf alles

Lange nichts mehr gehört und gelesen von Friederike Roth. Seit Mitte der 90er Jahre hat sie keine literarischen Texte mehr publiziert.
Jetzt ist ihre „Abendlandnovelle“ erschienen. Und die handelt just vom Anfangen, vom Neubeginn. Die ersten Zeilen lauten so:

„Am Anfang des Anfangs / also vor jedem Anfang / diese Leere voll Hoffnung / diese vibrierende Ruhe…“

Keine Novelle ist dies, sondern ein mäanderndes Prosagedicht, ein ausuferndes Lamento. Es liest sich wie ein Abgesang aufs einst so glorreiche Autorinnenleben ebenso wie aufs Dasein der ganzen Menschheit.

Früher, ja früher waren Anfänge noch verheißungsvoll. Nun aber, da die Jugendzeit dahin ist, gibt es nur noch „dieses verwahrlost verschlampte Jetzt“. Alles verfällt und vergällt einem daher schon den nächsten Anfang, dem bereits das schlimme Ende einbeschrieben ist. Die erste frühlingshafte Liebe hatte noch Hoffnung geborgen. Doch immerzu haben Besitzgier und Begehren solch zarten Beginn zerstört.

Nicht nur jedes einzelne Leben, sondern die gesamte Geschichte erscheint hier als ewiger Kreislauf aus Aufbau und Niedergang. Immer sei es so gewesen: Als das Leben an Land kroch, als die Pyramiden gebaut wurden und als die antiken Griechen auf Erden wandelten.

Wär’s da nicht besser, nun endlich gar nichts mehr anzufangen?

Auch und vor allem das Abendland sei nicht mehr zu retten, befindet das unentwegt klagende Ich. Die gleichfalls titelgebende Novelle kommt ebenso vor, allerdings in schroffer Negation. Nach Goethes berühmter Definition enthält eine Novelle eine „unerhörte Begebenheit“. In Friederike Roths Langgedicht wird dies geradezu empört zurückgewiesen. Nichts sei neu und unerhört, alles erschöpfe sich nur in Wiederholungen. Ekelhaft und langweilig. Bloßes Lebenstheater. Alles schon getan und gesagt. Welch ein Ennui.

Nur ganz leise noch regt sich Sehnsucht nach Umkehrbarkeit des allgemeinen Übels, nach wahrhaft offenen Anfängen, nach Utopien. „…einmal doch / war da etwas wie / eine Ahnung von Gelungenheit ohne Bedrohung“. Aber wie lässt sich all das noch behaupten, nachdem Sozialismus u n d Kapitalismus vor die Wand gefahren sind?

Tastend, stammelnd, aller Sicherheiten beraubt, immer wieder mitten im Satz atemlos abbrechend, aus Schreibnot geboren, so kommt dieses Werk daher; längst nicht mehr ins Gelingen verliebt, sondern nach niederschmetternden Erfahrungen geradezu ins Scheitern verbissen. Streckenweise erschöpft sich auch die Sprache und schwingt sich nicht mehr auf zu wirklichen Wortfindungen. Dann tönt die Klage auch schon mal hohl und beinahe gewöhnlich.

Zwar erhebt sich der innige, irrsinnige Wunsch nach opernhaftem Pathos, welches das ewige Geplapper der Fußgängerzonen übertönen soll. Am Ende gibt es freilich überhaupt keinen Anfang mehr. Nur noch der Tod ist gewiss, wenn auch schimmernd kostbar eingefasst in die allerletzten Zeilen: „Gold, Keramik, Alabaster. / Und Sarkophage aus schwarzem Basalt.“

Friederike Roth: „Abendlandnovelle“ (Suhrkamp, 102 Seiten, 15,90 Euro)




Gereimtes oder Ungereimtes

Ich möchte hier einen Versuch wiederholen. Beim für immer entschlafenen
Kulturblog Westropolis (2007-2010) hat es der entsprechende Thread über die
Jahre hinweg auf rund 1500 Wortmeldungen gebracht. Man verzeihe mir den preiswerten kleinen
Stolz, damit einen Rekord angestoßen zu haben, der dort nicht mehr gebrochen werden kann, weil jene Plattform der WAZ-Mediengruppe Anfang 2011
unwiederbringlich gelöscht worden ist.

Die Idee, wenn man sie überhaupt so nennen soll, ist denkbar
simpel und keineswegs originell:

Statt eines Kommentars hinterlässt man/frau hier just einen selbst verfassten Zweizeiler, Vierzeiler,
ein Sonett oder sonst etwas Gereimtes / Ungereimtes mit lyrischer Anmutung bis Zumutung.

Einstiegsschwelle niedrig, Skala der Ansprüche nach oben offen.

Als die A40/Bundesstraße 1 im Sommer 2010 fürs
kulturhauptstädtische „Stilleben“ gesperrt wurde, gab es etliche Stände, an
denen die Passanten Gedichtetes hinterlassen sollten, meist auf meterlangen
Textrollen. Ein Werk der Vielen. Es sollte „volkstümlich“ sein, und da ist – bei halbwegs strenger Observanz – peinliche „Volkstümelei“ nie allzu weit
entfernt. Kulturell etwas kleidsamer, doch ebenfalls zwiespältig, ist die immer wieder
gern kolportierte Auffassung von Joseph Beuys, jeder Mensch sei Künstler.

Hier möge es, wenn es denn in Gang kommt, vor allem freudig
zugehen. Gerade gereimte Zwei- oder Vierzeiler führen nicht selten zu (höherem) Nonsens und
blühendem Blödsinn.

Warum auch nicht? Wir werden sehen.




Soziale Miniaturen (1): An der Kasse

Die Frau, wahrscheinlich in den Fünfzigern, ist vielleicht
ein wenig verhuscht, aber überhaupt nicht verwahrlost. Sie hält noch etwas auf
sich, wenn auch nicht mehr so viel wie ehedem. Sie ist auf unscheinbare,
gläsern verletzliche Art adrett. Es ist, als stünde sie auf papierenen Füßen.
Sie lebt allein, so viel scheint gewiss.

Sie steht an der Kasse. Bevor sie an die Reihe kommt,
sortiert sie ihren bescheidenen Einkauf auf dem Laufband sehr sorgfältig um und
um. Geradezu liebevoll. Unsinnig liebevoll.

Der Kassierer tippt die Beträge ein und drückt die
Additionstaste. 19 Euro und… Mit Mühe kratzt sie knapp 16 Euro zusammen. Ihr
hilfloser Blick.

Dieser Kassierer, ein massiver Mensch, schlägt vor: „Was
brauchen Sie denn nicht so dringend? Dann lassen Sie das weg.“ Schüchtern rückt
sie zwei Joghurt-Becher beiseite. Er, gnadenlos pragmatisch: „Das bringt
nichts. Das ist nur ein Euro zehn.“ Ihr hilfloser Blick.

Es liegt schmerzlich zutage. Sie kann nicht einfach
per Karte zahlen. Was da liegt, ist das, was sie jetzt aufbieten kann.

Von hinten aus der Schlange meldet sich ein Gutmeinender:
„Wieviel fehlt denn?“ Keinerlei Reaktion. Noch einmal, ebenso vergebens:
„Wieviel fehlt?“ Achselzucken. Was soll man machen?

Sie verzichtet nochmals auf zwei, drei Posten, so dass ihre
Habe nun gerade reicht.

Ihr Lächeln ist fein, doch hört man nicht ein Klirren?




Das Menetekel der Giraffe

Eigentlich wollte ich gestern ein paar Absätze über Bin Laden schreiben. Es wäre beispielsweise um Rechtsstaatlichkeit und christliche Werte gegangen. Dann aber dachte ich mir: Jeder Terrorexperte unserer Breiten hat bereits seine (Fern)-Diagnose auf den Markt der Meinungen geworfen. Da mache ich lieber was Abseitiges – und wenn ich’s aus der Archivkiste hervorzerren müsste. And here we go:

Kürzlich hat Katrin Pinetzki an dieser Stelle über eine Sprachmarotte der Pixi-Bücher geschrieben. Ich möchte ihre Analyse mit einem Deutungsversuch ergänzen, und zwar am Beispiel einer literarischen Hervorbringung der komplexen Sorte. Kenner ahnen es bereits beim ersten Blättern: Ohne hochspezialisiertes interpretatorisches Besteck wird in diesem Falle nichts zu gewinnen sein. Proust, Joyce und Musil lassen nolens volens grüßen.

Das vorliegende Buch hat weder einen erkennbaren Autor noch einen Titel. Aufs allzu bequeme Abrufen von Vorkenntnissen über Leben, Werk und Wirkung müssen wir also verzichten, ebenso auf schnellfertige Assoziationen. Was nun? Beharrlichkeit, Spürsinn und Geschick sind in hohem Maße gefragt.

Die zumeist lakonisch, doch bildmächtig und universal verständlich entfaltete Fülle des Stoffs ist immens, sie gemahnt an Großmeister wie Dostojewski oder Tolstoi. Ein Register der handelnden Personen am Ende dieses Folianten wäre hilfreich gewesen, rankt sich doch das furiose, oft bestürzende Geschehen um einen Elefanten, eine Schildkröte, eine Ente, ein Schiff, zwei (!) Seepferdchen, einen Fisch, einen Seelöwen und schließlich (ebenso lang- wie waghalsige Wendung am Schluss) um eine veritable Giraffe. Darüber wird noch zu reden sein.

Subtil und anspielungsreich ist die Struktur der weit ausgreifenden, ungemein welthaltig hin und wider wogenden Handlung gewoben. Über fast allen Figuren dieses theatrum mundi scheint die vermeintlich liebe (in Wahrheit gnadenlose) Sonne prangend gelb, dazu gesellt sich jeweils ein harmlos sich gebendes blaues Wölkchen.

Eine besondere Funktion kommt dem Schiff zu. Es verkörpert – wenn man so sagen darf – die unbelebte Materie, sofern man etwaige Passagiere ausblendet. Allerdings deuten keinerlei Anzeichen auf Kabinen-Insassen oder Deckbewohner hin. Hier klingt offenbar das alte Motiv vom Geisterschiff an. Was aber besagen die beiden stilisierten Möwen, die über dem nahezu tortenförmigen Schiff kreisen? Künden sie nicht von ewiger Wiederkehr, vom Werden und Vergehen, vom Kreislauf der Zeiten und Gezeiten?

Alle Protagonisten sind von scharf umrissenen, pfützenförmigen Wassermengen eingefasst (der Kunstgeschichtler würde sagen: „hinterfangen“), wobei Elefant, Schildkröte, Seelöwe und Giraffe jeweils mittendrin auf gelben Inseln naiv sich ergehen, als gäb’s kein Morgen und als herrschten noch ungebrochen paradiesische Zustände. Ente, Schiff, Fisch und Seepferdchen haben hingegen derlei Refugien nicht nötig. Diese charakterstarken Figuren setzen sich vielmehr dem nassen Element existenziell aus, sind nicht auf falsche Sicherheiten bedacht. Sie nehmen die Wahrheit so feucht, wie sie nun einmal ist.

Unterdessen enthüllt sich nach und nach der horrible Kontext der bei näherem Hinsehen gar nicht mehr harmlosen Vorfälle: Es ist die finale Klimakatastrophe, die sämtliche Rückzugsgebiete vor dem stracks ansteigenden Meeresspiegel rigoros eingrenzt und die Spezies Mensch in dieser zeit- und ortlos gewordenen Welt womöglich schon längst dahingerafft hat. Übrig geblieben sind offenkundig nur noch grotesk entfremdete, animalische Wesen mit dem Intelligenzquotienten von Steckrüben. Welch ein Menetekel, welch eine Apokalypse!

Die hirnlos fröhlichen Gesichter und all das kindisch bunte Lärmen können auf Dauer nicht über die desolate Lage hinwegtäuschen, ja überhaupt weist der heitere Oberflächen-Eindruck der Szenen recht eigentlich darauf hin, dass sich diese Gestalten (unter Einwirkung von Drogen?) bestenfalls zu Tode amüsieren. Hier walten zunächst insgeheim, sodann immer fratzenhafter: Verlogenheit, Zynismus, Sarkasmus. Oder sollte es sich nur noch um Idiotie im fortgeschrittenen Stadium handeln? Fürwahr: Da haben wir ein pralles Sittengemälde im Stile eines Hieronymus Bosch.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Zur bewegenden Schlüsselszene gerät in dieser Hinsicht der zentral gestellte, einzige Dialog des gesamten Bandes, der freilich mäandert, beziehungsreich ausufert und unterdessen ungeheure Mengen von Bildungsgut anschwemmt: Gemeint ist das Gespräch zwischen den beiden Seepferdchen. Man beachte, wie die Luftbläschen, die sie absondern, mit jenen korrespondieren, die hernach dem Fische zu eigen sind. Mehr noch: Fisch und Seepferdchen sind die einzigen, die in diesem Roman-Kosmos ohne Sonne auskommen. Man beachte ferner den sprachspielerischen Anklang der Worte Fisch und Schiff. Er rührt mit seiner Buchstaben-Umkehr an die tiefsten Geheimnisse des Sagenmüssens und Nichtsagenkönnens.

Hintersinnigster Kunstgriff des anonymen Autors, dessen Effekt uns wie ein Keulenschlag trifft: Unter dem Signum der Ente hat er (oder etwa: sie?) einen diabolischen Mechanismus verborgen, der quietscht, wenn man auf die Buchseite drückt. Somit wird der Leser unversehens selbst zum hilfswilligen Agenten der allgemeinen Verblödung – was einen nachhaltigen Bewusstwerdungsprozess auslösen dürfte. Wenigstens wäre es innig zu wünschen.

Der wache, empfindsame Rezipient wird sich schließlich Rechenschaft ablegen wollen über sein bislang verpfuschtes Dasein, ja er wird sich – ganz im Sinne Rilkes – am Ende betroffen eingestehen: „Du musst dein Leben ändern.“

D a r u m also ragt auf der letzten Seite die Palme als vertikales Hoffnungszeichen neben der Giraffe auf. Hieß es nicht schon einst bei Günter Grass, jemand habe sich einen von der Palme gelockt? Gewiss doch. Ein gigantisches Symbol mithin, Mahnung genug.

Ein erschütterndes Schluss-Tableau beschließt den Reigen: Diesen abschiedswehen Blick der Giraffe wird man so schnell nicht vergessen, er sengt sich in die Seele ein. Für immer.




Erfüllter Wunsch

So ist das vielleicht mit allen erfüllten Wünschen: Auf einmal fehlt der ganz große Glanz, der schon seine funkelnden Vorboten ausgesandt hatte und den man sich vorher aus der Ferne erhofft hatte.

Nicht, dass nun alles schal schmeckte. Doch man muss von den ersehnten 100 Prozent etwas abziehen. Wieder mal keine Apotheose. Die Vorlust war abermals größer als die die Erfüllung.

