„Der doppelte Erich“ – wie Kästner sich durch die NS-Zeit lavierte

Erich Kästner scheint, von heute aus betrachtet, zu den Unbezweifelbaren zu gehören. War er nicht eindeutig „links“ und somit unverdächtig, es auch nur ansatzweise mit dem NS-Regime gehalten zu haben? Wenigstens bis in die späten 1960er Jahre galt er quasi als geheiligt, und bis heute scheint sein Andenken gegen Attacken gefeit. Sind seine Bücher nicht schon 1933 auf den schändlichen Scheiterhaufen der Nazis verbrannt worden? Ja, gewiss, so war es. Und doch…

…und doch gibt es jetzt ein bedenkenswertes Buch, in dem etliche Zweifel an seiner Redlichkeit laut werden. Diese Einwände lassen sich wohl nicht so einfach beiseite wischen. Kästner, schon am Vorabend des „Dritten Reiches“ mit Büchern wie „Emil und die Detektive“ (1931) weithin berühmt, ist alle die finsteren Jahre über – bis zum „bitteren Ende“ – in Deutschland geblieben, ja, er hat in dieser Zeit (wenn auch meist unter Pseudonymen schreibend) zuweilen gar nicht schlecht verdient. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Kästner gewähren, als der das Drehbuch des groß angelegten Films „Münchhausen“ (Kinostart März 1943, Hauptrolle Hans Alberts) zum Ufa-Jubiläum schrieb. Mit dieser Produktion wollten die NS-Machthaber zeigen, dass der längst „abgehängte“ deutsche Film Hollywood mindestens ebenbürtig war – natürlich ein lachhafter Trugschluss. Übrigens: Erst Hitler selbst setzte der stillschweigenden Schreiberlaubnis für Kästner ein abruptes Ende.

Nach 1933 nur Harmloses geschrieben

Buchautor Tobias Lehmkuhl, Journalist u. a. für „Zeit“, „FAZ“ und Deutschlandfunk, hat erwartungsgemäß gründlich recherchiert, um Kästner auf die teilweise verdächtigen Spuren zu kommen. Zwar trägt er viele, viele Fakten zusammen, doch muss er auch immer mal wieder spekulieren. Demnach ist es dann nicht unwahrscheinlich oder einigermaßen wahrscheinlich, dass Kästner zu dem oder jenem Zeitpunkt diesen oder jenen Menschen getroffen und dieses oder jenes Thema mit ihm besprochen hat. Na, wenn das so sein soll… Da steht spürbar so manches auf tönernen Füßen.

Der Buchtitel „Der doppelte Erich“ ist eine etwas wohlfeile, aber griffige Anspielung auf Kästners Erfolg „Das doppelte Lottchen“ (erst 1949 erschienen) und überdies ein Hinweis darauf, dass dieser Autor fast durchweg Maskierungs- und Doppelgänger-Geschichten ersonnen und erzählt habe. Daraus wiederum leitet sich die hartnäckig verfolgte Annahme her, dass er selbst ein Meister im Verschleiern und im geschickten Rollenspiel war. Während des „Dritten Reiches“ hat Kästner, der zuvor den beachtlichen „Fabian“ geschrieben hatte, nur noch Harmlosigkeiten wie „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ hervorgebracht. Er war, wie es hier heißt, sozusagen ein amputierter Autor, der sich hin und wieder sogar von der unmenschlichen Sprache der Faschisten (von Victor Klemperer LTI = „Lingua Tertii Imperii“ genannt) infiziert zeigte.

Kompromisse fürs (finanzielle) Überleben

Tatsächlich muss einem längst nicht alles sympathisch oder auch nur geheuer sein, was Kästner damals unternommen und unterlassen hat. Zwar hat ihm der von den Besatzern als deutscher Kronzeuge eingesetzte Carl Zuckmayer schon 1943 eine Art Unbedenklichkeits-Bescheinigung („Persilschein“) ausgestellt, doch hatte Kästner zuvor mehrfach nachdrückliche Versuche unternommen, in die NS-geführte Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Fürs finanzielle Überleben scheint er zu einigen (faulen) Kompromissen bereit gewesen zu sein. Er selbst stand übrigens unerkannt in hinterer Reihe dabei, als (auch) seine Bücher verbrannt wurden – und hat keinesfalls dagegen die Stimme erhoben, weil ihm sein Leben lieb war.

Nach dem Krieg hat Kästner Legenden verbreitet wie jene, dass er als einziger unter Tausenden bei einer Propaganda-Veranstaltung im Berliner Sportpalast nicht mitgesungen habe und nicht aufgestanden sei, was Tobias Lehmkuhl füglich in Zweifel zieht. Man darf wohl schließen: Ein Kurt Tucholsky, mit dem Kästner in den 20ern zusammengearbeitet hatte, war und ist sicherlich eine verlässlichere moralische Instanz als der zur Nonchalance neigende Kästner.

Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns

Der in Zeitungs-, Literatur- und Filmszene bestens vernetzte Caféhausliterat (eine Feststellung, keine Abwertung!) Kästner hat sich den Zumutungen der Zeit oft durch seinen Charme und durch Verhandlungsgeschick zu entziehen vermocht. Weiterhin pflegte er laut Lehmkuhl seinen verfeinerten Lebensstil zwischen Tennissport und Teintpflege. So detailfreudig wird sein Verhalten und werden seine beruflichen Freundschaften seit den „Goldenen“ Zwanzigern durchgespielt, dass mancherlei Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns sich offenbaren. Auch scheint Kästner hin und wieder Gesinnungs-Verrat an einstigen Mitstreitern verübt zu haben, womit er heftige Kritik z. B. von Walter Benjamin oder Klaus Mann (Wie sich das angepasst hat (…) bis zum morastischen Schlammgrund der Ufa-Presse“) auf sich zog. Gegen solche harschen Anwürfe nimmt auch Lehmkuhl seinen Protagonisten in Schutz. Überhaupt ist er bemüht, möglichst Mittelwege einzuhalten. Auch damit entspricht er seinem Thema, das man wahrscheinlich nicht anders als schwankend schildern kann.

Fragen zur „Inneren Emigration“

Ein eigenes Kapitel ist Kästners ebenfalls zwiespältigem Verhältnis zu Frauen gewidmet. Der Mann, der allzeit sein Dresdner „Muttchen“ (freilich arg geschönt und verharmlost) brieflich auf dem Laufenden hielt, gestand – damals keine Selbstverständlichkeit – seinen zahlreichen Liebschaften zwar einen eigenen Kopf und eigene Freiheiten zu, ließ aber gelegentlich Frauenverachtung durchblicken. Auch dafür bringt Lehmkuhl passende Belegstellen bei. Mit Treue hatte Kästner es eh nicht. Beispiel: Just als eine Gefährtin beim Autounfall verstarb, lag er mit einer anderen zu Bette. Etwas küchenpsychologisch werden folglich Vermutungen über seine Beziehungsunfähigkeit angestellt.

Noch einmal wirft dieses Buch häufig gestellte Fragen zur „Inneren Emigration“ auf, die auch anhand anderer Zeitgenossen (Gottfried Benn, Axel Eggebrecht etc.) aufgeworfen werden, wobei u. a. die wirklichen Emigranten Thomas Mann und Theodor W. Adorno als moralische Maßstäbe angelegt werden. Auch dabei gibt es kein reines Schwarz oder Weiß, es geht um vielerlei Grautöne. Hatte Kästner anfangs vielleicht wirklich noch angestrebt, einen größeren Roman übers „Dritte Reich“ zu verfassen und eben deshalb im Lande zu bleiben, so sind kaum Notizen für ein solches Projekt erhalten – geschweige denn, dass ein veritables Werk dieser Art entstanden wäre. Nur: Konnte jemand unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anders handeln als Kästner?

Gar lange lässt eine Schilderung von Kästners Nachkriegs-Existenz auf sich warten, die dann leider auch etwas knapp ausfällt. Speziell hätte mich zum Beispiel Kästners patenschaftliche Rolle bei Gründung des legendären Satiremagazins „Pardon“ (1962) interessiert. Aber das ist vielleicht noch mal ein anderes Kapitel.

Tobias Lehmkuhl: „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“. Rowohlt Berlin. 305 Seiten, 24 Euro.




Die Revierpassagen wünschen frohe Festtage




Die etwas andere Laden-Kette (keine weihnachtliche Geschichte)

Nicht in Ketten, aber sicherheitshalber angepflockt: herzige Weihnachts-Deko, nicht allzu weit entfernt von der Stelle, an der sich die kleine Geschichte zugetragen hat. (Foto: Bernd Berke)

Leute, ich erzähle Euch mal eine kleine Geschichte, mit der ich mich womöglich als „Spießer“ zu erkennen gebe. Sei’s drum.

Nein, die Chose spielt nicht in härteren Ecken von New York, London oder Berlin, auch nicht in der Dortmunder Nordstadt, sondern im vergleichsweise biederen Stadtteil Dortmund-Körne – und daselbst in einer harmlosen Tedi-Filiale, einer jener Resterampen für Deko-, Zeichen-, Bastel-, Haushalts- und Büro-Bedarf. Die Zentrale dieser Laden-Kette (!) befindet sich übrigens just in Dortmund. Warum ich das Ausrufezeichen hinter „Laden-Kette“ gesetzt habe? Abwarten.

Da betritt also ein nicht mehr ganz junger Mann (cirka 60 plus), der eigentlich nicht weiter auffallen würde, mit einem jüngeren, aber reichlich „abgerissen“ aussehenden und gebückt gehenden Kerl das Geschäft und schaut sich im Angebot (vielfach made in China) um. Ungewöhnlich nur: Er hält den anderen an einer Kette. Im ersten Moment ließe sich denken, es sei eine spezielle Bewachung beim Freigang. Doch es zeigt sich schnell, dass die Konstellation vor allem sexueller oder zumindest herrschaftlicher Art ist. Die Ankettung befindet sich nicht nur an den Handgelenken, sondern auch am Hals. Oha! So demütigend weit gehen staatliche Maßnahmen in aller Regel denn doch nicht. Jedenfalls nicht hier und jetzt.

Hinsehen oder wegschauen?

Die wenige Kundschaft, die abends kurz vor der Schließung noch zugegen ist, bemüht sich redlich, den Anblick „ganz normal“ oder wenigstens nicht des Aufhebens wert zu finden. Dumdideldum, interessante Angebote gibt es hier. Auch sich selbst ertappt man dabei, zwischen zwanghaftem Hinsehen (aus den Augenwinkeln) und krampfhaftem Wegschauen zu schwanken. Doch alltäglich ist die Szenerie wirklich nicht. Vor allem nicht in dieser Umgebung.

Mit dem Bezahlen nach dem SM-Duo an der Reihe, halten wir etwas Abstand, damit sie sich bloß nicht beobachtet oder bedrängt fühlen. Dann verlassen sie den Laden, einer führend, einer folgsam. Die Kassiererin, eine etwas ältere Dame, ist fertig mit den Nerven: „Sachen gibt’s, nee, nee…“, bringt sie kopfschüttelnd hervor. Bevor die beiden gingen, habe der eine noch gesagt: „Komm, Sklave!“ Der trottete dann bereitwillig hinterdrein. Wer weiß, was ihm fürderhin noch bevorsteht. Zuvor hatte sein Herr ihm die offene Einkaufstasche hingehalten. Der Sklave musste sie möglichst rasch und geräuschlos mit dem Erworbenen befüllen. Ich weiß nicht, was die beiden auf Kosten des dominanten Herrn eingekauft haben. Neue Eisenketten dürften es kaum gewesen sein, denn: Selbst, wenn sie im Sortiment wären, hätten sie hier wohl kaum die nötige Zwangs-Qualität.

Vielleicht waren es ja ganz gewöhnliche Christbaumkugeln. Oder halt billiges Plastikzeug. Oder eine Laubsägearbeit:  hölzerner Weihnachtsmann mit dem üblichen „HoHoHo“-Aufdruck. Am Ende sind Herr und Knecht noch die wahren Spießer. Ist aber auch egal. Es ist eh eine unscharf gewordene Bezeichnung.

In diesem und anderem Sinne allseits frohe Festtage.

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P. S.: Zum Thema „Ketten“ fielen mir dann noch die folgenden Zeilen von Schiller (aus dem Gedicht „Worte des Glaubens“, 1797) ein, die sich freilich auf obrigkeitliche, tyrannische Herrschaft beziehen:

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd‘ er in Ketten geboren.




Lauter schmerzliche Verluste – Dortmund damals und jetzt

Titelseite des Bandes mit der damaligen Brückstraße und der Marienkirche links im Hintergrund, 1920er Jahre. Die Dimension der Verluste wird so recht deutlich, wenn das hier nur eingeklinkte neue Bild in gleicher Größe erscheint wie das alte (im Buch auf der Doppelseite 16/17). Es offenbart sich dann eine städtebauliche Sünde sondergleichen. (Historisches Bild: Sammlung der LWL-Museen für Industriekultur, Westfälisches Landesmuseum / Neue Fotografie: Frauke Kreutzmann, Wartberg Verlag)

Schaut man sich Dortmunder Ansichtskarten aus Vorkriegs- und noch früheren Zeiten an, so könnte man mindestens wehmütig werden. Aller industriellen Verschmutzung zum Trotz, war das alte Dortmund eine vielfach schmucke Stadt mit etlichen repräsentativen oder gar imposanten Bauten und zahlreichen idyllischen Straßen und Plätzen. Daraus bezieht auch der neue Bildband „Dortmund Gestern | Heute“ seinen Reiz – und sozusagen seinen speziellen Horror.

