Was darf uns die Kultur denn kosten? – Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt

Alter Streit, der sich immer mal wieder entzündet: Wieviel Geld sollen „wir” für Kultur ausgeben? Genügt das, was die öffentliche Hand bezahlt – oder sollten Bürger, die es sich leisten können, freiwillig etwas drauflegen? Derzeit rankt sich die Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010.

Als neulich in Düsseldorf die Förderbescheide des Landes NRW fürs „Dortmunder U” (Ex-Brauereiturm, künftig Museum und Zentrum der Kreativwirtschaft) überreicht wurden, gab’s neben aller Freude auch viele kritische Stimmen, so etwa im Internetportal http://www.derwesten.de/. Grundzug so mancher Äußerungen: Lieber Straßenbau, Schulen, Kindergärten und Schwimmbäder finanzieren – oder Hartz IV aufstocken . . .

„Hände weg
von meiner
Geldbörse!”

Gegen solch dringlichen Alltagsbedarf befindet sich Kultur seit jeher in der Defensive. Stets muss sie ihre finanziellen Ansprüche gut begründen und legitimieren, was ja völlig in Ordnung ist. Doch etliche Politiker sind auf diesem Ohr fast gänzlich taub. Denn massenhaft Wählerstimmen kann man mit den schönen Künsten nicht einheimsen. Eine kurzsichtige Art der Betrachtung.

Und so erntete denn auch Essens Stadtkämmerer Marius Nieland beileibe nicht nur Beifall, als er kürzlich vorschlug, jeder Bewohner des Reviers möge aus freien Stücken je einen Euro für die Kulturhauptstadt Ruhr spenden, deren Kassen bislang eher spärlich gefüllt sind. Die Reaktionen glichen im Großen und Ganzen jenen aufs „Dortmunder U”. Motto: Hände weg von meiner Geldbörse! Ja, es ist eine schwierige Gemengelage.

Nielands Idee ist ja an und für sich sympathisch, sie könnte Phantasien beflügeln. Aber ist sie nicht auch ein Blütentraum? Selbst Amtskollegen aus anderen Revierstädten bleiben skeptisch. Wie, bitte, soll das funktionieren? Per Überweisung? Mit Sammelbüchse an der Haustür? Mit Sparschweinen, die in den Rathäusern aufgestellt werden? Und: Ein Euro ist „gefühlt” nicht gleich ein Euro. Manche nehmen ihn aus der Portokasse, andere müssen ihn sich absparen.

Zudem kalkuliert Nieland ohne weiteres mit 5,4 Millionen Bewohnern (bzw. Euro) – vom Neugeborenen bis zur Hundertjährigen; von „kulturferneren” Menschen gar nicht zu reden. Größere Familien würden demnach rein rechnerisch mehr berappen, denn pro Kopf wäre ja ein Euro fällig. Wäre das gerecht?

Schnellere und stärkere Wirkung ließe sich erzielen, wenn sich mehr potente Sponsoren aus der Wirtschaft fänden. Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt, die Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH, arbeiten daran. Man kann ihnen nur Erfolg wünschen.

Mit Steuern und Abgaben finanzieren die Bürger ohnehin schon die Kulturhaushalte. Freilich: Die gesamten Kulturausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden machen nicht einmal 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus – rund 8 Milliarden Euro stehen jährlich zu Buche. Man darf schon fragen, ob dies für eine Kulturnation nicht beschämend geringe Werte sind.

Doch auch da gibt’s wieder Gegenpositionen, die sich untermauern lassen: Es gibt wohl kein anderes Land auf Erden, das eine so dichte kulturelle Infrastruktur hat wie Deutschland. Ungefähr jedes siebte Opernhaus weltweit steht bei uns. Kulturschaffende haben sich vielfach an namhafte Subventionen gewöhnt. Jede Kürzungsabsicht zieht daher einen Aufschrei („Kahlschlag!”) nach sich.

An dieser Stelle folgt in Debatten rasch der Ausruf: Und das alles für eine betuchte Minderheit? Nun, das wäre zu engstirnig gedacht. Man stelle sich die Städte ohne Theater, Opern, Museen und Bibliotheken vor. Es wären öde Kommerz-Wüsten. Ausgaben für Kultur erweisen sich in aller Regel als sinnvolle Investitionen. Viele Euros fließen in die Städte und Gemeinden zurück. Es kommen mehr Touristen und Tagesgäste, die Geld ausgeben – nicht nur an der Theaterkasse. Und schließlich konkurrieren Betriebe und Behörden in allen Städten um gut ausgebildete, qualifizierte Mitarbeiter. Viele von ihnen lassen sich vor allem durch kulturelle Angebotsfülle locken.

__________________________________________________

INFO:

  • Die derzeitige Finanzlage der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010:
  • Insgesamt stehen jetzt rund 52 Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld kommt aus folgenden Quellen:
  • Der Regionalverband Ruhr (RVR) steuert 12 Millionen Euro bei.
  • Vom Land Nordrhein-Westfalen kommen 12 Millionen Euro.
  • Der Bund schießt 12 Millionen Euro zu.
  • Die Stadt Essen ist mit 6 Millionen Euro dabei.
  • Die Europäische Union (EU) stellt 1,5 Millionen Euro bereit.
  • Private Sponsorenmittel (bisher zugesagt): 8,5 Millionen Euro.
  • Was können die einzelnen Städte beitragen? Vor allem die Revier-Gemeinden, die unter Sparzwängen stehen, könnten eine Aufstockung ihrer Eigenmittel bestens gebrauchen.



Röntgenblick auf den Impressionismus – Wie die Naturwissenschaft Spuren der Kunst aufnimmt

Köln. Meist verhält es sich so: Museum zeigt Kunst. Staunend (oder verärgert) steht man vor den Werken. Vielleicht liest man später ein paar Details nach. Das war’s dann. In Köln geht es jetzt anders zu, nämlich geradezu kriminalistisch.

Für die neue, immens spannende Schau des Wallraf-Richartz-Museums wurden Werke der Impressionisten buchstäblich unter die Lupe und unters Mikroskop genommen. Auch mit Infrarot- und Röntgenstrahlen rückte man den Bildern zu Leibe. Dabei haben sie etliche Geheimnisse preisgegeben. Sogar ein gefälschter „Monet” wurde entlarvt.

Der ungewöhnliche Zugang zur Kunst, der vor allem Material und Arbeitstechniken in den Blick fasst, erhellt überhaupt so manche Zusammenhänge, über die man sonst nie nachdenkt. So sind denn auch beileibe nicht nur die Gemälde zu sehen. Auch Grundlagen und Feinheiten der (natur)wissenschaftlichen Spurensuche werden ausführlich dokumentiert.

Was ein winziges
Stück Pappelknospe
auf dem Ölbild verrät

Beispiel: Die Impressionisten haben, so heißt es immer, die Freilichtmalerei gleichsam erfunden. Eine Voraussetzung dafür waren übrigens auch bessere Bahn-Verbindungen in die Provinz. Aber haben sie wirklich draußen in der Natur gearbeitet – oder nicht doch im Atelier? Mal so, mal so. Bloße Naturmotive besagen noch gar nichts.

Ungleich beweiskräftiger ist es hingegen, wenn man unterm Mikroskop sieht, dass etwa auf einem Bild von Gustave Caillebotte ein winziges Stückchen Pappelknospe in den Ölschlieren steckt. Das Bild zeigt eine Pappelallee. Passt also! Ähnlich liegt der Fall bei Armand Guillaumin, der das tosende „Meer bei Saint-Palais” festgehalten hat. Mikroskopisch kleine Sandkörner auf der Leinwand deuten auf Freiluftkunst bei Wind und Wetter hin. Ein Foto lässt ahnen, wie beschwerlich dies trotz allem noch war: Ein sichtlich übel gelaunter Paul Ce´zanne schleppt sich an seiner Staffelei und all den anderen Utensilien ab.

Weitere gängige These: Impressionisten haben meist spontan gemalt. Hie und da spricht schon ein ruhiger Pinselstrich gegen diese Annahme. Infrarotlicht enthüllt die Wahrheit genauer. Manche Künstler (anfangs sogar van Gogh) haben erst einmal Orientierungs-Gitter gezeichnet – und erst dann schwungvoll den Pinsel geführt.

Welche Art von Farben wurde damals eigentlich verwendet? Blöde Frage? Überhaupt nicht! Vorher mussten Künstler viele Pigmente mühsam mischen und aufbereiten. Pünktlich zur Zeit des Impressionismus kamen vermehrt industriell gefertigte Farben in ungeahnten Nuancen auf. Manche Farbtöne hatte man zuvor schwerlich erzielen können. Auch daher also das berühmte Strahlen und Leuchten auf impressionistischen Gemälden. Ein weiterer Aha-Effekt.

Auch die Erfindungen der Tube (in England) und kurz darauf des Schraubverschlusses (in Frankreich) brachten die Kunst im 19. Jahrhundert voran, machten ihre Ausübung jedenfalls bequemer. Auguste Renoir hat gar stracks behauptet, ohne Farbtuben hätte es gar keinen Impressionismus gegeben. Vordem gab’s Farbe z. B. in Schweinsblasen. Hatte man die aufgestochen, trocknete der Inhalt rasch aus. Mit der Tube ging alles viel leichter, speziell unterwegs. Nur malen musste man noch selbst . . .

Röntgenstrahlen bringen noch viel mehr an den Tag. Unter einem Paar-Bild von Auguste Renoir zeigt sich eine völlig andere, etwas unbeholfene Komposition mit zwei Frauenfiguren. Wahrscheinlich war’s die Leinwand eines weniger begabten Kollegen, der seine Bemühungen verworfen hatte. Renoir hat sie kurzerhand übermalt – und wohl Materialkosten gespart.

Und was ist mit Könnerschaft, Inspiration, Genie? Wird all das auf solch nüchterne Weise entzaubert? Keineswegs. Man hat den Künstlern doch nur ein wenig über die Schulter gesehen. Das Geheimnis der Schönheit bleibt weiterhin unergründlich.

„Impressionismus – Wie das Licht auf die Leinwand kam”. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Obenmarspforten, am Rathaus). Bis 22. Juni. Geöffnet Di/Mi/Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro, Katalog 29 Euro.

____________________________________________

DIE SACHE MIT DEM GEFÄLSCHTEN MONET-BILD:

  • Bei den langwierigen Vorbereitungen zur Kölner Schau stellte sich das Bild „Seineufer bei Port-Villez” (1885 – Bild links) bereits im September 2003 als gefälscht heraus. Es stammt nicht von Claude Monet.
  • Erst jüngst machten die Museumsleute den Befund öffentlich. Jetzt dient die Fälschung (Kölner Eigenbesitz) als Anschauungsbeispiel.
  • Gefundene Indizien:
  • Der Fälscher hat jedes Wölkchen exakt vorgezeichnet – fast wie beim anfängerhaften „Malen nach Zahlen”. Ein Monet hätte das garantiert nicht nötig gehabt.
  • Die Namens-Signatur setzt gleich zweimal an. Der Fälscher hat also offenbar „nachgebessert”.
  • Spuren deuten klar darauf hin, dass das Bild mit schmutzigen Lappen umwickelt wurde, damit es optisch schneller alterte.



Elche!

Um 1963 war F. W. Bernstein (gemeinsam mit Robert Gernhardt und F. K. Waechter) Mit-Urheber der „Neuen Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors. Diese drei Hochbegabten schufen damals die legendäre Beilage des Satiremagazins „Pardon“: „Welt im Spiegel“ (WimS).

Bernstein verdanken wir auch den ewigen Zweizeiler-Klassiker

„Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.“

und natürlich so manches andere Kleinod höheren Witzes.

Seine gesammelten Gedichte sind im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Eine nachdrückliche Buch-Empfehlung! Daraus, ganz willkürlich gewählt, das

Beziehungslied

Ich und du, Müllers Kuh,
geht’s bei uns nicht friedlich zu?
Ach ich ach ich ach ich glaub,
ich bin stumm und du bist taub.

Ab und zu sagt Müllers Kuh
ganz unheimlich leise:
Mmmmmmann o Mann,
das kann ja kein Schwein
aushalten!

Ich wage zu behaupten: Ohne Bernstein, Gernhardt & Waechter wären manche Entwicklungen in den Bereichen Comedy und Cartoon (Bernd Pfarr, Rattelschneck etc.) so nicht denkbar gewesen. Auch für Kolumnisten wie Max Goldt haben sie erste Breschen geschlagen. Und selbst ein Mann wie Walter Moers dürfte sich ihnen verpflichtet fühlen.




Okkulte Kunst: Vision und Wahn

Mit spiritistischen Séancen und Tischerücken fing es oft an. Bald folgte das manische Malen: Es entstanden dann Hunderte, ja Tausende von „medialen” Bildern – angeblich aus dem Jenseits diktiert oder von höheren Wesen „befohlen”. Das Museum Bochum zeigt jetzt solch okkulte Kunst, deren Urheber nicht selten in der Psychiatrie endeten.

Es ist keine Grusel-Schau. Aber es sind Grenzgänge zwischen Vision und Wahn, die einen nicht kalt lassen. Beklemmend ist vielfach die Zwanghaftigkeit, immer und immer wieder dieselben Formen und Figuren auf Leinwand oder Papier zu bannen. Mal sind es Ornamente, mal schier endlose Schriftzüge oder entseelt starrende Augen, die den Betrachter durchbohren. Solche Botschaften rühren an die Ängste jedes Menschen.

Manchmal nah an
der Avantgarde

Es waren oft einfache Bäuerinnen oder Handwerker, die für übersinnliche Einflüsterungen empfänglich waren, als „Medien” oder Hellseher bekannt wurden und irgendwann dem Bilderwahn verfielen. Gelegentlich war ein Schock (etwa der Tod naher Angehöriger) der Auslöser. Doch es gibt viele verschiedene Lebenswege in diese Außenbezirke der Kunst.

Das Bochumer Museum fasst auch „Geisterfotografie” in den Blick. Da tauchen unversehens schemenhafte, lichtumflorte Gestalten „aus dem Jenseits” neben den vermeintlich medial begabten (und gepeinigten) Menschen auf. Häufig wurden in solchen Fällen Manipulation beim Entwickeln der Filme nachgewiesen. Doch wer weiß schon felsenfest, ob es nicht doch Erscheinungen gibt, von denen sich unsere Schulweisheit bisher nichts träumen lässt?

Monströs sind mitunter die Dimensionen: Rund 500 000 Zeichnungen hat die 59-jährige Berlinerin Vanda Vieira Schmidt zu riesigen Säulen aufgeschichtet. Ihr erklärtes Ziel ist die endgültige Rettung des Weltfriedens. Es ist ein unheimliches Ankämpfen gegen diffuse Bedrohungen, die es ja gibt und die sie vielleicht nur stärker spürt als gewöhnliche Menschen.

Gehören derlei Bilder ins Museum? Aber ja! Unbedingt. Haben denn nicht auch die großen Surrealisten die Trance, den unbewussten „Automatismus” beim Malen und Schreiben gepriesen? Auch das war also (ob mit oder ohne Drogen) Inspiration, die auf irrationale Weise „eingegeben” wurde. Gar nicht zu reden vom Genie, das gemeinhin als „verrückt” gilt.

Von der anderen Seite her besehen: Einige der in Bochum gezeigten Werke sind verblüffend nah an den Avantgarden ihrer jeweiligen Zeit. Die Französin Marguerite Burnat-Provins (1872-1952) bewegt sich auf den Höhen anerkannter Symbolisten und Jugendstilmeister. Die Schwedin Hilma af Klint wagt den Sprung in die Abstraktion ungefähr zur gleichen Zeit wie der berühmte Wassily Kandinsky. Und die textreichen Schaukastenbilder des Amerikaners Paul Laffoley, die von Kontakten mit Außerirdischen und phantastischen Zeitreisen künden, ähneln ausgeklügelten Schöpfungen der Konzeptkunst.

Auch biographisch gibt es Berührungspunkte: Der Surrealist Antonin Artaud hat seinerzeit den selben Psychiater aufgesucht wie der Franzose Raphael Lonné. Dessen Bilder wiederum kaufte der Künstler Jean Dubuffet, der sich zu seinen wildwüchsigen Werken (Stichwort „Art brut” = „rohe Kunst”) von Bildfindungen so genannter „Geisteskranker” anregen ließ. Fließende Grenzen.

Doch beim wahnhaften Malen scheint über kurz oder lang jegliche Art der ästhetischen Überprüfung zu schwinden. Die Formen mäandern regellos dahin – oder sind im Gegenteil zwanghaft geordnet, in stets gleichen Wiederholungsmustern angelegt. Schein-Ordnungen, die sich gegen inneres Chaos stemmen. Diese Innenwelten wuchern zu kompletten Wahn-Systemen. Wenn man in diese Gefilde auch nur ein paar Schritte weit folgt, ist es schon schaurig genug.

„The Message. Kunst und Okkultismus”. Museum Bochum, Kortumstr. 147. Bis 13. April. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 3 €. Katalog 28 €.

____________________________________________________

AM RANDE

Zur Bochumer Schau gehört auch ein 1967 gedrehter Film. Der Streifen handelt vom US-Liftboy Ted Serios (1918-2006), der in den 1960er Jahren angeblich seine Gedanken auf Polaroid-Sofortbilder bannen konnte. Unter Psychologen-Aufsicht kam das Polaroid-Modell 95 zum Einsatz – mit Blitz, Blende 3, Entfernung auf „unendlich”. Vors Objektiv wurde ein Zylinder gesetzt, um Gedanken zu „bündeln”. Mal tauchte auf den Fotos ein schemenhafter „Neandertaler” auf, mal ein verschwommener „Bus”. Am 15. Juni 1967 war Schluss mit dem (faulen?) Zauber. Danach gelangen Serios keinerlei „Gedankenfotos” mehr. Schon vorher brauchte er gelegentlich einige Flaschen Bier als Ansporn.




Alter Mann liebt junges Mädchen – Martin Walsers Goethe-Phantasien

Oje, das könnte wieder Vorwürfe hageln! Martin Walser bringe „sabbernde Altmännerphantasien” zu Papier, haben böswillige Kritiker(innen) dem Schriftsteller zuletzt vorgehalten. Und was legt er nun vor? Altmännerphantasien!

In seinem Roman „Ein liebender Mann” geht es um den 73-jährigen Dichterfürsten Goethe, der sich heftig in die 19-jährige Ulrike von Levetzow verguckt. Die Episode ist historisch verbürgt, jedoch bis heute geheimnisumwittert.

Wer will es Walser (80) verübeln, dass er sich tief in eine solche Liebe einfühlt? Und sein Buch hat ja auch so gar nichts Geiferndes, nichts ungebührlich Geiles an sich. Im Kern handelt es von der existenziellen Verunsicherung des Mannes, dem alle Welt „Größe” nachsagt. Doch wie’s da drinnen aussieht . . .

Eine Art Rechtfertigung steht gleich im allerersten Satz: „Bevor er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.” Diese mädchenhafte Frau mit den engelhaft schwerelosen Bewegungen und dem bannenden Blick hat also buchstäblich selbst ein Auge auf den alten Herrn Goethe geworfen. Drum fühlt er sich zu kleinen Kühnheiten ermutigt.

Und tatsächlich. Wenn die beiden – Arme untergehakt – im traulichen Gespräch miteinander durchs Kurgelände von Marienbad (Böhmen) spazieren, kann ihnen nichts und niemand etwas anhaben. Lachend trotzen sie allen neugierigen Blicken und ignorieren das Tuscheln der Leute. Es gibt Momente, da ist es ihnen, als bestehe gar kein Altersunterschied. Und irgendwann der erste scheue Kuss.

Von Goethes letzter großer Liebe weiß man nicht allzu viel Verlässliches. Walser hat somit genug Freiraum zum sprachmächtigen Fabulieren. Er versetzt sich innig in den betagten Geheimrat hinein, folgt manchen Windungen schwankender Gefühle.

Der Klassiker Goethe tritt gleichsam als sein eigenes Denkmal auf. Gar sehr ist dieser bürgerliche Kleinunternehmer (er beschäftigt Diener, Sekretäre usw.) mit literarischem Adelsanspruch auf sein Selbstbild bedacht. Oft stellt er sich vor, wie ihm etwa Menschen nachschauen, von denen er sich gerade verabschiedet hat. Was halten sie von seinem Gang? Wirkt er genialisch genug?

Doch wenn er die Tür hinter sich schließt und an Ulrike denkt, steigen fiebrige Vorstellungen in ihm auf. Ja, es entfahren ihm sogar Schmerzensschreie. Peinlich. Wie soll er sich zusammenhalten? Zumal etliche kleine Vorfälle ihm bedeuten, dass er nicht nur körperlich, sondern auch geistig ein Mann von gestern ist. Welch ein Zeitenwandel: Die ersten jungen Mädchen träumen schon von künftigen Rechenmaschinen.

Goethes innerer Widerstreit durchzieht den gesamten Roman – ebenso wie die mal jauchzende, mal elegische Schwärmerei für die junge Frau. Sehr ausgiebig malt sich Walser das aus. Es könnte auf Dauer langatmig werden.

Im Sinne der Roman-Ökonomie ist es gut, dass sich Hindernisse aufrichten. Ulrike tritt fast stets im Anstands-Gefolge ihrer verwitweten Mutter und zweier Schwestern auf. Kaum wittert die Mutter Goethes Interesse (das in einem stümperhaft übermittelten Heiratsantrag gipfelt), da entzieht sie ihm Ulrike durch familiäre Abreise. Es bleibt ihm nur das Sehnen – und das Schreiben.