Wer wird denn da an Erotik denken?

Es sei dargetan am banalen Beispiel: Gesetzt den Fall, man hätte die ganze Saison über, Spiel für Spiel, mit einem Fußballverein gefiebert (nennen wir ihn mal probehalber Borussia Dortmund), und der würde am Ende tatsächlich obsiegen, so wird sich in alle Freude etwas ernüchternd Prosaisches mengen. Kann es sein, dass viele just eine Ahnung dieses Gefühls mit Alkohol betäuben? Dass sie die keimende Enttäuschung niedergrölen?

Sowieso hat der gute Goethe auch dazu seinen Senf gegeben. Oft zitiert, nie erreicht: „Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.“ Was soll man dagegen einwenden? Der Teufelskerl hat’s mal wieder auf den Begriff gebracht. Und Schopenhauer hat steigernd gewusst: „In einem Schlaraffenland würden die Menschen zum Teil vor langer Weile sterben oder sich aufhängen.“ Zum Teil.

Deutsche Meisterschaft im Fußball. Bei Licht betrachtet, mag es reichlich läppisch sein. Es gilt doch, die Welt vorm Niedergang zu retten. Utopien harren der Verwirklichung, so dass Tore, Punkte und Tabellen vergleichsweise kläglich gering anmuten. Ja, sagt das mal den Leuten, die jetzt bis in den Morgen feiern.

Ich habe heute in dieser Stadt viele glückliche Gesichter gesehen. Auch bei Menschen, die sonst wahrlich nichts zu lachen haben. Selbst ein Mann, der seine ganze Habe in einer Tüte mit sich tragen kann, lächelte selig vor sich hin. Besitzt er auch so gut wie nichts, so bleibt ihm doch diese frische Zuversicht. Ihm solche Spurenelemente von Lebensmut nehmen zu wollen, wäre zynisch. Doch kann es nicht dabei bleiben. Doch muss da erheblich mehr kommen. Doch reicht das beileibe nicht aus.

Ach, wie unvermischt war unsere Freude noch, als wir Kinder gewesen sind. Wie sehr waren wir jäher Absturz und erneutes Auffahren! Was ist daraus geworden?

Und jetzt?




Der Name des Werkzeugs

(Möchtegern)-Intellektuelle halten sich etwas zugute – auf einen gewissen Wortschatz, auf ein hie und da, ja möglichst universell geschmeidig anwendbares, halbwegs hochgeschraubtes Reflexionsniveau nebst anhängendem Zynismus, der schon mal gar nichts gelten lässt. Und dann heißt es noch, die daraus resultierende Eitelkeit zu kaschieren. Eine Heidenarbeit, nicht immer von Nutzen gekrönt.

Solchen Leuten fehlt doch was?

Nein, nein, diesmal gibt’s keine Glaubenspredigt. Auch Hoffnung und Liebe wollen wir hier nicht aufrufen.

Aber denen, die mit Sprache zu schaffen haben, mangelt es beispielsweise oft am mathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Rüstzeug. Ein alter Hut, doch immer noch der Rede wert. Man schlage bei Hans Magnus Enzensberger nach, der immer wieder auf dieses Thema zurückgekommen ist und die Ignoranz der Geisteswissenschaftler gescholten hat.

Zudem fehlen den Sprachdrechslern nicht selten Bezeichnungen für die alltäglichsten, simpelsten Dinge. Einem Menschen,  dessen Name unwichtig ist, ging es nun so mit einem einfachen Werkzeug, das für eine kleine Montage benötigt wurde. Ein Gabelschlüssel war gefragt. Ein wie? Ein was?

Er hat das Wort stiekum in die Suchmaschine eingegeben und sich das Objekt besehen (siehe beigefügten Ausdruck). Ah! Ja so. Dass er darauf nicht ohne Internet-Krücke gekommen war. Er hatte immer gedacht, das hieße Schraubenschlüssel. Dabei kann man doch auf Baumarktschildchen nachlesen, welche Worte in der Welt des fraglosen Funktionierens gelten.




Was uns ins ferne Länder lockt – Cees Nootebooms „Schiffstagebuch“

Das kennen alle Menschen, die jemals von Fernweh ergriffen worden sind: Schon die bloße Nennung von Ländern und Städten oder ihr bloßer Anblick auf Landkarten kann einen dazu verführen, sich auf den Weg zu machen.

Auch Cees Nooteboom, einer der großen Reisenden der Gegenwartsliteratur, lässt sich auf diese Weise durch die Welt treiben: „…immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben.“ Wer derart ins Ungewisse aufbricht, der will immer und immer hinter die jeweils nächste Wegbiegung schauen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwann muss man aufhören, und sei’s mit der ganzen Lebensreise. Manches sehen heißt noch mehr versäumen. Und doch bleibt diese „Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch“.

Nootebooms „Schiffstagebuch“ ist längst nicht nur Wegbeschreibung und Ortserkundung, sondern eine reichhaltige Reflexion über Phänomene und Phantome des Reisens an sich. Der Schriftsteller gibt sich hier der langsameren Art der Fortbewegung, der allmählichen Näherung anheim, die zwangsläufig ein ruhigeres Schauen mit sich bringt. Die Fahrten führen beispielsweise rund ums Kap Hoorn bis Montevideo, zum Ganges, in den tropischen Nordwesten Australiens, nach Mexiko, von Mauritius bis Südafrika, von Spitzbergen nordwärts bis Hammerfest und schließlich nach Bali.

Hier ist kein landläufiger Tourist unterwegs, sondern ein geschulter Beobachter, der sich einige Zeit nehmen kann, der sich einlässt auf Menschen, Landschaften und Verhältnisse, vielfach auf rätselhafte, irritierende Momente und befremdliche Begegnungen.

Mehrmals hält in diesem Buch das Erzählen gleichsam den Atem an. An völlig entlegenen Orten gibt es jene Augenblicke oder besser Zeitflächen einer großen, überdeutlichen Stille, in die der Reisende dann und wann entrückt wird. Dort erfasst ihn das schiere Gegenteil seiner Existenzform: „Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie man selbst verrinnt…“

Nooteboom, der wahrlich viel von der Welt gesehen hat, weiß, dass er ohnehin keine objektiven Befunde mitteilen kann, sondern mehr oder weniger flüchtige Eindrücke und Muster des Daseins. Fern liegt ihm der Gestus, eine Gegend zu „erobern“, doch auf seinen Nebenpfaden findet er ungleich mehr Sagenswertes als Draufgänger, die alle vermeintlichen Sehenswürdigkeiten mitnehmen.

Reisen, so zitiert Nooteboom den ungarischen Essayisten Béla Hamvas, sei „die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen…“ Eine ungeheuerliche Herausforderung mithin, zuweilen auch Verunsicherung sondergleichen. Selbst wenn man – wie heute üblich – diverse Stätten aus Filmen kennt, so können sie einen doch mit aller Plötzlichkeit überwältigen, wenn man es denn zulässt. So steht denn Nooteboom fassungslos vor dem strömenden, brandenden Tumult des Lebens in Indien: „…nichts hat mich auf den Schock des Echten vorbereitet, auf meine Sprachlosigkeit.“

So sehr sich der Reisende auch bereitwillig einfühlen mag, so bleibt er doch ein bloßer Gast in jeder Fremde, nirgendwo heimisch. Immer wieder macht sich Nooteboom diese Kluft bewusst, die den Reisenden letztlich nie an ein Ziel kommen lässt. Die Anziehungskräfte der Namen und Karten erweisen sich als „Verlockung des Unmöglichen“.

Auch in der Übersetzung bleibt Nootebooms stupende Fähigkeit spürbar, seinen Texten etwas von den Konturen der Landschaften zu verleihen, die er bereist hat. Ganz so, als wären es Relief-Abdrücke wirklicher Formationen. So kann man die unendliche Leere Feuerlands ahnen, die tosende indische Überfülle, die einzigartige historische Patina der früheren Welt-Perlen-Hauptstadt Broome (Australien), die Zielpunkt eines japanischen Überfalls im Zweiten Weltkrieg gewesen ist und heute nur noch erloschen dahindämmert. Aber es gibt auch Landstriche, deren Lüfte gleichsam über und über angefüllt sind mit Dichtung. Über den Weg durch Chile und Argentinien nach Uruguay heißt es: „Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.“

Immer wieder kommen die Menschen zur Sprache, denen die Ländereien einst geraubt worden sind: Indianer im äußersten Südzipfel Amerikas, Maya in Mexiko, Aborigines in Australien. Überall finden sich Spuren gelebter und erlittener Geschichte, wie erstarrt auch immer. Historische Wunden, zerstörte Balancen, geschundene Natur. Wahrhaftiges Reisen bedeutet auf Dauer auch, lauter schmerzliche Verluste zu verbuchen.

Cees Nooteboom: „Schiffstagebuch“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Schwarzweiß-Fotos von Simone Sassen. Suhrkamp Verlag, 283 Seiten, 19,90 Euro.




Verbotenes Wort

Liebe Gemeinde!

Ihr habt noch keine Osterpredigt gehört? Hier ist sie:

Viele sind stolz, dass sie gar nicht(s) mehr ****ben. Dieses triumphale Gefühl geht oft einher mit „Sündenstolz“; ein Wort, das heute kaum noch jemand verwendet. Zuletzt habe ich es aus dem Mund des weltweisen Schriftstellers Feridun Zaimoglu gehört.

Jene, die noch an etwas ****ben, werden bestenfalls milde belächelt. Sie sind so überaus naiv. Sie haben kein Zeichen der Zeit erkannt. Manchmal wird der Un****be auch aggressiv. Verdammt unangenehm.

Tatsächlich ****bt in unseren Breiten fast niemand mehr felsenfest. Übermächtig scheinen die Gründe zur tausendfachen Skepsis. Verfall, wohin man schaut. Missratene Schöpfung. Wer aber ein weiter blickt, ist vielleicht gar nicht so heilfroh, vom ****ben abgefallen zu sein. Gewiss, wir haben als Notration unsere stets auf dem Sprung liegende Ratio. Imponierend. Ungeheuerlich. Doch wie weit reicht der Horizont? Und was wird am Ende des Weges sichtbar?

Und wenn es nur um die Kraft ginge, die man aus tief gegründeten Haltungen schöpfen kann. Dann lobte ich mir die Kraft eines ****bens, die die Kraft des Zweifels wohl übersteigt.

Jawoll.




Sprache lieben, Sprache hassen

Gerade wenn man Sprache lieben gelernt hat, so kann man sie auch hassen; jedenfalls einige ihrer Ausprägungen. Wenn einem Schriftsteller erst einmal das süße Gift trefflicher Worte eingeträufelt haben, so erschrickt man umso mehr bei falschen Klängen. Haben einen Hölderlin, Rilke, Robert Walser, Kafka, Gernhardt oder Genazino (etliche andere Namen bitte freihändig einsetzen) mit ihren Tonfällen betört, so behagt manches aus den täglichen Niederungen nicht mehr. Dann muss man sich zuweilen klarmachen, dass doch längst nicht immer im hohen Ton gesprochen werden kann. Was wäre das für eine Welt? Man möchte doch bitte auch recht oft lax und nachlässig sein dürfen. Das ist Menschenrecht.

Doch es kann geradezu körperlich quälend sein, bewusstloses Gestammel zu vernehmen. Jetzt bloß kein wohlfeiles Wort über den Politikbetrieb und den journalistischen Jargon. Aber nehmen wir beispielsweise die seit Jahrzehnten immerzu großmäulig auftrumpfende Marktschreier-Sprache, die dich unentwegt mit Super, Mega, Turbo und Jumbo anbrüllt, dich aus grellrotgelben Prospekten anspringt. Viele sind gegen derlei Kanonaden abgestumpft, so dass die Dosis immer noch gesteigert wird. Den Konsumenten wird dabei immer weniger zugetraut. Satzlängen und Absätze, die man ihnen „zumutet“, werden tendenziell immer kürzer, die verbalen Anforderungen immer geringer. Das frisst sich vom gellenden TV-Privatsender allmählich in Bereiche hinein, die bislang noch immun zu sein schienen. Wo wird diese Nivellierung nach unten enden? Beim Bellen?

Doch auch an anderen Stellen des sprachlichen Spektrums wird Überdruss geschaffen. Ich denke an die in der Netzwelt gängigen, ach so coolen Bescheidwisser-, Dazugehörigkeits- und meinetwegen Zeitspar-Formeln wie „asap“ oder „aka“, Einwürfe wie „reloaded“ und „revisited“ oder das Getue um die jeweils allerneueste Echtzeit-Kommunikation, die recht zuverlässig mit dem Füllsel „2.0“ einhergeht. Vor der „Sprache 2.0“ kann einem allerdings bange werden. Freimütig sei’s zugegeben: Man ist selbst nicht völlig frei davon. Wie denn auch? Wie wollte man sich auch von allem fernhalten, was umgeht? Man kann ja nicht sämtliche Sozialmarken verwerfen. So einsam möchte kein Wolf sein.

Alle, die mit Sprache arbeiten und gar noch von komplexen Phänomenen der Kultur reden wollen, wandeln „auf schmalem Grat“. Ach, da sieht man’s bereits: Für diese Wendung müsste eigentlich eine Strafmünze ins „Phrasenschwein“ wandern. Dieses Tierchen wiederum wird mittlerweile so häufig bemüht, dass der Ausdruck „Phrasenschwein“ seinerseits ein Bußgeld zur Folge haben müsste. Und so fort. Im Grunde müsste man die Reflexionsschraube immer weiter drehen und sich jeden Tag eine neue, eine taufrische Sprache ausdenken, um solche „Klippen zu umschiffen“ (noch so eine verbrauchte Redefigur). Dann würde einen freilich niemand mehr verstehen.




Der Tod des Margarine-Mädchens

Seit kurzem ist sie nicht mehr da. Sie hat uns wohl für immer verlassen;  eine Gestalt, die das deutsche Alltagsleben durch viele Jahrzehnte recht unscheinbar, doch stetig begleitet hat: das „Rama-Mädchen“.

Auf Schachteln, Bechern und Einwickelfolien war sie (in einer zunehmend stilisierten Tracht) all die Jahre treulich und sittsam zugegen. Ihr Erscheinungsbild hatte sich mit der Zeit gewandelt, aber man hat sie immer gleich wiedererkannt.

Doch die Hersteller der Margarine (Konzern Unilever) haben sich nun mal entschieden, der Marke ein völlig anderes Design beizumessen. Dafür haben sie ihre „Ikone“ geopfert, die – wie man nun gleichsam posthum erfährt – sogar einen Namen hatte, nämlich Jule. So hat das Seufzen der Nostalgiker wenigstens eine benennbare Adressatin: „Ach, Jule, kehr zurück!“ Doch solches Flehen wird wahrscheinlich nicht erhört.