Besagte Wehmut schlägt hier nämlich ins Deprimierende um, werden doch die Bilder von früher direkt heutigen Ansichten gegenübergestellt, die ungefähr aus denselben Blickwinkeln aufgenommen wurden. Was da alles verloren gegangen ist, mag man sich am liebsten gar nicht weiter ausmalen. Es ist ein Jammer.

Pracht der Bahnhöfe, des Theaters, der Synagoge

Man vergleiche nur den alten, 1910 eröffneten Bahnhof mit dem heutigen, seit Jahrzehnten nur halbherzig umgebauten (bzw. hoffnungslos verbauten) Provisorium. Selbst der frühe Vorläufer von 1847 hatte noch entschieden mehr Charme. Man vergleiche die ebenso stolze Oberpostdirektion von einst mit dem jetzt nur noch weit ausladenden Postbank-Gebäude an selbiger Stelle. Ganz zu schweigen vom früheren Theaterbau oder vom gotischen Giebel-Rathaus, ursprünglich aus dem 13. Jahrhundert, aufwendig restauriert zum Kaiserbesuch im Jahr 1899 – und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ebenso schwer beschädigt und (vielleicht unnötig) abgerissen wie das alte Theater. Ungleich schlimmer noch, dass die einst so prächtige, mit einer Kuppel gekrönte Synagoge 1938 von Nazi-Horden zerstört wurde. Wobei das Ausmaß dieses Schreckens selbstverständlich weit über den städtebaulichen Schaden hinaus ging.

Schmerzliche Verluste lassen sich bis in einzelne Straßenzüge verfolgen. Dazu zählen auch veritable Amüsier- und Revue-Paläste wie das „Olympia-Theater“ (für 1700 Zuschauer) oder Freizeit-Areale wie Saalbau und Lunapark am Fredenbaum, die auf ein reges Stadtleben hindeuten. So freundlich und sozial anregend das 2001 von der Hannoveraner Expo nach Dortmund geholte Riesenzelt „Big Tipi“ sein mag, ist es doch kein Ersatz, sondern es wäre allenfalls eine nette Ergänzung zum alten Zustand. Dortmund war allerdings auch eine der am schwersten zerstörten deutschen Städte überhaupt. Nach 1945 wurde gar erwogen, die trostlosen Restbestände aufzugeben und an anderer Stelle völlig neu zu beginnen.

In manchen Fällen nur noch Brutalismus

Frauke Kreutzmann, Fotografin der neuen Bilder aus der Stadt, kann natürlich nichts für den allgemeinen atmosphärischen Schwund, der mehr oder weniger für alle Ruhrgebietsstädte gelten dürfte. Sie dokumentiert halt das, was nun vorhanden ist. Und das ist in manchen Fällen ein modernistischer Brutalismus, der wohl auch mit der seit Kriegsende die Stadt regierenden SPD zu tun hat. Bei allem, was man gegen die Konservativen einwenden kann oder auch muss, hätten sie wahrscheinlich mehr Sinn fürs gewachsene Stadtbild gehabt und mutmaßlich hie und da rettend eingegriffen. Um den Unterschied zu ermessen, könnte man beispielsweise Dortmund und Münster gegeneinander halten. In Dortmund sind nur noch vereinzelte Bauten als Solitäre erhalten – und noch immer scheint sich bei vielen Lokalpolitikern kein sonderlicher Sensus für solch historisches Herkommen zu regen.

Rüdiger Wulf, langjähriger pädagogischer Leiter beim Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) und danach bis 2018 Direktor des Westfälischen Schulmuseums in Dortmund-Marten, hat knappe, aber kundige Begleittexte geschrieben und dazu in allerlei Archiven und Büchern passende Zitate gefunden, die vom Dortmunder Leben in alten Zeiten künden. Wulff erläutert auch, dass einige der alten Ansichten geschönt daherkommen. Hie und da sei gnädig begradigt, retuschiert, montiert und (zuweilen übertrieben) koloriert worden. Dennoch handelt es sich keineswegs um grobe Verfälschungen. Ergo: Das Erscheinungsbild der damaligen Stadt lässt sich ebenso wenig schlechtreden wie die heutige Anmutung haltlos gepriesen werden kann.

Rüdiger Wulf / Frauke Kreutzmann: „Dortmund. Gestern | Heute“. Wartberg Verlag, 96 Seiten, Format 22 mal 24 cm, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos, gebunden, 19,90 Euro.

 




Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Immer wieder „Alles gut“

Gerne hätten wir folgende Zeilen unter das Bild gesetzt: „Das Licht der Aufklärung durchdringt den sprachlichen Nebel.“ Aber das lassen wir lieber bleiben. (Foto: Bernd Berke)

Zugegeben, es wird im deutschen Sprachraum schon seit einigen Jahren gesagt, allerdings mit der Zeit immer und immer öfter. Inzwischen ist es längst eine feste Formel, ja ein Passepartout geworden, eigentlich immer und überall zu gebrauchen:

„Alles gut.“

Soll man’s schriftlich und stimmlich mit oder ohne Punkt ausklingen lassen, mit Ausrufezeichen oder gar mit drei Auslassungs-Punkten? Das bleibt jedem Menschen selbst überlassen. Wichtig ist nur: Es soll beruhigend wirken, lindernd und beschwichtigend (Achtung, auch darin verbirgt sich das Wort „wichtig“), es soll an sich schon harmlose Situationen weiter entschärfen, die sowieso gar nicht allzu viel Konfliktpotential bergen. Sollte es sich etwa nur um eine nette Nichtigkeit handeln?

Erstaunlich ist, dass sich dieses sedierende „Alles gut“ ausgerechnet in Zeiten des grassierenden Wutbürgertums und der „kurzen Zündschnüre“ entwickelt hat – wie zum Ausgleich für brüllend obszöne Verwünschungen. Fraglich ist, ob ein echter Wutbürger gelegentlich „Alles gut“ sagt. Es ist nicht anzunehmen. Mithin scheinen die beiden (im Grunde herzlich unverbindlichen) Wörtchen eine Domäne der Friedliebenden im Lande zu sein. Gewisse Draufgänger halten solche Leute für Schwächlinge oder auf Neudeutsch für „Lauch“.

Wer möglichst jeglichen Streit vermeiden, sich aber auch komplizierte Widerreden und überhaupt langwierige Dialoge ersparen will, kann alles rasch mit seinem versöhnlerischen „Alles gut“ zukleistern. Es sagt sich ja so einfach und gedankenlos dahin. Aber trifft es auch inhaltlich zu?

Die ans Philosophische grenzende Frage lautet doch: Kann denn überhaupt unentwegt „Alles gut“ sein, oder wird das Sprüchlein eh nur auf Nebensachen angewendet? Dann dürfte es sich um ein schnellstens angerührtes Lösungsmittel für Kleinigkeiten handeln, für Peanuts und Petitessen. Eher einem sehr flüchtigen Lächeln vergleichbar, dem Zwinkern und Flunkern nicht fern.

Sobald es ernster wird, verfehlt das „Alles gut“ ohnehin seine mildernde Wirkung. Man stelle sich vor, wie die vielfach landesübliche, rechtsschutzbewehrte juristische Kampfbereitschaft auf Widersacher trifft, die ein ganzes Verfahren mit „Alles gut“ quittieren wollen. Dann wäre nichts mehr gut.

 




Dem Tod gefasst entgegensehen – Paul Austers Roman „Baumgartner“

Ein doppeltes Missgeschick wirft das Gedanken-Karussell des Erzählens an: Zuerst hantiert Professor Seymour T. Baumgartner (genannt „Sy“), emeritierter Phänomenologe und Schriftsteller aus Princeton (USA), höchst ungeschickt mit einem glühend überhitzten Topf. Kurz darauf stürzt er eine Treppe hinunter. Slapstick mit schmerzlichen Folgen.

Doch da ist ein bleibender, ungleich tieferer Schmerz, der phantomhaft fortwirkt: Vor einigen Jahren ist Anna, die Frau seines Lebens, wider seinen Rat abends noch einmal zum Schwimmen ins Meer gegangen und von einer tödlichen Monsterwelle erfasst worden. Wie kann der Hinterbliebene das aushalten? Zitat: „Leben heißt Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.“ Für eine solche Einsicht muss das Ereignis wohl schon eine Weile zurückliegen.

Seit Annas Tod schwindet jenes Gefühl nicht mehr, dass einem immer und überall etwas zustoßen kann. Aus dem andauernden Bewusstsein von Endlichkeit und Vergänglichkeit erwächst hier mit der Zeit Gefasstheit, während die Panik sich nach und nach vermindert.

Auf schwankendem Boden

Gleichwohl: Auf unsicherem, schwankendem Boden bewegt sich Paul Austers Roman „Baumgartner“, der aus Reflexionen und Erinnerungen des nunmehr 71 Jahre alten Witwers besteht; freilich nicht in der Ich-Form, sondern distanziert in der dritten Person wiedergegeben, doch kaum minder eindringlich. Es stehen nun solche Fragen an:  Wie viel Zeit bleibt noch auf Erden? Was geschieht nach dem Tod? Besteht dann noch eine geheime Verbindung mit einst geliebten Lebenden?

„Er ist jetzt einundsiebzig, in sechs Wochen steht der nächste Geburtstag an, und ist man erst einmal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angelangt, muss man mit allem rechnen.“ Gekommen sind demnach die Zeiten, in denen nicht nur generell das Gedächtnis nachlässt, sondern man auch öfter vergisst, den Hosenstall zuzumachen. Das Altern als lachhaft traurige Groteske… Aber wäre es denn besser, so früh, selbstgewiss, kühn und aufrecht in den Tod zu gehen wie seinerzeit Anna?

Lektüre unter anderen Vorzeichen

Unterdessen schweifen Baumgartners Gedanken in die Vergangenheit. Es ziehen so manche Szenen aus seinem Leben noch einmal vorüber; besonders aus der Frühzeit, als er Anna kennenlernte, die damals zunächst den Ehrgeiz hatte, Baseball-Spielerin zu werden, um es den Jungs zu zeigen. Ein Paar wurden sie erst nach etlichen Jahren, vor dem Zeithorizont des Vietnamkriegs und der heftigen Proteste dagegen. Durch Zufall sind sie einander wieder begegnet, doch auch wie vorherbestimmt. Es wurde eine anfangs wild erotische, sodann zunehmend intellektuell bereichernde Partnerschaft.

Austers treue Leserinnen und Leser mögen hierbei an sein reales Leben mit der ebenfalls ruhmreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt denken. Es bleibt ihnen unbenommen. Aber in derlei Analogien geht dieses Buch natürlich längst nicht auf. Seit Siri Hustvedt die (literarische) Welt hat wissen lassen, dass Paul Auster an einer schweren Krebserkrankung leidet, liest man einen solchen Roman allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderen Regungen. Je nach Lebensalter dürften sich zudem verschiedene Lektüren ergeben. Doch darunter sollte keinerlei fruchtlose Lektüre sein.

Ukraine als Zone des Schreckens

Die Rückblicke führen jedenfalls über die wechselhafte Lebensgeschichte der Eltern (welche Optionen hatten sie, welche haben sie genutzt?) bis in die Kindheit und weiter hinab zum Gedenken an den jüdischen Großvater in der Ukraine, wo Baumgartner sich viele Jahrzehnte später – am Rande einer PEN-Autorentagung – in der entsprechenden Region um Lwiw umsehen konnte. In der Gegend sind viele Gräuel des 20. Jahrhunderts kulminiert, sie war wiederholt eine Zone schrecklichen Massensterbens. Dieser Roman schildert eben keine rein persönliche Geschichte, er umgreift auch das Weltgeschehen. Übrigens erinnert sich Auster und mit ihm Baumgartner in diesem Zusammenhang an ein deutsches Gedicht, das Georg Trakl in jenen Breiten über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es heißt „Im Osten“ und endet mit der Strophe:

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Gegen Ende hin scheint die Handlung gleichsam ein wenig ins Schlingern zu geraten, als würde es Auster aus der Kurve tragen. Auch Baumgartner hat ein Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“ vollendet, das sich zwischen Aristoteles und allerlei Erwägungen zum „autonomen Fahren“ ergeht. Er fragt sich selbst, ob etwa seine Kraft zum Schreiben nachgelassen habe. Auch hier also das Menetekel des Alterns. Doch noch einmal, ein letztes Mal, so scheint es, hat er einen Text auf eigener Höhe verfasst.

An wessen Türe klopft er schließlich an?