Schlimmer noch: Ein steinreicher, smarter Schmuckhändler will sich an Ulrike heranmachen. Widerlich! Was, wenn sie ihn erhört? Goethe leidet aus der Ferne höllische Eifersuchtsqualen. Er verfasst Briefe an Ulrike, und man weiß nicht recht, ob er sie je abschickt, ob sie von seiner Schwiegertochter Ottilie abgefangen werden – oder ob er sich das alles nur einbildet.

So weit geht die wahnhafte Verwirrung des ehedem so heiter-ausgewogenen Genies, dass er sein bisheriges Werk als lebensferne „Kulturlüge” verachtet und sich in Selbstmordgedanken ergeht – wie einst seine Figur Werther.

Der fast von aller Welt verehrte Dichter als letztlich bestürzend einsamer Mann. Die Liebespein als schiere Notwendigkeit des Lebens. Das ist schon flammender Rede wert. Herzlos, wer sich davon nicht berühren lässt.

Martin Walser: „Ein liebender Mann”. Rowohlt. 285 Seiten. 19,90 Euro.

____________________________________________________

INFOS

  • Walser hat den Roman „Ein liebender Mann” in nur acht Wochen geschrieben – in völliger Abgeschiedenheit.
  • Es ist sein erster historischer Roman. Bisher hatte er stets die Angestelltenwelt der Gegenwart im Blick.
  • Nach der „Urlesung” in Anwesenheit des Bundespräsidenten (Mittwoch) las Walser gestern zum Auftakt des Festivals Lit.Cologne.
  • Am Sonntag, 27. April (18 Uhr), wird Martin Walser das Buch im Dortmunder Harenberg City-Center vorstellen – in der Reihe „Kultur im Tortenstück”. Karten: 0231/90 56-166.



Die Welt besteht aus Zahlen – eine anregende Ausstellung in Paderborn

Paderborn. „Am Anfang war das Wort”. Wirklich? An dem biblischen Satz könnte man zweifeln, wenn man diese Ausstellung gesehen hat: „Zahlen, bitte!” zeigt unsere Welt als Ansammlung berechenbarer Verhältnisse. Wie schon der alte Grieche Pythagoras gesagt haben soll: „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.”

Viele kokettieren ja gern mit ihrer Unkenntnis auf diesem Felde: „In Mathe war ich immer schlecht!” Doch 2008 ist nun mal hochoffiziell zum „Jahr der Mathematik” ausgerufen worden. Und nicht nur der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mahnt seit längerem, diesen Teil der Kultur bloß nicht zu vernachlässigen. Also ist tätige Reue fällig: Auf nach Paderborn, auf ins Heinz Nixdorf Museum!

Da merkt man rasch: Was immer uns ästhetisch erfreut, hat letztlich mit Zahlen zu tun. Der Aufbau schöner Kristalle, die Symmetrie der Tiere, überhaupt die Schauspiele der Natur – mathematisches Regelmaß. Musikalische Klänge – im Grunde lauter Zahlenwerk. Gemälde und Architektur nach dem „goldenen Schnitt” – kaum denkbar ohne rechnerische Basis.

Reichlich Gelegenheit
zum Ausprobieren

Immer wieder gibt es Gelegenheit zum Mitmachen und Ausprobieren, vor allem im „Zahlenzirkus”, der Kinder begeistern soll. Doch diese auch für Erwachsene anregende Schau begnügt sich nicht damit, Staunen und Spieltrieb zu bedienen. Mit sinnlichen Belegstücken dringt sie hie und da auch etwas tiefer in die Materie ein.

Es gibt knappe Einführungen in Geheimnisse der so genannten irrationalen und der komplexen Zahlen, auch die Kreiszahl Pi oder Fibonacci-Zahlenreihen werden näher betrachtet. Man begegnet den großen Rechenkünstlern und Zahlenjongleuren der Geschichte. Hinzu kommen völkerkundliche Exkursionen: Ganz unterschiedliche Zahl- und Zählsysteme gab es auf dem Erdenrund. Im alten Babylon etwa pflegten die Menschen ein 60er-System, dessen Relikte uns heute noch durch Stunden- und Minuteneinteilung geläufig sind. Und das gedankliche Vordringen in den Null- und Minus-Bereich ist ein echtes geistiges Abenteuer.

Vollends verblüffend ist die in Paderborn gezeigte „Unendlichkeitsmaschine”, deren erstes Zahnrad sich noch sichtlich schnell bewegt. Es übersetzt seine Kraft aufs nächste, das sich schon deutlich langsamer dreht. Und so weiter, bis das letzte Rad erreicht ist. Für eine einzige Rotation, so die mathematische Vorausberechnung, würde es 2,3 Billionen Jahre brauchen. Bis dahin ist manches vorbei.

Besonders alltagsnah ist die Abteilung, die sich dem Zufall (sprich: Wahrscheinlichkeitsrechnung) und dem Glücksspiel widmet. Spielgeräte, (gezinkte) Würfel und die alte ARD-Lottotrommel (bis 1965 in Gebrauch) sind Blickfänge.

Beim Glücksspiel wird
es häufig kriminell

Stellenweise wird’s hier kriminell. Oft gab es Versuche, das Zahlenglück zu überlisten, beispielsweise mit Magnetwellen per Handy die Roulettekugel zu lenken. Der Croupier musste sie allerdings vorher ausgetauscht haben. Mathematisch betrachtet, kommt jede Zahl auf Dauer in etwa gleich häufig, ob beim Lotto oder am Spieltisch. Würde man theoretisch ewig spielen, wäre ein Reingewinn unmöglich. Man muss eben rechtzeitig aufhören.

Schon zu Beginn der Schau wird man – noch auf der Rolltreppe – mit einem gesprochenen Countdown empfangen: 5, 4, 3, 2, 1, 0. Am Schluss erfährt man noch einmal in geballter Form, dass schier alles zählbar zu sein scheint und daher auch gezählt wird. Statistiker haben errechnet, dass im Schnitt stets 0,7 Prozent der Weltbevölkerung volltrunken sind. Diverse Geräte vermessen nicht nur die ganze Erde oder den Stromverbrauch, sondern es gibt auch Zählwerke, die Springseil-Umdrehungen ermitteln.

Eine mathematisch inspirierte Kunst-Installation rechnet schließlich Gestalt und Bewegungen der Besucher in wabernde Zahlenwolken um und zeigt sie auf der Leinwand – fürwahr ein seltsamer Blick in den „Spiegel”.

„Zahlen, bitte! – Die wunderbare Welt von null bis unendlich”. Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn, Fürstenallee 7 (umfangreiches Begleitprogramm – Tel.: 05251/30 66-00). Eintritt 4 Euro, Familie 8 Euro. Bis 18. Mai. Di-Fr 9-18, Sa/So 10-18 Uhr. Internet: http://www.hnf.de/

______________________________________________________

AM RANDE:

Ein Gedankenspiel der Ausstellung betrifft das so genannte „Hilbert-Hotel”: Angenommen, ein Hotel hätte unendlich viele Zimmer, aber dann kämen auch unendlich viele Gäste. Wie kann man sie unterbringen? Wir verraten nur dies: Das Zauberwort heißt „Zimmerwechsel”.

An anderer Stelle können Besucher Stäbchen auf eine Fläche mit vorgezeichneten Linien werfen. Voraussage für die Summe aller denkbaren Zufallswürfe: Aus sämtlichen Schnittpunkten ergibt sich auf Dauer das Maß der Kreiszahl Pi. Verblüffend!




Jane Birkin: Die ganze Fülle des Lebens

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!

_____________________________________________




Was die Kultur dem Schaf verdankt

Vreden/Münsterland. Ausstellungen kann man über alles und jedes machen, wenn man nur die richtigen Belegstücke hat. Warum also nicht mal die Schafe als Figuren der Kulturgeschichte betrachten? Aber mäh!

Das volkskundlich orientierte Hamaland-Museum im münsterländischen Örtchen Vreden (bei Borken) liegt in einer Landschaft, in der früher vielfach Schafzucht betrieben wurde. Heute beschränkt sich das Gewerbe fast nur noch auf touristische Streichelangebote.

Mit der einschlägigen Redensart „Bring dein Schäfchen ins Trockene” hatte das Museum die Bevölkerung aufgefordert, Schafe in jeder Form zeitweise zu stiften. Die versammelten Niedlichkeiten (aus Stoff, Holz, Plastik usw.) füllen nun gleich mehrere Vitrinen. Und es lässt sich nicht leugnen, dass die Tierchen es dort trocken haben.

Von der Bibel bis zum Krimi

Überhaupt die Redewendungen: Der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz (Bibelquelle Matthäus 7-15), das „schwarze Schaf” in der Familie und viele weitere werden aufgelistet. Das Schaf hat somit (auf dem Umweg über die menschliche Phantasie) auch die Sprachgeschichte mitgeprägt. Und wenn’s dann mal genug ist, soll Schäfchenzählen beim Einschlafen helfen.

Die kleine, thematisch fast schon überfrachtete Schau blättert so gut wie alles auf, woran man beim Stichwort „Schaf” denkt. Museumsleiterin Annette Menke lenkt z. B. den Blick zurück auf die Rokoko-Literatur, die sich oft in paradiesisch-galanten „Schäferspielen” erging. Auch Größen wie Wieland und Gellert haben diesem neckisch-erotischen Genre gefrönt. Von daher rührt das heute noch geläufige Wort „Schäferstündchen”. Auch ein Komponist wie Mozart hat sich von der Zeitmode anstecken lassen, so etwa mit seiner Schöpfung „Bastien und Bastienne”.

Neuere Bücher kommen in anderer Weise aufs Thema zurück: Mit „Glennkill” entstand der Schafskrimi. Katzen als Ermittler – das gab’s ja schon längst. Jetzt kombinieren auch kluge Schafe. Ausgeblendet hat man in Vreden das Kino und die köstliche TV-Kinderserie „Shaun das Schaf”, die gleichfalls alle Vorstellungen vom etwas dusseligen Tier Lügen straft. Ein Imagewandel: Das Schaf steht neuerdings deutlich besser da in der Landschaft.

Auch der Aberglaube spielt eine Rolle

Selbstverständlich spielen Schaf und Lamm (Agnus Dei – „Lamm Gottes”) eine besondere Rolle in der Bibel. Mal als Symbol für Jesus, mal als ständige Begleitung bestimmter Heiliger – oder auch als unschuldsvolles Opfertier. Gemälde beispielsweise von Grünewald gibt es in Vreden natürlich nur als Repro-Druck.

Daneben ist allerlei religiöser Devotionalienkitsch zu sehen. Da haben die Schafe keine tiefere symbolische Bedeutung mehr, sondern dienen als Staffage – am liebsten im Verein mit Kindern. Betont wird stets das Naive, Harmlos-Friedfertige und Wehrlos-Geduldige, das dieser Tierart angeblich zu eigen ist. Man kann sich so seine Gedanken machen: Bis wann ist es noch (ein Hauch von) Hochkultur, und ab wann kann man von „herabgesunkenem Kulturgut” sprechen?

Die weiteren Exponate künden denn auch vorwiegend von sachlichen „Niederungen” des Alltags. Etliche Produkte haben ja mit Schafen zu schaffen – von der Schafsmilch-Seife über Schafskäse, Lammfleisch und Lanolin (gewonnen aus Talg, verwendet als Grundstoff für Kosmetik) bis zur Wolle.

Man erfährt dabei am Rande auch unerquickliche Einzelheiten etwa über Persianerfelle, die aus Schafswolle erzeugt werden. Sie stammt von Tieren, die gezielt drei oder vier Tage nach der Geburt getötet werden. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Locken besonders fein sein . . .

Zoologie und Zucht werden ebenfalls knapp gestreift. Und der volkstümliche Aberglaube tritt gar vielfältig hervor. Eine entgegenkommende Schafherde bringe Glück, hieß es früher. Achten Sie beim nächsten Ausflug mal drauf!

„Lammfromm oder bockbeinig – Das Schaf in der Kulturgeschichte”. Hamaland-Museum (Kreis Borken) in Vreden/Münsterland, Butenwall 4. Tel.: 02564/39 18-0. Bis 30 März. Di bis So 10-17 Uhr. http://www.hamaland-museum.de/

_______________________________________________

AM RANDE:

  • Ein Thema der Schau: der Aberglaube ums Schaf.
  • In Braunschweig hieß es einst: Wer dreimal ein Lamm in seine Schuhe hineinschnuppern lässt, wird seine Erkältung los.
  • In Böhmen lautete der Rat, man müsse morgens in aller Frühe eine Schafherde durch ein Sieb betrachten, um zu genesen.
  • Litauen: „Verrufene” Kinder sollten drei Tropfen Blut aus dem linken Ohr eines Schafes trinken . . .



Die deutsche Sprache ist „schön, saftig und besonders geschmeidig“ – Wolf Schneiders Buch „Speak German“

Nicht ungeschickt: Wer das massive Eindringen englischer Ausdrücke ins Deutsche bremsen will, sollte zunächst einmal die englische Sprache loben. Sie klingt ja oft so klipp und klar.

Besonders die englischen Einsilber wie Team, Job und Sex haben es Wolf Schneider (82) angetan. Manche Wort-Importe seien eben belebend. Doch wenn es nach dem „Sprachpapst“ des deutschen Journalismus geht, soll’s damit auch weitgehend genug sein. In Frankreich setze man doch auch Grenzen!

Im großen Rest seines neuen Buches preist er vor allem das Deutsche, auf das man „stolz“ sein könne. Vielfach sei es treffender, geschmeidiger und saftiger als andere Sprachen, überdies oft kürzer (Mord statt murder, Geld statt money, Mut statt courage usw.). Auch werde in keine andere Sprache dermaßen viel übersetzt. Deutsch sei also das größte Sammelbecken der Weltliteratur. Na, bitte!

Zwischendurch spießt der Autor wahrlich absurde Anglizismen aus Werbewelt und Wissenschaft auf. Die Schuldigen sind rasch ausgemacht. Treibende Kräfte der Wortinvasion seien Fernsehen, Computer und Popmusik gewesen. Die Politik habe es lange versäumt, entschieden gegenzusteuern und das Deutsche beispielsweise als eine offizielle Amtssprache in der UNO durchzusetzen.

Wiederum eine geschickte Finte: Schneider sagt mitfühlend, man tue dem Englischen mit solchen willfährigen Übernahmen gar keinen Gefallen. Die Weltsprache verwässere dabei.

Worauf will er hinaus? Wo es nur irgend geht, soll man passende deutsche Ausdrücke vorziehen. Dies lasse sich sogar wirksam „von oben“ beeinflussen oder verfügen, findet Schneider. Als leuchtende Vorbilder nennt er Luthers Bibel-Übersetzung und Bismarcks Vorschriften von 1874, nach denen 760 postalische Begriffe eingedeutscht wurden. Ob das heute noch so einfach wäre?

Wolf Schneider: „Speak German – Warum Deutsch manchmal besser ist“. Rowohlt, 192 Seiten, 14,90 €.




So herrlich regellos – Ist Rechtschreibung etwa „spießig“?

Das Thema köchelt immer mal wieder hoch: Muss man diese lästige Sache namens Rechtschreibung etwa auch im Blog (ganz zu schweigen von Mails und Chats) beachten?

Keineswegs, meinen manche: Es würde nur jegliche Spontanität verhindern. Womöglich ist gar die „Freiheit des Wortes“ in Gefahr. Derlei Vorschriften seien überhaupt nur etwas für unverbesserliche Pflichtmenschen. Und was die historisch angerichtet haben, ist ja nur zu bekannt…

Also lässt man die Regeln fahren und tippt munter drauflos. Anschließende Korrektur ? Nö. Wozu denn ? Die Anderen werden schon wissen, was gemeint ist.

Ich finde: Von sonderlicher Neigung oder gar Liebe zur Sprache zeugt all das nicht. Und ich frage mich, ob sich diese laxe, wurschtige Haltung nicht zu einer Form der Unhöflichkeit steigern kann. Man verwirklicht sich (mal wieder) regellos selbst und fetzt seine Sätze so ungemein frei hin – nach dem rücksichtslosen Motto: „Fresst, Vögel, oder sterbt.“ Ganz toll!

Die Einhaltung gewisser sprachlicher Regeln dient nicht zuletzt der besseren Verständigung. Leider gilt diese Auffassung in weiten Teilen der Internet-Gemeinden als hoffnungslos veraltet und „spießig“.

Ich will jetzt nicht etwa die Verkehrsregeln als Analogie heranziehen. Und ich rede auch nicht von lässlichen kleinen „Verhackern“ oder Tippfehlern aus Müdigkeit, Überschwang oder sonstigen nachvollziehbaren Gründen. Erst recht meine ich keine kreativen Sprach-Verfremdungen und Wortspiele. Und auch nicht den ermüdenden Dauerstreit um Groß- und Kleinschreibung.




Emil Nolde oder: Die Natur ist von Geistern beseelt – Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle

Die Bielefelder Kunsthalle begibt sich auf seifig glattes Begriffs-Gelände. Sie spüren dort jetzt dem „Nordischen“ in der Kunst des berühmten Expressionisten Emil Nolde (1867-1956) nach.

Da wird man hellhörig, denn das Wort hat eine wechselhafte, nicht unproblematische Geschichte. Oft genug musste es herhalten, um das „Germanentum“ aufzuplustern.

Doch halt! Nicht gleich die ganz große Verdachtskeule schwingen. Bei Nolde bestand die Hinwendung zum „Nordischen“ zunächst einmal in der Weigerung, die damals übliche Kunst-Pilgerreise nach Rom zu unternehmen. Verpönt waren Nolde die lieblichen Landschaften und das allzu gefällige Licht.

Man sieht sogleich, welche Richtung Nolde stattdessen einschlug. Drei fulminante Bilder von heftig aufgewühlten Herbstmeeren hängen in Bielefeld nebeneinander – allesamt entstanden auf der heute dänischen Ostsee-Insel Alsen, wo Nolde seinerzeit ein Bretterbuden-Atelier direkt am Strand hatte und bei allen Winden und Wettern malte. Nur: Von sanften Brisen kann meist keine Rede sein.

Später wurde das (klimatisch noch rauere) nordfriesische Seebüll zum Lebensmittelpunkt. Von der dort ansässigen Nolde-Stiftung kommen jetzt auch die meisten Leihgaben, darunter noch nie öffentlich gezeigte Bilder. Da lohnt sich also wiederum die Wallfahrt nach Bielefeld.

„Nordisch“, das war seit den Tagen eines Caspar David Friedrich (in Noldes Epoche durch Munch und van Gogh verstärkt) der innige Blick auf die engere heimatliche Umgebung; auf einfache Menschen wie Bauern und Fischer, die widrigen Lebens-umständen trotzen. Entweder sind sie einsam den Elementen ausgesetzt, oder sie rücken ganz dicht und beinähe verschwörerisch zusammen. Die Palette ist insgesamt deutlich dunkler als in südlichen Gefilden. Doch just bei Nolde kommen häufig feurige, grellgelbe oder blutrote Luftgebilde zum Vorschein. Farben als Aufschreie in der Dämmerung. Und diese Töne werden immer freier, sie lösen sich vom Bildgegenstand.

Gewiss: Anfangs scheint auch schon mal impressionistisch flirrendes Licht in Noldes Gärten, es umspielt idyllische Hausansichten oder zwei Blondinen. Auch hat er mit „Leute im Dorfkrug“ (1912) Cézanne nahezu plagiiert. Doch seine Welt ist vorwiegend dramatisch. Die Naturschauspiele sind geradezu beseelt von riesenhaften Wolkenfingern oder tosenden Wogen.

Mit eher harmlosen Natur-Gesichtern hatte sich Nolde aus ungeliebten Brotberufen (Holzschnitzer in Möbelfabriken, Zeichenlehrer) befreien können: Ein „lächelndes Matterhorn“ und andere neckisch belebte Berggeister hatten ihm als Postkarten so viel Geld eingebracht, dass er fortan für sich arbeiten konnte. Später gab’s wieder härtere Zeiten. Seine Frau Ada, eigentlich Schauspielerin, verdingte sich zur Not schon mal als „Gänseliesel“ im Varieté.

In den 20er Jahren hatte er sich endgültig durchgesetzt. Es gab später gar eine Nazi-Fraktion, die sich den Nordmann als Haupt- und Staatskünstler wünschte. Doch Hitler sprach dagegen ein Machtwort. 1941 erhielt Nolde Malverbot und schuf heimlich nur noch lieh kleinformatige Aquarelle. Auch davon gibt es einige Proben in Bielefeld.

Eine spezielle, ins karikierend Groteske reichende Abteilung der Schau zeigt Noldes Spuk- und Spökenkieker-Phantasien. Gespenstische, zuweilen zittrig erregte Wesen geistern durch die nordischen Nächte. Man meint, sie diebisch kichern zu hören. Es ist, als habe Nolde die huschenden Geister nur aus den Augenwinkeln erhascht – und dann gebannt. Famos!

___________________________________________

DATEN UND FAKTEN

  • Lange her: Die letzte große Nolde-Ausstellung in Bielefeld hieß 1971 „Masken und Figuren“.
  • Eine legendäre Schau gab es 1912 in Hagen, wo sich damals das Folkwang Museum befand: Nolde stellte dort seinen Zyklus „Leben Christi“ aus – zum Verdruss klerikaler Kreise.
  • Daten zur jetzigen Schau: „Emil Nolde – Begegnung mit dem Nordischen“. 3. Februar bis 12. Mai. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Di, Do, Fr, So 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, Katalog 19,80 €.
  • Parallel in Berlin: Im Nolde-Museum geht es ab heute bis 18. Mai um die Südseereise des Malers.
  • _____________________________________________

(Der Artikel stand am 1.2.2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Brückenpläne an der Loreley – ein Risiko für den Status des Unesco-Weltkulturerbes?