Und jetzt? Jetzt prangen auf den Packungen nur noch vier halbwegs liebliche Blümchen, die den Urhebern zufolge allen Ernstes für die Mitglieder einer „typischen“ (?), sicherlich ebenso konsumfreudigen wie klimagerechten, nachhaltig naturnahen, vierköpfigen Kleinfamilie stehen sollen. Man könnte jetzt weit ausholen, um hier eine herzlich unverbindliche, völlig austauschbare „grüne“ Fühl- und Denkungsart (oder einfach: Attitüde) als Nährboden auszumachen. Wie wir zur Genüge wissen, befinden wir uns damit in der gar nicht mehr so neuen „Mitte“, im durchaus mehrheitsfähigen Bereich, der bis weit ins ehedem bürgerliche Lager reicht. Lassen wir das.

Warum aber hat man sich von einer derart eingeführten, nachgerade legendären Figur getrennt? Wie eine Diskussion auf der Internet-Seite „Designtagebuch“ (dort gibt’s bildliche Vorher-Nachher-Darstellungen) ahnen lässt, kritisieren auch etliche Leute vom Fach diesen Schritt weg von der Tradition. Man gebe ein „Alleinstellungsmerkmal im Kühlregal“ auf, heißt es beispielsweise. Einer vermutet gar, der Abschied sei vielleicht auf „political correctness“ zurückzuführen: Frauen sollten halt nicht mehr in bildlichen Zusammenhang mit Nahrungsmittelzubereitung gebracht werden…

Gerade Zeitschriften mit ländlicher Thematik heben derzeit in ungeahnte Auflagenhöhen ab. Vor diesem Hintergrund gibt man eine weibliche Figur auf, die idealtypisch fürs gesunde Landleben gestanden hat? Unerfindlich. Und das alles für eine dürre, laue, beinahe an die putzigen „Prilblumen“ der 1970er Jahre erinnernde Schöpfung. Es sind, wie einer in der besagten Debatte bebend bemerkt, eigentlich just die Blumen auf dem Grab des Rama-Mädchens. Wer jetzt nicht ein Tränchen verdrückt, muss wohl von sehr roher Wesensart sein.




Das Ruhrgebiet – von oben herab

Schon oft habe ich mich über die Münchner Arroganz geärgert, mit der die (ansonsten vielfach schätzenswerte) „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) immer mal wieder das Ruhrgebiet betrachtet – so schräg von oben herab, so triefend mitleidig.

Wir werden’s wohl wieder erleben, wenn Borussia Dortmund deutscher Fußballmeister wird. Dann wird mit ziemlicher Sicherheit die schonungslose SZ-Reportage erscheinen, die die soziale Verwahrlosung in Dortmund beklagt, um hernach zu betonen, wie wichtig doch ein sportlicher Erfolg für solch eine gebeutelte Stadt sei. Geschenkt, Leute! Bringt lieber etwas anderes. Lasst bitte euren Mitarbeiter Freddie Röckenhaus schreiben, der sich in Dortmund und mit dem BVB auskennt.

Gestern haben die Südlichter mal wieder ahnen lassen, was ihnen das ach so ferne Revier bedeutet. Die ruhmreiche Seite 3 ward angefüllt mit einem insgesamt zwar halbwegs erträglichen, doch reichlich redundanten Porträt über Helge Schneider. Ein typischer Beitrag nach dem Larifari-Motto „Es liegt zwar kein Anlass vor, aber heute haben wir mal so richtig Platz dafür“. Die schmale Hauptthese (Helge S. sei ein ungemein freier Mensch, der immer tut, was er will) wird allerdings so unentwegt geraunt, als sei sie hier weltexklusiv erstmals zu lesen. Es ist eine These, die nicht bewiesen wird (wie denn auch?), sondern just ein wenig spazieren geführt wird.

Helge Schneider stammt bekanntlich aus Mülheim/Ruhr, mehr noch: Er ist in dieser Gegend verwurzelt. Seine Art der Komik dürfte inniglich mit dem Nährboden des Reviers zu tun haben. Und was macht die SZ, zum soundsovielten Male? Sie schreibt mal wieder durchweg „Mühlheim“ statt Mülheim.

Wie bitte? Das sei eine Kleinigkeit? Das sei Korinthenkackerei? Nein. Ist es nicht. Weil der SZ und anderen Blättern südlich der Mainlinie genau dieser Lapsus immer und immer wieder passiert. Das ist kein bloßer Zufall, sondern notorische Schnoddrigkeit und Mangel an wirklichem Interesse. Wer diesen Fehler immer wieder begeht, der strotzt vor Ignoranz. Wer sich nicht sicher ist, schaut nach. So einfach ist das. Merkt euch das gefälligst – in Franckfurt, Mühnchen oder Studtgard!




Uwe Timms „Freitisch“: Frühling der Freiheit

Ich gebe gern zu: Die frühen 1960er Jahre sind bis heute meine Lieblingszeit. Zum einen zählten sie zur eigenen, noch nicht so recht bewussten Frühphase, zum anderen wurden damals all die kleinen Freiheiten noch eher spielerisch erprobt, um die man später so erbittert gestritten hat. Kein Wunder, dass gerade zu dieser Zeit die Beatles aufkamen. Sie haben anfangs so überaus zuversichtlich geklungen…

Warum ich das so ausgiebig darlege? Weil Uwe Timms neue Novelle „Freitisch“ in jenen Jahren spielt und somit bei mir schon vorab einen Extra-Bonus bekommt, ebenso wie der in langen Jahren vertraut gewordene Autor. Das sind natürlich keine genuin literarischen Kriterien, sondern zunächst Sympathiewerte, die jedoch auf Erfahrung fußen. Außerdem liest man auf der Basis von Sympathie einlässlicher als sonst, gleichsam mit weit offenen Nüstern.

Worum geht’s? Um ein studentisches Quartett, das am Beginn der 60er in München allmittäglich just an einem Freitisch beisammen sitzt und die von einer Versicherung gesponserten Mahlzeiten verzehrt. Bei Tisch ergibt sich die eine oder andere Debatte. Der Zahlenmensch mit dem Spitznamen Euler bringt dabei vor allem seine Verehrung für den nach seinem Gusto einzig wahren Autor zum Ausdruck: Arno Schmidt. Um seine Bemühungen, Schmidt einen Besuch im einsamen Bargfeld abzustatten, ranken sich später Legenden. Ein angehender Jurist und ein werdender Schriftsteller (der Schmidts Sprachspiele nicht mag) gehörten seinerzeit gleichfalls zur Tischbesetzung.

Das Buch setzt freilich Jahrzehnte später ein. Tief im provinziellen Osten, in Anklam, hat sich einer der damaligen Freitischler mit seiner norwegischen Frau niedergelassen. Der Studienrat ist inzwischen pensioniert und sammelt antiquarische Reliquien zum rebellischen Jahr 1968 – und zu Arno Schmidt. Sieht also ganz so aus, als sei er den Idealen der Jugend ziemlich treu geblieben.

Bei „Euler“ verhält es sich auf den ersten Blick anders: Er ist ein großer Hecht in der Abfallwirtschaft und will ausgerechnet in Anklam in eine Deponie investieren. Von seinem Termin mit dem örtlichen Wirtschaftsförderer hat der Studienrat und Ich-Erzähler Wind bekommen. Nun treffen sie sich auf einen Kaffee und lassen die Erinnerung schweifen. Allerdings haben die beiden wenig Zeit, denn der Termin im Rathaus steht an.

Trotzdem kommen jetzt die frühen 60er ins Spiel. Die Zeit, als man es noch riskierte, mit dem Kuppeleiparagraphen in Konflikt zu geraten, wenn man ein Mädchen mit aufs möblierte Zimmer nahm. Die Zeit, in der Studenten einander noch nicht duzten und schon gar nicht larmoyant über Beziehungskisten oder Trennungen redeten. Lektüren von Freud bis Reich folgten erst danach. Die Zeit der allerersten Happenings, bei denen etwa ein Klavier mit der Axt zerspalten wird. Die Zeit, über die Euler sagt: „Da ging eben noch alles zusammen, damals: Hasch, Ernst Jünger und die illegale KP.“ Und ein andermal: „War ´ne muntere Zeit, die frühen Sechziger, werden ja immer als langweilig gehandelt. Dabei wurde all der Zunder gesammelt, der dann später achtundsechzig die Feuerchen machte.“

Und so werden denn die Zwiegespräche zur wehmütigen Rückschau auf eine Zeit der Erwartung, der Vor-Bereitung, des Vorscheins. Man sucht auszuloten, was damals reif und unreif war, was verloren ging und was sich im Lichte der Lebenserfahrung ganz anders darstellt. Seinerzeit spannte sich das Denken zwischen Heidegger und Marx aus, jetzt – so ein Lamento – habe man es vorwiegend mit Punks oder Neonazis zu tun.

Das von der Historie vielfach verwundete Anklam erweist sich als heimlicher Hort der unscheinbaren, kleinen Hoffnungen, die man irgendwie am Leben halten muss. Gewiss: Eine Mülldeponie mag Arbeitsplätze dorthin bringen, doch ist sie nur ein Nebenschauplatz. Vielleicht weist ja die schöne List einen Weg, mit der man damals Arno Schmidt düpiert hat und die hier nicht verraten wird.

Ein Hauch von Resignation scheint durch die letzten Sätze des Buches zu wehen, freilich könnte man sie auch als Einleitung zum Aufbruch deuten: „Die Bedienung kam, fragte, darf’s noch was sein. Nein danke. Nur noch zahlen.“

Uwe Timm: „Freitisch“. Novelle. Kiepenheuer & Witsch. 136 Seiten, 16,95 Euro.




„Apokalypse Afrika“: Auf Dauer ratlos

Diese Lektüre bringt einen ins Schlingern. Manchmal weiß man gar nicht mehr, in welchem Land Afrikas man sich gerade befindet, so sehr schwirrt einem der Kopf vom beschriebenem Chaos. Tatsächlich sind ja vielfach die staatlichen Strukturen fast gänzlich zerstört.

Hans Christoph Buchs neuer Band „Apokalypse Afrika“ setzt u. a. in hochkolonialistischer Zeit an und protokolliert mehrmals mit zeitgenössischen Berichts-Fragmenten die Kongo-Konferenz, die 1884/85 in Berlin stattgefunden hat. Die Europäer hielten sich damals einiges darauf zugute, dass sie der offenen Sklaverei und dem „Negerhandel“ abschworen. Nach außen hin nüchtern und rational, in pathetischen Momenten gar nahezu karitativ, doch in Wahrheit zutiefst gierig, suchten sie hier ihre Interessen-Sphären und Handelszonen aufzuteilen, wobei manche Passage so klingt, als sei damals vor allem Portugal von den anderen Mächten „gemobbt“ worden. Das ist aus heutiger Sicht allerdings zweitrangig, wurden doch hier die bis in unsere Zeit nachwirkenden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Kontinent nicht zur Ruhe kam, weil zahllose Statthalterkriege angezettelt wurden. Doch zur Saat des Kolonialismus kam noch etwas Ungutes, letztlich Unbenennbares hinzu, wie Hans Christoph Buch findet. Auch seine Texte können und wollen keine Klarheit schaffen.

Der einleitende Text des Bandes bezieht sich auf ein Ereignis des Jahres 1816, das schon auf künftige Katastrophen vorausdeutet. Das (von Théodore Géricault auf einem berühmten Bild gemalte) „Floß der Medusa“ steht nicht nur für schlimmsten Schiffbruch, sondern für kannibalistische Entgrenzung in napoleonischer Zeit, als Frankreich sich anschickte, Senegal zu unterwerfen.

Die vielleicht bizarrste Geschichte handelt von jener „Hottentotten-Venus“, die in London und Paris als Weltwunder gegen Geld vorgezeigt und mit abgründigen sexuellen Phantasien besetzt wurde. Die Historie zwischen Europa und Afrika, so ahnt man, ist weitaus mehr als politisches Kalkül, sie ist durchaus pathologisch, wahn- und körperhaft geprägt.

Zeitsprung: Als Groteske der etwas milderen Observanz erweist sich Horst Köhlers bundespräsidiale Goodwill-Tournee durch afrikanische Länder. Hans Christoph Buch gehörte seinerzeit zur Entourage. Hier feiern rundum alle Klischees vom „Schwarzen Kontinent“ Urständ – vom Operettenstaat bis zur immerwährenden Tanzwütigkeit der „Eingeborenen“. Alles nur Kulissenschieberei, in der auf kläglichste Weise „Politik“ inszeniert wird. Kein Wunder, dass etwa der eine oder andere journalistische Beobachter die Restbestände seines Bewusstseins mit Sex und Suff betäubt.

Weitere Passagen des Buches dringen bis in lebensgefährliche Bereiche des jetzigen Afrika vor. Die Hölle auf Erden, mit nur allzu bekannten Stichworten: Marodierende Banden, Kindersoldaten; Bürgerkriege, in denen Hunderttausende Menschen viehisch abgeschlachtet werden; Diktatoren, die ihre Völker bis aufs Blut ausbeuten. Als Hans Christoph Buch eine Gewaltszene mit eigenen Augen sieht, blättert auch bei ihm der Lack der Zivilisation ab, wie er erschütternd ehrlich eingesteht: „Beim Anblick des an die Kehle gesetzten Messers geriet ich in unkontrollierte Erregung, die sich zu sadistischer Lust steigerte, als sein Blut zu fließen begann – am liebsten hätte ich mich an seiner Folterung beteiligt…“ Dabei hatte er sich offiziell für die Freilassung des Bedrohten eingesetzt. Welche Kräfte sind da am Werk, wenn ein politisch absolut unverdächtiger Mann wie Buch, der mit dem kolossalen Thema Afrika nicht fertig werden kann und mag, derart an sich irre wird? Wo ist links, rechts, oben und unten?

Dies alles lesend, kann man wahrlich verzweifeln. Hoffnungsschimmer sind ach so gering, wenn überhaupt vorhanden. Puritanisch gewendet, fragt es sich gar, ob just dieser Band in der bibliophilen Edition „Die andere Bibliothek“ hat erscheinen müssen, oder ob ihm nicht Schmucklosigkeit besser angestanden hätte.

Solche monströsen Themen lassen sich jedenfalls kaum stilistisch „bändigen“, sie bleiben buchstäblich so fassungslos wie in diesem Falle Autor und Leser. Hans Christoph Buch arrangiert und collagiert die geradezu surrealen Partikel der schrecklichen Wirklichkeit nach Kräften, doch sie zerrinnen ihm gleichsam unter den Händen, von Ordnung kann hier eben keine Rede sein. Jede gefälligere Zurichtung des Stoffes wäre wohl infam gewesen. Buchs persönlicher Zugang bringt allemal mehr Ertrag als noch so klug und scheinbar schlüssig formulierte Ferndiagnosen. Und so lässt „Apokalypse Afrika“ einen am Ende ratlos zurück; ganz so, wie es die bittere Wirklichkeit vermag.