Es geht derweil nicht nur um Todesnähe und Zeitvergang, sondern zuinnerst auch um die Liebe. Nach Jahren der flehentlichen Trauer hatte Baumgartner jüngst eine Affäre, aus der mehr zu werden schien und aus der dann doch nichts geworden ist. Und nun? Hat sich eine junge, offenbar ausgesprochen kluge und vitale Wissenschaftlerin gemeldet, die sehr eingehend über Annas vorliegendes und verborgenes Werk forschen möchte, wobei ihr Baumgartner sicherlich am besten helfen kann. Er lädt sie auf unbestimmte Dauer ein, lässt eigens ein Einlieger-Apartment für sie herrichten, blüht auf vor lauter Vorfreude, ja Vor-Verliebtheit. Ist sie nicht gar so etwas wie eine wiedergeborene Anna? Als sie im fernen Bundesstaat losfährt, macht er sich ungeheure Sorgen wegen der Wetterverhältnisse. Ob und wann diese Beatrix („Bebe“) Coen bei ihm eintrifft, erfahren wir jedoch nicht mehr. Der Roman nimmt ein jähes Ende, das ins Leere zu laufen scheint. Ob es auch im Nichts endet, steht dahin.

An diesem Ende geschieht abermals ein Unfall, diesmal mit dem Auto, in das sich Baumgartner gegen alle Vernunft beim widrigem Winterwetter gesetzt hat. Er scheint nur leicht verletzt zu sein und selbst Hilfe in einem nahegelegenen Haus aufsuchen zu können. Doch dann klingt es in den vieldeutigen Schlusssätzen so, als habe er vielleicht nicht bei gewöhnlichen „Leuten“, sondern an die Tür des Todes geklopft. Welch ein rätselvoller Aus- und Übergang. Niemand weiß mehr.

Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 204 Seiten, 22 Euro.




Gehen und Innehalten – Peter Handkes „Ballade des letzten Gastes“

Aus gänzlicher Fremde, wieder aus einem anderen Erdteil kommend, kehrt ein Mann namens Gregor – wie alljährlich zuvor – für eine Woche heim. Taufpate des Sohnes seiner Schwester soll er diesmal werden.

Was gibt es noch am einst heimischen Ort, was und wen kennt er noch? Nur noch Bruchstücke. Die frühere Dorflandschaft ist längst Teil einer gestaltlos ausufernden städtischen Agglomeration.

Unterwegs erhält Gregor die Nachricht, dass sein jüngerer Bruder, ein Söldner, gestorben sei. Er verschweigt es seiner Familie, erst kurz vor Gregors Abreise erfährt es wenigstens die Schwester.

Überaus sorgsam und skrupulös registriert der Heimkehrende jede Kleinigkeit, jeden Vorgang am Wegesrand. Mit Ungeduld darf das jedenfalls nicht gelesen werden. Sonst müsste man das Buch alsbald beiseite legen. Passender wär’s, man läse es – verwegene Idee? – wie ein lernendes Kind, gleichsam mit dem Zeigefinger die Zeilen nachfahrend.

Keine „fertige“ Erzählung

„Die Ballade des letzten Gastes“ von Peter Handke kommt nicht als „fertige“ Erzählung daher, sondern ergeht sich in mühsamen Wortfindungen voller Sprachzweifel. Kein Satz geht einfach so dahin. Beispielzitat für viele: „In der Krone des einen (…) Baums jetzt ein Knacken, nein, ein Knistern, nein, ein Rascheln, nein, ein Rumoren, nein, ein Klopfen – Unsinn, ein Geräusch, für das es kein Wort gab, oder mehrere, viele, unendlich viele…“ Selbstkorrekturen ohne Unterlass. Nichts steht fest, nichts ist gewiss. Gar vieles steht nur in Anführungszeichen.

Allerdings verwendet Handke – wie zum Trotz – erneut seine bekräftigenden Lieblings-Fügungen wie „jetzt und jetzt“, „jetzt, und jetzt, und abermals jetzt“, „nicht und nicht“, „nichts und wieder nichts“. Es klingt in der Häufung nach Manier und Marotte, mag aber auch auf Dringlichkeit hindeuten. Denn immerzu droht die allgemeine Katastrophe. Zitat: „Wir Kippfiguren! Wir auf des Messers Schneide!“

„Her mit einer Diktatur…“

Zwischendurch dann jene, für Handke gleichfalls nicht untypischen Ausbrüche solchen Zuschnitts, die einen ratlos lassen, Rollenprosa hin oder her: „Nie wieder Kino. Schluß mit den Filmen als Zuschauerrechtsverletzungen. Teil der Demokratie das Zeug? Nieder mit der Demokratie,  weg mit all den Alles-geht-Demokratien (…) Her mit einer Diktatur, einer neuen, die verbietet, was verboten gehört. Vita nuova!“ Inwieweit wäre dies wörtlich zu nehmen? Von Peter Handke, dem erklärten Feind jeglicher Meinungen? Doch der Autor der legendären „Publikumsbeschimpfung“ lässt Gregor im Laufe der Erzählung beispielsweise auch noch den kleinen Täufling und die Natur verfluchen.

Vor allem aber zelebriert Handke das Nichtgeschehen. Er beschwört Vorstellungen wie jene von der Einäugigkeit, noch gesteigert mit dunkelster Brille – oder jene von ziellosen Fahrten in nahezu leeren Straßenbahnen. Am Rande des Nicht-Sehens, des Nicht-Begegnens. Abkehr von Zumutungen der Mitwelt. Sodann aber der nächtliche Kauf unscheinbarer, ja nichtiger Dinge, durch den Gregor sich unversehens geerdet und zugehörig fühlt. Übliche Sinnstiftung im Kapitalismus? Nein, nicht so profan. Zugleich wird ja der gewichtige Mythos vom heimkehrenden Odysseus aufgerufen. Doch auch Zeilen aus einem unbedarften Popsong („Sheila“ von Tommy Roe) oder Western-Zitate fließen mit ein. Solche Jukebox-Anklänge kennt man von Handke gleichfalls.

Erst im Wald, dann in den Gaststätten

Der mitunter umständliche, bisweilen seherische und weihevolle Erzählduktus – oder: Fortgang – ist ein beständiger Wechsel zwischen „gehen, gehen, gehen“ (Zitat, Seite 102) und Innehalten. Daraus ergibt sich eine Chronik des Verirrens (Odyssee) und einer schweifenden Sehnsucht, die insbesondere in einem rätselhaft widersprüchlichen Wald-Erlebnis gipfelt. Schließlich, gegen Ende der Heimkehr-Woche, sucht Gregor allabendlich irgendwelche Gaststätten auf, in denen er unbedingt stets der „letzte Gast“ sein will. Dort findet er so etwas wie gutwillige Gemeinschaft vor, die ihn aber nicht behelligt.

Das zweite von drei Kapiteln heißt denn auch „Die Ballade vom letzten Gast“, das dritte (eine Art Essenz des Vorherigen) „Die Ballade des letzten Gastes“. Nanu! Erst gegen Schluss erfahren wir den Nachnamen der Hauptfigur: Gregor Werfer wird er genannt. Nochmals nanu! Über derlei Feinheiten mag man sich das Hirn zermartern – oder lieber die wohl wundersamste Episode des Buches inhalieren, wie sie so vielleicht nur Peter Handke beschreiben kann. Auf einem seiner einsamen Gänge in einem leeren Stadion pausierend, sieht Gregor einem selbstvergessen Fußball spielenden Mädchen zu – ein Inbild der stillen Zuversicht; nicht flüchtig, sondern auf Dauer und Tragweite angelegt.

Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“. Suhrkamp, 185 Seiten, 24 Euro.




Vom Pasta-Rezept zur Bellini-Oper und zurück

Im Entstehen begriffen: das erwähnte Pasta-Rezept mit Penne Rigate. (Foto: BB)

Zufälle gibt’s! Beispielsweise solche, die sich zwischen Kulinarik und Opernwelt begeben.

Der Reihe nach: Wir haben ein Rezept ausprobiert, es trägt den Titel „Sizilianische Pasta mit Ricotta und Auberginen (alla Norma)“ und soll hier selbstverständlich auch sogleich verlinkt werden. Damit niemand sagen kann, er/sie sei um den Genuss gebracht worden.

Ich will aber auf etwas anderes hinaus. Warum trägt das Gericht eigentlich die Zusatz-Bezeichnung „alla Norma“? Dazu verzeichnet Wikipedia zwei Erklärungsversuche. Der eine besagt, ein sizilianischer Koch sei vor Zeiten so begeistert gewesen, dass er die Pasta-Variation nach der Oper „Norma“ des ruhmreichen Komponisten Vincenzo Bellini benannt habe, der just in Catania (Sizilien) geboren wurde. Die zweite Version klingt weniger leidenschaftlich, sie bezieht sich auf den Ausdruck „una vera norma“ („eine echte/wirkliche Norm“), der die Beispielhaftigkeit allgemein feiert.

Zurück zu Bellini. Seine hochdramatische Belcanto-Oper umkreist jene gallische Druiden-Priesterin Norma und spielt zur römischen Besatzungszeit, rund 50 Jahre vor Christus. (Wer sich nebenbei an Asterix erinnert fühlen sollte, kann schwerlich daran gehindert werden). Norma lässt sich jedenfalls – sozusagen gegen jede gesellschaftliche Norm – mit dem römischen Prokonsul Pollione ein, also mit dem Feind ihres Volkes. Die beiden haben sogar zwei Kinder miteinander, die Norma versteckt hält. Als sich Pollione in die gallische Novizin Adalgisa verliebt, nimmt eine tödliche Tragödie ihren Lauf…

Ein aufwühlender Stoff, fürwahr, der sich in Arien sondergleichen ergießt. Auch und vor allem Maria Callas hat damit Erfolge gefeiert. Und doch musste ich, der ich mit Opern fremdele, ziemlich schmunzeln, als ich las, wer die Titelpartie bei der Uraufführung am 26. Dezember 1831 in der Mailänder Scala gesungen hat. Ob Zufall oder Fügung: Der Weg führt verbal zum eingangs erwähnten Rezept zurück, denn die Dame hieß Giuditta Pasta.

Jaja, ich weiß, keine Scherze mit Namen. Nennt mich albern. Ich kann es doch auch nicht ändern. Und damit Basta!




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Lecken, schmecken, lispeln, lallen: Fast alles über die Zunge

Florian Werner knöpft sich die kulturgeschichtlichen Themen vor, wie sie ihm beikommen. Zuletzt hatte er sich mit allerlei Fährnissen rund um die Raststätte befasst, es wurde an dieser Stelle gewürdigt. Nun ist ein ganz spezieller Körperteil an der Reihe: die Zunge, also das eigenwillig schlüpfrige Ding in der Mundhöhle, das manchmal so keck hervorkommt.

Schnell wird klar, wie fleißig der Autor Materialien gesammelt hat. Nahezu jede denkbare (zumindest deutschsprachige) Redensart mit Zungenbezug wird zitiert und aufs pralle Leben bezogen. Da kommt einiges zusammen. Derlei Bücher tendieren überhaupt dazu, die ganze Welt auf ihr Thema zu fokussieren. Dem Zungen-Autor ist irgendwann alles Zunge. Und so heißt es auch hier: bloß nichts vergessen, bloß nichts auslassen, keinen Gag verschenken. So wird die Phänomenologie der Zunge um und um gewendet. Beim Ameisenbär ist sie übrigens rund 60 Zentimeter lang, die Giraffe bringt’s auf 50 Zentimeter. Nur mal fürs Protokoll.

Provokation und Sexualität

Was kann die Zunge nicht alles sein und vollführen – von frühauf: gemeinsam mit den Lippen an der Mutterbrust saugen. Aber sie ist auch körperpolitisch aktiv. Vor allem seit den 1960er Jahren gerät sie zum immer offensiveren Zeichen der Provokation, sofern frech rausgestreckt (man denke ans berühmte Stones-Cover und dergleichen Ikonen); ein höchst bewegliches Organ, schleimig und zuweilen etwas eklig. Sodann die sexuelle Konnotation beim Lecken und Gelecktwerden. Mit den Geschlechtsteilen hört die Leckerei ja noch lange nicht auf, das weite Feld wird von A bis Z (Klartext: Arschlecken bis Zungenkuss) durchbuchstabiert. Feinsinnige Unterscheidung: Kommt die Zunge aus dem Mund und wölbt sich nach oben, so darf die Mimik als lasziv gelten (das walte Mick Jagger), richtet sie sich nach unten, so wird es schnell beleidigend. Bäh!

Beileibe nicht jedes Lecken ist erotisch, es kommt auch in biederen Bereichen vor. Vordem wurden zumeist auch Briefmarken rückseitig geleckt, heute gibt’s überwiegend selbstklebende Postwertzeichen. Da deutet sich wohl ein Wandel zu mehr Sterilität und Hygiene an. Auch so eine Zeitsignatur.