Das Rheintal bei St. Goarshausen ist ein Inbegriff deutscher Romantik – auch für Japaner und Amerikaner. Nun ist die liebliche Gegend ins Gerede gekommen. Denn ausgerechnet im nahen Umkreis des berühmten Loreley-Felsens, den Heinrich Heine lyrisch besungen hat, möchte das Land Rheinland-Pfalz eine neue Brücke über den Rhein errichten.

Heines unsterbliche Loreley-Zeilen („Ich weiß nicht, was soll es bedeuten”) gelten in dieser Hinsicht nicht: Spätestens seit dem Dauerstreit um die Dresdner Waldschlösschenbrücke weiß man nämlich nur zu gut, dass solche Vorhaben schnell die Unesco als Hüterin des Weltkulturerbes auf den Plan rufen. Denn es könnte ja sein, dass die schönen Landschaftsbilder durch derlei Bauten empfindlich beeinträchtigt werden.

Seit 2002 genießt das mittlere Rheintal den prestigeträchtigen, auch touristisch bedeutsamen Welterbe-Status. Die Aufnahme in die Liste galt seinerzeit als kulturpolitischer Erfolg des Mainzer Ministerpräsidenten Kurt Beck, der mittlerweile bekanntlich auch SPD-Parteichef ist.

Im Februar (der genaue Termin ist bislang Geheimsache) wird sich eine Unesco-Kommission aus Paris ein Bild von der Lage an der Loreley machen. Die Mainzer Landesregierung will offenbar keinesfalls das Welterbe riskieren und hat im Vorfeld alle verlangten Papiere eingesandt.

Christian Schüler-Beigang, im Mainzer Bildungsministerium fürs Thema Welterbe zuständig, zur WR: „Wir halten uns strikt ans Unesco-Verfahren.” Anders als in Dresden, wo man die UN-Kulturorganisation praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt habe, beziehe Rheinland-Pfalz die Unesco-Fachleute von Anfang an mit ein. Ohne eine Einigung werde es keine konkreten Planungen geben. Schon vor Vergabe des Welterbe-Siegels habe die Landesregierung deutlich gemacht, dass eines Tages eine Brücke nötig sein könne. Besonders die regionale Wirtschaft fordert den Bau dringlich. Bisher gibt es auf rund 100 Kilometern Rheinlänge (zwischen Koblenz und Mainz) keine einzige Rheinbrücke.

Auch Svea Thümler, Sprecherin des Mainzer Wirtschaftsministeriums, versichert: „Wir haben die Unesco frühzeitig in alle Entscheidungen eingebunden. Wir haben aus den Fehlern von Dresden gelernt.” Aus Finanzgründen bevorzuge man eine Brücke, werde notfalls aber einen Tunnel bauen – vielleicht mit Zuschüssen des Bundes? Ein Tunnel wäre nämlich mit etwa 72 Millionen Euro rund 30 Millionen teurer als eine Brücke und brächte das Land ziemlich in die Bredouille.

Befremdet zeigt man sich in Mainz über eine frühzeitige Stellungnahme von Prof. Michael Petzet, dem Präsidenten von Icomos (Deutscher Rat für Denkmalpflege), der die Unesco berät. Der einflussreiche Petzet lehnt nicht nur jegliche Brückenlösung ab, sondern auch einen Tunnel. Er empfiehlt, die Fährdienste zu erweitern. Aber würde deren Kapazität ausreichen?

Giulio Marano von Icomos kann sich nicht vorstellen, dass Rheinland-Pfalz gegen den Willen der Unesco die Brücke baut: „Sie werden die Pläne im Konfliktfalle wohl aufgeben.” Es seien ohnehin nur lokale Wirtschaftsinteressen im Spiel. Mainz habe sich nicht auf Vorschläge einlassen wollen, die Brücke an anderer Stelle des Rheins zu errichten.

Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, ist skeptisch: „In Dresden hätten wir auch nicht gedacht, dass sich alles so zuspitzt. Jetzt bloß nicht wieder Fakten schaffen wie an der Elbe!” Seltsam sei doch in beiden Fällen, dass man Brückenpläne erst aus der Schublade geholt habe, als das Welterbe bescheinigt war.

Schon Dresden, so Zimmermann, habe dem Ruf Deutschlands schwer geschadet. Europa und Deutschland seien bislang beim Welterbe eher bevorzugt worden: „Für manche Länder auf anderen Kontinenten wäre es ein gefundenes Fressen, wenn wir unsere Stätten nicht sorgfältig pflegen würden.” Noch so ein peinlicher Vorgang – und man müsse gar keine Anträge mehr bei der Unesco stellen. „Die würden dann sowieso gleich abgelehnt.”

__________________________________________________

INFO:

Seit Heines Gedicht ein mythischer Ort

  • Kulturelles Welterbe ist das mittlere Rheintal. Die Loreley ist der berühmteste Ort dieser Region.
  • Die Loreley ist ein 120 Meter hoher Schieferfelsen bei St. Goarshausen.
  • Durch Heinrich Heines Loreley-Gedicht (1824) wurde die auf dem Felsen sitzende Jungfrau, die Schiffer ins Verderben zieht, zum Mythos.
  • In Dresden (Waldschlösschenbrücke im Elbtal) droht im Sommer 2008 schlimmstenfalls die Aberkennung des Welterbes.
  • Deshalb wurde jetzt in Dresden ein neuer, optisch gemilderter Brücken-Entwurf vorgelegt.
  • Ob man dort die Bedenken der Unesco zerstreuen kann, ist fraglich, denn die vierspurige Brückenbreite bleibt erhalten.



Witten erwägt Bilderverkäufe zur Baufinanzierung

Witten. Bahnt sich in Dortmunds Nachbargemeinde Witten ein Kulturskandal an? Es gibt offenbar Überlegungen bei der Stadt, einige Bilder aus dem Besitz des Märkischen Museums zu verkaufen, um Geld für den Neubau eines „Wissenszentrums“ zu beschaffen.

Derlei Verkäufe aus Beständen öffentlicher Museen sind verpönt. Sie gelten allenfalls als tragbar, wenn Sammelschwerpunkte behutsam begradigt werden sollen, keineswegs aber als Hilfsmittel zur Baufinanzierung. Vor Jahren gab es heftige Aufregung, als das Hagener Osthaus-Museum sich (aus ganz anderen Gründen) von einzelnen Werken trennte.

Jetzt also scheint’s Ärger in Witten zu geben. Eine neu begründete Kunstinitiative will bei den Plänen der Stadt ein gewichtiges Wörtchen mitreden. Rund 600 Unterschriften gegen die angeblich drohenden Bilderverkäufe (vorwiegend unterzeichneten Künstler, Professoren und Studenten) hat dieser Zusammenschluss fachkundiger Bürger bereits gesammelt.

Einer der Köpfe der Initiative ist Prof. Volker Lehnert, der in Witten wohnt und stellvertretender Leiter der Stuttgarter Kunstakademie ist. Er sagt: „Ein Bilderverkauf, um Beton zu finanzieren, wäre entweder heillos naiv oder perfide.“

Lehnert und seine Mitstreiter, darunter auch Wittens früherer Kulturdezernent Gert Buhren, furchten nicht nur einen Bilderverkauf. Das künftige Wissenszentrum soll Museum, Stadtbücherei und Stadtarchiv quasi unter einem Dach zusammenfassen. Dabei könnte, wenn es nach einer Machbarkeitsstudie geht, der Museumsanbau von 1988 komplett wegfallen, sprich: Die Ausstellungsfläche würde erheblich schrumpfen und sich nur noch auf den Altbau beschränken. Weitere Kritikpunkte der Initiative: Es gebe kein tragfähiges Museumskonzept, und es stehe nicht-einmal fest, ob der demnächst frei werdende Posten der Museumsleitung wieder ordentlich besetzt werde.

Das Wissenszentrum, sinnigerweise als Wittener Projekt für die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 angemeldet, dürfte die unter Sparzwängen stehende Stadt rund 5 bis 7 Millionen Euro kosten – Geld, das erst einmal aufgebracht werden muss, eben eventuell auch durch besagte Bilderverkäufe. Unter anderem ist von einem Werk Emil Noldes die Rede. Kein Pappenstiel also.

Die Stadt möchte nun die Wogen glätten. Stadtsprecher Jochen Kompernaß erschien gestern zur eilends einberufenen Pressekonferenz der Kunstinititaive und beteuerte, es sei noch gar nichts entschieden. Man befinde sich beim Projekt „Wissenszentrum“ mitten in den Vorüberlegungen, und es werde öffentliche Anhörungen geben. Auf die weitere Entwicklung darf man gespannt sein.




„Der Drachenläufer“: Im Land der Finsterlinge

Drachen steigen lassen und dem Geflatter hoch dort oben zuschauen – welch unschuldiges Spiel der kleinen Freiheit. Doch selbst das haben die Taliban seinerzeit in Afghanistan untersagt.

Damit sind die Sympathien natürlich gleich klar verteilt. Wer immer sich gegen derlei religiös bemäntelten Wahn auflehnt, gehört fraglos zu den Guten. Marc Forster („Monster’s Ball”) hat Khaled Hosseinis internationalen Buchbestseller „Der Drachenläufer” verfilmt und tut sich schwer, angesichts dieser Ausgangslage einen Spannungsbogen zu erzeugen.

Erzählt wird die Geschichte zweier Menschen, die wir anfangs 1978 als kleine Jungs in den Straßen von Kabul kennenlernen – noch vor der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Da überwiegen noch „westliche” Sitten. Man tanzt, trinkt und flirtet. Amir und Hassan heißen die ungleichen Freunde. Amir ist Sohn eines wohlhabenden, freidenkerischen Vaters. Hassan ist gleichsam als Diener und überdies als Angehöriger einer weithin verachteten ethnischen Minderheit ins Haus gekommen.

Gemeinsam lassen sie Drachen steigen und gewinnen dabei einen großen Wettstreit. So innig sind sie befreundet, dass sie von einer miesen Straßengang bedroht werden (deren Anführer später ein übler Taliban wird). Doch dann lässt Amir seinen Freund in einer Notlage schmählich im Stich und denunziert ihn auch noch. Dieser Hassan ist so demütig, dass er noch die andere Wange hinhält. Fast schon ein kleiner Heiliger.

Als die Taliban die Macht ergreifen, geht Amir mit seinem Vater ins US-Exil, macht sein Examen, heiratet, wird Schriftsteller. Den Freund aus Kindertagen hat er längst aus den Augen verloren. Doch diese kalifornischen Episoden sind nur das Zwischenspiel. Die Probe auf mannbare Standfestigkeit und Edelmut kommt erst noch.

Zufall über Zufall in der oft vernehmlich knirschenden Konstruktion: Gerade als Amirs erstes Buch druckfrisch vorliegt, erreicht ihn ein dringlicher Anruf aus Pakistan. Es ist eine unabweisbare Botschaft aus der keineswegs abgeschlossenen Vergangenheit.

Beschwerliche, gefährliche Reise: Amir kommt – mit falschem Bart getarnt – zurück ins zerstörte, just von vollbärtigen Finsterlingen beherrschte Kabul. Hier kann er (rund 20 Jahre „danach”) einen Teil seiner alten Schuld abtragen, indem er wenigstens Hassans kleinen Sohn aus einem erbärmlichen Waisenhaus rettet. Im Grunde ein zwiespältiger Vorgang: Ein einziger Junge wird aus dem Elend geholt (besser als keiner, gewiss), um hernach allmählich an den Segnungen Amerikas zu genesen . . .

Der 128 Minuten lange, in den USA und in China gedrehte Film enthält manche Passagen, die den Kontrast zwischen westlichem Wohlleben und dumpfer afghanischer Schreckensherrschaft sozusagen mit breitem Pinsel ausmalen – bis hin zu einer Szenenfolge im verrotteten Fußballstadion von Kabul, wo nach lustlosem Kicker-Vorspiel eine Ehebrecherin gesteinigt wird. Obwohl man an solchen Stellen zutiefst erschrickt, wird man das Gefühl nicht los, dass es auch wohlfeile Genrebilder sind.

Aufdringlich wirken zudem die Leitmotive, die allemal auf eine universelle Gültigkeit der Geschichte ausgerichtet sind. Winke mit Zaunpfählen: Das Drachenfliegen muss partout immer wieder aufgegriffen werden, ebenso der schwerstens bedeutsame Schuss mit einer Steinschleuder. Hier hat eben alles mit allem zu tun, und die symbolträchtigen Vorgänge wabern etwas ermüdend hin und her.

______________________________

Über den Regisseur:

  • Marc Forster (38) wurde als Sohn eines deutschen Arztes und Pharmaunternehmers in Illertissen bei Ulm geboren. Aufgewachsen ist er im schweizerischen Davos.
  • Ab 1990 studierte er an der Filmschule der New York University. Er schrieb Drehbücher und bemühte sich lange Zeit mit wenig Erfolg um Aufträge.
  • Sein Durchbruch begann 2000 mit dem Umzug nach Los Angeles.
  • Schon sein zweiter Kinofilm „Monster’s Ball” bescherte Hauptdarstellerin Halle Berry einen Oscar.
  • Es folgten u. a. „Wenn Träume fliegen lernen” und „Schräger als Fiktion”.
    Derzeit arbeitet Forster am neuen „Bond 22” (Arbeitstitel).



Klassische Lyrik im Rap-Sound

Es klingt wie ein simples Patentrezept: Wenn Kinder keine Gedichte mehr auf herkömmliche Art lernen wollen, dann sollen sie die Verse eben rappen. Mit dem rhythmischen Sprechgesang kehrt vielleicht die Freude an der Lyrik zurück.

Die Hoffnung mancher Eltern und Pädagogen hat einen Namen: „Junge Dichter und Denker” oder kurz „JDD” nennt sich die sechsköpfige Kindergruppe aus Buchholz (Nordheide/Niedersachsen). Die Mädchen und Jungen zwischen 11 und 15 Jahren haben kürzlich eine CD mit berühmten „klassischen” Gedichten herausgebracht – frisch und frech im Wechselgesang vorgetragen, mit vorwärts drängendem Beat unterlegt. Da klingen die Verse von alten „Haudegen” der Literaturgeschichte zuweilen so, als hätten diese gerade erst zur Feder gegriffen und mal eben ganz spontan unsterbliche Verse hingefetzt.

Laut neudeutscher Formulierung auf dem Plattencover haben folgende Leute die „Lyrics” (also: Texte) geliefert: Goethe, Schiller, Mörike, Heine und Fontane. Wow! Ihre Ohrwurm-Hits heißen beispielsweise „Erlkönig”, „Heidenröslein”, „Der Handschuh”, „John Maynard” und „Loreley”. Und das alles mit Kinderstimmen gerappt – man stelle sich vor.

Gewiss: Da klingt die eine oder andere Zeile auch schon mal putzig. Manchmal haben die Kontraste zwischen edler Wortwahl und lockerem Gesang ihren ganz eigenen Verfremdungs-Reiz. Aber nicht jede kostbare sprachliche Wendung lässt sich ins coole Rap-Schema zwängen.

Allerdings gibt es auch viele Passagen, die einen musikalischen Rhythmus bereits in sich tragen: Beispielsweise das „Walle! Walle! Manche Strecke . . .” aus Goethes „Zauberlehrling” und natürlich Fontanes „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland”. Beide Gedichte haben sich ja schon vor etlichen Jahren bei Achim Reichel als rock-tauglich erwiesen. Auch die zugespitzte Dramatik in den Balladen von Schiller und Fontane eignet sich für diese Darbietungsform.

Jede Gruppe braucht ihre Legende: Die ursprüngliche Idee zum ganzen JDD-Projekt soll die elfjährige Nicola gehabt haben. Sie musste für die Schule Mörikes „Er ist’s” („Frühling lässt sein blaues Band…) auswendig lernen, verspürte wenig Lust dazu – und auf einmal kam ihr der Rap in den Sinn: Die immergrünen Frühlings-Zeilen nahmen dabei zusätzlich Fahrt auf. Gemeinsam mit anderen feilte Nicola den Song nach und nach aus; dann kamen immer weitere Texte hinzu. Inzwischen können die Kinder eine Menge Gedichte auswendig. Na, wenn das nichts ist!

Jedenfalls traf es sich bestens, dass Nicolas Vater Addo Casper lange Musikmanager war und als Entdecker der „Fantastischen Vier” gilt. Er ließ seine Branchenkontakte spielen – und schon bald gab’s einen Plattenvertrag für Nicola und die anderen Kinder. Der Produzent Achim Oppermann sorgte sodann für den professionellen Zuschnitt. Es folgten Auftritte in diversen TV-Sendungen und jüngst in Til Schweigers Film „Keinohrhasen”. Das übliche PR-Programm also.

Bei all dem ahnt man, dass es sich um Nachwuchs aus so genannten „besseren Häusern” handelt, der ohnehin eher zum Lesen neigt. Ob das Gedichte-Rappen auch in sozialen Brennpunkten rasch weiterhilft, darf bezweifelt werden. Auch könnte man einwenden, dass hier sehr verschiedene Gedichte mehr oder weniger über einen musikalischen Kamm geschoren werden. Aber immerhin: Es ist ein Zugang zur Welt der Dichtung, den man nicht fahrlässig verschütten sollte.

__________________________________________

Info:

  • „Junge Dichter und Denker – JDD”. CD bei edelkids (ca. 16 Euro).
  • Die Gruppe besteht aus Nicola (11), Laura (11), Konstantin (12), Tim (12), Friederike (14) und Philipp (15).
  • Das Prinzip ist vielseitig anwendbar: Die sechs Kinder haben inzwischen sogar schon das Einmaleins gerappt, um Spaß an Mathe zu vermitteln.
  • Geplant sind gerappte Volkslieder. Ein Erfolgsrezept geht in Serie…



Silvester und der Alkohol

„In Sachen Alkohol ist Silvester eindeutig der gefährlichste Tag des Jahres.” Das sagt einer, der es wissen muss. Der Bottroper Peter Kruck hat sich tief ins Thema versenkt. Er ist Autor des Standardwerks mit dem glasklaren Titel „Alcohol”.

Am letzten Tag des Jahres sind Sekt, Wein, Bier und Konsorten so selbstverständlich wie sonst nie. „Da feiert man den ersten Tag vom Rest seines Lebens intensiver als sonst”, weiß Kruck (42). Auch werden womöglich negative persönliche Jahresbilanzen „ertränkt”. Andentags folgt unweigerlich der Neujahrskater.

Und noch eine Besonderheit zu Silvester: „Es wird zunächst oft nicht einfach drauflos getrunken, sondern eher mit Maß und Ziel – schließlich will man gegen Mitternacht noch die Uhr im Blick behalten.” Aber dann…

Gut möglich, dass Relikte aus der langen Kulturgeschichte des Alkohols ins Heute hineinragen. Kruck: „Vielleicht will man unbewusst böse Geister vertreiben. Aber vor allem gilt wie bei vielen Feiern: Man will sich lockern und entspannen, leichter ins Gespräch kommen.” Binsenweisheit: Bisweilen werden dabei die Grenzen zur Peinlichkeit oder zur Aggression rasch überschritten.

Und wenn man zum Ende des Jahres feststellen sollte, dass einen „kein Schwein” eingeladen hat? „Dann könnte auch das für manche Leute ein Anlass zum Trinken sein”, ahnt Kruck. Es wären keine sonderlich guten Vorzeichen.

Der promovierte Kommunikations-Wissenschaftler und Marktforscher verharmlost die Folgen des Alkohols keineswegs, sondern rät zum bewussten, vernünftigen Umgang mit den flüssigen Giften. Sorglosigkeit sei nicht am Platze, vorschnelle Hysterie aber ebenso wenig.

Fährnisse und Fluch des Alkohols seien „so alt wie die Menschheit”. Seine Ursprünge habe der Genuss von mehr oder weniger Hochprozentigem in kultischen Ritualen, die bei den alten Griechen in der Verehrung des Gottes Dionysos (bei den Römern dann Bacchus) gipfelten und schon mal tagelange Orgien mit Wein, Weib und Gesang einschlossen.

Kruck sieht ein stark gefiltertes und verdünntes Erbe dieser wüsten Zeiten auch in der katholischen Kirche walten – nicht nur in Form des Messweins. Statistiken belegen, dass in katholisch geprägten Ländern deutlich mehr gesüffelt wird als in protestantischen – von der muslimischen Welt ganz zu schweigen. Essenz: „Katholiken sind in der Regel genusssüchtiger.”

Vom Kult zur Kultur: „Goethe hat täglich zwei Flaschen Wein getrunken”, sagt Kruck. Beim Schreiben hat’s offenkundig kaum geschadet. Und der Dichterfürst ist immerhin bei besten Geisteskräften 82 Jahre alt geworden. Doch gerade in der Literatur gibt es auch sehr betrübliche Säufer-Biographien. Legendäre Trinker unter den Autoren waren Joseph Roth, Malcolm Lowry, Flann O’Brien oder Charles Bukowski. Und viele andere.

Peter Kruck kann Erstaunliches aus der Welt des Rausches erzählen. Im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein, so hat er herausgefunden, waren die Menschen praktisch permanent betrunken, selbst Kinder blieben selten nüchtern. Das Leben war gnadenlos hart und manchmal offenbar nur so zu ertragen. Bier als liquide Form von Getreide galt als Grundnahrungsmittel. Eine Folge: Die Lebenserwartung war erschreckend niedrig. Tiefpunkt: Zu den finstersten kapitalistischen Zeiten des 19. Jahrhunderts wurde im englischen Leeds ein Arbeiter im Schnitt nur 19 (!) Jahre alt.