Hans Christoph Buch: „Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“. Eichborn Verlag / Die andere Bibliothek, 252 Seiten, 29 Euro.




Ein Kulturblog? Aber ja!

Herzlich willkommen bei www.revierpassagen.de

Wer gehört zum Autorenteam der „Revierpassagen“? Es sind weit überwiegend Journalistinnen und Journalisten mit langjähriger Erfahrung im Kulturbetrieb und speziellen Sparten-Kenntnissen. Die allermeisten leben im Ruhrgebiet oder haben hier längere Zeit gewohnt. So ergeben sich gewisse Schwerpunkte wie von selbst.

Die „Revierpassagen“ handeln also vom Ruhrgebiet („Revier“) und von Kultur, aber längst nicht nur davon.

Mit „Revier“ ist denn auch generell ein Gelände gemeint, durch das man Streifzüge unternehmen oder flanieren kann.

Im Wort „Passagen“ schwingt das Vorübergehen mit, letztlich auch das Vergängliche. Passagen von hier nach da, mal mit, mal ohne konkretes Ziel, doch mit möglichst offenen Sinnen. Text-Passagen können ebenfalls gemeint sein. Und wenn man ganz weit nach oben schaut, gibt es da als leuchtendes Gestirn das „Passagen-Werk“ von Walter Benjamin.

Außerdem kann man per Suchmaschine herausfinden, dass „Revierpassagen“ offenbar ein anderer Ausdruck für Flusskreuzfahrten sind. Warum nicht? Alles ist im Fluss…

Wir erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Termin-Journalismus kommt vor, muss aber nicht sein. Ähnlich verhält es sich mit kulturellem Nachrichtenstoff. Auch der wird gern gebracht, aber wir gieren nicht danach.

Themen und Texte ergeben sich nicht zuletzt durch Vorlieben der Autorinnen und Autoren. Die Mehrstimmigkeit kann, muss aber keine Harmonie erzeugen. Klassische Rezensionen zu diversen Kultursparten haben hier ebenso ihren Platz wie die frei schwebende oder gar ausschweifende Phantasie und die kleine Randbeobachtung aus alltäglichen Gefilden.

Genug gefaselt. Die Wahrheit ist konkret: Auf zu den Beiträgen!

Bernd Berke




Ehebriefwechsel der Tolstojs: „Du schienst mir alt, mager und bedauernswert“

„Nun will ich mich meinem Ideal der guten, vor allem tätigen und zu allem begabten Hausfrau annähern.“ So bereitwillig diente sich Sofja Tolstaja geb. Behrs ihrem weltberühmten Ehemann an, dem russischen Schriftsteller Lew Tolstoj („Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“).

Das Zitat stammt vom 5. Dezember 1864 und steht damit noch ziemlich am Beginn des umfangreichen Briefwechsels, der das beständig wogende Auf und Ab dieser Beziehung nachzeichnet. Das gemeinsame Glück war auf Dauer gleichsam streng bemessen.

Die Briefsammlung wird als Weltpremiere angepriesen: Erstmals sind die Schreiben beider Eheleute im Dialog zu lesen. Erstaunlich nur, dass dies erst jetzt möglich ist. Zur editorischen Vorgeschichte gehört, dass Sofja Tolstaja auf Lews misogyne „Kreutzersonate“ entschieden mit ihrem Kurzroman „Eine Frage der Schuld“ antwortete, der allerdings seinerzeit nicht erschienen ist, sondern erst 75 Jahre nach ihrem Tod. Seither ist sie ein wenig aus seinem Schatten herausgetreten.

Gegen Ende der langen Ehezeit, als ihr Mann sie aus weltanschaulichen Gründen brüsk verlassen hat, fleht sie am 29. Oktober 1910: „Ljowotschka, mein Liebster, kehre nach Hause zurück, Lieber, rette mich vor einem neuerlichen Selbstmordversuch (…) ich werde alles, alles tun, was du willst…“ Es gab keine Gelegenheit mehr: Lew Tolstoj starb wenige Tage später, am 7. November 1910.

Die beiden bisherigen Zitate täuschen. Sofja Tolstaja ist nicht all die Jahre über unterwürfig geblieben, sie hat phasenweise schroffe Kritik an Tolstojs (zunehmend asketischer) Lebensführung geäußert. Sie sorgte sich um die insgesamt 13 (!) Kinder, die sie (unterstützt von Gouvernanten aus Westeuropa) fast ohne tätige Mithilfe ihres Gatten aufzog, falls sie nicht schon früh starben. Zudem kümmerte sie sich in durchwachten Nächten mit Abschriften seiner Werke sowie als Lektorin und Herausgeberin aufopferungsvoll um Lew Tolstojs Ruhm.

Umso entsetzter war sie, als Tolstoj schließlich seine lukrativen Autorenrechte für „frei“ erklärte und damit die eigene Familie quasi enterbte. Die schreckliche, allgegenwärtige Armut in Russland hatte ihn auf einen Weg der christlich motivierten Entsagung gebracht, den er immer radikaler und ohne Rücksicht auf Angehörige beschritt. Hass auf die eigene, privilegierte Klasse bricht sich in etlichen seiner Briefe Bahn: „Das Leben unserer gesamten Schicht ist (…) errichtet auf Stolz, Grausamkeit, Gewalt, Übel…“ Tolstoj betrieb Garküchen zur Armenspeisung, doch überließ er sich andererseits einem Hang zur Esoterik. Er scharte Jünger um sich, die ihm schmeichelten und seiner Frau arg ins editorische Handwerk pfuschten.

Der Briefwechsel konnte sich in oft langen Trennungsphasen entfalten. Auf der Suche nach dem einfachen Leben zog sich Tolstoj immer häufiger nach Jasnaja Poljana und auf andere entlegene Landgüter zurück. Sofja hingegen blieb vor allem den Winter über in Moskau – wegen der ungleich besseren Schulen.

Man muss kein großer Frauenkenner sein, um die Wirkung solcher Zeilen einzuschätzen, mit denen sich Tolstoj 1871 für eine Briefsendung Sofjas bedankte: „Deine Photographie war auch dabei. Sie hat mich sehr gefreut (…), obwohl der erste Eindruck nicht gerade angenehm war. Du schienst mir alt, mager und bedauernswert.“

Immer wieder versichern die beiden einander ihrer bleibenden Liebe, der gegenseitigen Sorge ums leibliche und seelische Wohlbefinden, doch immer greller werden vor allem Gegensätze und Brüche sichtbar. Mühsam geschlossene Kompromisse erweisen sich rasch als bröckelnder Kitt.

Er tadelt ihren angeblichen Hang zum Luxus. Sie beklagt sich über seine Misanthropie. Er wirft ihr Garstigkeit und Streitsucht vor. Sie moniert, er stelle die Liebe zur Menschheit über die Familie. 1883 gelangt sie zum deprimierenden Fazit: „…zu wissen, daß Du mein ganzes Leben und mich als Menschen nicht gutheißt und nicht ernst nimmst.“ Dramatischer ausgedrückt: „Mit der einen Hand liebkost Du mich, während Du mir das Messer zeigst, welches Du in der anderen hältst.“

Als folgenloser Ausbruch erweist sich Tolstojs Zerknirschung: „(…) besonders aber bin ich mir selbst widerwärtig geworden. An allem trage ich die Schuld – ich, das grobe, egoistische Tier!“

Dann wieder sie: „(…) ich bin Deiner Güte nicht würdig, fühle mich um so vieles schlechter als Du…“ Oder auch so: „Du kannst mich nicht einfach fallenlassen, denn meine Bestimmung ist es, Deine Frau zu sein…“

Manche Passagen lesen sich qualvoll. Derlei Selbstaufgabe kann man sich kaum noch begreiflich machen. Ob der andere Zeithorizont zur Erklärung ausreicht? Oder ob hier zwei große, erbittert beharrliche Liebeszerstörer am Lebenswerke waren?

Der Briefwechsel ist zugleich ein fortlaufendes Dokument zur Historie. Das Spektrum reicht von Wohn- und Lebensverhältnissen über den ständigen Kampf mit staatlichen und kirchlichen Zensurbehörden, schließt Wetterunbill (oft bitterste Kälte), Erziehungsfragen und Gesundheitswesen ein, reicht schließlich bis zu gesellschaftlichen Verwerfungen im weiteren Vorfeld der russischen Revolution. Sofja zeigt sich stets besorgt, dass ihr Mann mit seinem Eintreten für die Armen als radikaler Sozialist gelten könnte und mahnt ihn inständig zur politischen Mäßigung. Die Familie stellte sie über alles, auch über den Gang des Weltgeistes.

Lew Tolstoj / Sofja Tolstaja: „Eine Ehe in Briefen“. Herausgegeben und übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Insel Verlag. 494 Seiten. 22,90 Euro.




Die Berliner Mauer küssen

Die ARD-„Tagesthemen“ schaue ich nur selten an. Umso verblüffter war ich gestern, als am späten Abend ein geradezu launiger Beitrag über Objekt-Sexualität die Sendung beschloss – gleichsam als Überleitung zu Harald Schmidt, der anschließend auftrat.

Objekt-Sexualität? Jawohl. Manche Menschen können keine Menschen lieben, sie verlegen sich auf Dinge. Die „Tagesthemen“ stellten eine Amerikanerin namens Erika Eiffel vor, die einst den Eiffelturm geliebt und sogar geheiratet hat, sich dann aber wieder ihrer Jugendliebe zuwandte: der Berliner Mauer. Beziehungsweise dem, was davon übrig ist.

Gleich in der ersten, künstlich romantisierten Einstellung sah man, wie die Frau die Mauerreste an der Bernauer Straße innig küsste. Versonnen blätterte sie in einem Album mit Mauerbildern und zeigte ihre Tattoos (klar: Eiffelturm und Mauer). Hernach wurde ihre erotische Biographie im Sekundentempo umrissen. Und natürlich kam auch der übliche Psychologe zu Wort, der das Ganze nicht weiter schlimm fand.

Es liegt mir fern, mich über die Frau lustig zu machen. Soll sie auf ihre Weise glücklich werden. Mag man ihre Begierden auch reichlich seltsam finden, so schaden sie doch wohl niemandem.

Allerdings frage ich mich, ob auf der weiten Welt sonst nichts Wesentliches geschehen ist, so dass man in der „Tagesthemen“-Redaktion entschieden hat, die Sendung mit diesem Beitrag ausklingen zu lassen. Bedenkenswert auch die Frage, ob man sie nicht davor hätte bewahren müssen, ihre Neigung vor einem Millionenpublikum derart auszustellen.

Um sich halbwegs ernsthaft mit der Materie auseinanderzusetzen, war die Zeit nämlich viel zu knapp. Statt dessen kam der Beitrag als schiere Bizarrerie daher. Folglich hatte man den unangenehmen Eindruck, dass sich die Moderatorin Caren Miosga im (für die Zuschauer stummen) Nachspann scheckig lachte. Sie hatte Erika Eiffel zuvor mit ironisch gekräuseltem Mund als besonderes „Mauerblümchen“ angekündigt.




Fuchteln für den Vorteil

Eine Fußball-Untugend geht mir zunehmend auf den Geist, auch weil sie weit über den Sport hinausreicht und vom Zustand der Gesellschaft zeugt.

Ist eine Szene noch im Gange oder gerade vorbei, wird sofort (in Zehntelsekunden-Schnelle) ein Vorteil für die eigenen Farben reklamiert. Schon vollends automatisiert sind die Gesten, mit denen Spieler immer gleich lauthals Einwurf, Ecke oder gar Elfmeter „für uns“ fordern. In hitzigen Spielphasen wird fast in jeder Situation derart wild gestikuliert und dramatisch gefuchtelt. Also nicht, weil die Protagonisten tatsächlich glaubten, sie lägen richtig, sondern just, weil der Schiedsrichter beeinflusst werden soll. Auch will man so die Emotionen der eigenen Fans anstacheln. Die wahrhaftigen Anhänger, so wäre zu hoffen, sähen ihr Team lieber ohne solche Hampelei gewinnen. Es wirkt ja auch doppelt lächerlich, wenn sich stets alle Hände recken und simultan für beide Teams Freistöße & Co. anmahnen.

Ebenso ist es nach rüden Fouls international kläglich üblich, mit beiden Händen eine Kugelform anzudeuten. Will heißen: „Ich habe doch den Ball getroffen, da hinten rollt er.“ Mag sein. Doch daneben windet sich der ebenfalls oder ausschließlich getroffene Gegenspieler. Es sei denn, der hätte (um mal eben zwei Vogelarten ins Spiel zu bringen) lediglich eine „Schwalbe“ vollführt und mimte den „sterbenden Schwan“. Ich fürchte, dass schon manche erfolgshungrigen Kindermannschaften darauf getrimmt werden, auf solch hinterhältige Art Vorteile zu schinden.

So. Das wär’s. Nur eins noch: Rote Karten für alle fiesen Widersacher und ein paar Elfer ohne Torwart für mich, mich, mich! Sonst gibt’s was auf die…




Ürzung für Ürzung

Mit Abkürzungen hat man oft seine liebe Not. Erläuterungen füllen dickleibige Speziallexika. Einiges hat sich ja eingebürgert, doch vor allem Fachleute aller Art verstehen einander mit Kürzeln. Wenn umständliche Wörter häufig vorkommen, so empfiehlt sich halt eine knappe, möglichst prägnante Buchstabenfolge. Zum Exempel sagen sie beim Westdeutschen Rundfunk intern „Nami“ statt „Nachrichtenminute“. Warum auch nicht? Klingt doch putzig.

Eine spezielle Sorte von Abkürzungen zielt allerdings gerade nicht auf Experten, sondern eher auf unbedarfte Endverbraucher: Es sind jene furchtbar bemühten, sprachlich arg überstrapazierten Fügungen, deren ausgewählte Initial-Buchstaben mit Ach und Krach ein ganzes Wort ergeben, das man sich im Idealfalle leichter merken kann. Um einigermaßen Deckungsgleiche zu erzielen, denkt man sich irrwitzige Wortketten mit „passenden“ Anfangslettern aus. Für trockene bürokratische Akte darf dann schon mal gern ein Frauenname herhalten, der geradezu verführerisch klingt. Oder es wird ein womöglich heikler Sachverhalt verniedlicht. Fast immer kommt das Resultat gequält daher.

Beispiele gefällig? Bitte:

PFIFF = „Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer“ (Fortbildung älterer Arbeitnehmer bei Opel)

EGON = Erziehungsgeld online

IGEL = Individuelle Gesundheitsleistungen (Klartext: zusätzliche Einnahmequelle für Ärzte)

ELSTER = Elektronische Steuererklärung (hehe, was sagt man diesem Vogel nur nach?)