Belege quer durch die Kulturgeschichte

Sodann die Feinheiten der Geschmackswahrnehmung (Nebenaspekt: Abwertung des Süßen, nicht erst seit Özdemir und Lauterbach) und der Sprachlichkeit, deren Artikulation wesentlich von der Zunge erzeugt wird – bis hin zum Lispeln und Lallen. Linguistik kommt vom romanischen Wortstamm für Zunge. Schließlich der verzückt-religiöse und esoterische Aspekt („In Zungen reden“), Teufel und Schlange mit ihren gespaltenen Zungen. Kurzum: Man denke sich irgend etwas Zungenhaftes aus, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buch auftauchen.

Von biblischen und antiken Mythen über die Philosophie (Kant etc.) bis zu Kunst, Kino und Pop-Videos reicht das Spektrum der Beleg- und Beleck-Stücke. Haha, auf diesen halbgaren Gag mochte ich jetzt auch nicht verzichten. Die jeweilige Deutung bewerkstelligt Florian Werner vielfach inspiriert, zumindest aber mit Geschick und Routine. Er hat den nötigen Horizont. Dennoch erschöpft sich das Repertoire irgendwann. Das Buch hätte nicht viel umfangreicher werden sollen.

Als Agassi Boris Beckers Gedanken las

Der Verfasser bringt unterwegs einige hübsche Anekdoten unter, so auch jene, nach der der US-Tennisstar (und nachmalige Ehemann von Steffi Graf) Andre Agassi häufig gegen Boris Becker gewinnen konnte, weil er geahnt hat, wohin Boris schlagen würde. Warum? Weil er Beckers Zunge beobachtete. Sie zeigte die Richtung des Balles vorab an. Agassi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er belauschte, wie Becker nebenan der Weltpresse sagte, dieser amerikanische Gegner könne wohl seine Gedanken lesen…

Gegen Ende die multiple Horrorvorstellung: Variationen auf abgeschnittene Zungen. Abgründe brutaler Herrschaftsausübung, vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen oder im schwerkriminellen Milieu. Da geht’s beispielsweise um die „Kolumbianische Krawatte“ (die ich hier nicht näher erläutern mag) sowie einschlägige Fundstellen von Ovid über Shakespeare und Houellebecq bis hin zur Netflix-Serie „Breaking Bad“. Am Ende glimmt, trotz viehischer Gewalttaten, so etwas wie vage Hoffnung auf. Werden auch einzelne Zungen verletzt und zerfetzt, so werden sie niemals alle zum Schweigen gebracht.

Florian Werner: „Die Zunge. Ein Portrait“. Hanser Berlin, 216 Seiten, 24 Euro.




Entwaffnend: Platons „Apologie des Sokrates“, neu übersetzt

Sonderlich geschickt war es eigentlich nicht, was Sokrates da angerichtet hat. Er hat allerlei Fachleuten in Athen, die sich für ungemein wissend hielten, glasklar vorgeführt, dass sie im Grunde nichts wussten – und damit natürlich mancherlei Eitelkeiten verletzt.

Eigentlich kein Wunder, dass sich viele dieser Kleingeister gegen den umtriebig umher ziehenden und disputierenden Philosophen verbündet haben, Anklage gegen den angeblichen Verderber der Jugend erhoben und schließlich gegen ihn die Todesstrafe durch den berühmt-berüchtigten Schierlingsbecher erwirkten. Dabei war es keine hochfahrende Arroganz, die Sokrates antrieb; auch er selbst wusste von sich, dass er (nahezu) nichts wusste. Nur vielleicht ein klein wenig mehr als seine Gegner.

Vor dem erwähnten Todesurteil durfte Sokrates eine öffentliche Verteidigungsrede halten, seine Apologie. Platon hat sie bekanntlich aufgezeichnet und für alle kommenden Zeiten festgehalten. Und Kurt Steinmann hat sie für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Flüssig, aber doch nicht gar zu eingängig. Da sagt schon mal jemand schlichtweg „Ja, klar.“ Warum auch nicht? Es mag salopp klingen, ist aber passend, bezeichnen die zwei Wörtchen doch den hilflosen Duktus des größten Sokrates-Feindes, der halt nicht wortmächtig, sondern einfältig und beschränkt ist. Überdies dürften auch die schlaueren alten Griechen nicht ständig auf sprachlich hohem Kothurn einher gestakst sein.

Gar manches andere kommt entwaffnend einfach daher. So entwaffnend wie Sokrates‘ Logik, mit der er in der Apologie den Unsinn seiner Widersacher vorführt. Doch so klug und fintenreich er auch argumentiert, die Mehrheit der 500 ausgelosten Laienrichter ist nun einmal gegen ihn und lässt sich nicht umstimmen. Immerhin konnte er einige auf seine Seite ziehen: 280 „Männer Athens“ (wie Sokrates sie anspricht) plädierten für schuldig, 220 dagegen.

Es ist sonderbar bewegend, durch einen (letztlich auch subjektiv zugerichteten) Text Kunde zu erhalten von einem Prozess, der vor rund 2400 Jahren stattgefunden hat. Da fühlen wir uns dem Geschehen ganz nah, ja, wir sehen es womöglich geradezu filmisch vor uns ablaufen wie eines der großen Gerichtsdramen des Kinos.

Übrigens sind es – genau genommen – drei Reden, die Sokrates gehalten hat; eine Hauptansprache vor dem Urteil, eine nach dem Schuldspruch und schließlich letzte Worte nach Bestimmung des maximalen Strafmaßes. Sokrates ist, Platon zufolge, wahrhaft aufrecht in den Tod gegangen. Das Sterben erschien ihm nicht als finales Übel, sondern als Sphäre des Durchgangs. Und das unbeirrte Einstehen für die Wahrheit war ihm wichtiger als das bloße Überleben.

Dass und wie sehr Platons „Apologie des Sokrates“ zu den ewigen Klassikern und sozusagen zu den Gründungstexten Europas gehört, wird spätestens durch den Anhang des Bandes deutlich. Hier werden erlauchte Geister der letzten Jahrhunderte zitiert, die sich auf die sokratische Denk- und Redeweise bezogen haben – von Cicero bis Dante, von Montaigne bis Lessing und Goethe, von Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis Walter Benjamin und Elias Canetti. Lauter Denkanstöße und Lese-Anregungen erster Güte.

Platon: „Apologie des Sokrates“. Manesse. 192 Seiten, 24 Euro (Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Anhang mit zahlreichen Zitaten aus der Geistesgeschichte. Nachwort von Otto Schily).




„Schönes“ vor 20 Jahren – Erinnerung an eine Bochumer Erstaufführung des jetzigen Nobelpreisträgers Jon Fosse

Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Wenn man schon ein paar Jährchen schreibt, findet sich irgend etwas Einschlägiges im Archiv, so z. B. diese – nun nahezu 20 Jahre alte – Bochumer Theaterbesprechung vom 3. Dezember 2003:

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt wird.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.




Der Wetterpilz – ein deutsches Phänomen?

Dieser Tage fotografiertes Prachtexemplar der Gattung: der in den 1950er Jahren errichtete Wetterpilz auf dem Dortmunder Hauptfriedhof – Geo-Koordinaten laut Homepage www. wetterpilze.de: 51.515964, 7.546124. (Foto: Bernd Berke)

Wie nennen wir sie eigentlich, diese schützenden „Pilze“, die meist in Wäldern oder Parks aufragen und bei Wind und Wetter als Unterstand dienen? Nun, je nach Region wohl ganz unterschiedlich. Am häufigsten heißen sie Wetterpilze oder eben Schutzpilze, andernorts auch Rastpilz, Schirmdach, Parasol oder (im Süden der Republik) Schwammerl.

Als ich neulich mal wieder ein Gewächs aus der naturnahen Gattung sah, dachte ich, dass man darüber auch mal ein paar Zeilen schreiben sollte, denn es schien mir, als seien Wetterpilze ein typisch deutsches Phänomen. Wie es sich vergleichsweise mit der Schweiz und Österreich et cetera verhält, das müsste noch näher beleuchtet werden. Zusatzfrage: Darf man sich bei Blitz und Donner unter einen solchen Pilz begeben? Reichlich Stoff für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten! Aber in welcher Fakultät? Vielleicht doch Architektur, schon wegen der vielfältigen Pilz-Dachformen.

Als Laie habe ich zunächst eine Suchmaschine angeworfen – zum Thema, das ich nahezu für mich allein zu haben glaubte. Doch weit gefehlt! Sehr schnell bin ich auf den Namen Klaus-Heinz Herda gestoßen. Der Kölner ist offenbar geradezu besessen von Wetterpilzen. Er betreibt dazu eine einschlägige Homepage, sammelt allüberall Fotografien und mehr oder weniger detaillierte Beschreibungen dieser Zufluchten. Mit Hilfe einer überschaubaren Community und mit Online-Diensten versucht er, im Waldesgrün verborgene Pilz-Plätze zu orten. Überdies ist er dankbar für jeden konkreten Hinweis. Ob demnächst auch KI zum Einsatz kommen wird? Man weiß es nicht.

Rund 1000 Exemplare in der ganzen Republik?

Aus all diesen Nachforschungen sind mit der Zeit veritable „Wetterpilz-Karten“ entstanden, die die Schutzschirme geographisch exakt zuordnen. Rund 300 Stück hatte Herda – einem Bericht der „Leipziger Zeitung“ zufolge – bereits im Jahre 2013 beisammen. Damals schätzte er den mutmaßlichen Gesamtbestand auf rund 1000 Exemplare in ganz Deutschland. 2013 war es auch, als die Wochenzeitung „Die Zeit“ über Herda und seine erstaunliche Wetterpilz-Expertise schrieb (Ausgabe No. 30 vom 18. Juli 2013 – auch im eingangs verknüpften Wikipedia-Artikel verlinkt). Am 31. Juli 2020 kam dann die Tageszeitung (TAZ) ausführlich auf Herda und seine Leidenschaft zurück.

Je mehr Wetterpilze gelistet wurden, desto deutlicher haben sich auch Ansätze zu einer Typologie ergeben: In und um Köln, so hat Herda festgestellt, bestehen die Pilze größtenteils aus Beton, im Ruhrgebiet (wen wundert’s?) haben sie häufig ein stählernes Gerüst, in anderen Landstrichen herrscht Holz vor. Lauter unscheinbare Sonderfälle der Architekturgeschichte. Apropos Historie: Die ersten Wetterpilze wurden in unseren Breiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, anfangs noch als Bestandteil der Gartenkunst und zum Vergnügen des Adels. Ferne Vorbilder waren Standschirme in der Südsee, wie sie z. B. Captain James Cook bei seinen Expeditionen gesehen hatte. Im 19. Jahrhundert wurden die Pilze in Preußen „Tahitisches Schirmdach“ genannt. Damit wäre Jauchs Millionenfrage beantwortet.

Stählerne „Gewächse“ im Ruhrgebiet

Längst hat Klaus Herda, mit Unterstützung weiterer Pilzfreunde, auch in anderen Ländern (meist eher vereinzelte) Standorte gefunden. Doch tatsächlich sind sie wohl in Deutschland in besonderer Dichte aufzuspüren, nicht zuletzt im Ruhrgebiet und hier wiederum speziell in Dortmund, beispielsweise im Westpark, im Fredenbaumpark, auf dem Hauptfriedhof, im Hoeschpark und im Rombergpark. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat Klaus Herda in seinen Verzeichnissen bis heute (mindestens) eine Dortmunder Stelle noch nicht erfasst, nämlich jene im Niederhofener Wald. Was die Fülle anbelangt: Okay, in Berlin gibt es noch ein paar mehr. Kunststück – bei der Fläche. Auch der angeblich weltgrößte Wetterpilz soll in der Hauptstadt stehen, genauer: in Berlin-Frohnau. Wie denn überhaupt laut TAZ Berlin ein Hotspot der „Pilzkultur“ ist.

Ein Platz für hart gekochte Eier

Wetterpilze haben etwas anheimelnd Gestriges, ja Konservatives an sich. Oder sollte ihnen auch etwas Muffiges anhaften? Man denkt vielleicht an die 1950er oder frühen 1960er Jahre, an Wanderausflüge und Jugendherbergen traditionell bescheidenen Zuschnitts, an Picknick-Rast mit selbst geschmierten Butterbroten, Schnitzeln und gekochten Eiern, womöglich auch an heimatliche Zusammenschlüsse wie den SGV (Sauerländischer Gebirgsverein). Sonderlich „Cool“ klingt das alles nicht. Freilich dürften heute im Schatten der Pilze auch schon mal ganz andere Dinge als harte Eier konsumiert werden.

Schließlich noch ein Vorschlag zur Güte: Statt dass „woke“ Leute abschätzig über „Biodeutsche“ oder gar „Kartoffeln“ spotten, könnten sie meinethalben „Ihr Wetterpilze!“ sagen. Hört sich doch irgendwie netter an, oder?

Klaus Herdas Homepage: www.wetterpilze.de




Podcasts überall – Tipps aus Politik, Kultur und Fußball

Links die derzeit liebsten Radiosender, rechts dito Podcasts und Mediatheken-Inhalte: Meine (teilweise temporären) Favoriten-Listen auf der geschätzten Seite radio.de (Screenshot: BB)

Zugegeben: Ich bin reichlich spät an der Reihe, habe ich mich doch erst in jüngster Zeit darauf verlegt, gelegentlich Podcasts zu hören. Jetzt aber!