Wann hat die große Sauferei sich gemildert? Als es in den Städten allmählich hygienischer zuging und Wasser nicht mehr durch Zusetzen von Alkohol desinfiziert wurde. Und als das Auto erfunden wurde.

Sollte man sich gezielt berauschen wollen, so erreicht man dies laut Kruck am verträglichsten mit klarem „Sprit”, der eben hauptsächlich diesem Zweck dient. Vorausgesetzt, das Zeug ist nicht lebensgefährlich gepanscht. Kruck zieht den Vergleich: „In Bier und Wein schwimmen viele Nebenstoffe herum.” Und überhaupt – die ach so kultivierten Weintrinker, die in Jahrgängen und Lagen schwelgen wie in kostbaren Kunstwerken: „Sie machen sich nur selbst mehr vor als andere Alkohol-Konsumenten.”

Kruck selbst, der besonders zu Studentenzeiten gern feuchtfröhlich gefeiert hat, will sich zu Silvester eher „einigeln” – erzwungenermaßen. Denn der Familien-Hund fürchtet sich daheim dermaßen vorm Feuerwerk, dass er fortwährend beruhigt werden muss. Mit dem verheißungsvollen Geräusch beim Entkorken der Flaschen sollte das Tier hingegen kein Problem haben.

Peter Kruck „Alcohol“. 300 Seiten, gebunden. Herbig-Verlag. 17,90 Euro.




„Dialog mit meinem Gärtner“: Die Kunst des Lebens

Daniel Auteuil hat’s zur Zeit mit Männerfreundschaft. Vor zwei Wochen musste er in „Mein bester Freund” erst lernen, halbwegs sympathisch zu werden. Nun trifft er in Jean Beckers Film „Dialog mit meinem Gärtner” einen Kumpan aus Schultagen wieder.

Im hektisch brausenden Paris hat er als Maler leidlich Erfolg gehabt. Doch das affektierte Gehabe vieler Kunstwelt-Existenzen geht ihm auf die Nerven. Nun kehrt er zurück in die südfranzösische Provinz, ins ländliche Haus seiner Kindheit, sucht einen Gärtner – und findet just jenen Schulfreund (Jean–Pierre Darroussin), dem das Hegen der Pflanzen über alles geht.

Beide stehen vor dem Herbst des Lebens und schließen nun nach und nach aufs Neue Freundschaft, wie von milder Abendsonne beschienen. Unter Auslassung ihrer Vornamen nennen sie einander bald scherzhaft Dujardin (Herr von Garten) und Dupeigne (Herr von Pinsel) – und dabei bleiben sie.

Viel wichtiger ist ja auch, wie sie gelebt haben und noch leben möchten. Also reden sie über ihr Erdenwandeln: verwelkte Träume, Irrwege, kleine Fluchten, Enttäuschungen und das ganze biographische Zubehör. Zwischendurch amüsieren sie sich wie kleine Jungs bei den Wonnen des Gewöhnlichen, beim Angeln oder in sonstiger stiller Naturbetrachtung.

Der Maler sinniert, ob er nicht doch hätte Apotheker werden sollen. Der Andere hat sein Lebtag als Streckenarbeiter bei der Bahn geschuftet und hätte wohl von Anfang an lieber Gärtner sein wollen. Dieser einfache, offene, zutiefst uneitle Mensch macht jedenfalls Eindruck auf den Maler. Er fasst die Dinge des Lebens an, wie sie sich darbieten – und fragt wenig nach Widersprüchen, Windungen und Hintergründen. Man ahnt die sanft verabreichte Lebenslehre: Das Einfache ist das Wahre und Weise. Bloß kein falsches Getue mehr!

Mit ruhiger Konzentration auf all diese Gespräche fängt Regisseur Jean Becker das Geschehen ein. Er hat einen wohltuenden Film gedreht, aber gewiss keinen einzigartigen. Ähnliche Lebenshaltungen haben schon zahllose Werke empfohlen. Da ist es schwer, sich abzuheben. So hängt’s wieder an den Darstellern – und diese beiden sorgen dafür, dass man annähernd zwei Stunden willig bei der Sache bleibt. Vor allem etwas gereifte Zuschauer werden es zu schätzen wissen.

Bitterer Ernst kommt noch ins Spiel. Der Gärtner hat eine Krankheit zum Tode. Und der Maler wird sein Vermächtnis wahren, indem er ganz realistisch die einfachen Dinge auf die Leinwand bringt. Da mögen hochtrabende Kritiker rechten, wie sie wollen: Die größte Kunst ist ohnehin das Leben selbst.




Woran Goethe glaubte

Düsseldorf. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war von Haus aus Protestant, sein Vater gar ein recht strenger, orthodoxer Lutheraner. Warum ist einem das nicht bewusst? Weil der Dichter weit über Konfessionen hinaus gedacht hat und als Weltbürger vielfältige Toleranz walten ließ.

Auf seiner berühmten Italienreise ließ er sich auch von der sinnlichen Bild- und Symbolkraft des Katholizismus „anstecken”. Und im Umkreis seines Werks „Der west-östliche Diwan” hat er sich auch mohammedanische Anschauungen anverwandelt.

Mit der weihnachtlichen Ausstellung „Goethe und die Bibel” betritt das Düsseldorfer Goethe-Museum wahrlich ein weites Feld. Von der Taufanzeige bis zu Goethes letzten Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann reicht der zeitliche Bogen der ansprechenden Vitrinenschau. Zahlreiche Originalausgaben, zeitgenössische Illustrationen und Handschriften sind zu sehen. Wer viel davon haben will, muss sich hier über manches Schriftstück beugen.

Jenseits der
amtskirchlichen
Verkündigung

Schon als Kind hatte Goethe in Frankfurt reichlich religiöses Anschauungs-Material. Der Vater besaß eine umfangreiche Büchersammlung zu geistlichen Fragen, so auch eine bebilderte Merian-Bibel (1704), in der Goethe neugierig geblättert hat, als er des Lesens noch unkundig war.

Ein mächtiger Foliant wie die „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie” (1699) des Gottfried Arnold führte Goethe später auf Wege jenseits der amtskirchlichen Verkündigung. Hinzu kamen Einflüsse der gefühlvollen Frömmigkeits-Strömung des Pietismus, deren Anhänger den Weg zum (ganz persönlichen) Glauben in stiller Einkehr suchten.

Goethe hielt denn auch alsbald die offizielle Kirche mit ihren Riten und Dogmen für bloßes Menschenwerk und zeigte eher Sympathien für eine pantheistische Naturreligion. Seliger Grundgedanke: Gott ist in allen Dingen, in jeder Pflanze und jedem Stein. Passende Goethe-Weisheit, mit kaum verhohlenem Selbstbewusstsein hingeschrieben: „Die Natur verbirgt Gott. Aber nicht jedem.”

Stets legte Goethe überdies Wert darauf, dass Vernunft und Glauben einander nicht widersprechen. In diesen Zusammenhang gehört auch seine intensive Beschäftigung mit den Büchern des Philosophen Immanuel Kant. Überhaupt dachte der „Dichterfürst” im Horizont der Aufklärung. So fand er es „in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel”, dass der Mensch die Bewegung der Erde um die Sonne nachgewiesen hat.

Goethes Bibelkenntnis kann durch Hunderte von Fundstellen im Werk belegt werden. Er hat sich auch zum Atheismus geäußert. Zitat aus „Dichtung und Wahrheit”: „Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit all seinen Gestirnen verschwand . . .”

Besonderes
Interesse
an einer Sekte

Allen Anfechtungen zum Trotz, hat Goethe wohl zeitlebens seinen Glauben nicht verloren, wenn er auch wechselnden Gottes-Vorstellungen anhing. In einem Brief schrieb er: „Des religiösen Gefühls wird sich kein Mensch erwehren, dabei aber ist es ihm unmöglich, solches in sich allein zu verarbeiten . . .”

Sein Hauptwerk „Faust”, an dem er Jahrzehnte arbeitete, enthält etliche religiös inspirierte Passagen – vom „Prolog im Himmel” bis zur Formel über Gretchen: „Sie ist gerichtet . . . ist gerettet.” Sprichwörtlich wurde die mädchenhaft bange „Gretchen-Frage” an Faust: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?”

Ein emsiger Kirchgänger soll Goethe jedenfalls nicht gewesen sein. Lange Zeit bewegte ihn jene Frage, die auch heute noch viele Menschen umtreibt: Wie kann Gott das Böse, wie kann er Katastrophen zulassen? Die Nachrichten übers schreckliche Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 rund 70 000 Todesopfer forderte, erschütterten seinen bis dahin naiven Kinderglauben.

Als gereifter Mann befasste sich Goethe eingehend mit der Hypsistarier-Sekte, die im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. in Kappadokien (heute Anatolien) „das Beste” aus antiker Götterwelt, Judentum und Christentum vereinen wollte. Solche Offenheit kam dem großherzigen Naturell Goethes gewiss entgegen: Nichts von vornherein ausschließen, alles wohlwollend wägen – und dann zur Synthese schreiten.

„Goethe und die Bibel”. Goethe-Museum, Düsseldorf, Schloss Jägerhof (Jacobistraße 2). Bis 20. Januar 2008. Di bis Fr und So 11-17, Sa 13-17 Uhr. Vom 24. bis 26. Dezember und Silvester/Neujahr geschlossen. Tel.: 0211/899 62 62.




Die „Neuen Wilden“ von Familie Berg

Bochum. So umfangreich haben die Sammler ihre eigenen Schätze noch nie beisammen gesehen: Die Eheleute Christine und Hans Berg füllen mit Teilen ihrer beachtlichen Kunst-Kollektion jetzt alle Etagen des Bochumer Museums.

Die Bergs hatten früher in Herne ein Familien-Unternehmen, das Röhren für Pipelines fabrizierte. In diesem Betrieb stellten sie alsbald Kunst aus – was vor über 30 Jahren noch nicht gang und gäbe war. Als die Firma im Mannesmann-Konzern (bzw. „Europipe“) aufging, zogen sie sich allmählich aus den Tagesgeschäften zurück. Heute leben sie komfortabel in der Schweiz (Luzern) und Italien.

Nicht so sehr mit kunsthistorischer Beratung haben sie ihre Sammlung aufgebaut, sondern eher spontan, persönlichen Vorlieben folgend – und fast immer einvernehmlich. Spekulationen auf steigende Werte hätten dabei keine Rolle gespielt, versichert Hans Berg. Er nennt einen anderen Beweggrund: „Ich habe eine Gegenwelt zur Wirtschaft gesucht.“ Eine Sphäre jenseits der Sachzwänge also.

Und tatsächlich: Nach den ersten Erwerbungen fingen die Bergs bald Feuer und knüpften Kontakte zu Künstlern – vor allem zu jenen, die in den frühen 80er Jahren im Umkreis der so genannten „Neuen Wilden“ die Szene beherrschten. Man irrte irgendwo in zeitgeschichtlichen Untiefen zwischen dem bleiernen deutschen Terrorherbst und den Vorboten der deutschen Vereinigung umher. Die Atmosphäre: Etliche Nachtseiten mit dem einen oder anderen (Neon)-Licht-schein. Und viel Archaisches, das in die Gegenwart ragte.

Inzwischen ist es weitaus stiller um K. H. Hödicke, Helmut Middendorf oder den gebürtigen Dortmunder Norbert Tadeusz geworden, so dass die Bochumer Präsentation einer Wieder-Entdeckung gleichkommt. Besonders eine Raumfolge mit Großformaten beschert diesen Malern einen grandiosen Auftritt – mit so exquisiten Bildern wie etwa Hödickes „Schrott“ (1976), einem geisterhaften Trio verrosteter Automobile. Middendorf s Berliner „Großstadteingeborene“ (1980) sind geradezu vollgesogen mit dem Zeitgeist von damals. Tadeusz‘ wüste Fleischbeschauen (egal, ob beim Metzger oder als Frauenakt) rücken dem Betrachter immer noch verstörend zuleibe. Den Kontakt zu Tadeusz bekam das Sammlerehepaar übrigens nach dessen Werkschau im Dortmunder Ostwall-Museum.

Auch Einzelstücke der klassischen Moderne (Nolde, Macke) und der informellen Nachkriegskunst (Emil Schumacher, Bernard Schultze) finden sich in der Auswahl. Hans Berg: „Wir hätten gern noch viel mehr gezeigt.“ Doch Bochums Museumschef Hans Günter Golinski hat ihn davon überzeugt, dass die Ausstellungsräume nicht „überladen“ werden dürften. In der Tat: Auch so gibt es reichlich zu sehen. Und vielleicht ist das Ganze ja fürs Bochumer Museum eine Option auf die Zukunft? Wer weiß.

Man kann in dieser Schau farblichen oder energetischen „Grundklängen“ nachspüren, die sich mitunter quer durch die Sammlung ziehen. Nur ein Beispiel: Es ist, als werde das magische Leuchten auf Noldes Bildern von Gotthard Graubners subtilen Farbkissen beantwortet. Bestimmt kein bloßer Zufall, denn: Wo mit Leidenschaft gesammelt wird, ergeben sich solche Zusammenhänge.

Deutsche Malerei aus der Sammlung Berg. Museum Bochum, Kortumstraße. Bis 6. Januar 2008. Geöffnet Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Eintritt 3 Euro, Katalog 20 Euro.

_______________________________________________

  • Die Sammlung Berg umfasst rund 300 künstlerische Arbeiten. In der Ausstellung im Museum Bochum sind davon rund 130 zu sehen.
  • Auch persönliche Erinnerungen verbinden sich mit den Werken. Bei vielen Bildern haben die Sammler den Entstehungsprozess beobachten können.
  • In einem zerklüfteten „Saurier“-Bild von Bernard Schultze versteckten die Kinder gar einst Ostereier – nahezu unauffindbar. Das robuste Werk nahm dabei keinen Schaden.
  • Der Maler Bernd Finkeldei hat 1995 gleich die ganze Familie Berg nach fotorealistischer Manier großformatig verewigt.
  • ______________________________________________

(Der Artikel stand am 13. Dezember 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




Lektionen des Lächelns

Keine schöne Zwischenbilanz im Leben: Wenn man auf einmal feststellt, dass man gar keine wirklichen Freunde hat. Alles nur flüchtige Bekanntschaften.

So ergeht’s dem Antiquitätenhändler François (Daniel Auteuil) in Patrice Lecontes Film „Mein bester Freund”. Bei einer Beisetzung mit sehr kleiner Trauergemeinde kommt er ins Grübeln. Wer wird eines Tages bei ihm am Grab stehen? Nicht mal zu seiner erwachsenen Tochter hat der Geschiedene einen Draht.

Abends im Restaurant kommt’s noch schlimmer: Die vermeintlichen Freunde in der Runde sagen schlankweg, dass er ihnen gar nicht so wichtig sei. Seine Geschäftspartnerin Catherine setzt einen drauf: „Was wetten wir, dass du mir binnen zehn Tagen keinen Freund vorweisen kannst?!” Hoher Einsatz: Eine antike Freundschafts-Vase (mit Bildnissen der legendären Blutsbrüder Achilles und Patroklus), die François just in einer sentimentalen Aufwallung für sündhafte 200 000 Euro ersteigert hat.

Die Suche beginnt: Wo stecken sie nur, seine Freunde? Bis in die Schulkindheit zieht’s ihn zurück, doch der Kumpel von damals ist nur empört, als François ihm jetzt auflauert: „Ich habe dich schon früher nie gemocht.”

Das alles läuft bei Leconte keineswegs auf Tristesse hinaus, sondern ergibt hintersinnigen Komödienstoff. Und man sieht zwei inspirierte Hauptdarsteller.

Die andere Hauptfigur ist der Taxifahrer Bruno (Dany Boon). Der geht – im Gegensatz zu François – leutselig lächelnd durchs Leben. Nun soll er François nicht nur auf Freundessuche kutschieren, sondern ihm überdies beibringen, wie man Leute kennenlernt und freundlich behandelt. Doch all die Übungen in Parks und Bistros geraten zum komischen Fiasko.

Bruno ist zu allen Menschen nett. Doch wenn einen alle mögen, mag einen keiner richtig. Also ist er doch allein; ein Sonderling, der noch sehr an seinen Eltern hängt. Zudem paukt er in jeder freien Minute Quizfragen, um mal groß ‚rauszukommen beim französischen Pendant zu „Wer wird Millionär?”

Erraten! Die beiden könnten Freunde werden. Doch François muss erst lernen, dass man Freundschaft weder erkaufen noch forcieren kann. Leconte erteilt die Lektionen so beschwingt, dass einem leicht wird ums Gemüt.




Der Onkel Bumba aus Kalumba tanzt nur Rumba

Essen. Schlager, Schmachtfetzen, Swing und höherer Blödsinn – aus solchen Quellen schöpften die „Comedian Harmonists“ in den 1920er Jahren ihre unvergleichlich Sangeskünste. Jetzt greift das Essener Schauspiel im Grillo-Theater auf die intelligente Erfolgsmischung zurück.

Franz Wittenbrink (Musik-Arrangements) und Gottfried Greiffenhagen (Texte) haben bereits 1997 das Stück um die berühmte Gesangsgruppe kreiert, das seither seine Runden durch deutsche Theater zieht. Auch in Dortmund war’s schon mal zu sehen.

Just 1997 war auch das Jahr, in dem Joseph Vilsmaiers famos besetzter Film über die „Comedian Harmonists“ herauskam und Maßstäbe setzte. Man hat diesen Film auch im Sinn, wenn sie nun in Essen die Geschichte des A-cappella-Ensembles erzählen -von entbehrungsreichen Gründungstagen über glanzvolle Erfolge bis zur erzwungenen Auflösung unter dem NS-Regime im Jahr 1934. Die Nazis verfemten die Musik der „Comedian Harmonists“ als „entartet“, weil drei der sechs Gruppenmitglieder jüdischer Herkunft waren. Es war einer von zahllosen Akten der NS-Kulturvernichtung. Diese Wunden verheilen nicht.

Gegen besagte Kino-Erinnerungen käme das Theater nur unter vehementer Aufbietung all seiner spezifischen Mittel an. Doch in Essen dauert’s schon mal rund 40 Minuten (eine gefühlte Ewigkeit), bis der erste vollständige Song erklingt. Bis dahin sieht und hört man die Genese der Gruppe nach einer Zeitungsannonce (sogar Johannes Heesters sang – vergebens – vor). Man erlebt mühsame Proben, absichtliches Falschsingen. Dazu köcheln Konflikte der 1928 noch im Werden begriffenen Gruppe. Hie unbezahltes Üben bis tief in die Nacht; da der Traum, der US-Formation „Revelers“ nachzueifern, sie sogar zu übertreffen.

Das Sechser-Ensemble ist eine Mixtur aus Essener Sprechtheater-Schauspielern und Gästen. Die unterschiedlichen Charaktere sind passend ausgewählt (neudeutsch: gecastet), sie decken ungefähr das tatsächliche Spektrum ab. Auch bekommt diese sympathische Truppe das Liedgut erstaunlich gut hin. Doch ebenso verblüffend ist stellenweise die holprige Darstellung. War’s Lampenfieber? Vielleicht gibt sich das in den Tagen und Wochen nach der Premiere.

Regisseur Gil Mehmert setzt die Lieder mit wechselndem Geschick in Szene, am besten gelingt die Umsetzung beim „Onkel Bumba“ (der reimgerecht nur Rumba in Kalumba tanzt). Überhaupt bricht irgendwann das Eis, wenn endlich launige Klassiker wie „Schöne Isabella von Kastilien“, „Mein kleiner grüner Kaktus“, „Wochenend und Sonnenschein“ und „Veronika, der Lenz ist da“ geschmettert oder gesäuselt werden. Da geht das Publikum frohsinnig mit.

Wenn schließlich die Gruppe sich unter diktatorischem Druck spaltet, gewinnt das sonst kitschverdächtige Lied „Irgendwo auf der Welt (gibt’s ein kleines bisschen Glück)“ die ungeahnte Qualität eines utopischen Gegenentwurfs zu den schrecklichen Verhältnissen. Stoff zum Heulen.

Termine: 7., 15., 16., 26., 31. Dezember; 12., 25. Januar. Karten: 0201/8122-200.

_______________________________________________

(Der Beitrag stand am 6. Dezember 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Peter Handke: Mal provokant, mal priesterlich

Es muss ein starker Auftritt gewesen sein, damals im Jahre 1966: Frontal attackierte ein 23-Jähriger mit Beatle-Frisur und dunkler Brille die in Ehren ergrauten Nachkriegs-Größen der deutschen Literatur. In Bausch und Bogen warf der zornige junge Mann der in Princeton (USA) tagenden „Gruppe 47” fruchtlose „Beschreibungs-Impotenz” vor.

Das nachfolgende Geraune kann man sich ungefähr vorstellen: Wie kann dieser Jungspund es nur wagen, uns alle auf diese Weise . . .

Der Provokateur hieß Peter Handke und hatte seinerzeit nur einen Text („Die Hornissen”) veröffentlicht. Jetzt wird er 65 Jahre alt und hat ein Werk von enormer Fülle und Prägekraft geschaffen.