VerDi = Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (mit peuso-kultureller Attitüde)

ZOPF = Zentrales OP- und Funktionszentrum (an den Dortmunder Kliniken)

ELENA = Elektronischer Entgeltnachweis

DAKOTA = „Datenaustausch und Kommunikationen auf der Basis Technischer Anlagen“… (müsste eigentlich Dakobata heißen).

Na, und so weiter, bis zum erschöpften Abwinken.

In schwachen Stunden habe ich schon einmal gedacht, man müsse derlei Beispiele systematisch sammeln, um daraus eine Typologie zu gewinnen. Doch dann hat sich die Vernunft gemeldet und mir zugeflüstert: „Es gibt Wichtigeres im Leben.“ Recht hat sie!




Zurück zum Körper

Immer raffiniertere Techniken haben unser Leben entsinnlicht, so dass sich das Bedürfnis einstellt, verlorene Körperlichkeit wiederzugewinnen. Das ist ein Grundgedanke, der den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht umtreibt – und beileibe nicht nur ihn.

Der in Würzburg geborene Gumbrecht (Jahrgang 1948) war bereits mit 26 Jahren Professor in Bochum, wechselte dann an die Uni Siegen, lehrt seit 1989 an der Stanford University (Kalifornien/USA) und gilt als einer der einflussreichsten Geisteswissenschaftler deutscher Herkunft. Geographisch, biographisch und thematisch hat er einen weiten Horizont. Beispielsweise hat er schon früh (bevor es intellektuelle Mode geworden ist) auch Phänomene des Sports in den Blick gefasst.

Im neuen Aufsatzband „Unsere breite Gegenwart“ verfolgt er Spuren einer noch ausführlich zu schreibenden Geschichte der Körperlichkeit. Ein schmales Buch, doch wie gedankenreich! Freilich ziehen sich einige Kernsätze arg wiederholungsträchtig durch alle Kapitel. Und leider ist Gumbrecht kein Stilist, der seine Denkpracht in sprachlicher Eleganz erstrahlen ließe.

Der Autor diagnostiziert ein Ende jenes linearen historischen Denkens, das ungefähr seit Beginn des 19. Jahrhunderts Habitus der Intellektuellen gewesen sei, das sich und die Menschheit stets unterwegs zu einer besseren Zukunft wähnte, immerzu die Welt erst deutend entschlüsseln wollte und sich dabei unter dem Descartes-Leitsatz „Ich denke, also bin ich“ fortwährend selbst beobachtete.

Die Zukunft lässt uns keine Wahl

Heute, so Gumbrecht, stehe keine offene Zukunft mit vielerlei Wahlmöglichkeiten mehr vor uns, sondern es komme allenfalls eine umfassende Bedrohung auf uns zu, vornehmlich in Gestalt der kaum noch aufzuhaltenden Klimakatastrophe. Nach der längst erkalteten Weltraum-Euphorie seien wir zurückgeworfen auf den desolaten Zustand der Erde. Gleichzeitig würden wir überflutet von Vergangenheiten, von denen wir nie mehr richtig loskommen. Wir haben nahezu alles abrufbereit gespeichert, aber was ist wirklich wichtig?

Die mehrfache Ausweg- und Richtungslosigkeit, so Gumbrecht weiter, verweise uns auf eine „breite Gegenwart“ simultanen Geschehens, in der wir zwischen (allzu) vielen Optionen oszillieren. Während wir uns nicht mehr so sehr in die (kommende oder verflossene) Zeit hinein projizieren, orientieren wir uns im Hier und Jetzt mehr räumlich und damit körperlich. Wir suchen nicht mehr den eigentlichen Sinn hinter den Dingen, sondern oft schon in ihrer schieren Präsenz. Man könnte auch sagen: an ihrer sinnlich wahrnehmbaren, gleichsam körperlichen Oberfläche.

Sprache streichelt die Haut

Derlei Gedankenfiguren wendet Gumbrecht auf verschiedene Lebensbereiche an. Im Lichte seiner Hypothesen gewinnt selbst die vermeintlich körperlose Sprache physischen Klang und Volumen. Die Schwingungen gesprochener Worte berühren demnach ganz sachte unsere Haut, noch bevor Fragen nach Bedeutung und Interpretation sich stellen. Auch schließe der Rhythmus von Gedichten eine körperliche Dimension ein, ebenso wie die beschwörende Sprache der Mystik. Gumbrecht hegt die Hoffnung, „daß (…) die Sprache (wieder?) zum Mittel der Versöhnung mit den Dingen der Welt werden kann.“ Ein uralter Traum unserer Gattung. Aber ist er denn nicht längst ausgeträumt?

Anderes Thema, ähnliches Theorie-Besteck: Die Globalisierung lasse räumliche Unterschiede immer unwichtiger werden, tendiere also letztlich zur Körperlosigkeit. Erschreckender Befund im Zeichen des Internets: „Es ist daher schwierig geworden, Situationen zu finden, die es verdienen, Situationen des ,Erlebens‘ genannt zu werden…“

Lob des zauberhaften Sports

Just in den (jedoch zunehmend kommerzialisierten) Erscheinungsformen des Sports sieht Gumbrecht Anzeichen einer Gegenbewegung, die auf eine Rückgewinnung der Physis hinauslaufen könnte. In einer allseits entzauberten Welt seien große Momente des Sports zugleich Augenblicke der Wiederverzauberung, die Stadien somit potenziell heilige Orte. Ein schöner Spielzug der eigenen Mannschaft bringe einen den Göttern näher. Prosaischer und fast schon banal kann man sagen, „…daß der Sport dem Körper einen Platz in unserer Existenz offenhält“.

Phänomene wie Tattoo, Piercing, offene Sexualität, expandierende Schönheitschirurgie, aber auch ein Hang zur Regionalisierung weisen Gumbrecht zufolge gleichfalls in die Richtung spürbar konkreten Daseins, allerdings (so wäre hinzuzufügen) mit womöglich schmerzlichen Nebenwirkungen. Zitat: „Es ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem Raum, der nicht zu groß ist, um noch mit persönlichen Erfahrungen (…) gefüllt werden zu können…“ Ein solcher Weg könnte in die Enge führen, nicht ins Offene. Außerdem hat man über Regionalisierung und nachfolgende Dialektmoden auch schon in den 70er Jahren debattiert, es ist wahrlich nichts Neues unter der Sonne.

Doch wiederum kommt der heutige US-Staatsbürger Gumbrecht zu einem erstaunlich hoffnungsvollen Schluss: „In der neoliberalen Welt der Globalisierung haben wir die Freiheit, uns ständig neu zu erfinden.“ Das erzähle mal einer den Verlierern des entfesselten globalen Wirtschaftens. Vielleicht erweist sich die gepriesene Freiheit ja als furchtbarer Zwang.

Unter der Überschrift „Stagnation“ lässt Gumbrecht bisherige Denkweisen und Ideologien Revue passieren. Ob Marxismus oder Strukturalismus, sie alle hätten mit immer neuen Projekten in eine erstrebenswerte Zukunft gezielt. Doch irgendwann war es offenbar genug mit Zuversicht und Gewissheit, und es trat Stillstand ein. Der Fortschrittsgedanke sei implodiert. Auch die Kultur habe einen Bedeutungswandel durchgemacht. Nicht mehr Irritation und Provokation sei ihr Hauptfeld, sondern sie trete in die Sphäre der Rituale ein. Auch unser Verhältnis zu den literarischen Klassikern wird beleuchtet. Bis vor einiger Zeit habe es vor allem widerspenstig politische Lektüren gegeben, heute würden Autoren wie Kleist eher „lebenskundlich“ und existenzialistisch rezipiert, also gleichsam körpernah. Gumbrechts Beispiel: Kleists gemeinsamer Freitod mit Henriette Vogel ergreift selbst brasilianische Studenten.

Im Schlusskapitel zieht Gumbrecht eine interessante Parallele zwischen einem körperlosen Denken und den von jeder fassbaren Realität abgehobenen Spekulationen mit Derivaten, die in die tiefste Wirtschaftskrise geführt haben. Und wieder dämmert eine vage Hoffnung: Mehr Körper – weniger Krise?

Hans Ulrich Gumbrecht: „Unsere breite Gegenwart“. edition suhrkamp. 144 Seiten. 12 Euro.




Ergiebige Heimatkunde

Das glauben vielleicht viele zu können: „Einfach“ über einen seltsamen Verwandten schreiben, dessen Dasein einem auf der Seele liegt. Aber wehe, wenn man es versucht. Dann kommt in den seltensten Fällen Literatur dabei heraus.

Umso höher ist dieser Schriftsteller einzuschätzen: Andreas Maier (Jahrgang 1967, Romanerfolg „Wäldchestag“) erinnert sich in „Das Zimmer“ eingehend an seinen „Onkel J.“ Dieser nur mit dem Initial benannte Mensch war geistig zurückgeblieben, nach seinerzeit landläufigen Maßstäben also ein „Idiot“. Doch sein nahezu unbemerkt und folgenlos verstrichenes Leben war, so wie Maier davon berichtet, durchaus bemerkenswert.

Zum einen verblieb Onkel J., trotz (vornehmlich nach innen gekehrter) aggressiver Anwandlungen, im nahezu kindlich-naiven Stande der Unschuld, zum anderen brachte er ungewollt einige Wesenszüge der Wetterau auf den (weitgehend wortlosen) Begriff. Der Erzähler sieht es als seine Aufgabe an, „dem Onkel eine Sprache zu geben…, denn sonst wäre er gar nicht da und einfach tot und vergessen…“ Er legt Wert auf die Feststellung, dass dieser bedauernswerte Mensch „auch ein Leben hatte und von Gott in dieses Leben hinein geschaffen war…“ Und er versetzt sich nun in diesen Menschen hinein, indem er in dessen früherem Zimmer schreibt. Doch wahrt er auch die nötige Distanz.

Es handelt sich um eine besondere, ergiebige Form der „Heimatkunde“. Die Wetterau, jener provinzielle Landstrich im Hessischen (Bad Nauheim, Friedberg), wird im Wesentlichen um die Mitte bis gegen Ende der 1960er Jahre geschildert (Gipfel- und Wendepunkt: die im Fernsehen zelebrierte Mondlandung 1969), und zwar durchaus unaufgeregt, wie es der Randlage entspricht. Doch selbst die vermeintlich unscheinbarste Beobachtung birgt noch Bezeichnendes. Zumal es einst Brückenfiguren zur großen Welt gegeben hat: Der russische Zar absolvierte hier Kuren, auch Sissi und Einstein sind hier gewesen – und Elvis war hier 1958 bis 1960 als Soldat stationiert, so dass sich dessen Wege mit denen des Onkels sogar vage gekreuzt haben. Doch welch ein Kontrast zu jedwedem Glamour!

Das stickige Aroma der 60er kann man geradezu lesend einatmen. Es war eine Zeit des „Noch“: Noch keine großen Staus, daher auch noch keine Ortsumgehungsstraßen, noch ein wenig Dialekt und noch sehr viele Frauen in Kittelschürzen auf den Dörfern. Es wird noch kräftig geraucht und tagsüber bei der Arbeit gesoffen, doch man legt auch noch verbissen Wert auf Sauberkeit und Ordnung – und die Züge haben noch keine Verspätung. Zitat: „In den sechziger Jahren hatte bereits die Gegenwart einen Gelbstich.“

Vor diesem Zeithorizont hat Onkel J. ein armseliges Leben geführt (richtiger wohl: „es“ hat ihn geführt). Dieser detailgesättigte, sanftmütige, emphatische, nur in Maßen ironische Roman gleicht einem nachträglichen Rettungsversuch, einer Bewahrung, Bergung und Verteidigung dieses kleinen, abgeschiedenen Daseins, folglich ist der Text mit Vergeblichkeit, Melancholie und Zeitweh getränkt. Denn für eine wirkliche Rettung ist es ja viel zu spät. Und im krassen Gegensatz zu Thomas Bernhard, mit dem Maier öfter verglichen wird, steigert sich Letzterer niemals in haltlose Hasstiraden hinein.

Eine unheimliche Hauptrolle spielt der Wagen des Onkels, ein brauner VW Variant Kombi (der auch das Buchcover ziert), mit dem er sozusagen den Laufburschen der Familie spielen muss; stets zähneknirschend und in sich hinein fluchend, doch kläglich machtlos. Zwangsneurotisch rituell prüft er jedes Mal das nazifarbene Fahrzeug, als ginge es ins Weltall: „Nun sitzt er drin. Alle Armaturen noch da. Tacho da. Drehzahlmesser da. Schaltknüppel, alles an seiner Stelle. Lenkrad noch nicht angreifen! Rückspiegel kontrollieren. Türe bereits geschlossen? Türe geschlossen! Auch die Uhr kontrollieren, Uhrenvergleich mit seiner Uhr am Handgelenk. Uhrzeit normal, Vergleich richtig. Alles ordnungsgemäß und einwandfrei und startbereit…“

Einflussreiche Verwandte haben dem Onkel einen Job bei der Paketstation am Frankfurter Hauptbahnhof besorgt. Ein Posten, den er nahezu als hoheitliche Aufgabe versteht. Manchmal wandelt ihn sexuelle Versuchung im Rotlichtviertel der benachbarten Kaiserstraße an, doch dann kehrt er pünktlich zu seiner Mutter heim. Sie und die Waldnatur sind seine Ruhepunkte. Seine sonstigen Sehnsüchte heften sich an Militärtechnik oder an Gestalten wie Luis Trenker und Heino. Ein Wunder dieses Romans: Selbst solche Irrungen vermag man nachzuvollziehen; wiewohl man weiß, dass sie eine politisch fragwürdige Tönung annehmen können.

Das Buch ist angeblich der Beginn einer weit ausgreifenden, vielbändigen hessischen Familiensaga. Nur zu!

Andreas Maier: „Das Zimmer“. Roman. Suhrkamp Verlag.203 Seiten. 17,90 Euro.




Ian McEwans Roman „Solar“: Verheddert und verkleistert

Michael Beard ist veritabler Nobelpreisträger für Physik. Doch sein Leben ist ziemlich verpfuscht. Seine Frau betrügt ihn – zunächst mit dem vierschrötigen Handwerker Tarpin, dann auch noch mit dem idealistischen Nachwuchs-Wissenschaftler Tom Aldous. Beruflich dümpelt Beard als Leiter eines unsinnigen Instituts nur noch halbwegs komfortabel dahin. Allmählich verfettet er und trinkt ohnehin zu viel Alkohol. Etwas Trost findet er beim einen oder anderen Weibe.

So ein Tropf ist die Hauptfigur in Ian McEwans Roman „Solar“. Der Titel verweist auf die allfällige Klimadebatte und auf die Sonnenenergie, welche die angebliche Apokalypse aufhalten soll. Beard ist in dieser Hinsicht äußerst skeptisch, wenn nicht gar zynisch. Er will sich einfach auf nichts mehr festlegen – weder wissenschaftlich noch erotisch. Auch eine (streckenweise hinreißend grotesk geschilderte) arktische Info-Reise im chaotischen Kreise wohlmeinender Klimakünstler überzeugt ihn nicht. Minus 26 Grad deuten nicht gerade auf Erderwärmung hin. Und die „grünen“ Traumtänzer können ja nicht mal in der kältegerechten Kleiderkammer Ordnung halten, geschweige denn auf dem Planeten.