Diese Form der akustischen Versorgung scheint die herkömmlichen Angebote der Radio-Stationen seit einiger Zeit geradewegs zu überwuchern. Unschätzbarer Vorteil: hören, wann immer es genehm ist; nach Gusto unterbrechen und den Faden später neu aufnehmen. Nicht nur das „lineare“ Fernsehen hat weithin abgedankt, auch das Radio nach festem Programmschema hat wohl seine besten Zeiten hinter sich. Doch Radioleute, vor allem aus dem öffentlich-rechtlichen Sektor, und überregionale Zeitungen mischen bei den Podcasts kräftig mit. Bei den großen Blättern hat praktisch jedes Ressort wenigstens einen eigenen Podcast. Mit entsprechendem Know-how kann inzwischen praktisch jede(r) einen Podcast aufsetzen, so wie theoretisch auch alle Leute Bücher im Selbstverlag herausbringen können.

Längere Strecken ohne lästiges Gedudel 

Zuallermeist können Podcasts kostenlos gehört werden. Kurze Werbeunterbrechungen scheinen allerdings hie und da zuzunehmen. Tatsache ist: Es gibt inzwischen Abertausende von Podcasts aller denkbaren Genres, allein schon in deutscher Sprache. Wenn man dann noch die anglophonen Angebote hinzunimmt, wird’s schon etwas unübersichtlich. Jedenfalls ist eine spezialisierte Suche unabdingbar (dazu zwei Hinweise am Schluss dieses Beitrags).

Einige Podcasts weisen erstaunliche Zugriffszahlen auf. Das lässt buchstäblich aufhorchen, deutet es doch darauf hin, dass viele Menschen sich auf ausgedehnte Mono- und Dialoge ohne ständiges Gedudel einlassen. Sie sind offenbar weitaus schlauer und geduldiger, als manche Radio- und Fernsehmacher glauben. Eine Stunde oder gar 90 Minuten unterbrechungsfreies Sprechen – wie wohltuend kann das im Glücksfalle sein; wie tief- und hintergründig, wie bereichernd.

Eine beliebte Herangehensweise ist jene, zwei möglichst intelligente und/oder gewitzte (zudem gern wenigstens halbwegs prominente) Leute miteinander plaudern zu lassen – entweder über „Gott und die Welt“ oder über allerlei Besonderheiten. Bei solchen, oft recht munteren Diskursen kommen durchaus originelle Kombinationen mit Reibungspotenzial zusammen. Oder es treffen Leute aufeinander, die herrlich miteinander harmonieren.

Wohltuende Distanz zur täglichen Aufregung 

Doch reden wir nicht noch weiter um den heißen Brei herum. Es folgen ein paar Tipps aus verschiedenen Sparten:

Sehr angenehm überrascht bin ich z. B. vom Format „Gysi gegen Guttenberg“ (erscheint wöchentlich – auch via YouTube), das den altbekannten Politiker der Linkspartei, Gregor Gysi, und die einstige, vermeintlich kanzlertaugliche, hernach ziemlich unsanft abgestürzte CSU-Hoffnung Karl-Theodor zu Guttenberg zusammenspannt. Beide sind außerordentlich eloquent, beide haben reichlich Erfahrungen im Politik-Betrieb gesammelt und können auch anekdotisch aus dem Vollen schöpfen. Wichtiger noch: Beide haben eine wohltuend entspannte Distanz zu den (partei)politischen Aufregungen des Tages gewonnen, sie betrachten das Ganze gleichsam von höherer Warte, ohne arrogant herabzublicken. Bislang habe ich drei (jeweils fast einstündige) Folgen der empfehlenswerten Reihe gehört. Eine handelte vom Wesen der Wahlkämpfe, eine andere vom Mit- und Gegeneinander der Politik und der Medien, eine dritte vom Aushalten harscher Meinungskämpfe in Zeiten grassierenden Wutbürgertums.

Verbale Doppelpässe sondergleichen

Mindestens ebenso angetan bin ich vom Fußball-Podcast „Zeigler & Köster“ (wöchentlich). Arnd Zeigler ist bekannt durch seine hellwache TV-Sendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“, Philip Köster firmiert als Chefredakteur des gleichfalls fröhlich aufgeweckten Fußball-Magazins „11 Freunde“. Beide als Kenner des Metiers zu bezeichnen, wäre untertrieben. Sie verfügen über stupendes Fußball-Wissen bis in abstruse Details hinein. Oft werfen sie einander fast schon vergessene Kicker-Namen und Jahrzehnte zurückliegende Vorfälle auf und neben dem grünen Rasen derart um die Ohren, dass es nur so seine Art hat. Sie spielen sich die verbalen Bälle zu, als vollführten sie atemberaubende Doppelpässe, Fallrück- oder Seitfallzieher und dergleichen. Wenn’s drauf ankommt, argumentieren sie ernsthaft und meinungsstark, doch kosten sie auch gut und gerne die humoristischen Valeurs der Fußball-Betrachtung aus. Großer Sport!

Innenansichten aus dem Literatur-Betrieb

In ein anderes Regal gehört der vom Hanser-Verlag lancierte Podcast „Hanser Rauschen“ (vierzehntägig), der von der Lektorin Emily Modick und dem Lektor Florian Kessler bestritten wird. Hier geht es keineswegs nur um Hanser, sondern generell um Ansichten aus dem Literatur-Betrieb. Die vollmundige Eigenwerbung setzt noch etwas drauf: „Es geht um Skandale und Strukturen, Stoffe und Ekstasen – um alles, was in Bücher passt und außenrum passiert.“ Die recht muntere Plauderei wird ein klein wenig getrübt durchs allzu routiniert abgespulte „Gendern“. Doch lohnt es sich, ins Rauschen ab und zu mal reinzulauschen. Solche Insider-Perspektiven zur Bücherwelt bekommt man sonst nicht alle Tage serviert. Zuletzt ging es um „Gossip“ (also Klatsch und Tratsch) im Literatur-Betrieb. Anspielungsweise war etwa von #MeToo in der Buchbranche die Rede. Wer allerdings gehofft haben sollte, hierbei konkrete Namen zu hören, musste freilich enttäuscht werden. Modick und Kessler wollen ja auch ihre spannenden Jobs behalten.

Vergleichsweise nüchtern mutet der NDR-Podcast mit dem schlichten Titel „Die Idee“ (in loser Folge) an. Hier führt der Redakteur Norbert Grundei ausgiebige Gespräche mit wechselnden Gästen. Ich bin zunächst auf eine Ausgabe gestoßen, in der sich Oliver Kalkofe zur Entwicklung des Fernsehens äußert, und zwar durchaus erhellend und plausibel. Eine seiner Grundthesen: Nahezu jedes Medienformat habe eine anfänglich wilde und ungemein kreative Phase – bis jene oberschlauen „Optimierer“ hereinschneien, die den Machern erzählen wollen, wie das alles noch besser und lukrativer geht. In aller Regel handelt es sich dabei um Verschlimmbesserungen bis hin zum völligen Niedergang. Ob von dieser Entwicklung auch der eine oder andere Podcast betroffen ist?

Es geht auch ohne Lanz, Precht und Beisenherz

Schließlich noch ein Blitzlicht auf „Megahertz“ (wöchentlich), einen Podcast aus dem Hause Neue Zürcher Zeitung (NZZ), die politisch teilweise in trüben Gewässern fischt, hier aber offenbar unterhaltsame Plauderstückchen anrichtet. Versuchs- und versuchungsweise reingehört habe ich in ein Gespräch mit der Berliner Porno-Produzentin Paulita Pappel, die freilich mittlerweile allüberall als Gast oder – wie die erklärte Feministin wohl sagen würde:  „Gästin“ (natürlich auch bei Böhmermann) – „herumgereicht“ worden ist, weil sie so zeitgeistig über Sex zu reden versteht. Seltsam genug: Es inspiriert und nervt gleichermaßen. Man müsste halt noch ein paar anderweitige Hörproben nehmen, um das „Megahertz“-Angebot fundierter zu beurteilen.

Wer nun Hinweise auf Blockbuster der Szene vermisst, beispielsweise auf „Lanz & Precht“ oder auf „Apokalypse & Filterkaffee“ (täglich) mit dem umtriebigen Micky Beisenherz (und Gästen wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Markus Feldenkirchen), der/die möge sich das halt anhören. Mir ging es hier um Entdeckungen, wenn nicht um „Geheimtipps“. Lanz kommt oft genug im TV, die Dauer-Kombi mit Precht mag ich persönlich gar nicht ***. Wie aufgekratzt und kreischig der hyperdynamische, womöglich doch etwas überschätzte Beisenherz die Schlagzeilen der Stunde durchhechelt, geht mir auf den Wecker. Eine Folge habe ich tapfer durchgestanden. Weiterer Bedarf besteht kaum. Was darf man denn auch von einem Gehetzten erwarten, der tagtäglich ran muss (bzw. zu müssen glaubt)?

Und wie finden sich passende Podcasts? Nun, beispielsweise über die Suchfunktion von Websites wie radio.de oder podcast.de Es möge fruchten.

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Nachtrag:

*** Erst recht nicht nach Prechts abgründigen Äußerungen zu Israel und zu dem, was er unter Judentum „versteht“.




Die feine Art des Speisens: Vincent Moissonniers Ratgeber „Der Käse kommt vor dem Dessert“

Das literarische amuse gueule, also das geschmacksanregende Vorwort stammt vom Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, einem sinnenfrohen Genießer. Autor des Haupttextes ist indes der aus Frankreich stammende Küchenchef Vincent Moissonnier. Er hat sich seit langer Zeit mit seinem Spitzenrestaurant in der vermeintlich „französischsten“ deutschen Stadt niedergelassen, in Köln. Das Prädikat ist anfechtbar, aber egal.

In frankophilen Zusammenhängen, so weiß man, wird seit jeher am edelsten gespeist. Auch die zugehörigen Benimmregeln sind ursprünglich aus der höfischen Kultur Frankreichs hervorgegangen. Just um die heute wünschenswerten Varianten und Nuancen geht es im vorliegenden Buch „Der Käse kommt vor dem Dessert“. Untertitel: „Goldene Regeln für den Restaurantbesuch – von Dresscode bis Trinkgeld“.

Sind wir etwa wieder in Zeiten angelangt, in denen förmlicher Benimm abermals eine größere Rolle spielt? Mit mehr oder weniger wohligem Gruseln erinnern sich die Älteren unter uns an bestens parodierbare Publikationen wie „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Doch wahrscheinlich brauchen wir ja dringlich solche Gegenkräfte zur oftmals waltenden Rüpelhaftigkeit; wenn auch nicht mehr so steifleinen wie ehedem.

Köln mit französischen Akzenten

Argwöhnische Menschen mögen „kölschen Klüngel“ dahinter wittern, andere die kuschelige Vertrautheit zu schätzen wissen: Vorwortgeber Ortheil ist gebürtiger und überzeugter Kölner. Moissonnier betreibt just dort sein Gourmet-Restaurant, in dem gewiss auch Ortheil gelegentlich zu dinieren pflegt. Ko-Autor des Buches ist Joachim Frank, seines Zeichens Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadtanzeiger, der wiederum im Dumont-Verlag erscheint. Kein Wunder also, dass dieses Buch im Dumont-Buchverlag herauskommt. Man ahnt: Hier herrscht gesteigerte Kölschigkeit mit französischem Akzent, mithin nicht nach lässiger Art der ortsüblichen Köbes-Gastronomie.

Moissonnier will uns einerseits die Furcht vor allzu rigiden Verhaltensregeln nehmen, es gehe vornehmlich darum, ein Gefühl für Stil zu entwickeln. Eine seiner Grundregeln lautet: Hauptsache, dass alle Beteiligten sich wohlfühlen. Dennoch häuft er im Laufe des Buches viele, viele Empfehlungen an, die sich denn doch zum dicht geflochtenen Regelwerk summieren. Was da alles zu beachten ist!

Sind Smoking und Frack vorhanden?

Wann verschickt man die Einladungskarte, was sollte draufstehen, wie wird zu- oder abgesagt, welcher Dresscode soll jeweils gelten (hoffentlich haben alle Herren zur Not wenigstens einen Smoking und einen Frack parat, es wird hier quasi vorausgesetzt), wie verhält es sich mit der Sitzordnung, wie schaut der perfekt gedeckte Tisch aus, wie die Speisen- und Getränkefolge, wann und wo darf zwischendurch geraucht werden, wie wird diskret reklamiert, wie am besten bezahlt und ein Trinkgeld gegeben, wie genau wird das auch nicht ganz unkomplizierte Begrüßungs- und Abschiedsritual absolviert? Und so weiter, und so fort. Puh!