Längst hat er eine Gemeinde um sich geschart, die seine zuweilen geradezu priesterlich gesetzten Worte gläubig aufnimmt. Seit er allerdings im Kosovo-Konflikt ab 1996 ungeahnt starrsinnig für Serbien und den Diktator Slobodan Milosevic Partei ergriffen hat, verweigerten ihm einige die „Jüngerschaft”. Tatsächlich war seine Querköpfigkeit in diesen Fragen vielleicht biographisch und psychologisch, nicht aber politisch nachvollziehbar.

In seinen besten Büchern hat Handke sich als „Seher” erwiesen, gesegnet mit feinster Beobachtungs- und Formulierungs-Gabe, die sich besonders den unscheinbaren, vergehenden und bedrohten Verhältnissen behutsam zu-wendet. So über alle Maßen detailsinnlich geht es dabei oft zu, dass es keineswegs nur verstiegene Innerlichkeits-Prosa ist, sondern eine höchst eigene, durchaus welthaltige Literatur.

In Text-Gebirgen wie „Mein Jahr in der Niemandsbucht” oder „Der Bildverlust” konnten sich Leser auch schon mal verirren. Doch seine Bücher bergen stets kostbare Funde. Sie gleichen langen Wanderstrecken, wie denn dieser Autor auch buchstäblich ein großer Wanderer der Literatur ist. Das Gehen als eine Daseinsform – wie das Schreiben.

Berühmt wurde seine von Widerspruchsgeist getriebene „Publikumsbeschimpfung” (Uraufführung durch Claus Peymann 1966), die im Handstreich das gesamte Zeichen-System des Theaters verwarf. Gewiss wirkten der allen Systemen abholde Protest-Furor von 1968 und die Lebensimpulse der Rockmusik (über die er wunderbare Texte wie „Versuch über die Jukebox” geschrieben hat) auch bei Handke. Im Bann der damals herrschenden Pop-Kultur interessierte sich der leidenschaftliche „Kinogeher” (just so hieß auch Handkes Übersetzung eines Buchs von Walker Percy) für Kulturphänomene wie James Bond, Schlagertexte und Fußball. Von wegen nur weltfremd!

Immer entschiedener richtete Handke sein Augenmerk aufs Projekt einer „Rettung” des geduldigen, unverstellten, von keiner schnellen Meinung getrübten Blicks auf die Welt. Gelegentlich schwelgte er dabei in verklärender Ding-Betrachtung. Doch seine Literatur erschloss auch utopisches Gelände.

Nicht das geringste Verdienst Handkes ist es, dass er auf andere herausragende Autoren aufmerksam gemacht hat, die vergessen zu werden drohten – zum Beispiel Heimito von Doderer, Hermann Lenz oder Emmanuel Bove.

Manche seiner Titel wurden sprichwörtlich: Handke beschwor die existenzielle „Angst des Tormanns beim Elfmeter”, stellte eigensinnig klar „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms”, wog „Das Gewicht der Welt” und beschwor „Die Stunde der wahren Empfindung”.

Überdies hat er ungemein innige Texte aus familiärer Nahsicht verfasst: Nach dem Freitod seiner Mutter entstand ihr bewegendes Lebensbild „Wunschloses Unglück”. In der „Kindergeschichte” kam die zwiespältige Beinahe-Symbiose mit seiner ersten Tochter Amina zu leuchtender Sprache. Man sieht: Auch an der Schwelle zum Elfenbeinturm macht das alltägliche Leben nicht Halt.

______________________________________________

Zur Person:

  • Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten/Österreich) geboren. Er wuchs bei Mutter und Stiefvater in ärmlichen Verhältnissen auf.
  • 1945 bis 1948 lebte die Familie in Berlin.
  • Zurück in Kärnten, besuchte Handke die Schule eines katholischen Priesterseminars und ein Internat. 1961 Abitur in Klagenfurt.
  • Ab 1961 Jura-Studium in Graz – ohne Abschluss.
  • 1965 Erstlingsbuch „Die Hornissen”.
  • Weitere Lebensstationen: u. a. Düsseldorf, Berlin, Paris, Kronberg/Taunus, Salzburg.
  • Seit 1991 lebt Handke in Chaville bei Paris.
  • Handkes Lebensgefährtinnen: die Schauspielerinnen Libgart Schwarz, Sophie Semin und Katja Flint.
  • Umfangreiche Internet-Seite: http://www.peterhandke.at/



Rituale statt Rebellion – Interview mit Martin Mosebach

An Martin Mosebach (56) scheiden sich manche Geister: Den Einen gilt der Frankfurter Schriftsteller und Büchner-Preisträger als Vorbote oder gar Leitgestalt einer „konservativen Wende”, die Anderen rühmen Werk und Wirkung. Jetzt hat Mosebach seinen Roman „Der Mond und das Mädchen” bei einer Lesung im Dortmunder Harenberg-Center vorgestellt – Gelegenheit zu einem Gespräch.

Was hat sich mit dem Büchner-Preis für Sie verändert?

Martin Mosebach: Die wichtigste Änderung war schon eingetreten, nämlich das Bewusstsein, dass ich jetzt einen Einschnitt erreicht habe in meiner Arbeit. Ich möchte einen Neuanfang versuchen. In welche Richtung, das wird sich zeigen. Der Preis hat das Gefühl eines Einschnitts nur noch bestätigt. Aber meine Romane unterscheiden sich ohnehin sehr stark voneinander. Ich bin niemals den gleichen Pfad gegangen.

Was können Sie mit dem Begriff „konservativ” anfangen”, der Ihnen immer wieder angeheftet wird?

„Konservativ” empfinde ich als ein sehr defensives Wort, ein Wort in Verteidigungshaltung. Das entspricht nicht meinem Lebensgefühl. So ängstlich bin ich nicht. Aber die Worte „aggressiv” oder „offensiv” wären auch falsch. Ich beziehe mich gar nicht so sehr auf Andere. Ich bin nicht besonders stark auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtet.

Ganz anders als Grass?

Ja, er definiert sich selbst als politischen Menschen. Das trifft auf mich nicht zu.

Sie haben gefordert, die alte lateinische Liturgie in der Katholischen Kirche wieder einzuführen. Haben Sie damit etwas bewirkt?

Nun, eine Debatte habe ich bestimmt angeregt. Sie schwelte schon lange, wurde aber von der offiziellen Kirche nicht zugelassen. Ich glaube, dass der Ritus ein essentielles Bedürfnis ist – für die Religion, aber auch ganz allgemein für die Humanität. Der uralte Kultus verbindet uns mit der ganzen Menschheitsgeschichte. Das rituelle Empfinden ist im Westen seit längerer Zeit verkümmert, aber dabei darf es nicht bleiben.

Sie sind Jurist und haben im Nachhinein gesagt, sie hätten dieses Fach gern engagierter studiert. Warum?

Weil alles, was man wirklich intensiv lernt, letztlich interessant ist. Etwas langweilig zu finden, ist eigentlich ein Zeichen für Unerwachsenheit. Doch leider habe ich schlampig studiert. Die juristische Sprache ist eine Schule der Klarheit und Präzision.

1968 mit dem Rücken
zum Zeitgeist erlebt

Wie sehen Sie die Rebellion um 1968? Sind Sie „Anti-Achtundsechziger”?

Ich bin ein „Nicht-Achtundsechziger”. Ich habe mit dem Rücken zu allen Phänomenen von „68” gelebt. Auch die kulturellen Aspekte der Zeit – wie etwa die Musik – haben mich nicht berührt. Ich war in einer Art Emigrations-Zustand.

Ging das denn damals?

Ja. Ich habe die bedenkliche Gabe, Dinge, die mir nicht passen, zu verdrängen. Man selbst stellt ja auch eine Welt dar. Die war mir wichtiger.

Viele Ihrer Romane spielen in Frankfurt am Main. Sie haben Frankfurt eine der hässlichsten Städte genannt, die aber – als Vision – auch schön sein könnte.

Ich weiß gar nicht so genau, worin mein Verhältnis zu Frankfurt besteht. Die Stadt ist mir vollkommen selbstverständlich. In den Romanen wird sie zu einer Stadt der Phantasie, und meine Schilderungen strotzen vor Unwahrscheinlichkeiten. Ich schreibe nicht nach Stadtplan. Aber die Sprache erzeugt die Suggestion, es sei von realen Orten die Rede. Und schauen Sie mal, wie Nabokov oder Proust ihre Elternhäuser beschrieben haben. Wie krass sich das von der Realität unterscheidet! Romane sind eben keine Fotografien und keine Reportagen.

Und die Hässlichkeit?

. . . wird immer dann als besonders schmerzlich empfunden, wenn man die Schönheit noch kennt, die durch sie verdrängt worden ist. Denken Sie an den Kölner Dom und die absurde Domplatte. Wer nicht weiß, wie der Domberg vorher ausgesehen hat, wird unter dieser schwächlichen Brutalität viel weniger leiden. Es scheint, als habe im 20. Jahrhundert Schönheit nur entstehen können, wenn sie nicht beabsichtigt war: Fabriken sind gelungen, Opernhäuser fast nie.

_____________________________________________________

INFO

Martin Mosebach wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Jura in Frankfurt und Bonn. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Er lebt in Frankfurt, schreibt seine Bücher aber meistens im Ausland, um den nötigen Abstand zu haben.So spielt zwar auch sein jüngster Roman „Der Mond und das Mädchen” (Hanser Verlag) in Frankfurt. Verfasst hat ihn Mosebach aber in Marokko.

Weitere Romane: „Das Bett” (1983), „Westend” (1992), „Die Türkin” (1999) und „Der Nebelfürst” (2001).

Der Georg-Büchner-Preis, den Mosebach in diesem Jahr erhalten hat, gilt als wichtigste deutsche Literaturauszeichnung.

Aufsehen erregte Mosebachs Dankrede, in der er die Französische Revolution als Gesinnungsterror brandmarkte und zur Nazi-Diktatur in Beziehung setzte.

___________________________________________________________

(Der Beitrag stand am 30. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Freiheit der Linie“: Wie Künstler die Gefühle steigern

Münster. Mit Farbe, Form und Linie muss sich jeder Künstler befassen. Das Landesmuseum in Münster greift eins dieser Grundelemente heraus: die Linie. Nicht einfach so, sondern mit konkreten und teilweise verblüffenden Bezügen.

Die These lautet ungefähr so: Im Jugendstil wurde die Linie zusehends freier behandelt. Sie löste sich immer mehr vom dargestellten Gegenstand und drückte schon durch ihren bloßen Verlauf gesteigerte Gefühle aus; zuweilen geschmäcklerisch und ornamental, aber oft auch empfindsam, geradezu seismographisch. Genau bei solchen Bewegungen konnten die Expressionisten anknüpfen, denen es just um (manchmal steil aufragende) Emotionen ging. Bei ihnen gewann die Linie Kraft und Spannung.

In der Linie liegt die Kraft

Die Münsteraner Schau versammelt nun überraschend deutliche Belege dafür, dass auch Künstler im Jugendstil wurzeln, von denen man das nicht (mehr) weiß: Das Schaffen von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner wird zurückgeführt auf solche Ursprünge. Was hier aus ihren Frühzeiten gezeigt wird, steht tatsächlich noch im Bann des Jugendstils. Erst im Lauf der Jahre gingen sie eigene Wege.

Beispiel Kandinsky 1907 noch ein lineares Wellenspiel aus Kleidung und Haaren („Der Spiegel“), ganz im Geist des Jugendstils, bis 1911 dann der kühne Sprung ins gänzlich Freie. Die Linien halten das Bildgefüge nur noch vage zusammen, sie sind zum Ausdrucksmittel geworden.

Als Kristallisationsfigur des Übergangs hat Ausstellungs-Kurator Erich Franz einen Mann namens Hermann Obrrist (1862-1927) ausgemacht. Franz versichert: „Es ist keine Bildungslücke, Obrist nicht zu kennen“. Seit rund 40 Jahren sei dieser Jugendstil-Künstler in deutschen Museen praktisch nicht mehr präsent. Eine „Ausgrabung“ also. Der gebürtige Schweizer Obrist hat – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunstgewerbe – das freie Spiel der Linien bis zum Rand der Abstraktion getrieben. Dabei werden bereits expressive Qualitäten sichtbar. Ein um 1895 von Obrist entworfener Wandbehang zeigt laut Titel Alpenveilchen, wirkt aber eher wie eine flammende Linien-Schrift oder (so befand damals ein Kritiker) gar wie ein „Peitschenhieb“. Für die Münsteraner Schau wurde das Werk in rund 600 Stunden mühsamer Handarbeit nachgestickt, es erstrahlt nun fast wie in der Ursprungszeit. Das Original in München ist hingegen arg ramponiert.

Obrist, der vorwiegend in München lebte und arbeitete, hat mit derlei Formfindungen direkten Einfluss ausgeübt: Kandinsky war mit ihm befreundet, Kirchner hat um 1902 bei ihm das Zeichnen gelernt. Auch Marc und Klee nahmen seine Anregungen auf – und wandelten sie ab. Durch Entwürfe für Alltagsgegenstände, Brunnen und Denkmäler hat Obrist wohl auch den nachmals berühmten Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde Anstöße gegeben.

Es herrscht ein Stilwille, der die sichtbare Wirklichkeit hinter sich lässt. Hochinteressant ist es zu sehen, dass Marcs Tierfiguren sich den Linienführungen des Jugendstils entwickeln, gleichsam daraus hervorwinden. Es ist wie eine Geburt, ein großes Werden.

Mit Vorläufern vor aus Frankreich beginnt der Reigen. Im Zeichen einer grassierenden Japan-Mode („Japonismus“) wurde die vordem im Historismus schwelgende Kunst entschlackt, vereinfacht, auf pflanzlich inspiriertes Formenvokabular reduziert. Eine Abfolge von Mädchenbildnissen (Edvard Munch, Ferdinand Hodler) beweist sinnfällig die neue Schlichtheit. In ihr verbargen sich ungeahnte, zuweilen erschütternd intensive Ausdruckswerte.

____________________________________

INFOS

  • „Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner.“
  • Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz)
  • Ausstellung bis zum 17. Februar 2008. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familie 11 Euro. Katalog 27 Euro.



Kreis Unna: Millionen fürs Haus der Moderne gesucht

Unna/Holzwickede. Es ist offenbar ein großes Rad, an dem der Kreis Unna dreht: Um die hochkarätige Wiesbadener Kunstsammlung Brabant in ein künftiges „Haus der Moderne“ einzubringen, müssen zuvor 10 Millionen Euro Spenden gesammelt werden.

„Eine Vision mit großen Chancen“ nannte gestern die Kulturdezernentin des Kreises Unna, Gabriele Warminski-Leitheußer, das Projekt. In der Tat: Der Sammler Frank Brabant (69) hat seine eindeutige Zusage gegeben. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass seine Bilderschätze beim Kreis Unna in guten Händen sind. Alles Vertrauenssache. Unna erhält somit den Vorzug etwa vor dem Landesmuseum in Schwerin (Brabants Geburtsstadt) und diversen Häusern in Süddeutschland.

Der Sammler ist als Kaufmann tätig und erwirbt seit rund 45 Jahren Bilder. Das allererste Werk, einen Holzschnitt für damals 300 Mark, müsste er noch auf Raten finanzieren. Brabant übt zwar keinen zeitlichen Druck aus. Aber eins ist klar: Allein mit öffentlichem Geld ist das Vorhaben nicht zu stemmen. Die finanziellen Fakten: Der museumstaugliche Umbau des historischen Hauses Opherdicke (in Holzwickede) dürfte rund 5 Millionen Euro kosten. Beim Kreis Unna hofft man, 80 Prozent dieser Summe durch Zuschüsse des Landes NRW aufzubringen. In diesem Falle müsste der Kreis selbst also rund 1 Million Euro ausgeben.

Damit nicht genug. Wenn die Sammlung erst einmal im Haus Opherdicke untergebracht ist, fallen Betriebskosten von cirka 500 000 Euro pro Jahr an. Plan der Kulturdezernentin: Es soll eine Stiftung gegründet und mit 10 Millionen Euro Kapital ausgestattet werden. Aus den Erträgen könnte man die laufenden Kosten bestreiten. Hierfür wären, wie gesagt, namhafte Spenden nötig. Warminski-Leitheußer: „Wir werden jetzt ,Klinken putzen‘ gehen.“ Sprich: für gut‘ Wetter bei möglichen privaten Geldgebern sorgen.

Und wenn das alles klappt? Dann würde sich der Kreis Unna in einer ganz anderen Liga wiederfinden. Man könnte mit teilweise hochrangigen Gemälden und Graphik (z. B. von Beckmann, Chagall, Feininger, Kandinsky, Klee, Marc, Nolde, Picasso und Warhol) locken. Einige Kostproben der 450 Stücke umfassenden Kollektion waren 2006 auf Schloss Cappenberg zu sehen. 25 000 Besucher interessierten sich für den Querschnitt, dessen Qualität Verhandlungen mit dem
Sammler in Gang brachte.

Günstiger Umstand: NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich die Schau seinerzeit persönlich angesehen. Am Donnerstag dieser Woche gibt es in Düsseldorf Gespräche von Vertretern des Kreises Unna mit NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff. Dabei sollen Bedingungen für etwaige Landeszuschüsse zum Umbau des Hauses Opherdicke erörtert werden.

Thomas Hengstenberg, Fachbereichsleiter für Kultur und Medien beim Kreis Unna, hat bereits erste Studien zur Umsetzung erstellt. Das idyllisch gelegene, denkmalgeschützte Haus Opherdicke bietet reichlich Platz und eine recht gute Verkehrsanbindung. Bereits im Umkreis von nur 25 Kilometern leben etwa 2 Millionen Mensschen 5,6 Millionen wohnen im Radius von 50 Kilometern.

Die Sammlung, derzeit mehr schlecht als recht in Brabants Dachwohnung untergebracht (bis in den Sanitärbereich hinein), soll in Holzwickede durch Zukäufe ergänzt werden. Man will nicht das ganze Konvolut auf einmal zeigen, sondern thematische Wechselausstellungen arrangieren. Damit die Kollektion vernünftig erschlossen werden kann, sollen Kunsthistoriker der regionalen Hochschulen Zugang für Forschungen erhalten.

Übrigens: Die Eröffnung des „Hauses der Moderne“ würde der Kreis gerne 2010 feiern – im Jahr der Kulturhauptstadt.

______________________________________________

(Der Beitrag stand am 27. November 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Weihnachtliches Familienchaos

Das muss man erst mal wegstecken: Jan will Weihnachten im trauten Kreise der Familie feiern. Just am Heiligabend eröffnet ihm Gattin Sara, dass sie seine drei Ehe-Vorgänger mitsamt deren aktuellem Anhang eingeladen hat. Zwei Minuten später steht die Meute schon vor der Tür.

Schlimmer noch: Sara hat schon mal die neue Sauna vorgeheizt und drängt die Männer, selbige gemeinsam „einzuweihen”. Sogleich führen die nackten Herren frivole Gespräche über Saras erotische Qualitäten. Jan leidet darunter wie ein Hund. Später werden dann auch die Seelenzustände gründlich entblößt. Dass Jan hauptberuflich Psychologe ist, hilft ihm dabei herzlich wenig.

„Meine schöne Bescherung” ist der etwas andere Film zum Fest. Zwischen den Männern lodern noch manche Eifersüchteleien, die nun neu entfacht und boshaft ausgetragen werden. Erst recht, als Sara am reich gedeckten Tisch verkündet, sie erwarte ein Kind. Dumm nur: Von Jan kann es nicht sein, denn der hat sich vor Monaten stillschweigend sterilisieren lassen. Fortan belauert er seine Vorläufer und vermeintlichen Nebenbuhler. Welcher Schmutzbuckel war’s?

Mehr wird hier nicht verraten. Vanessa Jopps Film schlängelt sich jedenfalls flott durch Komödie, Kammerspiel, Klamotte, Gefühlsoper und Slapstick. Ein recht inspiriertes Wechselspiel, in dem unterwegs so manches Problem auf den Tisch kommt – bis hin zur peinlichen Moralfrage bei Adoptionen.

Dass ein linkischer Nachbar (als Weihnachtsmann) und ein Riesenkaktus als Dauergags firmieren und beim Liebesspiel gleich eingangs der Schrank wackelt, nimmt man halt hin. Nicht jede Pointe muss gleich humorhistorische Maßstäbe setzen.

Jan, Sara und ihre Kinder (Töchter ihrer drei Ex-Männer und Jans Sohn aus erster Ehe leben bei ihnen) haben sich wohlig als Puzzle-Familie eingerichtet. Nur Fassade? Derlei mittelständische Zufriedenheit lädt viele Filmemacher seit jeher zur systematischen Verunsicherung ein. Mal sehen, ob sich Liebe und Familie im Chaos der Vorfälle bewähren. Übrigens: Die Kinder haben bei dieser Walpurgisnacht von Weihnachtsfeier ihren eigenen Tisch – und sie benehmen sich längst nicht so kindisch wie die Erwachsenen.

Das mit heimischer Prominenz gespickte Darsteller-Ensemble ist vor allem an der Spitze doppelt stark. Martina Gedeck und Heino Ferch verkörpern Sara und Jan nuancenreich, keineswegs nur komödiantisch. Diese Sara ist stark und unabhängig, sie hat aber auch reichlich egozentrische Züge. Und Jan hat vielfach Recht, ist aber auch rechthaberisch. Dreimal darf man raten: Ob sie sich wohl zusammenraufen werden?




Chinesisch für den eiligen Menschen – Spielerischer Selbstversuch mit neuem Anfänger-Lehrbuch und Sprech-CD

Von Bernd Berke

„Chinesisch superleicht!“ heißt das neue Buch mit Sprech-CD. Nanu? Diese Verheißung ist doch wohl ein Widerspruch in sich. Da wird man misstrauisch. Mal schnell lesen und hören, was es damit auf sich hat.