Nun aber waltet das Schicksal: Wegen vorzeitiger Rückkehr von jener abenteuerlichen Tour ertappt Beard in seinem gar nicht mehr trauten Heim den erwähnten zweiten Liebhaber seiner Frau. Dieser lachhaft bezopfte Aldous schwadroniert sogleich von der nahenden Klimakatastrophe, die doch ungleich wichtiger sei als solcher Privatkram – und stürzt kurz darauf durch ein saublödes Missgeschick tödlich auf den Couchtisch. Beard überlegt kurz und handelt schnell: Falsche Spuren, die auf Liebhaber Nummer eins als Mörder hindeuten, sind im Nu gelegt. Tatsächlich kommt der unglückselige Tarpin in den Knast. Und Beard schickt sich unversehens an, die Ideen des Toten zur Sonnenenergie als seine eigenen zu verwerten. Künstliche Nachahmung der Photosynthese. Klingt doch gut und hat global Konjunktur. So endet der erste von drei Teilen, die anno 2000, 2005 und 2009 spielen.

Was haben wir da? Beziehungsdrama? Krimi? Gerichtsroman? Slapstick-Komödie? Wissenschafts-Klamotte? Öko-Satire?

Von allem etwas. Der sonst zumeist in allerhöchsten Rezensenten-Tönen gepriesene McEwan stochert und rührt mal hier, mal da. Er richtet ein diffuses Themen- und Genre-Ragout an. Für sich genommen, sind etliche Passagen unterhaltsam, stellenweise blitzt erzählerische Meisterschaft auf. In einigen Kapiteln fühlt man sich geradezu heimisch. Doch aufs Ganze gesehen, verliert und verheddert sich McEwan häufig in ziellosen, unproduktiven Abschweifungen. Er möchte seine Themenpalette breit ausmalen und zugleich fast alles hinterrücks ironisieren, ja pulverisieren, den Kuchen also gleichsam essen und behalten.

Im zweiten Teil finden sich unverständlich ausgiebige Exkurse zu Beards Ernährungssünden sowie über das bizarre „Duell“ um eine Chips-Tüte im Eisenbahnwaggon. Vollends unnötig ausufernd ist sodann die Schilderung eines Skandals im Zeichen der political correctness. Als Beard anzudeuten wagt, Männer seien womöglich aufgeschlossener für Physik als Frauen, stellt ihn eine Geisteswissenschaftlerin derart an den öffentlichen Pranger, dass er in den Medien bald nicht nur als Macho, sondern zudem als Rassist und Nazi gilt. Doch die rufmörderische Kampagne endet so plötzlich, wie sie begonnen hat. McEwan wollte halt nicht versäumen, auch diese Thematik noch abzuhandeln. Es ist, als hätte er Zeilen und Seiten schinden wollen. Manche Passage wirkt weniger erzählfreudig als geschwätzig.

Im dritten Teil spitzt sich das alles zu. Lauter lose Enden wollen jetzt entweder gekappt oder verknüpft sein. Vieles wird freilich nur verkleistert. Lediglich im Epilog des Romans (die einstige Nobelpreis-Lobrede auf Beard) steht, wie sich solch unentwirrbare Knoten aufs Glücklichste lösen lassen – nämlich verblüffend tänzerisch, indem alle Beteiligten im richtigen Moment loslassen.

Wahrhaftig kulminiert gegen Schluss die Wirrnis: Beards derzeitige Freundin Melissa erwartet (zu seinem Entsetzen) ein Kind. Tarpin wird aus dem Knast entlassen und heftet sich an Beards Fersen – gewiss doch mit rachedurstigen Mordgedanken? Mehr noch: Auf Beards Hand zeigen sich Symptome für Hautkrebs, die er lange ignoriert. Zwischendurch werden noch seine Kindheit und Jugend aufgerollt, als könnt’s ein Erklärmuster hergeben. Zudem wird erwogen, wie sich Natur- und Geisteswissenschaften zueinander verhalten – und die eigentliche Handlung muss ja auch noch vorangetrieben werden: Beard ist drauf und dran, ein vermeintlich weltweit beispielhaftes Energiezentrum in New Mexico (USA) zu gründen, wo er übrigens eine weitere Geliebte hat. Dreifacher Zangenangriff: Tarpin taucht mit finsterer Miene dort auf, gewiefte Anwälte wollen seine erschlichenen Patente anfechten und drohen mit hochnotpeinlichen Enthüllungen, Melissa und die inzwischen dreijährige Tochter sind gleichfalls im Anmarsch. Kommt es etwa zur zwischenmenschlichen Klimakatastrophe? Das wäre ja nicht auszudenken.

Ian McEwan: „Solar“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 405 Seiten. 21,90 Euro.




Überall Bananen!

Heute ein weiterer Beitrag in der Reihe „Man muss nicht alle Künstler mögen.“

Vor einiger Zeit habe ich mich an dieser Stelle über Ottmar Hörl und seine Plastik-Viecher ereifert. Dessen Hervorbringungen sind aber noch gar nichts gegen die Monokultur des Thomas Baumgärtel. Der Mann hatte mal eine Idee, nämlich möglichst den ganzen Globus mit Bananen zu bedecken. Diesen Einfall verfolgt er seither mit Furcht erregender Besessenheit.

1983 begann es mit der „Kreuzigung einer Banane“. 1986 verzierte Baumgärtel erstmals einen Kunstort mit einer gesprayten Banane. Die gebogenen Schablonen hat er seither denkbar häufig eingesetzt. Man glaubt es kaum, wie sich dies zur Manie steigern konnte: Bis heute hat er rund 4000 Stätten (vornehmlich Museen und Galerien) bananig und bananisierend heimgesucht. Dafür ist er rastlos unterwegs zwischen Ruhrgebiet und New York, Berlin und Moskau, London und Mallorca. Und und und. Rette sich, wer kann.

Ziert eine Galerie in der Nachbarschaft: gesprayte Baumgärtel-Banane (Foto: Bernd Berke)

Ziert eine Galerie in der Nachbarschaft: gesprayte Baumgärtel-Banane (Foto: Bernd Berke)

Alles Banane: Baumgärtel schuf die Bananenwand und die Felsenbanane, er kreierte Bananenzimmer, Bananenautos und eine Bananenbrücke. Auch erfand er die Kunstrichtung des „Bananenpointillismus“, sorgte beizeiten für eine Bananensprengung und montierte eine Banane in die erhobenen Hände des Papstes. Er entwarf für seinen Wohnort Köln einen Karnevalswagen, auf dem eine Banane durchs Brandenburger Tor stößt bzw. (je nach Deutung) das berühmte Bauwerk vor dem Einsturz bewahrt. Zur Finanzkrise in Hellas gab’s von Baumgärtel die Griechenflagge mit dem gekrümmten Euro-Zeichen: € = Banane. Wenn das nicht subtil ist…

Auf seiner Internet-Seite http://www.bananensprayer.de dokumentiert Baumgärtel penibel jedes Projekt. Wer alles durchklickt, wird hinterher wahrscheinlich wochenlang keine Bananen mehr sehen wollen. Es ist, als würde man immer wieder den selben Witz hören.

Baumgärtel hat nicht nur Kunst (an der Fachhochschule Köln) studiert, sondern auch Psychologie an der Kölner Uni. Das mag ihm zupass kommen, wenn er Museumsleute und Galeristen von seinem immergleichen Tun überzeugen will. Sie müssen schließlich zustimmen. Bisher hat er noch die allermeisten überredet. Er ist wahrscheinlich ein netter Kerl. Einer, dem man halt die kleine Narrenfreiheit lässt. Nur, dass die sich auf Dauer penetrant potenziert.

Zudem finden sich notfalls immer ein paar Professoren, die – ob nun augenzwinkernd oder nicht – kunsthistorisch beglaubigte Gütesiegel ausstellen und Baumgärtel etwa in die Tradition von Dada, Duchamp oder Andy Warhol (Bananen-Cover für „Velvet Underground“) stellen. Geschenkt.

Mag sein, dass in der Inneren Mongolei noch keine Baumgärtel-Banane prangt. Sonst aber kann man seinen krummen Dingern schwerlich entkommen. Auch gleich bei mir um die Ecke leuchtet eine knallgelbe Frucht neben dem Eingang einer Galerie (siehe Foto). Immerhin halbwegs unaufdringlich, wenn auch herzlich nichtssagend. Doch just in Dortmund, das er leider besonders ins Herz geschlossen zu haben scheint, will Baumgärtel aufs Ganze gehen, indem er eine gigantische Bananen-Skulptur aus gelb eingefärbtem Stahl (ca. 30 Meter lang) in 65 Metern Höhe auf einem ausgedienten Hochofen anbringt. Sie wäre in weiten Teilen der Stadt grell sichtbar. Bewahre!

Während Baumgärtel für die Hochofen-Verhunzung noch Sponsoren sucht, ist gottlob ein anderes Vorhaben ähnlich monströsen Kalibers bereits abgelehnt worden: Aufs neue Wahrzeichen Dortmunds, das Kulturzentrum „Dortmunder U“, wollte er – na, was wohl?! – eine Riesenbanane setzen, die den goldenen Buchstaben „U“ penetriert hätte.

Es ist an der Zeit, die eine oder andere Bananigkeit (frei übersetzt: Banalität) zu verweigern. Und ich meine keineswegs die DDR, wenn ich ausrufe:

„Es lebe die bananenfreie Zone!“




Raddatz-Tagebücher: Im Haifischbecken der Literatur

Diese Lektüre hat sich hingezogen. 907 Seiten (plus Register) umfassen die Tagebücher der Jahre 1982-2001, die der Großkritiker, Autor und Publizist Fritz J. Raddatz jetzt vorgelegt hat. Es ist ein Wechselbad aus spannenden und ärgerlichen Passagen.

Frank Schirrmacher, FAZ-Mitherausgeber und früher FAZ-Kulturchef, wird auf der Rückseite des Buchs in goldenen Großbuchstaben zitiert: „Dies ist er endlich, der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik!“ Wie zum Dank für die jubelnde Empfehlung erscheint Schirrmacher in Raddatz‘ Tagebüchern nahezu als Lichtgestalt, als gebildet, höchst intelligent und allzeit gedankenschnell, überdies habe er zeitweise das beste Feuilleton der Republik geleitet. Beinahe so etwas wie eine jüngere Ausgabe seines Vorbildes Raddatz also.

Man kennt sich, man hilft sich? Nun ja. Meist ist das Gegenteil der Fall: Im grässlich eitlen, zunehmend verkommenen Kulturbetrieb, so jedenfalls der Grundtenor des gesamten Bandes, denke jeder nur an sich selbst. Hauen und Stechen, jeder gegen jeden. Da ist man als normalsterblicher Leser heilfroh, nicht mit bekannten Schriftstellern befreundet zu sein und nicht solche Imponier-Sätze notieren zu müssen: „Ich gebe auf dem Postamt Briefe an Grass, Botho Strauß, Hochhuth und Enzensberger auf…“ Pointe: Selbst der Postbeamte hieß (welch’ Zufall) Max Frisch.

Bloß nicht mit bekannten Autoren befreundet sein

Im Haifischbecken der egomanischen Literaten erkundigen sich selbst altgediente Freunde, wie etwa die Autoren Günter Grass oder Rolf Hochhuth, kaum einmal näher nach Arbeitsvorhaben und Befinden des Fritz J. Raddatz. Er leidet unter solcher Ignoranz wie ein Hund. Und nimmt permanent übel. Viele seiner Notizen sind (auch pekuniär besehen) buchstäblich „Abrechnungen“: Demnach würdigt man ihn stets zu wenig und lässt sich auch noch von ihm aushalten. Kaviar, Schampus oder edle Bordeaux-Weine gingen allzu oft auf seine Kappe. Ist er hingegen anderswo zu Gast, geht’s eher schäbig zu. Fast alle sind geizig, er ist großzügig. Du meine Güte!

Überaus leicht verletzliche Eitelkeit ist ein Wesenszug dieses Tagebuchschreibers, der darum ringt, nicht nur als erstklassiger Journalist, sondern als veritabler Schriftsteller zu gelten. Ergo: Ein eitler Pfau hält all den anderen Pfauen ihre Pfauenhaftigkeit vor. Und das über so viele Seiten hinweg. Es ist mitunter quälend. Gemildert wird die Suada bisweilen durch zerknirschte Selbsterkenntnis: „Ich habe mich in den Fäden der selbstgesponnenen Eitelkeit verfangen und finde nun aus diesem Netz nicht mehr heraus…“ Oder sogar: „Ich muß mich schon fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich Bedeutung, nicht enorm überschätze.“ Zwiespältiger Befund: „Weiß also nicht, was ich will. Man will ,beachtet‘ werden – und zugleich in Ruhe gelassen.“

Ungeachtet aller Widrigkeiten ging’s immer wieder frisch ins Getümmel. Über die Buchmesse jammern, aber sich jedes Jahr hinein stürzen. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten darf „man“ eben nicht fehlen. Doch manchmal übermannt Raddatz der Überdruss, der Ennui: In Zürich langweilen ihn die Museen, einschließlich der Cézanne-Bilder. Demonstrativer Seufzer des übersättigten Ästhetizisten: „Was soll man mir schon Neues bieten?“

Von 1977 bis 1985 war der frühere Rowohlt-Cheflektor Raddatz Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Es waren dort wohl die lebendigsten Jahre dieses Ressorts. Dank Raddatz‘ vielfältigen Verbindungen zu Akteuren des hassgeliebten Literaturbetriebs schrieben damals die erlauchtesten Geister regelmäßig für das Blatt. 1985 wurde Raddatz wegen eines gar nicht mal so gravierenden, sondern eher lässlich-lachhaften Fehlers als Ressortleiter geschasst (er hatte in einer Buchmesse-Glosse Goethe mit dem – seinerzeit noch nicht existierenden – Frankfurter Bahnhof in Verbindung gebracht), blieb aber Autor der Zeitung, mit offenbar bestens gepolstertem Spesenkonto.

„70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“

Dennoch: Das Leiden am Karrierebruch füllt viele Seiten des Tagebuchs. Eigentlich kein Wunder, dass der zusehends wehleidige Raddatz die Entwicklung der „Zeit“-Redaktion fortan als Niedergang wahrnimmt; erst recht, als Sigrid Löffler das Feuilleton übernimmt. Sein Selbstwertgefühl ist angekratzt und muss mühsam behauptet werden, zudem verspürt Raddatz Anzeichen des Alters. Später heißt es einmal wunderbar lakonisch: „70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“ Vergällte Lebenslust – allem Luxus zum Trotz. Gegen Melancholie helfen natürlich weder die kunstsinnig ausstaffierten Wohnungen in Hamburg, auf Sylt und in Nizza, noch die teuren Fahrzeuge (erst Porsche, dann Jaguar).