Die Benutzung der Servietten (selbstverständlich aus Stoff, keine – so wörtlich – „gottverdammten Papierservietten“) möge als kleines Beispiel dienen. Zitat:

„Zum Essen legen Sie die Serviette einmal quer gefaltet auf Ihre Beine, die offene Seite zu Ihnen gewandt, und putzen sich die Lippen immer mit der Innenseite ab. Wenn Sie die Serviette danach zurücklegen, bleibt die Außenseite sauber und man sieht die Flecken nicht. Denken Sie auch daran, während des Essens jedes Mal die Serviette zu benutzen, bevor Sie etwas trinken. Fettränder vom Essen am Glas sehen einfach scheußlich aus. (…) Am Ende des Essens landet die Serviette bitte nicht auf dem Teller. Das ist eine Katastrophe…“

Mit Gläsern anstoßen oder nicht

Man hat ja schon von schlimmeren Katastrophen gehört, aber sei’s drum. Auch nationale Unterschiede der Esskultur geraten hin und wieder in den Blick. Die englische und US-amerikanische Angewohnheit etwa, die Linke aufs Knie zu legen, während die Rechte nur noch mit der Gabel operiert; die deutsche Sitte, mit den Trinkgläsern anzustoßen, die in Frankreich unbekannt ist; die angeblich vorwiegend niederländische Neigung, sich am Buffet für ganze Tage zu versorgen… Moissonnier wird es wohl wissen, er hat Gäste aus praktisch allen Ländern dieser Erde bewirtet. Freilich wohl kaum aus unteren Schichten der Gesellschaft.

Der Buchtitel bezieht sich natürlich aufs Finale der Speisenfolge. Der alte Merksatz, demzufolge „Käse den Magen schließt“, sei unsinnig, befindet Moissonnier. Stets gehöre das Dessert ans Ende eines stilvollen Essens. Dazu gibt es einleuchtende Begründungen.

Butter nicht streichen, sondern heben

Zuweilen geht es allerdings arg ins Detail. Wird etwa Brot auf einem Vorspeisenteller kredenzt, so sollen wir die Butter um Himmels Willen nicht schnöde aufstreichen, sondern mit dem Messerchen als hauchdünne Schicht aufs Brot heben. Tja. Wer solche Feinheiten nicht befolgt, steht in diesem Kontext ganz schön belämmert da. Vor einem Besuch im „Moissonnier“ zu Köln (oder vergleichbar ambitionierten Etablissements) sollte man tunlichst dieses Buch gelesen haben, sonst tuschelt eventuell das Personal – oder es erscheint gar der Maître persönlich am Tisch, was in besonders peinlichen Fällen geschehen sein soll.

Einzelheiten muten übertrieben penibel an. Dass jedoch gewisse Grundformen gewahrt und gepflegt werden, ist keinesfalls nur hochnäsiger Unsinn im bourgeoisen Sinne. Insofern haben wir hier doch einen kundigen Ratgeber aus wahrlich berufenem Munde. Muss auch nicht jeder Satz beherzigt werden, so eben doch der Geist und das stilistische Empfinden.

Vincent Moissonnier / Joachim Frank: „Der Käse kommt vor dem Dessert.“ Mit einem Geleitwort von Hanns-Josef Ortheil und Illustrationen von Nishant Choksi. Dumont. 160 Seiten, 20 Euro.

 




Nachbarschaftliches Tauwetter – Elke Heidenreichs Buch „Frau Dr. Moormann & ich“

Beginnen wir mit Binsen: Im Hanser Verlag dürfen beileibe nicht Hinz und Kunz veröffentlichen. Und ein Michael Sowa wird auch nicht die Texte aller möglichen Leute illustrieren. Wenn aber die Bestseller-Autorin Elke Heidenreich mit einer Kleinigkeit käme? Ja, dann… Dann fügt es sich natürlich.

Ihr neues Buch heißt „Frau Dr. Moormann & ich“. Es handelt vom Ärger mit einer ziemlich bärbeißigen Hausnachbarin, die immer etwas zu beanstanden hat. Die Geschichte ist recht einfach gestrickt. Schon bald ist absehbar, dass es zwischen den beiden Frauen ganz allmählich ein nachbarschaftliches Tauwetter geben wird. Daran nicht ganz unbeteiligt ist der Mops der Ich-Erzählerin, der den Namen Gustav trägt. Friede den Menschen und den Nachbarinnen ein Wohlgefallen.

Zwischendurch tröpfeln etwas Botanik (Frau Dr. Moormann als Pflanzen-Expertin) und klassische Hochkultur (renommierter Dirigent als Gefährte der Erzählerin) hinein. Womit auch dem Bildungsauftrag Genüge getan wäre. So bereichert die Mitteilung, dass es karierte Pflanzen gibt, unsere bisweilen schüttere Allgemeinbildung.

Elke Heidenreich erzählt die Petitesse routiniert, unangestrengt, sozusagen mit spätsommerlicher Leichtigkeit, ohne sonderliche Ambition. Hie und da hat ihr Buch einen ganz leisen pädagogischen, jedoch stets freundlichen Unterton, so etwa nach dem wohlmeinenden Motto: Kinder, merkt euch das doch bitte. Beispielsweise, dass Ex-Bundespräsident Gustav (!) Heinemann einst gesagt hat, er liebe nicht Deutschland, sondern seine Frau. Zwischendurch gibt’s immer mal wieder schnellfertig hingeworfene, selbst gebastelte Sprichwörter und Merksätze von solcher Art:

„Der Mops ist prächtig, schau nur hin!
Ein Mops gibt deinem Leben Sinn.“

Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Aber gewiss doch! Schon Loriot wusste ja: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Bliebe noch die Frage, ob dies vorwiegend ein Buch für Kinder sei. Darauf könnte etwa ein liebevoll ausgiebiger Exkurs über einige Teddybären hindeuten.  Doch auch ältere Leute erinnern sich gern an diese Genossen ihrer Frühzeit. Jedenfalls dürfte das schmale Bändchen weihnachtstauglich sein, auch als nettes kleines Mitbringsel. Wem ihr es schenken könntet? Doch nicht etwa der Nachbarin?

Elke Heidenreich: „Frau Dr. Moormann & ich“. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, 88 Seiten, 20 Euro.




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




60 Jahre Bundesliga – und der zwecklose Versuch, online eine BVB-Karte zu kaufen

Kurz nach 12 Uhr – und noch 55 Minuten Wartezeit bis zum Eintritt in den eigentlichen Ticketshop. (Screenshot von der BVB-Homepage)

Tätäääää! Großer Tusch. Heute ist es auf den Tag genau 60 Jahre her, dass die Bundesliga ihren Spielbetrieb aufgenommen hat. Die Gründung der höchsten deutschen Spielklasse war übrigens vom DFB in Dortmund beschlossen worden. Und das allererste Liga-Tor hat Timo Konietzka vom BVB erzielt – beim Auswärtsspiel gegen Werder Bremen. Die Grünweißen haben dann doch noch 3:2 gewonnen. Naja, Schwamm drüber. Es lässt sich derweil gar nicht ermessen, wie viel gesamtgesellschaftlicher Gesprächsstoff und verbra(u)chte Lebenszeit sich aus der Liga ergeben hat.

Apropos Lebenszeit. Damit zu einem allzeit dringlichen Thema beim BVB. Nein, es geht nicht um weitere Spielertransfers, sondern um dies: Während man sich andernorts schlicht und einfach eine Karte kauft, um ein Spiel zu sehen, ist das in Dortmund anders. Ganz anders. Hier muss man Zeit opfern und großes Glück haben. Selbst im europäischen Vergleich ist der Kartenabsatz beispiellos. Da sage noch jemand, die Bundesliga sei kein Erfolgsmodell. Hier ist sie jedenfalls eins.

In jedem Falle ausverkauft

Bei 81.365 Zuschauern wird im größten deutschen Stadion regelmäßig „ausverkauft“ gemeldet. Egal, gegen wen die Partie bestritten wird. Scherzbolde sagen, das Westfalenstadion sei schon proppenvoll, wenn der Platzwart den Rasen mäht. Satte 55.000 Plätze werden bereits durch Dauerkarteninhaber belegt (abzüglich derer, die am jeweilen Spieltag verhindert sind, ihre Tickets aber anderweitig vergeben). Bleiben rechnerisch also gerade mal 26.365 „freie“ Plätze, von denen wiederum das Gäste-Kontingent abgezogen werden muss – je nach Gegner mal mehr, mal weniger. Von Frei- und Gefälligkeitskarten (für Sponsoren etc.) mal ganz abgesehen.

Beispiel: Am 23. September geht es für die Borussia gegen den VfL Wolfsburg, der – gelinde gesagt – nicht allzu viele Fans zur Fahrt nach Dortmund mobilisiert. Also bleiben ein paar Plätze mehr für heimische Fans übrig. Doch was nützt es?

Habe mich also heute ins Abenteuer der Online-Kartenvergabe gestürzt. Wohlgemerkt: Es geht nicht etwa gegen die ungeliebten Bayern oder dito Leipzig, sondern eben gegen das nicht übermäßig attraktive Wolfsburg. Noch dazu kann ich mich – theoretisch mit zigtausend anderen Leuten – als Vereinsmitglied einloggen. Für uns Auserwählte gibt es den „freien“ Vorverkauf einen Tag vor dem offiziellen. Doch was nützt es?

„Ebenfalls per Zufallsprinzip“

Der Online-Zugang zum Ticketshop ist am entsprechenden Vorverkaufstag aus guten Gründen streng geregelt. Zitat aus der bürokratisch trockenen Erläuterung:

„Erst mit Beginn des Vorverkaufs (um 12 Uhr) wird eine festgelegte Anzahl an Personen per Zufallsprinzip in den Ticketshop gelassen. Alle Fans, die nicht sofort in den Shop geführt werden können (Hahaha! d. Red.), befinden sich dann in einem Warteraum, der transparent die Zeit angibt, bis die jeweilige Person an der Reihe ist. Die Position im Warteraum wird ebenfalls per Zufallsprinzip zugeteilt…“

Und wenn man sich nun schon um 10 Uhr einloggt? Dann bringt das offenbar auch keinen Vorteil: „Der Zeitpunkt, wann der Ticketshop (vor 12 Uhr) aufgerufen wird, ist nicht entscheidend für die spätere Ticketvergabe!“

Viele geben vorzeitig auf

Nun muss man also im virtuellen Warteraum ausharren. Ein kleines Männlein, das durch einen gelben Streifen auf ein Ziel hin schreitet, zeigt den Fortgang an. Wie niedlich. Jedoch ein schwacher Trost. Erste Meldung: 55 Minuten (!) Wartezeit bis zum ersehnten Eintritt in den Ticketshop. Offenbar geben an diesem Punkt manche schon auf, denn die Wartezeit verkürzt sich nun schneller, als die Uhrzeit voranschreitet. Plötzlich sind es „nur“ noch 42 Minuten, dann sprungweise 35, 29, 25, 18, 14, 8, 6, 5, 3… Bereits um 12.14 Uhr plus ein paar Sekunden ist die imaginäre Null-Linie erreicht, ich darf in die heiligen Hallen eintreten. Großes Oh und Ah!

Doch was ist das? Die knappe Viertelstunde hat anscheinend schon ausgereicht, dass andere Fans den gesamten Kartenbestand abräumen konnten. Ich verkneife es mir, sie „gierige Geier“ zu nennen. Ich wäre ja im Erfolgsfalle selbst einer gewesen. Jedenfalls heißt es an dieser Stelle, dass keine Karten mehr zur Verfügung stünden.

Einen anderen Browser benutzen? Längst probiert. Dauerfeuer mit der F5-Aktualisierungstaste? Zwecklos. Da muss man sich wohl ins Schicksal fügen.

 




„Sprache lässt sich nicht mit Normen lenken“ – Zum Tod von Martin Walser: Erinnerung an zwei Gespräche mit dem Schriftsteller

Martin Walser am 10. Oktober 2013, Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / Lesekreis, Heike Huslage-Koch). Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Schon seit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), der die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er Jahre auf den Begriff brachte wie kein anderer, war der Schriftsteller Martin Walser einer der wichtigsten Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist er ist mit 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee gestorben. Aus diesem traurigen Anlass hier noch einmal der Wortlaut zweier Gespräche, die ich 1996 und 1998 mit ihm führen durfte. Zunächst der Text von 1996:

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Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.

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…und hier der Text vom Oktober 1998:

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beim Schreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de

 




Jane Birkin – Fülle des Lebens

Jane Birkin, wahrhaftig eine Ikone ihrer Generation, ist mit 76 Jahren gestorben. Aus diesem traurigen Anlass nochmals der Text einer Kurzbesprechung, die erstmals am 16. Februar 2008 in der Westfälischen Rundschau erschienen ist:

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!




Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




Mit „Normalos“ durch die Hölle – Heinz Strunks Geschichtenband „Der gelbe Elefant“

Claudia und Andi treffen Olli und Melli „beim Griechen“. Ach, wie putzig das schon klingt. Es geht in dieser Auftaktgeschichte um zwei „Pärchen“ in Lübeck. Bekanntschaft aus dem Korfu-Urlaub. Nun sondern sie beim arg misslingenden Wiedersehen dermaßen belangloses Zeug ab („super“ und „toll“ sind fast noch die klügsten Einlassungen), dass es einen beim Lesen recht ordentlich quält.