Das aus dem Englischen ins Deutsche übertragene Bändchen (flockiger Originaltitel: „Easy Peasy Chinese“) ist schmal – und reich bebildert. Bestenfalls reicht’s am Ende für ein Gestammel beim Chinesen um die Ecke. Bitte, danke, schmeckt gut. Ob damit die Herausforderungen der Globalisierung bewältigt werden können, steht dahin.

Trotzdem frisch ans Werk. Denn Hochchinesisch (Mandarin) ist schließlich die bei weitem meistgesprochene Sprache der Welt – und außerdem stehen 2008 die OIympisehen Spiele in Peking an. Nein, mit müden Scherzen wie „Do Ping“ (angeblich Chinesisch für „Spitzenleistung“) kommen wir hier nicht weiter.

„Ma“ heißt zum Beispiel Mutter, Hanf oder Pferd

Ein paar Umstände könnten das Erlernen der chinesischen Sprache tatsächlich erleichtern. Es gibt offenbar ungemein viele Wörter mit nur zwei, drei oder vier Buchstaben (jedenfalls in lateinischer Umschrift). Dao (Gabel), cha (Messer), chi (essen), cha (Tee), ji (Huhn), yu (Fisch). Damit ist bei Tisch schon einiges gesagt. Mit dem Ausruf . „shu“ (Buch) geht’s in die Bibliothek, bevor man den „hu“ (Tiger) im Zoo anschaut.

Frohen Mutes vernimmt man, dass die Verben nicht gebeugt werden, so als wenn man im Deutschen sagen dürfte: „Ich bin, du bin, er bin…“ Prima. Weiter so. Dann werden wir’s bald können. Dann aber geht’s eben doch los mit den Schwierigkeiten.

Rund 40 000 Schriftzeichen gibt’s, etwa 2000 reichen angeblich fürs Gröbste. Aber die müsste man erst mal alle geläufig hintuschen können. Mindestens ebenso knifflig ist ein Phänomen, von dem man schon mal gehört hat: Ein und dieselbe Lautfolge nimmt bei wechselnden Tonfällen (lang – fallend – steigend – erst fallend, dann steigend – tonlos) ganz verschiedene Bedeutungen an. Was zunächst als „ma“ einfach Mutter heißt, wird mit fragend ansteigender Stimme „Hanf“, kann aber bei anderem Singsang auch „Pferd“ oder „schimpfen“ bedeuten. Man mag sich die möglichen Missverständnisse im täglichen Gebrauch nicht ausmalen. Übrigens: Die Buchstabenfolge „mao“ kann beispielsweise Katze oder Feder heißen.

Auf gerade mal 128 Seiten hangelt sich das Buch mit flotter Gebärde durch absolute Anfangsgründe – bis man auf Chinesisch solche Sätze sagen soll: „Das ist zu teuer“, „Ich spiele auch gern Tennis“ oder „Mit Stäbchen (zu) essen ist leicht“. Dabei kommt die CD mit Hörproben ins Spiel.

Schon verzagt man wieder. Denn was sich gerade noch munter weglesen ließ, verflüchtigt sich angesichts der tückischen Aussprache.

Immerhin. Selbst wenn man frühzeitig aufgibt, hat man Freude an Botschaften aus der gänzlich fremden Sprachwelt. „Gonggongqiche“ heißt Autobus, wobei „gonggong“ für „öffentlich“ steht. Eine gemeine Aufgabe wäre wohl dies: Bilde einen Mandarin-Satz mit „öffentlich-rechtliches Fernsehen“.

Zu denken geben auch zusammengesetzte Piktogramm-Schriftzeichen: Da ergeben die Signaturen für „Frau“ und „Kind“ in der Addition den Begriff „gut“, während „Kraft“ und „Feld“ miteinander den Mann ausmachen. Da blicken die uralten Ordnungen hindurch.

Nehmen wir schließlich die Ländernamen, wortwörtlich übersetzt. Da firmiert England als „Land der Helden“, die USA sind das „Land der Schönheit“ und schließlich gilt Deutschland als „Land der Tugend“. Wer’s glaubt…

„Chinesisch superleicht! – Für Anfänger“. Buch mit CD. Verlag Dorling Kindersley. 128 Seiten. 12,95 Euro.

______________________________________________________

HINTERGRUND

Ohne Fleiß geht gar nichts

  • Chinesisch liegt „im Trend“ – auf bescheidenem Zahlen-Sockel:
  • Im Jahr 2002 belegten rund 5000 Deutsche Chinesisch-Kurse an Volkshochschulen, 2005 waren es rund 10 000.
  • Das Schwierigste ist die Schrift. Erst nach zwei Jahren Fleißarbeit, so sagen Experten, könne man Texte auf dem Niveau eines Zwölfjährigen lesen.
  • Einfache mündliche Unterhaltungen sind in der Regel nach 100 Stunden möglich.

 

 




Thomas Virnich: Keine Angst vor dem Teufel

Schwerte. Erstaunlich windschief wirkt dieser „Doppeldom“. Auch scheint die phantasievoll nachempfundene Kölner Kathedrale zu zerfließen wie Kerzenwachs. Doch dem fragilen Skulpturen-Bauwerk ist auch freudige Beweglichkeit eigen; ganz so, als könnte es alle wechselnden Zeiten überstehen.

Die Arbeit ist jetzt in der Katholischen Akademie in Schwerte zu sehen und stammt vom documenta-erprobten Bildhauer Thomas Virnich (Jahrgang 1957). Die teilweise noch nie öffentlich gezeigten Plastiken fügen sich bestens in die Schwerter Ausstellungs-Reihe „Transzendenz im Augenschein“. Deren weltoffene Zielsetzung, abseits von verkrampften Kirchenkunst-Debatten: Nicht fromme Auftragswerke sollen hier zum Zuge kommen, sondern freie, autonome Schöpfungen, die allerdings im weitesten Sinne auch auf „Jenseitiges“ verweisen können.

Gern zeigt Virnich die ganze Erde im Modell, das Kleine findet dabei furchtlos Platz im großen Ganzen. So hat er einen allseits brüchigen Globus ersonnen und mit fröhlichen Narren bevölkert („Spiel-Welt“). Ein anderer Erdball hängt von der Decke herab und lässt verwirrend viele Teilansichten seines Atelier-Anwesens in Mönchengladbach, eines alten Schulgebäudes, erkennen („Meine Schule – ein Planet“). Eisenstücke vom Schrottplatz, durch ungeheure Kräfte verformt, geraten zu Sinnbildern für Mann und Frau. Ein Monumentalbau wie das Colosseum gibt Gelegenheit zum hintersinnigen Formenspiel zwischen Kern und Schale.

Manchmal ist Virnich ganz dicht dran an religiösen Themen. Der Petersdom ist bei ihm freilich von Pappe, er „klebt“ als stark verfremdeter Modellbausatz an der Wand. Ein kleines Bronze-„Teufelchen“ kommt derweil als harmloser Kobold daher. Auch hier also kein Grund zu Angst und Furcht. Doch gebrannte Keramik lässt nur noch die Negativ-Form des gekreuzigten Christus erkennen – als schmerzliche Leerstelle, als pure Abwesenheit. Welche Sehnsucht sich daran knüpft, ist Glaubenssache.

Katholische Akademie Schwerte, Bergerhofweg 24. Vom 18. November bis 13. Januar. Mo-Sa 10-18, So 10-13 Uhr.

___________________________________________

(Der Beitrag ist am 17. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Kultur zum Plaudern und zum Streiten – Spektrum von Goethe bis Punk: Erfahrungen und Eindrücke aus dem Kulturblog Westropolis

Von Bernd Berke

Manchmal reicht schon ein Bild mit provozierender Unterzeile: „Die Beatles sind langweilig“, behauptete der Westropolis-Autor Ingo Juknat kurzerhand, stellte ein Foto der Fab Four hinzu – und schon ging’s los mit teilweise empörten Kommentaren.

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur" Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur“ Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Bei Westropolis, dem Kultur-Blog der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört, werden Musik, Kunst, Kino, Literatur & Co. oft zu heiß diskutierten Streitthemen. Auch als langjähriger WR-Kulturredakteur, der nun seit einigen Monaten ebenfalls bei Westropolis mitwirkt, macht man einige neue Erfahrungen.

Kulturfans sind nicht unbedingt leidenschaftliche Leserbrief-Schreiber. Im Blog (Internet-Auftritt, so etwa zwischen kollektivem Tagebuch und Plauderecke angesiedelt) ist das zuweilen ganz anders. Zwar gibt es auch hier ruhigere Stunden, doch häufig finden Beiträge sehr schnellen und deutlichen Widerhall; ganz gleich, ob Rezensionen zum aktuellen Kulturgeschehen, eher persönliche Aufzeichnungen oder veritable kleine Essays.

Im Netz wird mehr Tacheles gesprochen

Überdies wird im Netz mehr Tacheles gesprochen. Da müssen sich Autoren schon mal herbe Kritik gefallen lassen. Verbale Gegenwehr keineswegs ausgeschlossen. Doch praktisch immer wird im Widerstreit der Argumente ein Mindestmaß an Höflichkeit gewahrt. Man kennt die ungeschriebene „Net(t)iquette“ (Abart des Knigge fürs Internet). Auch Kampfhähne der Kultur wissen, wann’s genug ist. Da wird nicht unnötig nachgekartet.

Derzeit bestreiten neun ständige „Gastautoren“ und Autorinnen einen Löwenanteil der Westropolis-Beiträge, hinzu kommen etliche Kommentator(inn)en, die gelegentlich auch eigene Artikel bereitstellen. Das Spektrum steht im Zeichen eines gehörig erweiterten Kulturbegriffs, ist also breit und reicht von Goethe über Beuys bis Punk. Mindestens.

Jeder Geschmack kommt zum Zuge. Beispiele: Da gibt es ein wöchentliches, wahrhaft kniffliges Literaturrätsel vom „Revierflaneur“ Manuel Hessling, der so etwas wie eine Seele des ganzen Betriebs ist.

Auch Promi-Klatsch aus der Partyzone

Da teilt Else Buschheuer (moderiert das Magazin „Kino Royal“ im MDR-Fernsehen) neueste Eindrücke aus ihren Kino- und DVD-Sitzungen mit. Da wirft die Deutsch-Türkin Hatice Akyün (Bucherfolg: „Einmal Hans mit scharfer Sauce“) Fragen zwischen den Kulturen auf oder verbreitet zur Entspannung Promi-Klatsch und Erlebnisse aus der Partyzone.

WR-Redakteur Jürgen Overkott liefert serienweise CD-Besprechungen und Interviews. Der Autor dieser Zeilen ist mit wechselnden Themen dabei und nicht unfroh, derzeit den Kommentar-Rekord (bis gestern 364 Äußerungen zu einem Beitrag) zu halten. Wobei die Anzahl der Kommentare gewiss kein alleiniges Gütesiegel ist. Beliebt sind übrigens allerlei Hitlisten, auch negative wie etwa: „Die größten Nervensägen im deutschen Musikgeschäft“. Jeder kennt welche.

Auch bei den – meist unter erfundenen Namen antretenden – Kommentatoren ist einiges Interesse und Kulturwissen vorhanden. Ein Aufenthalt für Banausen ist Westropolis somit nicht.

Ein geradezu familiäres Gefühl

Wie im richtigen Leben: Mit der Zeit stellt sich ein geradezu familiäres Gefühl ein, wenn man die Seite betritt. Nach und nach kennt man Vorlieben, Macken und Launen vieler Mitstreiter. Der eine ist streng, die andere spontan, der dritte allzeit witzig. Aha, da hat sich ja wieder X geäußert, Y ist auch online, aber Z ist eine ganz neue Stimme im Konzert und bereichert den Zirkel.

Je mehr Meinungen und Temperamente, umso besser. Dann diskutiert es sich doppelt so schön. Wer sich dabei auf unverbindliche Positionen zurückzieht („Das ist doch letztlich alles Geschmackssache“), der hat hier keine sonderlich guten Karten. Weichspülerei wird allenfalls zur Versöhnung nach einer Diskussion akzeptiert.

Längst nicht immer geht’s bei Westropolis bierernst zu. In manchem Thread (Fachwort für „Themen-Strang“) wird auch schon mal gealbert. Oder: Eine Kultur-Debatte kann sich unter der Hand in ganz andere Bereiche wie etwa Alltag, Sport oder Kochkunst schlängeln. Speziell am Wochenende kommt es (mitten im kulturellen Wortgemenge) immer wieder zu netten kleinen Sticheleien zwischen BVB- und Schalke-Anhängern.

_______________________________________________

HINTERGRUND

Bestandteil von www.derwesten.de

  • Ein Blog (von „Weblog“) ist eine Art Online-Tagebuch eines oder mehrerer Autoren bzw. ein Gesprächskreis, der sich daran knüpft. Das Wort enthält den Bestandteil „Log“, der sich vom Seefahrer-Logbuch ableitet.
  • Die ersten Blogs tauchten um die Mitte der 1990er Jahre in Internet auf.
  • Streitfrage: Heißt es „der“ oder „das“ Blog? Der Duden lässt beides zu.
  • Westropolis ist Bestandteil von www.derwesten.de, des neuen online-Auftritts der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört.
  • Mehrere WR-Redakteure sind auch ständige Gastautoren bei Westropolis.
  • Westropolis ging im Februar 2007 an den Start. Seither wurden Kulturthemen aller Sparten und Güteklassen aufgegriffen.
  • Internet-Adressen: www.derwesten.de und www.westropolis.de

_______________________________________________

Nachtrag 2019:

2011 komplett gelöscht

Aus bis heute unerfindlichen Gründen hat die WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) Anfang 2011 Westropolis komplett aus dem Netz genommen – mit allen Beiträgen und zigtausend Kommentaren. Ein brachialer Akt. Und von wegen: „Das Internet vergisst nichts.“ In diesem Falle eben doch. Weil es dazu gezwungen worden ist.

Zwei der damaligen Autoren sind inzwischen – allzu früh – verstorben, nämlich die erwähnten Manuel Hessling und Ingo Juknat. Friede sei mit ihnen.

Zwei anderen Mitwirkenden, deren Namen hier gnädig verschwiegen werden sollen, ist ihr bisschen Erfolg zwischenzeitlich sehr zu Kopf gestiegen. Schade eigentlich.

 




„Siehst du, jetzt fangen wir an! – Wie Romane beginnen

Vor zwei Tagen haben die Stiftung Lesen und die Initiative Deutsche Sprache den angeblich schönsten deutschsprachigen Prosa-Anfangssatz gekürt. Es war Günter Grass‘ lapidarer Einstieg in den „Butt“: „Ilsebill salzte nach.“ Nun denn.

Der Autor dieser Zeilen ist vor fast einem Jahr aufs selbe Thema gekommen, der folgende Artikel stand zu Silvester 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, für Westropolis ist er jetzt rundum neu – gleichsam „remastered“. Und vielleicht taugt er auch zum nächsten Jahreswechsel, der ja nicht mehr allzu weit entfernt liegt:

Ein altes Jahr verrinnt, ein neues fängt an. Mit welchen Haltungen man wortwörtlich etwas Neues (und vielleicht Großes) beginnen kann, das lässt sich vielleicht bei den Schriftstellern ablesen. Wie haben sie ihre Romane eingeleitet? Wie lauten die ersten Sätze, die ja oft die schwierigsten sind?

„Es war ein launischer Frühling“

Nun, viele Autoren beginnen schlicht mit einer Naturbeobachtung oder einem Landschaftsbild. Oft schildern sie das Wetter: „Es war ein launischer Frühling“ (Virginia Woolf, „Die Jahre“). „Es war ein klarer, kalter Tag im April“ (George Orwell, „1984“). „Da eine Hitze von dreiunddreißig Grad herrschte…“ (Gustave Flaubert, „Bouvard und Pécuchet“). Oder, fast wissenschaftlich genau: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts…“ (Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“).

Gertrude Stein („Ida“) stellt sinnigerweise eine neue Erdenbürgerin voran: „Ein Baby wurde geboren namens Ida.“ Andere nennen einfach erst einmal Epoche, Jahreszeit, Datum, Ort, um in den Erzählfluss zu gleiten. Vladimir Nabokov behauptet just in den Anfangssätzen eines Romans („Die Gabe“), vor allem deutsche Schriftsteller würden stets mit einem Datum beginnen. Wer’s glaubt . . .

„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist…“

Entschlossene Charaktere greifen sofort kräftig in die Harfe, um die schrecklich weiße erste Seite (oder die leere Datei) zu füllen. Sie trumpfen mit Besonderheiten auf. Es hat wohl generell etwas mit ihrem Zugriff aufs Dasein zu tun. „Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt…“ Diesen Satz stellt Günter Grass an den Beginn seiner „Blechtrommel“.

Irmgard Keun steigert sich gleich in Gefühle hinein: „Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Großartiges in mir vorging.“ („Das kunstseidene Mädchen“). Noch eine Spur weihevoller formuliert Peter Handke: „Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren.“ („Mein Jahr in der Niemandsbucht“). Nabokovs genial-skandalöse „Lolita“ fängt mit haltloser Schwärmerei an: „Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.“ Am höchsten hinaus will Jean Jacques Rousseau mit seinen „Bekenntnissen“: „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird.“

„Den 20. ging Lenz durchs Gebirg“

Häufig fangen jedoch gerade aufregende Bücher betont unscheinbar an. Aber dann! Michel Houellebecq steigt in „Ausweitung der Kampfzone“ so lakonisch ein: „Am Freitagabend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen.“ Georg Büchners Erzählung „Lenz“ steuert knapp auf den Leser zu: „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg.“ Jonathan Swifts Ich-Erzähler lässt in „Gullivers Reisen“ wissen: „Mein Vater hatte einen kleinen Besitz in Nottinghamshire.“ Adalbert Stifters „Nachsommer“ hebt nüchtern an: „Mein Vater war ein Kaufmann.“ Herman Melvilles grandioser Wälzer „Moby Dick“ raunt uns eingangs kurz zu: „Nennt mich Ismael.“ Richard Fords Roman „Der Sportreporter“ meldet kurz: „Ich heiße Frank Bascombe. Ich bin Sportreporter.“

Gängig ist auch das Beschwören einer Bedrohung. Der vielleicht berühmteste aller ersten Sätze steht in Franz Kafkas „Der Prozess“: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Wolfgang Koeppen im Nachkriegsroman „Tauben im Gras“: „Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel.“ Thomas Pynchon in „Die Enden der Parabel“: „Ein Heulen kommt über den Himmel.“

Überboten werden solche Rätsel durch komplette Konfusion. Etwa so: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.“ (Albert Camus, „Der Fremde“). Bei Rainald Goetz („Irre“) heißt es wie in Trance: „Ich erkannte nichts wieder.“ Nullpunkt-Gefühle auch bei Rolf Dieter Brinkmann („Keiner weiß mehr“): „Man hörte nichts mehr. Sämtliche Geräusche waren verstummt.“

„Wie froh bin ich, daß ich weg bin“

Das schiere Gegenteil sind behagliche Sätze wie dieser: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittages zugebracht…“ (Goethe, „Wahlverwandtschaften“). Noch behäbiger: Iwan Gontscharows fauler Antiheld „Oblomow“ liegt schon im ersten Satz zu Bette – und bleibt praktisch den ganzen Roman über liegen…

Verzagte Anfänge sind nicht selten, sie können durchaus fesselnde Romane einleiten: „Ich will nicht mehr kämpfen. Ich bin’s leid.“ (Ralf Rothmann, „Flieh, mein Freund!“). „Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich erst recht am Ende.“ (Günter Herburger, „Flug ins Herz“). Schon anfangs am Ende. Unerhört…

Nun aber vorwärts! Etwas mehr Dynamik, bitte. Es bietet sich geradezu an, ein Buch mit einem Aufbruch oder einer neuen Freiheit beginnen zu lassen. Etwa so: „Wir starteten in la Guardia, New York, mit dreitägiger Verspätung infolge Schneestürmen.“ (Max Frisch, „Homo faber“). Goethes „Werther“ sagt’s rückblickend so: „Wie froh bin ich, daß ich weg bin.“ Der Ägypter Nagib Machfus bejubelt in „Miramar“ eine Ankunft: „Alexandria. Endlich!“ Alfred Döblin schreibt: „Er stand vor dem Tor des Gefängnisses und war frei.“ („Berlin Alexanderplatz“).

„Nie habe ich einen Roman mit größeren Hemmungen begonnen“

Eine weitere Sorte bezieht sich aufs Metier selbst. „Erzähl du. Nein, erzählen Sie!“ (Grass, „Hundejahre“). Bange Variante: „Nie habe ich einen Roman mit größeren Hemmungen begonnen.“ (Somerset Maugham, „Auf Messers Schneide“). Jean-Paul Sartre ermuntert sich in „Der Ekel“ selbst: „Das Beste wäre, die Ereignisse Tag für Tag zu notieren.“ Ein kluger Mann baut gegen etwaige Kritik vor: „Ich will mich für die Erzählung, die ich Ihnen anbiete, entschuldigen.“ (Harold Brodkey, „Profane Freundschaft“).