Und der „Gesellschaftsroman“? Raddatz zeigt uns zahllose Prominente aus Kultur und Politik in Nahansicht. Der Mann hat so gut wie alle gekannt, die Rang und Namen hatten. Wer mitunter brillant formulierte Sottisen über Deutschlands wirkliche und vermeintliche Elite sucht, wird reichlich fündig. Darüber hinaus bietet das Buch tatsächlich Bruchstücke oder Bausteine einer bundesrepublikanischen Sittengeschichte. Doch ein Roman ist das alles bei weitem nicht.

Schreckenskabinett betrüblicher Gestalten

Wollte man eine Negativ-Rangliste aufstellen, so wären „Spiegel“-Begründer Rudolf Augstein (angeblich auf seine älteren Tage ein erbärmlicher Alkoholiker), die einstige „Zeit“-Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff („Kuh“), der selbstverliebt schwatzhafte Rhetoriker Walter Jens, dito „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld und der hochmütige Germanist Hans Mayer einige der missliebigsten Figuren im Schreckenskabinett des Fritz J. Raddatz. Also vorwiegend Leute, die mit Raddatz um Kronjuwelen des Kulturbetriebs bzw. des Pressewesens rivalisier(t)en, so auch ein weiterer Kritiker-Kollege, der „miese Herr Karasek“ vom herzlich verachteten Schmutzblatt namens „Spiegel“. Namenlose Schreiberlinge sind in solchen Sphären ohnehin nicht satisfaktionsfähig.

Altkanzler und „Zeit“-Mitherausgeber Helmut Schmidt kommt nach Raddatz‘ Lesart – wie nahezu alle Politiker – als banausenhafter Simpel daher, TV-Promi Ulrich Wickert wird als ahnungsloser „Fernseh-Ansager“ vorgeführt. Raddatz bekundet, von tagtäglichen Politiker-Sorgen nichts wissen zu wollen, denn – so wörtlich – „man will ja auch nicht die Sorgen der Müllabfuhrmänner hören.“ Klar, mit denen kann man ja nicht über James Joyce oder die besten Bordeaux-Lagen reden. Zu solchem Dünkel passt diese Notiz von einer Lesereise: „Mich interessiert ‚mein Publikum‘ nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten.“

Einmal in Fahrt, schmäht Raddatz auch Klassiker der Literatur als mindere Skribenten, so u. a. Tolstoi, Montaigne, Balzac, Proust und Roland Barthes. Wie denn überhaupt Frankreich vorwiegend mit Oberflächlichkeit assoziiert wird. Ein alter, erzdeutscher Topos, erstaunlich beim erklärten Linken Raddatz. Im Zuge der deutschen „Wende“ 1989/90 ereilt der Bannstrahl (Stichwort „Stasi-Connection“) auch Heiner Müller und Christa Wolf. Mehr Abschätziges gefällig? Nur wenige Beispiele: Dürrenmatt ist „etwas dumm“ (S. 83), Thomas Bernhard ein bloßer Literatur-Clown (S. 278), Adolf Muschg flach (S. 510), Fontanes Tagebücher sind nichtssagend (S. 579), Elfriede Jelinek ist läppisch und infam (S. 663), Kavafis banal (S. 724), das „Bürschlein“ Harry Rowohlt lediglich „von Beruf Erbe“ (S. 816).

Nur selten, aber immerhin blitzt zwischen all den harschen, längst nicht immer triftigen, ja oft haltlosen Urteilen auch Selbstkritik auf: „Oder irre ich mich aus Verdrossenheit?“ Zum Ausgleich werden ein Autor wie Kurt Drawert oder der eng befreundete Maler Paul Wunderlich in hohen Tönen gelobt. Stimmen hier noch die Maßstäbe?

Wenn Raddatz seine Schwester (Kosename „Schnecke“) schildert, genießt man einige der besten Passagen des Buches. Doch manchmal trägt er Privates unangenehm stolzgeschwellt zu Markte. So renommiert der schwule Kulturkritiker damit, dass er es in jüngeren Jahren u. a. mit Größen wie dem Beat-Poeten Allen Ginsberg oder dem Tänzer Rudolf Nurejew getrieben habe. Vollends peinlich ist das sexuelle Eigenlob auf dem Umweg über „Stimmen zum Spiel“: Raddatz lässt wissen, dass viele Herrschaften ihn als jeweils besten Liebhaber ihres Lebens bezeichnet hätten (S. 749).

Das üppige Textkonvolut hätte man kürzen können, es ist hie und da arg wiederholungsträchtig. Dann wäre Platz gewesen für erläuternde Anmerkungen (und aussagekräftige Fotografien), die man schmerzlich vermisst. Schon heute sind etliche Personen und Vorfälle nicht mehr vielen Menschen geläufig, in ein paar Jahren werden sie noch mehr verblasst sein.

Fritz J. Raddatz: „Tagebücher 1982-2001“. Rowohlt Verlag. 939 Seiten. 34,95 Euro.




Stilp!

Es ist von einem seltsamen Phänomen zu berichten. Entfernt ähnelt es dem von Axel Hacke vielfach dargestellten „Wumbaba“-Effekt: Bei Liedtexten kann man sich gehörig verhören, so dass etwa in Matthias Claudius‘ „Abendlied“ („Der Mond ist aufgegangen“) die Zeilen „Und aus den Wiesen steiget / Der weiße Nebel wunderbar“ zum politisch nicht ganz korrekten „Und aus der Isar steiget / Der weiße Neger Wumbaba“ geraten.

Nun zur artverwandten Erscheinung, die einer Kippfigur gleicht, welche (je nach Betrachtungsweise) vexierbildhaft umschlägt: Seit Jahren widerfährt mir dies an der A 40 in Essen, wo ein abgestellter Anhänger für ein örtliches Möbelhaus wirbt, das „Stilphase“ heißt. In Worten: „Stil-Phase“. Doch diesen Aspekt muss ich mir eigens aufsagen. Denn unwillkürlich lese ich im Vorüberfahren stets nur „Stilp-Hase“ und martere mich seither mit der Frage, was das denn für ein Tier sei.

Zur Güte schlage ich vor, dass ein neues Verb „stilpen“ in die Wörterbücher aufgenommen wird. Ferner möge dort die Eigenschaft „stilpig“ festgehalten werden, meinetwegen auch in der Ableitung „stilphaftig“. Ein Mensch (oder Tier) von stilpiger Wesensart sollte kurzerhand als „Stilp“ bezeichnet werden. Beispielsweise als Stilp-Hase. Mehr will ich ja gar nicht.

Was „Stilp“ denn eigentlich bedeute? Nun, zu solchen Festlegungen kommen wir eventuell später. Warum denn immer gleich alles definieren?




Die Bestseller der NS-Zeit

Das Nazi-Regime war – wie man weiß – totalitär, und doch ging es in vielen Bereichen „ungeordnet“ bis chaotisch zu. Auch die literarischen Präferenzen waren letztlich nicht ausgemacht.

Christian Adam (Abteilungsleiter Bildung und Forschung bei der Birthler-Behörde) hat in seinem sehr materialreichen, doch nicht allzu stringent strukturierten Buch „Lesen unter Hitler“ zusammengetragen, was nur irgend in der NS-Zeit Bestsellerauflagen erzielt hat. So kommt weniger der explizite Ungeist von NS-getreuen Autoren (Johst, Blunck, Behrens-Totenohl, Vesper) zur Sprache, sondern in erster Linie populäre Publikationen.

Das Spektrum reicht von anfangs noch erlaubten Groschenheften bis zur Kinderliteratur („Heidi“, „Biene Maja“). Gewichtiger noch: Sachbücher und Ratgeber („Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, FKK-Broschüren mit „arischer“ Schlagseite, Reemtsma-Bildsammelalben zu Olympia 1936 u.a.) nehmen breiten Raum ein, was dem Leseverhalten breiter Schichten eher entspricht, als würde man nur fiktionale Literatur einbeziehen. Dabei zeichnet sich so etwas wie eine Typologie damals gängiger Erfolgsbücher mitsamt einigen überraschenden Schattierungen ab.

Die ruchlose Bücherverbrennung und die damit einher gehenden Verbote hatten 1933 praktisch alle wesentlichen Werke der Gegenwartsliteratur verbannt und vernichtet, doch was an deren Stelle treten sollte, blieb nebulös und auch unter höheren NS-Chargen umstritten. Während Propagandaminister Goebbels und seine Gefolgsleute nicht nur völkische Blut- und Boden-Literatur, sondern – ähnlich wie im Kino – auch (ablenkende, „betäubende“) Unterhaltung gelten ließen, standen der Chefideologe Alfred Rosenberg und seine Kumpane für strikte Linientreue im rassistischen Sinne. Zynisch waren beide Haltungen. Jedenfalls fühlten sich ab 1933 nach und nach eine ganze Reihe von Ministerien, Behörden und Institutionen für Zensurmaßnahmen zuständig, die einander nicht selten in die Quere kamen.

Was immer das Regime auch kulturpolitisch anstellte: All die verfemten Autoren waren nicht annähernd zu „ersetzen“. Es blieb eine Handvoll Schriftsteller, die einigermaßen achtbares Handwerk lieferten (z. B. Ehm Welk, Hans Dominik im Bereich der Science Fiction, der mondäne Schweizer John Knittel oder auch – Hans Fallada!), doch das literarische Leben lag weitgehend brach. Es kamen unter den Bedingungen der Zensur keine nennenswerten Autoren hinzu. So suchte man, notfalls durch Umdeutung, die „unverwüstlichen“ Klassiker in Dienst zu nehmen – von Goethe und Schiller bis Wilhelm Busch, von Thoma und Ganghofer bis Hesse. Und in dem Norweger Knut Hamsun hätschelte man einen Vorzeigeautor, der sich mehrfach explizit fürs NS-Regime ausgesprochen hatte.

Auf Wirrnis deuten die knapp skizzierten Lese-Biographien einiger Nazi-Größen hin. Der simple Göring simulierte anspruchsvolle Lektüren, Himmler hingegen hatte einen großbürgerlichen Hintergrund und war relativ belesen (was eben noch längst kein Wert an sich ist). Während Hitler als Karl-May-Anhänger galt, hatte der studierte Germanist Goebbels auch modernistische Neigungen.

Aufschlussreicher sind Exkurse zur Lesersoziologie und zur Entwicklung des damaligen Buchmarktes. So hat die in Kriegszeiten verfügte Papier-Rationierung wahrscheinlich stärker gewirkt als einzelne Zensurbestimmungen. Zu den Profiteuren zählte nicht nur der Nazi-Verlagskonzern Eher, sondern beispielsweise auch der seinerzeit rapide gewachsene Bertelsmann-Verlag. Immer wieder geht es um finanzielle Pfründe des (seinerzeit boomenden) Gewerbes, die sich NS-Parteigenossen sicherten – bis hin zur schamlosen persönlichen Bereicherung. Die „Arisierung“ ehedem jüdischer Verlage war eine kriminelle Vermögens-Umverteilung. Und Hitlers „Mein Kampf“ brachte Millionen Reichsmark an Autorenhonorar ein…

Als Leitsterne und Gegengifte beim Gang durch jene finsteren Zeit dienen vor allem Victor Klemperers bewegende Tagebücher von 1933 bis 1945, die das tägliche Leben und die Lektüren von damals aus leidender, kritischer Sicht in den Blick fassten. Tatsächlich muss man hier ansonsten durch viel gedanklichen Unrat waten, Adam erspart dem Leser etliche Zitate aus braunen Publikationen nicht. Einerseits gilt es, durch derlei O-Töne die ideologische Mixtur genauer kenntlich zu machen, doch sollte man nicht überdosieren. Adam hält zuweilen nur mühsam die Balance zwischen Dokumentation, Analyse und (meist geraffter) Bewertung.

Das Buch fördert mitunter erstaunliche Fakten zutage. So hat Goebbels die Krimis des Briten Edgar Wallace („Der Hexer“) geschätzt, die bis 1939 in Deutschland noch zu kaufen waren – ebenso wie etwa Werke von Georges Simenon, Aldous Huxley oder Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“. Doch 1940 standen schlagartig 160 Wallace-Titel auf dem Index. Sämtliche Bücher aus dem Land des Kriegsgegners waren fortan verpönt. Daher konnte der schottische Romancier A. J. Cronin („Die Zitadelle“), der die englische Gesellschaft bissig kritisierte, mit reichsdeutschem Wohlwollen rechnen.

Bis etwa 1940 gab es außerdem das freilich schmal besetzte Genre des versöhnlichen, ja nachgerade pazifistisch sich gerierenden Kriegsromans, allen voran Polly Maria Höflers deutsch-französische Liebesgeschichte „André und Ursula“, die allerdings erst in den 1950er Jahren mit Ivan Desny verfilmt wurde. Und noch so eine französische Nuance: Die Bücher des vehementen Nazi-Gegners Antoine de Saint-Exupéry waren trotz allem weiter in Deutschland erhältlich. So manches wohltuend „Unzeitgemäße“ (Kästner usw.) erhielt man, so man denn hartnäckig suchte, überdies noch vereinzelt in Antiquariaten. Es waren jedoch nur noch Spurenelemente von Gedankenfreiheit.

An vielen Stellen des Buches wären Vertiefungen möglich, zuweilen wünschenswert. So würde man über einen schillernden Abenteuerbuch-Verfasser wie Anton Zischka (der seinerzeit auf Mallorca lebte) gern mehr erfahren. Auch zwei der ganz wenigen Glamour-Gestalten im Dunstkreis des Faschismus, das Jetset-Paar Elly Beinhorn (Fliegerin) und Bernd Rosemeyer (Rennfahrer), wären als Autorenduo eine genauere Untersuchung wert. Doch all das kann eine solche Überblicks-Darstellung wohl schwerlich leisten.

Umfangreichere Studien wären auch jene Literaten wert, die von den NS-Machthabern geduldet oder gar stillschweigend gefördert wurden – und die bruchlos in Lesebüchern der Nachkriegszeit an prominenter Stelle wieder auftauchten, bis in die mittleren 60er Jahre hinein. Der Humorist Heinrich Spoerl wäre hier ebenso zu nennen wie etwa Erwin Guido Kolbenheyer, Werner Bergengruen, Hans Carossa und Ina Seidel. Allesamt keine genuin faschistische Literatur, doch bar jeder Widerständigkeit und also kompatibel.

Christian Adam: „Lesen unter Hitler“. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Verlag Galiani Berlin. 384 Seiten mit Abbildungen. 19,95 Euro.