„Bitte! Jetzt nicht auch noch das!“ So möchte man den Autor anflehen. Doch ein Heinz Strunk gibt kein Pardon. Er zieht die Sache mal wieder gnadenlos durch und beleuchtet seelische Trümmerhaufen gerne grell. Schmerzlich nahe kommt er dabei einem landläufigen „Normalo“-Sound.

Auch im weiteren Verlauf seines Erzählbandes „Der gelbe Elefant“ spürt er mit Vorliebe das Normale im Bizarren und das Bizarre im Normalen auf. Da ist zum Exempel der total gefühllose Typ in Bitterfeld mit seinem Kampfhund namens „Tyson“, der einen Kevin zu Tode beißt. Alles, was dem Hundebesitzer dazu einfällt, ist ein genervtes „Och nö“.

Familiäre Zusammenkünfte sind unterdessen fürchterlich leblos, mit zunehmendem Alter werden die Menschen unerträglich ranzig. Ihre Gesprächsversuche bröckeln und bröseln nur noch dahin. Einsam sind sie sowieso; auch dann, wenn sie zusammenhocken.

Zwischendurch ereilen uns die bodenlos dämlichen Mail-Texte des aufgekratzten Schriftsteller-Groupies Carola, die den Autor (Heinz heißt er!) zu gesellschaftlichen Aktivitäten in ihrem Schlepptau anstacheln will. Und ja, sie fasst ihre Vorstellung vom gelingenden Leben tatsächlich in grenzdebile Wendungen wie „lachi lachi spaßi spaßi saufi, saufi“. Auch da winken Lesende wohl ermattet ab. Gnade! Aufhören! Genug!

Dabei müsste man Heinz Strunk eigentlich danken, dass er sich solcher Themen annimmt, die die meisten anderen scheuen. Aber erhebt er sich etwa manchmal auch über die leider nicht „schweigende Mehrheit“? Ja, soll er sich denn empathisch mit allen gemein machen? Auch mit jenen mehrfach auftretenden, hoffnungslosen Nerds oder Schlaffis, die schon in ihren jungen Jahren am Ende sind?

Strunk, ein Erzähl-Berserker vor dem Herrn, scheint beim Schreiben ein gehöriges Maß an Aggression zu mobilisieren. Er schickt seine Figuren durch die Hölle, zuweilen auch mitten hinein. Beispielsweise den vermeintlich kerngesunden Fitness-Freak und Selbst-Optimierer Werner (75), der eine Osteoporose-Diagnose ignoriert, sich folglich beim Workout die Gräten bricht und nicht mehr hochkommt. Nun eine abermals quälende Schilderung: 23 Tage harrt dieser total vereinsamte Mensch vor Schmerzen wimmernd und ohne Nahrung aus. Dann sollen endlich die Leute kommen, die seine Wohnung termingerecht übernehmen wollen…

Grässlich spannend auch die Story über jenen Motivationstrainer und „Keynote-Speaker“ mit „Arschloch-BMW“, der sich vor einem lukrativen Vortragstermin mal eben das Neandertal bei Düsseldorf anschauen will. Er verirrt sich, gerät in ein fast undurchdringliches Gestrüpp, schlägt sich wütend hindurch – und begegnet auf der anderen Seite veritablen Vorzeitmenschen, die ihn fesseln und offenbar fressen wollen… Kann er sie mit seiner geschulten Überredungs-Stimme zur Umkehr bewegen?

Mehr wird hier nicht verraten – auch nicht, was es mit dem gelben Elefanten auf sich hat. Die Grundrichtung des (dennoch abwechslungsreichen) Bandes dürfte klar sein. Es wäre zu empfehlen, dieses Buch in gefestigter seelischer Stimmung zu lesen. Nanu! Habe ich jetzt womöglich eine dieser blöden „Trigger-Warnungen“ ausgesprochen? Sorry, soll so bald nicht wieder vorkommen.

Heinz Strunk: „Der gelbe Elefant“. Rowohlt. 208 Seiten, 22 Euro.

 

 




Keine Heimlichkeiten mehr! Spickzettel sind in Dortmund museumsreif

Schulmuseumsleiter Michael Dückershoff zeigt einen Spickzettel, der in einer Schutzmaske steckt. Eine solche Schummel-Gelegenheit ergibt sich wegen der ausgelaufenen Vorschriften nicht mehr so leicht. (Foto: Katrin Pinetzki/Stadt Dortmund)

Ganz gleich, ob man früher damit durchkam oder gelegentlich erwischt worden ist, lässt diese Nachricht jedenfalls aufhorchen: Das Westfälische Schulmuseum zu Dortmund kann eine besondere Kollektion aufstocken, nämlich die von Spickzetteln.

Jawohl! Gemeint sind diese knittrigen Papierchen, die zwischen Schulbank und Hosentasche (oder wie auch immer) heimlich hervorgenestelt und beäugt wurden, um vor allem lästige Formeln oder Vokabeln parat zu haben. Sonderlich viel geholfen hat’s ja meistens nicht, oder?

Damit das geklärt ist: Geschicklichkeit im Umgang mit diesem speziellen Informations-Medium, von dem sich die Handy-Generationen keinen Begriff mehr machen, dürfte einen mehr übers späterhin Lebens-Notwendige gelehrt haben, als so manche Lektion vom offiziellen Lehrplan. Aber das bleibt jetzt unter uns.

Spick-Leporello im Anspitzer, präsentiert von Dr. Bernd Apke, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Westfälischen Schulmuseums. (Foto: Katrin Pinetzki/Stadt Dortmund)

Besagte Dortmunder Spickzettel-Sammlung kann also um rund 250 Exemplare erweitert werden, die aus dem Berufskolleg St. Michael in Ahlen/Westfalen stammen. Johannes Gröger, Lehrer und Schulseelsorger daselbst, hat seinen papierenen Schatz ans Museum übergeben. Nicht nur klassische Zettel mit möglichst winziger Schrift gehören dazu, sondern auch – wie die Stadt Dortmund anerkennend mitteilt – „sehr originelle und kreative Versuche, während der Klassenarbeit mithilfe von Taschentüchern, Getränkeverpackungen oder Anspitzern zu schummeln“.

In Zeiten, da auch Audios beim Spicken eine Rolle spielen und KI-Instrumentarien wie ChaptGPT schon mal für Hausarbeiten bemüht werden, mutet die Zettelwirtschaft geradezu liebenswert altmodisch an.

Das Westfälische Schulmuseum will die einschlägige Sammlung weiter pflegen und sucht noch Nachschub. Na, wie sieht’s damit bei Euch und Ihnen aus? Wie bitte? Nie gebraucht, so’n Zeug? Jetzt auch noch abstreiten und flunkern! Das gibt einen saftigen Tadel im Klassenbuch.

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Info:

Westfälisches Schulmuseum, An der Wasserburg 1 in 44379 Dortmund-Marten, Tel. 0231/613 095. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, freier Eintritt. In den Sommerferien (NRW 22.6. bis 4.8.) geschlossen.

Das Museum beschränkt sich natürlich nicht auf Spickzettel, sondern beherbergt generell eine der bundesweit größten schulgeschichtlichen Sammlungen. Zum Programm gehören u. a. regelmäßige „Unterrichtsstunden“ im autoritären Stil früherer Zeiten. Damals war’s bestimmt fürchterlich, nachgespielt ist’s ziemlich amüsant.

Zur Zeit läuft im Schulmuseum die Sonderausstellung „Talking ‚bout my Generation – Der Aufbruch der Jugend in den 1960er und 1970er Jahren“ (bis 22. Oktober 2023).

schulmuseum.dortmund.de




Diese oft bizarre Republik – Robert Lebecks Fotoband „Hierzulande“

Fast so rätselhaft wie einer seiner Thriller: mysteriöser „Fingerzeig“ für Alfred Hitchcock in der deutschen Bahn – das Cover von Robert Lebecks Foto-Bildband „Hierzulande“. (© Robert Lebeck / Steidl Verlag)

Es beginnt 1955 mit Momenten einer (nachträglichen) „Geburtsstunde“ der Bundesrepublik Deutschland, die den Krieg „endgültig“ hinter sich zu lassen glaubte. Der Fotograf Robert Lebeck (1929-2014), damals gerade 26 Jahre alt, lieferte für die Zeitschrift „Revue“ Aufnahmen der letzten deutschen Kriegsgefangenen, die aus russischen Lagern zurückkehrten.

Ausgemergelt, sichtlich erschöpft, in einheitliche Wattejacken gekleidet, so kamen sie mit notdürftigen Holzkoffern ins fremd gewordene Heimatland. Und nun schaue man, wie sie ihre Familien wiedersehen, welche Freudentränen da fließen, welches Befremden sich jedoch auch allseits zeigt und wohl nicht offen zu zeigen wagt. Schließlich: wie fieberhaft verzweifelt wartende Menschen ihre Männer, Väter, Söhne, Geschwister und Freunde unter den Rückkehrern suchen.

Auch sonst hat Lebeck, der seit den frühen 1960er Jahren besonders durch seine Arbeit für den seinerzeit stilbildenden „Stern“ bekannt geworden ist, viele prägsame Augenblicke der frühen Bundesrepublik mit untrüglichem Gespür erfasst – selbstverständlich im authentisch wirkenden  Schwarzweiß. Diese Bilder sind tief in ihrer Zeit verwurzelt. In der Diktion von damals könnte man vielleicht vom „Antlitz der Zeit“ sprechen. Oder halt vom herrschenden Zeitgeist.

Enthemmung im „Wirtschaftswunder“

Ganz anders als beim ernsten Auftakt mit den Kriegsheimkehrern geht es in dem Bildband „Hierzulande“ weiter: Wir sehen Szenen von feuchtfröhlichen, um nicht zu sagen saufseligen Busausflügen ins Weinörtchen Altenahr. Bizarre Enthemmung im sogenannten „Wirtschaftswunder“. Eine Luxusvariante folgt etliche Seiten später: Lebeck lichtete 1962 mit nötiger Diskretion, doch auch im übertragenen Sinne „enthüllend“, die Nackten und Reichen von Sylt ab.

Auch nimmt uns das Buch mit ins hessische Friedberg, wo am 1. Oktober 1958 Elvis Presley seine Dienstzeit als US-Soldat antrat. Robert Lebeck wartete ab, bis der Pulk der Foto-Kollegen abgereist war und Elvis zugänglicher wurde. Nun bekam er ganz spezielle Motive mit dem Weltstar. 1959 gelangen ihm ikonische Bilder der Operndiva Maria Callas, 1960 ließ sich in Hamburg kein Geringerer als Alfred Hitchcock von Lebeck in sinistren Situationen fotografieren, die der Filmregisseur allerdings gleichsam „mitinszenierte“ und die daher stets etwas ungreifbar Mysteriöses an sich haben. Aus späterer Zeit folgen noch geradezu entwaffnende Aufnahmen von Romy Schneider.

Unverkennbar Konrad Adenauer

Doch beileibe nicht nur mit Stars konnte Lebeck menschlich und bildnerisch umgehen. Auch der (un)gewöhnliche Alltag erschloss sich seiner Kamera oder vielmehr: seinem feinen und wachen Empfinden. Ostberliner auf Einkaufstour durch Westberlin – kurz vor dem Mauerbau. All die (vergleichsweise noch bescheidenen) Lockungen des Westens. Sodann die 1961 entstandenen Milieustudien auf der Reeperbahn und vom Hamburger Fischmarkt. Es ist eine versunkene Welt, die Lebeck da festgehalten hat. Doch einige Bilder deuten darauf hin, dass das Vergnügungsviertel in gewisser Hinsicht auch ein Soziallabor gewesen sein könnte. Grandios jenes freche „Fräulein“, das die verschämt amüsierten männlichen Passanten um den Finger wickelt. Stichwort erwachendes weibliches Selbstbewusstsein. Stichwort freizügige Sexualität in immer noch arg verklemmten Zeiten. Freilich zumeist im Zeichen des Geldes.

Die Polit-Prominenz in der Bonner Republik kommt ebenfalls gebührend vor. Winston Churchill hält 1956 im Palais Schaumburg Hof. Frappierend Konrad Adenauers Konterfei, an seinem 90. Geburtstag über die Schulter eines Gesprächspartners hinweg fotografiert. Es zeigt nur einen Bruchteil seines gleichwohl unverkennbaren Gesichts. Ein meisterhaftes Bildnis. Nicht minder typisch und sozusagen „den ganzen Filou“ enthaltend: Willy Brandt beim Flirt mit einer jungen Frau im Speisewagen der Bahn. Dann aber auch seine bittere, resignierte Miene 1974. Es war am Tag seines Rücktritts als Bundeskanzler, im Zuge der Guillaume-Affäre. Und Helmut Kohl? Wird 1976 in selbstgefälliger Pose ausgerechnet im Ruhrgebiet „erwischt“, wo dergleichen Mache am allerwenigsten hingehört…

Der Zeitbogen reicht bis 1983. Da hatte Robert Lebeck den Auftrag, ein Porträt des Landes in Bildern zu entwerfen – wahrlich keine leichte Aufgabe. Heraus kam das vielfältig aufgefächerte Bild einer oft eher grotesken Republik, mit merklichem Schwerpunkt auf Ödnis und Verwahrlosung. Die „Bild“-Zeitung erregte sich seinerzeit über die „Nestbeschmutzung“. Mit anderen Worten: Lebeck kann – um das Mindeste zu sagen – auch hierbei nicht ganz falsch gelegen haben.