Die größten Romanprojekte gehen übrigens nahezu läppisch an den Start. James Joyce lässt im ersten Satz von „Ulysses“ einen Mann („stattlich und feist“) mit Utensilien zur täglichen Nassrasur auftreten. Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Vorspiel in „Combray“): „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Und Thomas Manns sprachgewaltiger Roman „Buddenbrooks“ macht mit solchem Gestammel auf: „Was ist das. – Was – ist das…“ Botho Strauß rattert sich in seinen Roman „Der junge Mann“ derart hinein: „Zeit Zeit Zeit.“

Eine Strategie des Spannungsaufschubs verfolgt der wundersame Robert Walser. Er legt mit „Jakob von Gunten“ los und bremst sogleich: „Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr.“ Hitchcock!

Hans Christian Andersen mag keine Umschweife. Der Erzähler des langen Märchen „Die Schneekönigin“ ruft eingangs: „Siehst du, jetzt fangen wir an!“ Vielleicht sollten wir genau so unverkrampft ans Neue herangehen.




Biermann revisited

Gestern Abend in der Schwerter Rohrmeisterei Wolf Biermann (wird in ein paar Tagen 71) live erlebt.

Musste mal sein, nach so vielen Jahren. Er ist schließlich einer, der stets „begleitend mitgelaufen“ ist auf dem Lebensweg. In mehr oder weniger großer Entfernung. Von „So oder so – die Erde wird rot“ bis zum Kulturkolumnisten der „Welt“ ist’s eben ein weiter Weg. Da kann man nicht jede Strecke mitgehen. Er ist keine Instanz mehr, aber doch einer, auf den man dann und wann hört. Und sei’s, um sich des Abstands zu vergewissern.

Seine notorische Eitelkeit ist immerhin hie und da halbwegs selbstironisch gebändigt. Wie er seinen eigenen Lebenshunger immer und immer wieder feiert. Je nun: Neun Kinder hat er mit diversen Damen in die Welt gesetzt, darin Günter Grass vergleichbar. Der jüngste Spross ist gerade mal 6 Jahre alt und heißt Molly, wie Biermann vaterstolz verkündete.

Dabei hat er etwas von einer traurigen Gestalt. Er betont unentwegt, wie er nach seiner DDR-Ausbürgerung 1976 sich neue, „westliche“ Themen habe aneignen müssen – und steckt doch ersichtlich bis heute ganz tief in diesem DDR-Trauma. Davon kommt er nicht los. „Frische Früchte vom alten Baum“ hatte er versprochen. Nun, so frisch sind sie eben nicht.

„Heimkehr nach Berlin Mitte“ ist ein dreistündiger, langwieriger Abend. Biermann scheint sich in seinem alten Berliner Wohnzimmer (Chausseestraße 131) im Freundeskreise zu wähnen und erzählt sehr, sehr viel, will gegen Schluss gar nicht mehr aufhören, obwohl schon das Saallicht grell aufleuchtet. Zuvor erläutertet er jedes Gedicht(lein) ausführlichst, vielfach mit pädagogischem Unterton. Anschließend singt er’s dann jeweils noch. So tragfähig aber sind die meisten seiner neueren Texte nicht, dass sie eine solche Verdoppelung aushielten.

Natürlich sind da auch einige intensive Momente. Seine andauernde Trauer um die einstigen Mit-Dissidenten Robert Havemann und Jürgen Fuchs ist einfach wahr und wahrhaftig. Gewiss auch seine (unerfüllte) Sehnsucht, das Frankreich der Troubadoure betreffend.

Nach dem Verlust aller Gewissheiten (bis auf jene, dass Heinrich Heines „Freiheitskrieg“ aus dessen Gedicht „Enfant perdu“ fortzuführen sei) besingt Biermann den „Phantomschmerz der Utopie“. Manchmal hätte man halt gern wieder die gedanklichen Krücken von einst. Und, so der bekennende Atheist: Auch das Christentum sei eine taugliche Krücke – wenn es denn der inneren Stärkung dient.




Unterwegs in eine stille und gütige Welt – „Die Unbeholfenen“ von Botho Strauß

Wo brüten sie gleichsam über der Weltformel, wo denken sie über unser aller Rettung nach? Botho Strauß führt uns mit seinem Buch „Die Unbeholfenen” in ein eher unscheinbares Fachwerkhaus inmitten eines schäbigen Gewerbegebiets.

Dort denkt eine merkwürdige Gruppierung über die offenbar zerstörerischen Triebkräfte der Gegenwart nach – und darüber, ob man Einhalt gebieten und umkehren kann. Das klingt nach Erweckung.

Der Ich-Erzähler namens Florian Lackner fühlt sich zunächst unbehaglich fremd in diesem Kreise. Am Gängelband seiner neuen Liebschaft Nadja ist er in die Abgeschiedenheit ihres elternlosen Familienverbands geraten. Zwei Schwestern (davon eine Stumme, die sich nur per SMS verständigt), einen Bruder (im Rollstuhl) und ihren arroganten Ex-Liebhaber Romero hat sie um sich geschart.

Das Spinnennetz
der Gegenwart

Wenn sie sich in meist hohem, manchmal beinahe priesterlichem Ton mitteilen, ist es weder Monolog noch Zwiesprache, sondern eine Art Reigen des Redens, ein Weiterreichen der Worte – wie in einem Denker-Orden oder einem Geheimbund.

Man vernimmt Bruchstücke einer wehen Zeitdiagnose, aus der man noch und noch zitieren könnte – ob nun einverständig oder ablehnend. Bewusstseinskrise und Verluste, wohin man nur blickt. Unsere technisch überrüstete, jede existenzielle Not dämpfende „Komfortgesellschaft” lässt demnach kein wirkliches Lebensschicksal mehr an uns heran, wir führen nur noch ein Schattendasein. Ob Strauß sich für diesen Befund wirklich überall im Lande umgesehen hat? Und ob er dabei alle Gegenden der Erde im Sinn hatte?

Spätestens durchs allgegenwärtige Spinnennetz des Internet, so Strauß weiter, sind wir dermaßen überinformiert, dass diese Fülle in umfassende Demenz umschlägt. Nichts geht uns mehr wirklich und zuinnerst an. Gesteigerte Endzeit-Vision: Das herkömmliche Menschenbild wird mehr und mehr biotechnischen Neuronenspeichern ausgeliefert, die irgendwann gänzlich unsere Stelle einnehmen werden. Schließlich ist von einem alles niederwalzenden Feuerball die Rede . . .

Heilserwartung ist nicht fern

Schleichende und rasende Apokalypse also. Solche Ängste ziehen seit alters her Heilserwartung nach sich. Bei Strauß ist es nicht anders. Bloßer Verstand hilft nach seiner Lesart nicht weiter. Dringlich ist die Sehnsucht seiner Figuren nach einem für alle heutigen Menschen verbindlichen Leitbild, ja nach neuem Heiligtum. Verzückung statt Aufklärung. Trance statt Scharfsinn. Auch „vordemokratische Ideale” werden raunend beschworen, doch nicht konkret benannt. Vielleicht sind ja auch Edelmut und Minne der Ritterzeit gemeint?

Wer meint, Strauß wärme hier den fatalen deutschen Hang zu rauschhaftem Untergang auf, der irrt gründlich. Zielgebiet ist eine nicht luxuriöse, eine karge, stillere Welt, in der man einander gütige Schonung angedeihen lässt und in Anschauung großer Symbole innerlich aufblüht.

Nicht so sehr Menschen aus Fleisch und Blut reden in dieser Abhandlung, sondern Lektürefrüchte (Wolfram von Eschenbach, Hölderlin, die Romantiker) und Mythen, aus denen Einsprüche gegen herrschende Stimmungen fließen. Eine „Bewußtseinsnovelle” nennt Strauß seinen gedankenreichen, mitunter gedankenschweren Text. Das äußere Geschehen bleibt begrenzt. Erst recht gibt es keine „unerhörte Begebenheit”, wie sie in der Novellen-Gattung traditionell üblich war.

Dennoch geht es nicht nur um die Hirnwindungen, sondern auch um die Körper. Man merkt, dass der Autor viel fürs Theater gearbeitet hat. Häufig notiert er, wie sich seine Personen im Raum postieren: miteinander, ohne einander, gegeneinander. Wie bei einer Bühnen-Stellprobe.

Am Ende nimmt der Erzähler Abschied von den Geisterstimmen. Man spürt Erleichterung. Wohin er so entspannt aufbricht, bleibt ungewiss. So wie unsere Zukunft.

Botho Strauß: „Die Unbeholfenen.” Hanser Verlag, 123 Seiten, 12,90 Euro.

_________________________________________________

ZUR PERSON:

  • Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale geboren.
  • 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Fachzeitschrift „Theater heute”.
  • 1970-1975 Dramaturg der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin.
  • 1977 Uraufführung seines Stücks „Trilogie des Wiedersehens”.
  • Weitere wichtige Werke: „Groß und klein” (Stück, 1978), „Rumor” (Roman, 1980), „Paare, Passanten” (Prosa, 1981), „Niemand anderes” (Roman, 1987), „Die Zeit und das Zimmer” (Stück, 1989), „Wohnen, Dämmern, Lügen” (Prosa, 1994), „Mikado” (Prosa, 2006).
  • Höchst umstritten war sein Essay „Anschwellender Bocksgesang” (1993). Manchen linksliberalen Kritikern gilt Strauß seither als potenziell „rechtslastig”. Ein weites Feld.



Wilhelm Busch: Lustvolle Zerstörung der Idylle

Gleich hinterm Eingang blickt der Besucher in einen Zerrspiegel. So sieht man sich nicht gern. Doch im Schloss Oberhausen geht’s ja auch um einen Verzerrer der sichtbaren Wirklichkeit: Wilhelm Busch, Urahn vieler späterer Comic- und Cartoon-Künstler.

Der Schöpfer von „Max und Moritz”, „Hans Huckebein” und zahlloser weiterer Bildergeschichten hat klassisches Rüstzeug an Kunstakademien erworben. Wenn er will, kann er etwa im Stile der alten Holländer malen. Doch schon beim anfänglichen Maschinenbau-Studium karikiert er seine Dozenten. Schalkhafte Blätter aus Kollegheften zeugen davon.

Die Ausstellung „Herzenspein und Nasenschmerz” stellt Wilhelm Buschs Werke in Zusammenhänge mit Vorläufern und Nachfahren. Karikierende Tendenzen gab es z. B. schon bei Francisco Goya (Verzerrung durch Schmerz), beim Franzosen Grandville oder beim Engländer William Hogarth, der mit Vorliebe die Folgen von Alkohol und Hurerei drastisch darstellte – moralische Appelle wider den Verfall der Sitten.

Vorbilder waren also da. Kennzeichen: entlarvende Übertreibung typischer Wesensmerkmale, eine vordem ungeahnte Dynamik, gewollt schräge Perspektiven, Mut zum Hässlichen. Bald begnügte man sich nicht mehr mit Einzelbildern, sondern zeichnete Handlungsabläufe.

An solche Traditionen kann Wilhelm Busch anknüpfen. Fotografien oder auch Franz von Lenbachs gemaltes Busch-Porträt zeigen einen selbstgewissen Mann, der sich für den Markt zu inszenieren weiß. Allerdings ist er auch Pessimist und traut keinem bürgerlichen Frieden. Häufig die Szenen, in denen er eine (romantische oder biedermeierliche) Idylle gründlich zerstört.

Theater der Grausamkeit, Schauplatz niederer Instinkte: Wie allerlei Körperteile malträtiert werden, führt Busch mit detailfreudiger Lust am Schaden aus. Dabei spielt er das verfügbare Bildvokabular virtuos durch, erweitert es wohl auch, so etwa mit rasanten Wechseln zwischen Totale und Nahansicht, die bereits Bildstrategien des Kinos vorwegnehmen. Die Original-Zeichnungen lassen einen scharfen, harten Strich erkennen. Man spürt noch, wie Erregung und Aggression darin nachzittern.

Busch ist so populär, dass auch andere Künstler ihn zur Kenntnis nehmen müssen. Diese Einfluss-Linien will die Oberhausener Schau sichtbar machen. Einige Beispiele sollen Wilhelm Buschs Fernwirkung bis hin zum frühen US-Comic belegen. Die Serien entstehen anfangs vielfach mit Blick auf deutsche Einwanderer in den Staaten. Der deutschstämmige Rudolph Dirks erfindet die „Katzenjammer Kids” (publiziert ab 1897), Winsor McCay „Little Nemo in Slumberland” (ab 1905) und Lyonel Feininger die „Kin-der Kids” (1906). Seitenblicke gelten den Disney-Figuren Mickey Mouse und Donald Duck. Auch für sie, so die These, habe Busch das Terrain bereitet. In welcher genauen Hinsicht Busch sie alle inspiriert hat, das wäre reichlich Stoff für Doktorarbeiten. Bemerkenswert jedenfalls, dass August Macke Busch den „ersten Futuristen” nennt.

In Richtung Gegenwart franst die vom Hannoveraner Busch-Museum bestückte Ausstellung etwas aus. Politisierende Karikaturen, Comics und Cartoons von Tomi Ungerer bis F. K. Waechter, von Paul Flora bis Tullio Pericoli lassen just viele Verzweigungen ahnen. Aber man kann Wilhelm Busch nicht jede Vaterschaft andichten.

„Herzenspein und Nasenschmerz. Wilhelm Busch und die Folgen”. Schloss Oberhausen. Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis 24. Feb. 2008. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 28 €.

_________________________________________

ZUM LEBENSLAUF:

  • Wilhelm Busch wurde am 15. 4. 1832 in Wiedensahl bei Hannover geboren.
  • 1847-51 Maschinenbau-Studium in Hannover.
  • Kunstakademien: 1851 Düsseldorf, 1852 Antwerpen, 1854 München.
  • Ab 1858 Mitarbeit an den „Fliegenden Blättern”.
  • 1865 erscheint „Max und Moritz”, 1867 „Hans Huckebein”, 1872 „Die fromme Helene”, 1879 „Fipps der Affe”, 1883 „Balduin Bählamm”.
  • Nach 1884 liefert Busch keine Bildergeschichten mehr, sondern verlegt sich ganz auf Malerei. Das aktive künstlerische Schaffen reicht bis etwa 1895.
  • Tod am 9. Januar 1908 in Mechtshausen/Harz.



Ibsens „Gespenster“ in Bochum: Bodenlose Angst vor der Wahrheit

Bochum. Die Bühne ist gnadenlos grell ausgeleuchtet, das spärliche Mobiliar schimmert in edlen Weiß-Tönen. In dieser geheimnislosen Helligkeit soll sich etwas verborgen halten? Aber ja! Gespielt wird Henrik Ibsens „Gespenster“-Drama.

Das 1881 verfasste Stück trägt historische Schleifspuren. Damals galt es als Menetekel der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Lebenslügen.

Der vor Jahren verstorbene Familienvorstand Alving war ein Wüstling und trieb’s mit dem Dienstmädchen. Dem Verhältnis entspross Regine, die gegen Schweigegeld dem Tischler Engstrand als Tochter untergeschoben wurde. Alvings legitimer Sohn Osvald büßt derweil genetisch für die Sünden (bzw. die fatal eingezwängte Lebenslust) des Vaters, er leidet unter syphilitischer Paralyse.

Und wie hat Frau Helene Alving über die Jahre an der Familienschande gelitten! Nun kommt gespenstisch alles ans Licht, angetrieben vom ebenso wahrheitsfanatischen wie schrecklich naiven Pastor Manders.

Regisseurin Lisa Nielebock (Jahrgang 1978) und Bühnenbildnerin Kathrin Schlecht rücken das Geschehen in gemessene Halbdistanz. Sie liefern keine antiquarische Lesart, aktualisieren aber auch nicht drauflos. So kann das Überzeitliche, das Existenzielle aufscheinen, das dieser Stoff birgt. Längst nicht alles ist für immer erledigt.

Szenerie und Gebaren der Figuren sind entschieden stilisiert. Gottlob entspricht solchem Stilwillen auch ein Stilvermögen. Die dabei geschöpften Bilder ragen bis an die Ränder des Surrealen. Anfangs wird im forcierten Tempo gesprochen, als solle der Text verscherbelt werden. Doch je mehr bittere Fakten auf dem Tisch liegen, umso häufiger die Phasen des Innewerdens, der stillen Ahnungen, des Entsetzens. Gegen Schluss reißt Osvald seinen Mund stumm auf wie die in namenloser Angst Erstarrten auf Edvard Munchs Bild „Der Schrei“. Schon vorher ist’s geisterhaft genug: Diese Wiedergänger tasten hilflos an den Wänden nach Halt und Sinn. Stets wahren sie Abstand von den Anderen. Kommt es doch zu einer anklammernden Berührung, erschrecken sie heillos.

Höchst beachtlich und weitgehend homogen agiert das Ensemble. Ulli Maier (Frau Alving) gewinnt große Statur. Eine zuinnerst starke Frau, die wankt, aber nicht fällt. Oliver Möller als Osvald ist ein Inbild bleichen Verfalls. Markus Boysen (Pastor Manders) steht ratlos auf den Trümmern seiner Grundsätze. Thomas Anzenhofer (Engstrand) vollführt eine frivole Gratwanderung zwischen verkommener List und devoten Gesten. Karin Moog als Regine wirkt stellenweise wie an ruckenden Fäden gezogen, geradezu seelenlos.

Sehr herzlicher Beifall.

___________________________________________________

(Die Rezension stand am 29. Oktober 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




Aus der Krise ins gleißende Licht – Wuppertaler Museum vergleicht Auguste Renoir mit Vorbildern und Zeitgenossen

Von Bernd Berke

Wuppertal. Auguste Renoir? Kennt man doch. Hatte man mal als liebliches Kalenderblatt an der Wand. Duftige Farben, ätherisch zarte Frauen. Auch Wuppertals Museumsdirektor Gerhard Finckh hat sich ganz früher mal Renoir-Reproduktionen hingehängt. Eins dieser Motive kann er jetzt im Original zeigen – und etliches mehr.

Über 50 Bilder des berühmten Franzosen präsentiert das Von der Heydt-Museum. Hinzu kommen rund 50 weitere Werke von Anregern, Freunden und Zeitgenossen des Impressionisten. Fürwahr ein großer Auftritt und viel flutendes, flirrendes Licht!

Doch Finckh behauptet: Eigentlich kennen wir Renoir gar nicht richtig – oder jedenfalls nur einen kleinen, zumeist vor 1881 entstandenen Teil seines Werks. Bis dahin hat Renoir bereits grandiose Bilder geschaffen, doch der große Erfolg bleibt aus. Die führenden Salons lehnen Impressionisten weiterhin ab, Auftraggeber und Käufer halten sich  merklich zurück.

In jener Zeit gerät Renoir in eine schwere Schaffenskrise und pfuscht sich – wie einige Exponate in Wuppertal belegen – zeitweise recht mühselig und ungelenk durch diverse Stilwechsel hindurch. Derlei Anpassung an den Markt ist seine Sache eben nicht.

An der Grenze zur reinen Farbmusik

Erst in den 1890er Jahren findet er wieder in seine Spur zurück. Er verlegt sich auf Landschaften. Doch seine ureigene Stärke blüht erst wieder auf, als er menschliche Figuren mit ihrer Umgebung verschmelzen lässt – bis hin zur Grenze der Abstraktion und der reinen Farbmusik. Wahrscheinlich überschreitet er diese Grenzlinie bewusst nicht. Er sieht sich im Grunde nie als „Revolutionär“, sondern inzwischen gar als Graubart mit Hang zur ehrwürdigen Tradition.

In Wuppertal ist also vor allem das Spätwerk ab 1890 (immerhin noch fast 30 Jahre in Renoirs Leben) zu sehen. Der Künstler zieht sich ins südfranzösische Cagnes zurück, wohnt dort erst in der Post, dann auf einem bäuerlichen Anwesen. Er pflegt regen Austausch mit Kollegen. Henri Matisse, Pierre Bonnard und einige andere Größen besuchen ihn dort. Irgendwann werden auch Kunsthistoriker und Käufer vorstellig, um ihm zu huldigen.

Tragisch genug: Porträtaufträge verbessern nun die finanzielle Lage, doch da erkrankt Renoir an Gicht, die ihn schließlich an den Rollstuhl fesselt. Gar manches kann er nur unter Schmerzen malen. Zusehends künden kleinere Formate von schwindenden Kräften.

Olivenbäume und weibliche Ländereien

Dennoch gelingt ihm nun jenes geheimnisvoll neblige und silbrig schimmernde Licht, das er beim großen Vorbild Camille Corot so bewundert und an dessen Darstellung er sich vorher vergeblich versucht hat. Das Gleißen seiner Olivenbäume muss man gesehen haben, es ist nahezu überirdisch.

Dass Renoir hin und wieder nah an die Gefilde des Weichen und Süßlichen gerät, muss man angesichts solcher Meisterwerke schlicht und einfach verzeihen. Er ist kein Mann der scharfen, folgerichtigen Analyse, sondern ein Schaffender aus Passion.

Für Anregungen bleibt er auch im höheren Alter offen. Unter dem Einfluss von Cézanne vollendet Renoir ein für ihn sonst untypisches Apfel-Stillleben. Die höchst verschiedenen Figur-Auffassungen der Bildhauer Rodin und Maillol (beim einen eher schrundig zerklüftet, beim anderen schwellend und prall) hinterlassen gleichfalls Spuren.

Renoir behandelt seine Figuren fortan mit mehr Raumgefühl. Im Verlauf dieser Entwicklung geraten übrigens auch die Frauengestalten üppiger. Ihr Leiber schmiegen sich fließend in Landschaften ein oder erscheinen gleichsam selbst als „Ländereien“ oder gar Kontinente.