„Tatort“-Buch: Mord an der Sprache

„Tatort“-Städte sehen im Fernsehen ganz anders aus als in der Wirklichkeit. Nun ja, man hat es sich wohl gedacht, dass uns bei der Gelegenheit keine 1:1-Realität dargeboten wird.

Doch mehr noch: Komplette Szenenfolgen werden gleich ganz woanders gedreht. So entstehen etwa Münsteraner „Tatorte“ der Logistik wegen (WDR-Zentrale mit allen Schikanen am Ort) weitgehend in Köln. Auch befinden sich alle (!) Tatort-Kommissariate des SWR in einem einzigen Gebäude zu Baden-Baden. Okay, das sind auch keine Sensationen, aber es klingt schon interessanter, weil konkreter. Doch die Verfasser eines neuen Sachbuchs mögen’s auf weite Strecken lieber wolkig.

In insgesamt 17 Beiträgen erscheint die populärste deutsche Krimireihe zumeist als schieres Konstrukt regionaler Zuschreibungen, die oft genug in Klischees abgleiten. Der Untertitel des Bandes lautet „Mediale Topographien eines Fernsehklassikers“. Damit deutet sich bereits das Elend eines „hochwissenschaftlich“ sich gebenden Jargons an, der das Gros der Beiträge infiziert hat, als hätte man sich zuvor ganz bewusst auf sprachliche Hässlichkeit geeinigt. Am Ende ist man als Leser reichlich verstimmt, denn man hat viel Zeit darauf verwendet, relativ überschaubare Erkenntnisse in verbal fürchterlich aufgeblasener Form zu goutieren. Hier müssen wir einfach ein paar beispielhafte Zitate anheften:

„Die verräumlichenden Filmerzählungen der Tatort-Reihe ordnen ihre lokalisierenden Elemente nämlich sowohl in topologisch relationierenden als auch in topographisch repräsentierenden Operationen an.“

Schon ganz gut, nicht wahr? Aber genießen Sie weiter, schlagen Sie zum Exempel Seite 56 auf. Sie werden es nicht glauben, aber Einstellungen zur Welt, die

„…aus sozialphänomenologischer Perspektive als ‚Doxa‘ bezeichnet worden sind, können allerdings zu ,Orthodoxien‘ werden, wenn ihre präreflexive Wirksamkeit infrage gestellt wird.“

Wie? Es reicht Ihnen schon? Nichts da! Hiergeblieben! Hergehört:

„Eher scheint es sich um einen filmischen Beitrag zur diskursiven Herstellung und räumlichen Verortung eines internen Anderen zu handeln, das erst in seiner referenziellen Alterität zum möglichen Objekt wird.“

Halt! Wozu und für wen wird hier eigentlich geforscht? Es beschleicht einen der Verdacht: Nur noch für die eigene (Uni)-Karriere, indem man ein lachhaftes verbales Imponiergehabe auf die Spitze treibt.

Ein so breitenwirksames Thema wie der „Tatort“ ließe sich wahrlich in anderem Stile behandeln, ohne dass man in der Denkschärfe nachlassen müsste. Hier aber will man offenkundig unter sich bleiben. Wohl deshalb wird der einfache Umstand, dass etwas vorher geschehen ist, in diesem Buch fast durchweg mit dem Verrenkungs-Wort „vorgängig“ umschrieben. Gern verwenden diverse Autoren auch Bescheidwisser-Vokabular wie „establishing shots“ und „televisuell“. Dass Handlungsorte der Krimis gelegentlich auf Stadtrundfahrten besucht werden, wird hier mit der Wortschöpfung „Thanatourismus“ belegt.

Selbst über die simple Tatsache, dass mit den „Tatort“-Folgen nach und nach eine (föderale) Krimi-Landkarte Deutschlands entsteht, kann man verquast und ungelenk schreiben, indem man drei „Hauptrichtungen der Topographie“ aufruft und gravitätisch feststellt:

„Die erste geht davon aus, dass den in der Karte manifest werdenden Bemühungen der Kartographen eine äußere Welt vorausgegangen sein muss, die durch eine Karte verstehend erfasst werden sollte…“

Donnerwetter!

Zur Selbstparodie gerinnt das Ganze, wenn die Verfasser eine Übersetzung gleich mitliefern: Wir lernen, dass ein Odenthal-Tatort

„…den Konstruktcharakter der fiktionalen Welt hervorhebt und so mit dem selbstreferenziellen Potenzial des Genres spielt. Anders gesagt: Solche Tatort-Folgen verweisen auf sich selbst.“ Stimmt. So hätte man’s auch sagen können.

Unfreiwillig komisch wirkt auch das Aufeinanderprallen verschiedener Sprachebenen in der Passage, die Einzeltitel von Duisburger Schimanski-Tatorten nennt, auch „solche, die assoziativ instantan mit dem Ruhrgebiet verbunden werden wie ,Der Pott‘ oder ,Schicht im Schacht‘.“

Ich fürchte, „instantan“ wird jetzt sogleich eines meiner Lieblingsworte. Und dies ist eine meiner Lieblingsstellen:

„…dass dieser Hamburger Tatort mit der hybriden, liminalen Figur des Batu neue, hybride Räume erschließt, die mit seiner auf Differenz gegründeten Figur korrelieren.“

Nein, das ist überhaupt kein Deutsch mehr. Auch ist es keine Ableitung aus dem Griechischen oder Lateinischen. Das ist Mord an jeglicher Sprache.

Julika Griem/Sebastian Scholz (Hrsg.): „Tatort Stadt“ – Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Campus Verlag. 329 Seiten. 34,90 Euro.




Eine Zeit in der Hölle

Zwei Halbwüchsige, Bruder und Schwester, haben ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Seither bleiben auch ihre Nächte seltsam taghell. Es ist ein bedrohliches Gleißen in der Welt. Immerzu. Und alle Nähe ist zunichte. Die Geschwister fühlen sich „wie Vögel in einem Sandsturm“. Es gibt keine Zuflucht.

Roberto Bolaños illusionslos lakonischer, nur 110 Seiten starker „Lumpenroman“ bewegt sich sehr nah am erlittenen Augenblick und wirkt zugleich verhangen, traumverloren, surreal; ganz so, als könne dies alles nicht wirklich sein, als sei die Realität rundum ausgetröpfelt. Zitat: „…wobei wirklich nur eine andere Unwirklichkeit bezeichnet, eine weniger zufällige, besser gerüstete Unwirklichkeit…“ Unversehens, in den schlaflos hellen Nächten, blitzen manchmal Gesichte und Visionen auf.

Bruder und Schwester verharren im wunschlosen Unglück, sie können nicht einmal richtig weinen oder den Verstand verlieren. „Wider Erwarten ging das Leben unverändert weiter.“

Ohne je in einen Klageton zu verfallen oder aufzubegehren, beschreibt die Schwester als Ich-Erzählerin namens Bianca desolate Zustände. Die Waisen verdingen sich mit niederen Jobs. Sie hilft in einem Frisiersalon aus, er in einem Bodybuilding-Studio. Ganz unten. Dort, wo man völlig ratlos oder besonders klarsichtig sein kann.

Ihre „Freizeit“ besteht aus schier endlosen Fernseh-Sitzungen. Ohne Lust, um die Zeit zu töten und um vollends fühllos zu werden, leihen sie sich in Videotheken Dutzende Pornos aus. Sie rauschen halt vorüber.

In einem Frauenmagazin füllt die Schwester einen Fragebogen aus. Auszug:

„Wenn Du ein Fisch wärst, welche Art Fisch würdest Du sein?
Einer von denen, die man als Köder verwendet…“

So wird es kommen. Eines Tages tauchen zwei Kumpane des Bruders auf und setzen sich in der Wohnung fest. Einfach so. Fraglos. Rätselhafte Typen. Sie bleiben anonym, werden lediglich als Bologneser und Libyer bezeichnet. Sie sind von einer kriminellen Aura latenter Gewaltsamkeit umwölkt, doch sie bleiben stets höflich und räumen regelmäßig die Wohnung auf. Auch scheinen sie selbst kläglich einsam zu sein. Von Zeit zu Zeit schläft die Schwester mit je einem der beiden. Sie will dann gar nicht wissen, mit wem.

Irgendwann planen die drei Männer einen verworrenen Coup. Die Schwester wird als erotischer Köder auf den erblindeten Ex-Schauspieler (Spezialität: Gladiatorenschinken) und einstigen „Mister Universum“ Maciste angesetzt. Nacht für Nacht gibt sie sich dem monströsen Muskelmann hin – und sucht in der weitläufigen Villa vergebens nach dem Tresor. Nicht lustlos, ja sogar mit Anflügen von Liebesähnlichkeit vollzieht sich der allnächtliche Akt. Vielleicht ist es ja nur die Sehnsucht nach wohltuender Stille vor Ausbruch des Wahnsinns. Doch Bianca wachsen tatsächlich neue Kräfte zu, als wäre sie endlich im Leiden gestählt. Sie schickt den Bologneser und den Libyer fort. Und das war es. Kein Wort und keine Geste zu viel in diesem Roman.

Der allererste Satz des Buches hatte so gelautet: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle.“ Damit begann der unentrinnbare Sog, eine Zeit in der Hölle.

Der vor einigen Jahren verstorbene Chilene Roberto Bolaño (1953-2003) ist mit Büchern wie vor allem dem Riesenroman „2666“ zur unverhofft (und spät) entdeckten Größe der Weltliteratur geworden. Auch der kurz vor dem Tod verfasste „Lumpenroman“ (Originaltitel „Una novelita lumpen“) kann nur Teil eines großen Werkes sein. Man spürt es – noch in der Übersetzung – in jeder Satzmelodie.

Roberto Bolaño: „Lumpenroman“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, 110 Seiten. 14,90 Euro.




Schlingensief: Erst kommt das Chaos des Lebens

Der Regisseur Christoph Schlingensief ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Im November 2006 hatte er einen nunmehr doppelt denkwürdigen Auftritt im Dortmunder Konzerthaus. Dieser zwangsläufig noch nicht pietätvolle Artikel des jetzt trauernden B. B. stand am 15.11.2006 in der Westfälischen Rundschau und lässt vielleicht ein wenig ahnen, wie vital und springlebendig Schlingensiefs irrlichternder Geist gewesen ist. So viele überschießende Ideen wie er haben jedenfalls nur wenige Menschen. Längst nicht alle hat er ins Werk setzen können.

Dortmund. Konzerthauschef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000“) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene. Wegen des enormen Andrangs ist der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden.

Schlingensief (46) ist gebürtiger Oberhausener – wie Hape Kerkeling. Noch so ein witziger „Entlarver“. Kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert wie im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehtr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus.

Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Film)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft spannende.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief etliches erlebt und gelesen. Ganz gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Übrigens: Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal.

Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.

(Bild: Schlingensief bei der Verleihung des Nestroy-Preises, 2009 – Copyright Manfred Werner/Tsui – Wikipedia Creative Common Lizenz)




Ottmar Hörl: Haufenweise Kunst-Stoff

Es juckt mich schon lange, einmal über den Künstler Ottmar Hörl zu schreiben. Nur gleich frisch heraus mit meiner Meinung: Seine auffälligen Aktionen langweilen durch penetrante Wiederholungsträchtigkeit. Auch halte ich sie weder für gedankenreich noch für gedankenstiftend.

Jetzt ist der Hansdampf wieder zugange, diesmal auf dem Marktplatz zu Wittenberg, wo er gleich 800 Plastik-Figuren des einstmals ortsansässigen Martin Luther aufstellen lässt. Wenig einfallsreicher Titel der Aktion: „Martin Luther – Hier stehe ich.“ Er kann eben nicht anders. Bis zum 12. September sollen die grünen, roten, blauen und schwarzen Reformatoren in Wittenberg zu sehen sein, anschließend werden sie für 250 Euro pro Stück verkauft (signiert je 500 Euro, ab 2011 dann 700 Euro).

Der Süddeutschen Zeitung (SZ) ist dieses einfältige Brimborium heute sogar ein Aufmacherbild auf der Titelseite wert. Nun ja, `s’ist Sauregurkenzeit. Und ein Fotomotiv geben Hörls Installationen allemal her. Noch stark untertrieben ist die SZ-Bildzeile: „Hörl besitzt viel Erfahrung mit serieller Kunst.“

Das kann man wohl sagen. Im Grunde geht er seit Jahren mit einer einzigen Hauptidee hausieren. Grundmuster: Man nehme eine Stadt, dazu in rascher Assoziation eine passende Klischeefigur, reproduziere diese vielhundertfach in Kunststoff, stelle die multiplen Objekte just am Ort der Legende auf, warte möglichst einen plakativen Anlass (Großveranstaltung, Jubiläum) ab und gebe dem vermeintlichen Genius loci kräftig Zucker. Bloß nicht zu subtil werden. Fertig ist die Chose. So geht es immer, immer wieder.

Wir blicken zurück und nennen nur die spektakulärsten Beispiele:

2000 Berlin: Unter den Linden versammelt Hörl 10 000 – na, was wohl? Richtig: Bären (schmerzlicher Titelgag: „Berlin-Baerlin“).

2003 Nürnberg: Hörl postiert 7000 figürlich nachempfundene Dürer-Hasen auf dem Hauptmarkt.

2004 Athen: Zu den Olympischen Spielen bringt Hörl 10 200 Eulen in die griechische Hauptstadt. Abgründig vordergründiger Hintergedanke: „Eulen nach Athen tragen“.

2005 Bayreuth: Hörl lässt 800 Neufundländer aufstellen, denn dies war die Lieblings-Hunderasse des Festspiel-Präzeptors Richard Wagner. Aha.

2005 Rottweil: 500 Rottweiler.

2007 Wiesbaden: 3000 „hessische Löwen“ vor der Staatskanzlei.

2009 Krakau: 1500 Hermeline. Warum? Na, weil in der polnischen Stadt doch Leonardo da Vincis Gemälde „Dame mit dem Hermelin“ hängt…

2009 Straubing: 1200 Gartenzwerge, die jeweils die rechte Hand zum Hitlergruß heben. Fürwahr eine preiswerte, um nicht zu sagen billige Provokation. Der flexible Hörl hat aber auch einen „Sponti-Zwerg“ im Angebot, welcher den Stinkefinger zeigt.

2010 Mülheim: Auch in der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet lässt sich Hörl seriell nicht lumpen. Vor dem Aquarius Wassermuseum tummeln sich 300 Seelöwen.

Genug! Wahrlich genug!

Der veritable Professor Ottmar Hörl, der gar als Präsident der Nürnberger Kunstakademie firmiert, bietet in seinem Online-Shop noch etliche weitere Aktionsfiguren feil: Mops, Pinguin, Erdmännchen, Ratte, Rabe, Steckenpferd oder gestiefelter Kater gefällig? Kein Problem, alle Tierchen sind vorhanden.

Viel Kunststoff also. Und die Kunst?