Sie Seitenblicke der Schau auf Vorläufer und Anreger (bis zu Delacroix) sind mithin oft aufschlussreich. Auch lassen einzelne Gemälde der ungefähr gleichaltrigen Mitstreiter (Manet, Monet, Pissarro, Bazille) ahnen, auf welcher ästhetischen Höhe sich Renoir jeweils befunden hat. Mal so, mal so.

_________________________________________________

HINTERGRUND

Zunächst eine Lehre als Porzellanmaler

  • Auguste Renoir lebte von 1841 bis 1919.
  • 1854 Lehre als Porzellanmaler. Den Beruf ergreift er nicht, weil neue Verfahren diese Handarbeit überflüssig machen.
  • 1862/63 mit Studienfreunden zur Freiluftmalerei in Barbizon (Wald vonFontainebleau).
  • Um 1869 entstehen in Paris seine ersten impressionistischen Gemälde im eigentlichen Sinne.
  • Um 1881 Schaffenskrise.
  • 1888 bricht die rheumatische Krankheit aus. die seinen rechten Arm und später beide Beine lähmt.
  • Ausstellung: „Renoir und die Landschaft des Impressionismus“. Von der Heydt-Museum (Wuppertal, Turmhof 8). Vom 28. Oktober bis 27. Januar 2008. Di-So 11-18. Do 11-20 Uhr. Eintritt 8 €, Familie 15 €. Katalog 25 €, Tel.: 0202/563-6231.



Blinky Palermo: Rebellion mit Wasserwaage

Düsseldorf. Mit Blinky Palermo verhält es sich so: Manche seiner Arbeiten hat dieser Künstler aus Unzufriedenheit selbst vernichtet. Von vielen anderen hat sich später die Spur gleichsam im Nichts verloren.

Das erhaltene Gesamtwerk des 1977 mit nur 33 Jahren auf den Malediven gestorbenen Künstlers ist überschaubar. Nur rund 200 größere Bilder und Objekte sowie etwa 600 Zeichnungen nennt der Œuvre-Katalog. Wohl gerade deshalb gilt Palermo als Mythos. Knappes Werk und früher Tod – das sind nach den Marktgesetzen zwei Bedingungen, die solch einen Status begünstigen können.

Jetzt zeigt die Düsseldorfer Kunsthalle einen Überblick zum schmalen Schaffen – den allerersten in jener Stadt, in der Palermo einst Meisterschüler des noch ungleich berühmteren Joseph Beuys gewesen ist. Damals bekam der Mann, der bürgerlich Peter Heisterkamp hieß, von Künstler-Kumpanen den Spitznamen „Blinky Palermo” – wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit dem berüchtigten US-Mafioso und Boxmanager.

Zu sehen sind Stoffbilder (Kaufhausware, auf Rahmen gezogen), Metallbilder (in bis zu 20 Schichten bemaltes Aluminium) und Installationen. Palermo ist nicht zuletzt ein „Künstler für Künstler”. Bis heute interessieren sich auch und gerade Leute vom Fach für seine Schöpfungen. Seine meist titel- und gegenstandslosen Versuchsanordnungen wirken auf den ersten Blick oft spröde; obwohl hie und da ein Blau kontemplative Weite verströmt oder ein Rot lebensgierig leuchtet.

Formale Spitzfindigkeiten liegen nahe: Warum hat er gerade diese Farben auf diese Weise angeordnet? Wieso verlaufen die „Nähte” dazwischen so und nicht anders? Palermo hatte außerordentlich präzise Vorstellungen von seinem Tun, vielfach arbeitete er buchstäblich mit der Wasserwaage. Auf Bildrückseiten notierte er häufig exakte Vorgaben zur Hängung.

Erstaunlich nun, wie aus dieser vermeintlich so ordentlich gefügten Welt der Quadrate, Rechtecke und Dreiecke dann doch Visionen eines befreiten Daseins aufsteigen. Einigermaßen paradox gesagt, setzt sich eine geradezu mustergültige Regellosigkeit durch. Es ist eine stille Revolte mit dem Lineal.

Anhand der Düsseldorfer Auswahl kann man gut verfolgen, wie sich die geometrischen Ur-Elemente immer freier im Bildraum bewegen. Irgendwann lösen sich diese Einzelformen vollends heraus und befinden sich auf einmal hoch oben an der Wand, als wäre da etwas explodiert. Sie sind als Objekte in den Raum vorgedrungen und haben ihn neu definiert. Ein anderes Koordinatensystem als Vorbote einer anderen Wirklichkeit?

All diese Arbeiten sind seit Mitte der 60er Jahre entstanden. Die damals so rebellische Stimmung wird indirekt spürbar, fern von plakativen Effekten. Worin wohl die Einflüsse von Beuys gelegen haben? Vielleicht vor allem in einer Aufforderung dieser Art: Sei so frei, dir selbst zu folgen!

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Bis 20. Januar 2008. Di-Sa 12-19, So 11-18 Uhr. Eintritt 5,50 €, Katalog (erst Mitte November) 29,80 €.




Günter Grass wird 80: Lebenslustiger Pessimist

Es gab Zeiten, da war sein Ruhm kaum noch zu steigern. Als Günter Grass im 1999 den Literaturnobelpreis bekam, war er auf dem Gipfel der weltweiten Reputation angelangt.

Doch die moralische Instanz, die er über Jahrzehnte gewesen ist, hat Risse bekommen. Sein allzu spätes Eingeständnis, mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat die Nation im Sommer 2006 wochenlang bewegt. Vor allem konservative Geister, die der linksliberale Grass zuvor vielfach mit polemischen Äußerungen verärgert hatte, witterten nun ihre Chance auf Revanche. Sie warfen ihm anmaßende Selbstgerechtigkeit vor. Aber waren sie selbst frei davon?

Das Lebenswerk des Mannes, der am 16. Oktober 80 Jahre alt wird, hat jedoch Bestand. Und sein Publikum hat treu zu ihm gehalten. Zudem wird schon seit Jahren eifrig für seinen Ruhm gesorgt. Eine umfangreiche Werkausgabe im Steidl-Verlag versammelt die Schriften für die Nachwelt.

Einen „lebenslustigen Pessimisten” hat sich Günter Grass einmal selbst genannt. Wahrhaftig gibt es ja den „barocken” Genussmenschen Grass, der seine Gäste gern als meisterlicher Koch verwöhnt. Doch man kennt auch den mürrischen Mann, für dessen Empfinden der Fortschritt gar zu schneckenhaft kriecht. In einer Phase freilich, um 1968, wollte Grass selbst die Entwicklung lieber bremsen und in Richtung Sozialdemokratie lenken. Der SPD hat er sich zeitweise mehr verschrieben, als es einem unabhängigen Autor guttun konnte.

Allein die Tiergestalten, die zentral in seinen Büchern vorkommen, liefern reichlich Stoff: „Die Vorzüge der Windhühner” (Lyrik-Erstling, 1956), „Katz und Maus” (1961), „Hundejahre” (1963), „Aus dem Tagebuch einer Schnecke” (1972), „Der Butt” (1977), „Die Rättin” (1986), „Unkenrufe” (1992) und „Im Krebsgang” (2002). Zwei philosophierende Ratten traten schon im Theaterstück „Hochwasser” (1957) auf.

Die Bildkraft dieser Menagerie beruht nicht auf Zufall. Grass, der eine Steinmetzlehre und Kunstakademien in Düsseldorf und Berlin absolvierte, hat literarische Einfälle stets anhand eigener Skulpturen oder Graphiken überprüft. Bei dem ungemein schöpferischen Autor ist kaum auszumachen, ob etwa ein Roman ursprünglich aus Bildern hervorgegangen ist –oder ob sprachliches Fabulieren den ersten Keim gesetzt und Bilder nach sich gezogen hat. Am Anfang war das Wort? Nicht unbedingt.

Unstrittig lässt sich der zentrale Ort im literarischen Universum des Günter Grass bestimmen: seine Geburtsstadt Danzig, ein Brennpunkt geschichtlicher Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Aus dem Fundus seiner Kindheit hat Grass unvergessliche Geschichten geschöpft.

Über Oskar Matzerath und die „Blechtrommel” (1959) herrscht Einvernehmen: Der Roman bedeutete den „Durchbruch” der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Er galt als Fanal gegen die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, obgleich er weder politisiert noch moralisiert, sondern die Zeitläufte mit saftigen Figuren darstellt.

Nach Erscheinen seiner Bücher überwog meist vorschnelle Erregung, denn Grass mischte sich vehement in gesellschaftliche Fragen ein. Wortgewaltig malte er die Apokalypse einer zerstörten Umwelt („Die Rättin”) oder begab sich in die Untiefen des Matriarchats („Der Butt”).

Er ist kein gewöhnlicher Schriftsteller, sondern ein Repräsentant, dessen Meinung zu vielen Themen gefragt ist – wie einst Thomas Mann, dessen Geburtsstadt Lübeck sich Grass zur Wahlheimat erkor. Beiden Größen widmete die Hansestadt Gedenkorte: Buddenbrook-Haus und Grass-Haus sind Pilgerstätten.

Feindselige Regungen hat Grass oft zu spüren bekommen. Für horrende Hysterie sorgte 1995 sein Roman „Ein weites Feld”. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki zerriss den Band auf einem „Spiegel”-Titelbild buchstäblich in der Luft. Im Angesicht verflossener Zeit wirken solche Aufregungen geradezu lachhaft.




„Geliebte Jane“: Der Wille zur Romanze

Wie wird eine kluge Frau um das Jahr 1795 zur Schriftstellerin? Wie war das beispielsweise bei Jane Austen, die Klassiker wie „Stolz und Vorurteil” verfasst hat? Solche Fragen will der Film „Geliebte Jane” nicht nur stellen, sondern für alle Zeit beantworten.

Die Britin Jane Austen (1775-1817) galt den Biographen lange Zeit als „ältliche Jungfer”. 2003 erschien dann ein Buch von John Spence, der herausgefunden haben wollte, dass es doch eine leidenschaftliche Affäre gab, die Jane für ihr restliches (allzu kurzes) Leben geprägt hat. Ohne diese Episode, so die These, wäre sie eine ganz andere oder womöglich gar keine Autorin geworden.

Diesen Befund nimmt sich Julian Jarrolds Film so sehr zu Herzen, dass er ihr Schaffen fast nur aus diesem amourösen Punkt heraus zu erklären sucht. Es herrscht der Wille zur Romanze. Zu diesem Zweck wird Jane zur unwiderstehlichen Schönheit stilisiert: Die zarte, aparte Anne Hathaway spielt den Part. Schon ist man geneigt, an Liebe zu glauben. Entzückend!

Die Sache ist die: Ihre Eltern wollen Jane in eine Versorgungsehe mit dem furchtbar linkischen, maulfaulen, aber begüterten Mr. Wisley drängen. Jane müht sich, ihm und der Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Quasi punktgenau taucht der sprühend intelligente junge Ire Tom Lefroy (James McAvoy) auf. Der macht sich anfangs nur lustig über das Landei Jane. Sie dreht sich im provinziell braven Tanze, er zeigt ihr danach die wüsten Boxbuden auf dem Jahrmarkt. So roh ist das Leben, Verehrteste!

Gegen Toms arrogante Attitüden setzt sie sich empört, dann seufzend zur Wehr. Vergebens! Die beiden verdrehen einander die Köpfe. Das ist nett anzuschauen, weil durchweg pittoresk ins Bild gesetzt und sehr ordentlich gespielt. Ein Kostüm- und Konversationsfilm mit kleinen, feinen Kamera-Seitenblicken für ironiehaltige Momente. Wo Fassung und Formen noch so streng gewahrt werden, gibt’s viel zu grinsen.

Leider ist auch besagter Tom finanziell abhängig – von seinem Onkel, einem „Kopf-ab”-Richter. Der mag die Liaison mit Jane partout nicht billigen, die für seine Begriffe zu frech und eigenständig denkt. Und schon zieht sich der Feigling Tom zurück. Geld frisst Liebe, Patriarchat tötet Gefühle.

Folge: Jane schreibt ihr Leiden fiebrig nieder und wird somit flugs zur großen Schriftstellerin. Diesen vorbestimmten, wundersamen Wandel freilich kann der Film nicht beglaubigen. Nicht jede Frau, die wir im Kino schreiben sehen, geht ohne weiteres als gereifte Schriftstellerin durch. Diese Jane ist einfach zu schön, um wahr zu sein.




Künstler ahnen die Katastrophe

Für die Ausstellung „1937 – Perfektion und Zerstörung” ist die Bielefelder Kunsthalle bis an die Grenzen des finanziell Machbaren gegangen. Wenn nicht mindestens 100 000 zahlende Besucher kommen, dürften (trotz erheblicher Sponsoren- und Stiftungsmittel) die künftigen Spielräume sehr eng werden.

Rund 420 Werke aus weit über 100 Museen der Welt bietet man auf, um das Umbruchsjahr 1937 im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Politik zu erkunden.

Es war das Jahr, in dem die NS-Machthaber die infame Ausstellung „Entartete Kunst” zeigten, mit der sie die gesamte Avantgarde diffamieren wollten. Am 19. Juli 1937 begann die schändliche Schau mit beschlagnahmten Bildern in München. Dort und an weiteren Stationen zog sie bis 1941 rund 2 Millionen (!) Besucher an. Sicherlich waren viele Verblendete darunter. Doch manche kamen auch, um ein letztes Mal große Kunst zu sehen – vor den gänzlich finsteren Zeiten.

1937 war auch das Jahr, in dem die Bombardierung der spanischen Stadt Guernica (durch die deutsche „Legion Condor”) einiges vom Schrecken des späteren Weltkrieges ahnen ließ. Picassos Guernica-Bild ist berühmt geworden, in Bielefeld sieht man Vorstudien dazu, neben weiteren malerischen Protesten gegen das Massaker. Der Weltenbrand hatte begonnen.

Die ambitionierte, dicht gehängte Schau (in der Einzelwerke bisweilen fast untergehen) beginnt freilich mit Einzelbeispielen für – Nazi-Kunst. Trefflich beschreibt Museumschef Thomas Kellein ein monströses Aktbild im heroischen Stil: „Das sind eigentlich keine Frauen, sondern Soldaten mit Brüsten.” Sinnleeres Heldenpathos verströmt auch die Skulptur „Prometheus” von Arno Breker. So sah er also aus, der damals diktatorisch verfügte bildnerische Zeitgeist. Ebenso uninspiriert wie verkrampft.

Bilder aller ernst zu nehmenden deutschen Künstler jener Zeit künden hingegen von Bedrückung, wenn nicht von apokalyptischen Visionen. Carl Hofers „Mann in den Ruinen” (1937) nimmt gar schon die Trümmerzeit vorweg. Überhaupt haben Maler wie etwa Grosz, Radziwill, Barlach oder Oelze („Erwartung”) so ziemlich alles Unheil kommen sehen. Bestürzende Belege für die seismographischen Kräfte wahrhaftiger Kunst. In Bielefeld vermeidet man es, Exilkünstler gegen „innere Emigranten” (z. B. Nolde) auszuspielen. Sie alle haben gelitten.

Die Ausstellung wartet überdies mit Querschnitten des Jahres 1937 aus verschiedenen Ländern auf. Beispiel Italien: Im Gefolge des technikgläubigen Futurismus herrschte dort fliegerische Begeisterung, verquickt mit Kriegslüsternheit. Viele Maler buhlten um die Gunst des Diktators Mussolini, sie wurden tatsächlich kaum behelligt. Die Breite der Ausdrucksmöglichkeiten blieb somit größer als in Deutschland.

Ganz anders in der Sowjetunion. Glückliche Familie begrüßt Panzer mit rotem Stern. Groteskes Flugzeug firmiert als „Schrecken der Lüfte”. Maler priesen Stalin auf ungemein peinliche Weise. Vielen hat es nichts geholfen. Sie wurden später trotzdem von Stalins Schergen umgebracht.

In den USA, wo damals zwei Millionen arbeits- und obdachlose Tramps unterwegs waren, setzte sich seinerzeit eine betont sozialkritische Malerei und Fotografie durch. Sogar ein frühes Bild des nachmaligen Tropfenbild-Künstlers Jackson Pollock bezieht realistisch Stellung.

Weitere Themen der Schau: die Politisierung des Surrealismus (Max Ernst, Magritte), die Fotografie zwischen Dokumentation und Propaganda. Schließlich der Aufbruch der Konstruktivisten – auf schmalem Grat zwischen geometrischer „Unschuld” und fataler Realitätsferne.

INFO/HINTERGRUND:

Im Vorfeld der von den Nazis erzwungenen Schau „Entartete Kunst” (1937) gab es in den Reihen der NSDAP Uneinigkeit über den kulturellen Kurs.
Propagandaminister Goebbels traute den Expressionisten zu, eine „deutsche” Kunst im NS-Sinne zu liefern.
Hitler lehnte diese Auffassung jedoch barsch ab – und setzte sich durch. Expressionistische Kunst wurde mit anderen Strömungen der Moderne verfemt und aus deutschen Museen entfernt.

Die Ausstellung: „1937. Perfektion und Zerstörung”. Bis 13. Januar 2008. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Täglich 11-18, Mi 11-21, Sa 10-18 Uhr. Eintritt 7 €, Katalog 32 €.




Genazinos „Courasche“-Stück: Sex zwischen Ödnis und Angst

Vor Jahresfrist war’s ein Skandal zum Blätterrauschen: Da weigerte sich die Schauspielerin Veronica Ferres, bei der RuhrTriennale die Titelrolle im neuen „Courasche”-Stück des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino zu spielen. Der bis jetzt wie ein Geheimnis gehütete Text war ihr seinerzeit zu „pornographisch”. Nun weiß man: Dieser Vorwurf zielt ins Leere.

„Courasche oder Gott lass nach” kam jetzt endlich als Triennale-„Kreation” (Regie: Stephanie Mohr) in Duisburg heraus. Mit literaturgeschichtlichen Seitenblicken auf Grimmelshausen und Brecht (siehe Info-Kasten) werden sexuelle Machtverhältnisse quer durch die Zeiten erkundet. Egal ob in Krieg oder Scheinfrieden: Männer wollen allzeit „rammeln” – und Frauen lauern auf dürre Vorteile inmitten des sexuellen Elends. Betrüblicher Befund. Zwar hin und wieder drastisch formuliert, doch gar nicht pornographisch.

Drei Darstellerinnen verkörpern die „Courasche”-Varianten simultan in verschiedenen Lebensaltern. Die zumal in der Barockdichtung zelebrierte Vergänglichkeit irdischen Seins ist somit stets präsent. Vor diesem Horizont sehen wir – jeweils dreifach – eine Hure von heute, dann eine durch wüste Not irrende Vertriebene des Zweiten Weltkriegs und ein Dienstmädchen um 1900. Sie alle machen die Beine breit – je nach Lage der Dinge für Geld, für einen Kanten Brot oder für eine Wohnung, die ein frivoler Familienvorstand seinem Liebchen bezahlt. Auf welcher dürftigen Schwundstufe auch immer: Die Frauen profitieren. Doch sie leiden am männlich bestimmten Sex zwischen Ödnis und Angst.

Wo war der ideale Punkt zum Neuanfang?

Die gottlosen Zeiten werden rückwärts gespult – bis zum Dreißigjährigen Krieg und zu Bert Brechts „Mutter Courage”, die gegen Schluss als Marketenderin kurz durch die Szene geistert. Ganz so, als suche man in ferner Vergangenheit den idealen Punkt zum Neuanfang; als solle die Historie von vorn beginnen und die schmerzliche Verewigung der Verhältnisse aufgehoben werden. „Dann bin ich aufgestanden” lautet der letzte Frauensatz. Ein Einspruch gegen alles Geschehene.

Das Bühnenbild (Andrea Uhmann) besteht aus vier beinahe zum Quadrat gefügten Dreiecken (die Lücken erinnern an Schützengräben), auf denen bergeweise Frauenkleidung liegt. An der Decke spiegelt oder abstrahiert ein großer Bildschirm die Vorgänge. Diese Video-Installation (Nives Widauer) birgt schöne Momente, wirkt aber eher selbstbezüglich. Weiteres Element: Deutsche Volksweisen von Ehrfurcht, Gottvertrauen und „Jungfrauen in grünen Auen” (dargeboten vom Vokalensemble der Philharmonia Wien) hören sich an wie verlogene Beschwichtigungen, sie stehen aber auch für utopische Sehnsüchte. Schönklang als Refugium. Andererseits wirkt der kleine Männerchor manchmal wie eine Schar geiler Freier.

Der weitgehend monologische Text erschwert den Schauspielerinnen Julischka Eichel, Barbara Nüsse und Anna Franziska Srna die Entfaltung. Was hat Genazino, der sonst so wunderbare Prosa schreibt, an diesem Stoff bloß so dringlich und theaternotwendig gefunden? Vielfach scheint er frauenbewegte Geschichtslektionen nachzuschmecken, ja sogar etwas flau nachzubeten. Sein Stück trifft nicht gerade mitten ins Herz unserer Gegenwart.

Termine (Duisburg, Landschaftspark Nord, Gebläsehalle): 5., 6., 8., 9., 10. Oktober. Karten: 0700/2002 3456. http://www.ruhrtriennale.de/

___________________________________________________

INFO:

  • Genazino bezieht Anregungen für „Courasche oder Gott lass nach” aus der Literaturgeschichte.
  • Eine Inspiration ist der 1670 erschienene Roman „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche” von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.
  • Aus Grimmelshausens Werk über Wirren und Gräuel des Dreißigjährigen Krieges schöpfte auch Bert Brecht – für sein Stück „Mutter Courage und ihre Kinder”.