Robert Lebeck: „Hierzulande“. Reportagen aus Deutschland. Foto-Bildband. (Hrsg.: Cordula Lebeck). Mit einem Essay von Daniela Sannwald. Steidl Verlag. 192 Seiten im Format 20 x 28,5 cm, Hardcover. 35 Euro.

Das Buch begleitet eine Ausstellung in der Kunsthalle Lüneburg, die noch bis zum 25. Juni 2023 dauert.

 

 

 

 




Ungeahnte Leuchtkraft der Farben – Heinz Mack (92) stellt in Hagen aus

Der Künstler Heinz Mack (92) und Hagens Osthaus-Museumsdirektor Tayfun Belgin (li.) vor einem Bild von Mack. (Foto: Bernd Berke)

„Ich bin ein stolzer Maler!“ Das sagt der heute 92-jährige Künstler Heinz Mack im Hagener Osthaus-Museum. Dort zeigt er rund 70 neuere Arbeiten, die von ungebrochener Vitalität zeugen.

Seine künstlerischen Anfänge reichen weit zurück. 1957 gründete er mit Otto Piene die Avantgarde-Gruppe ZERO, der sich bald darauf auch der „Nagelkünstler“ Günther Uecker anschloss. Heinz Mack hat sich schon 1963 von der Tafelmalerei verabschiedet und sich vollends auf Skulptur und Kinetik verlegt. Damals sah nicht nur er die Malerei „am Ende“. Doch um 1991 hat er wieder zu malen begonnen und ist bis heute dabei geblieben.

Mack betrachtet sein Oeuvre nicht chronologisch. In Japan habe er die asiatische Sichtweise kennengelernt. „Dort denkt man nicht linear, sondern in Zyklen.“ Auch sein Werk zeichne sich durch kreisende Wiederkehr aus, nicht durch fortschreitende Entwicklung. Von einer Wiederholung des Immergleichen kann jedoch nicht die Rede sein. Mack selbst spricht von der „Kraft des Wachsens“.

Heinz Mack in seinem spanischen Atelier neben einer 2022 entstandenen „Chromatischen Konstellation“. (Foto: © Courtesy Archiv Atelier Mack)

Seit Picasso, so Mack weiter, gehe es in der Kunst nicht mehr um Komposition, sondern um Strukturen. Dieser Entwicklung habe auch er sich nicht entziehen können. Deutlich wird dies in seriellen Mustern seiner Reliefs oder in subtilen Farbstufungen seiner meist titellosen Bilder. Vor allem die Übergänge zwischen verschiedenen Farben erprobt er bis in alle Nuancen.

Eigentlich inspiriere ihn alles, sagt der Künstler. Er gehe „mit offenen Augen durch die Welt“ und orientiere sich an der Natur, auch im mikroskopischen Bereich. Gerade da zeigten sich die wunderbarsten Strukturen. Es sind Anregungen sondergleichen.

Ein Raum der Osthaus-Schau verblüfft mit großformatigen Bildern in Schattierungen von Schwarz, Weiß und Grau. Selbst diese Tönungen beginnen auf ihre Art zu leuchten. Erst recht erstrahlen die farbstarken Arbeiten. Heinz Macks Bekenntnis: „Licht i s t eine Farbe“. Ergo: Farbe zeichne sich vor allem durch Leuchtkraft aus.

Glücklicher Moment: Heinz Mack umarmt seine Tochter Valeria in der Hagener Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Heinz Mack lebt auf einem Anwesen bei Mönchengladbach (und auf Ibiza): „Ich bin da von lauter Frauen umgeben, die mir bei der Arbeit helfen.“ Allen voran seine Ehefrau Ute und seine Tochter Valeria, die Kunstgeschichte studiert hat, zur Vorbesichtigung nach Hagen kam und vom Vater beim Pressetermin ganz spontan herzlich umarmt wurde. Ein anrührender Moment.

Neben der täglichen Malerei beschäftigen ihn vor allem archivarische Katalogisierungen seiner Werke, die sich auf fünf größere Lagerstätten verteilen. Hinzu kommen viele, viele seiner Bilder und Objekte in über 140 öffentlichen Sammlungen. Der Mann hat mehr als 400 Einzel- und zahllose Gruppenausstellungen absolviert. Wie soll da jemand den Überblick behalten? Sogar der Künstler selbst tut sich da manchmal schwer. Der Schöpfer ist eben höchstens in zweiter Linie Archivar.

Heinz Mack – „Das Licht in mir“. Bis zum 3. September 2023 im Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi-Info: Hochstraße 73). Geöffnet Di-So 12-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 7 Euro, diverse Ermäßigungen. Telefon 02331 / 207 3138.

www.osthausmuseum.de




„Rheinaufwärts“: Franz Hohlers Wanderungen ins Unscheinbare

Der Titel führt ein wenig in die Irre. Wenn ein Buch „Rheinaufwärts“ heißt, erwartet man wohl eine Tour von der Quelle bis zur Mündung – oder wenigstens auf wesentlichen Teilen dieser Strecke. Doch der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (Jahrgang 1943) vollführt seine Wanderungen praktisch nur in eidgenössischen oder unmittelbar benachbarten Gefilden. In seinem Buch geht es überhaupt ausgesprochen gemächlich und betulich zu.

Begonnen hat Hohler seine Wege bei Schaffhausen und Stein am Rhein im Mai 2020, zur Frühzeit der Corona-Pandemie. Es geschieht gar wenig Aufregendes. Praktisch jede Einkehr zum Kaffeetrinken wird anfangs erwähnt. Bald wissen wir auch, dass Hohler gern Apfelschorle trinkt. Dass er zwischendurch die eine oder andere Lesung absolviert. Und dass er verheiratet ist. Seine Frau wird gelegentlich als solche genannt, allerdings stets ohne Vornamen. Immer und immer wieder erwähnt Hohler die Autobahnen, die das Rhein-Erlebnis stören, wenn sich der Fluss in seinem Vorfeld nicht ohnehin den Blicken entzieht. All das mag man wohlwollend „unprätentiös“ nennen, aber ist es nicht auch langatmig?

Im Grenzgelände zwischen Schweiz, Österreich und Liechtenstein hat sich der Autor Ortschaften erwandert, von denen Deutsche, zumal nördlicherer Herkunft, schwerlich gehört haben werden. Auch in diesem Sinne wäre es hilfreich gewesen, dem Band eine Übersichtskarte beizugeben. Sie hätte recht klein ausfallen können, denn der in Zürich lebende Hohler tritt immer wieder aufs Neue Bahnfahrten zu den Wegmarken an, ohne sich deutlich nordwärts zu bewegen. Düsseldorf wird nur einmal erwähnt. Bonn kommt nur im fünfzeiligen Epilog vor wie ein Gerücht, Köln überhaupt nicht. Dass der Rhein zum Meer strebt, sagt sich auch nur so dahin.

Hie und da spürest du kaum einen Hauch von Ironie am Wegesrand. Ansonsten ist dies ein kreuzbiederer Text der unscheinbar kleinen Dinge und Vorfälle. Spürbar wird eine sanftmütige Sehnsucht nach angehaltener oder wenigstens verlangsamter Zeit; womöglich, um Gedanken ans Alter zu entrinnen. Freilich machen sich unterwegs kleine Wehwehchen und lästige Hindernisse bemerkbar, einmal ist dann auch eine Rücken-Operation erforderlich und die Wanderungen müssen vorerst abgebrochen werden. Im seltsamen Kontrast zur begrenzten Fortbewegung stehen punktuelle, eigentlich nur assoziative Vergleiche mit Regionen, die Hohler in der weiten Welt gesehen hat. Sonderlich ergiebig sind auch sie nicht.

Und der Rhein, so weit er sich denn offenbaren mag? Mal fließt er einfach „ungerührt“ weiter, mal wird er dem Schriftsteller zum Freund, auch stellen sich bei seinem Anblick andächtige Gefühle ein, schließlich ist Hohler geradezu „stolz“ auf den Fluss. Mal ist – gleichsam nur nachrichtlich – von Überschwemmungen, dann wieder von Austrocknung droben in Deutschland die Rede. Nichts, was man nicht auch den Medien entnehmen könnte. Keine tiefer gehende Reflexion, wie es scheint.

Auf Seite 117 stehen zusammengefasst ein paar Zumutungen, die dem Rhein zuteil werden. Zitat übers Quellgebiet: „Der Rhein?… Ein Kind, das noch nicht weiß, was von ihm verlangt wird. Energie soll es hergeben, schiffbar soll es werden, schwimmbar soll es sein, und tief genug für Selbstmörder.“ Eine für Hohler vergleichsweise direkte, ja krasse Aussage, bei der man endlich einmal aufhorcht.

Die Strömung des Flusses, so ist zu ahnen, hat eine Menge mit der Strömung von Zeit zu tun. Gegen Schluss verdunkeln sich die Gedanken, als der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Umso befremdlicher, wenn Hohler direkt danach formuliert: „Es ist fast sommerlich heiß geworden, als ich in Disentis einmarschiere…“ Eine Gedankenlosigkeit, die das Lektorat hätte mildern sollen.

Franz Hohler: „Rheinaufwärts“. Luchterhand. 128 Seiten, 22 Euro.

 




Eine Stadt, in Schwarzgelb gehüllt: Borussia Dortmund stand kurz vor der Meisterschaft – aber dann…

Die Kluft fürs Wochenende lag bereit. (Foto: Bernd Berke)

An einem einzigen Tor sind sie gescheitert… Bayern eins zu viel, der BVB eins zu wenig. Hallers verschossener Elfer, Adeyemis Verletzung. Ja, man könnte lange lamentieren. Doch was hilft’s? Borussia Dortmund hätte heute wirklich und wahrhaftig deutscher Fußballmeister werden können – erstmals wieder seit 2012, als es unter Jürgen Klopp sogar ein BVB-Double mit Pokalsieg gegeben hat. Hier die Zeilen, die vor dem entscheidenden Spiel gegen Mainz geschrieben wurden:

In der Stadt wird seit Tagen eigentlich über nichts anderes mehr geredet. Spätestens am Pfingstwochenende wird hier und im Umland so ziemlich alles in Schwarzgelb gehüllt sein, alle denkbaren Verrücktheiten im Zeichen dieser Farben inbegriffen. Nervosität und Vorfreude steigen von Stunde zu Stunde. Da wird sogar die gestern verkündete, überraschende (nur vorübergehende?) Rettung des Dortmunder Karstadt-Hauses zur lokalen Randnotiz, wenn auch zu einer erfreulichen.

Man muss nicht alles wieder herbeten, was dazu geführt hat, dass der Meistertitel in greifbar(st)e Nähe gerückt ist. Doch ein paar Faktoren sollten genannt werden: die immense Formsteigerung von Spielern wie Donyell Malen und Karim Adeyemi (welch eine pfeilschnelle „Flügelzange“!) oder auch dem immer stabileren Emre Can; die geradezu unglaubliche Wiederkehr des Sébastien Haller; der ungeahnte „zweite oder dritte Frühling“ von Mats Hummels; Gregor Kobel, der – wie man so schön sagt – immer mal wieder „die Unhaltbaren hält“. Na, und so weiter. Und natürlich hat Herzblut-Trainer Edin Terzic einen Riesenanteil an der ungemein erfolgreichen Rückrunde. Und nein: Es liegt keinesfalls nur an der Schwäche der Bayern, wenn es dem BVB gelingt. Es liegt auch und vor allem an eigenen Qualitäten. Jawoll!

Die tabellarische Ausgangslage ist bestens, doch kein Anlass zur Selbstzufriedenheit (was man der Mannschaft auch nicht nachsagen kann). Neben arg verfrühtem Siegestaumel bei etlichen Fans mehren sich nun auch die Unkenrufe aus allerlei Richtungen: „Vielleicht vergeigen sie es kurz vor der Ziellinie doch noch!“ Sollen wir uns nun ein nervenschonendes oder ein maximal spannendes Finale wünschen, das sich womöglich erst in der Nachspielzeit entscheidet? Mh. Dauerhafte Schnappatmung wäre der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Und ob sie quer durch die Republik einen schönen Nervenkitzel haben, ist doch wohl zweitrangig, oder? Es soll bitteschön klar ausgehen.

Ich halte jedenfalls dafür, dass „zwischen Flensburg und Freiburg“ (um noch so ein Klischee zu bemühen) eine satte Mehrheit eher Dortmund den Titel gönnt als den Bayern. Natürlich bedeutet die Meisterschaft in dieser oft gebeutelten Stadt auch ungleich mehr als drunten im begünstigten Süden, wo sie es kaum noch anders kennen, als gelangweilt die Schale abzuräumen und wo sie schon zu Tausenden vorzeitig die Allianz-Arena (aka „Arroganz-Arena“) verlassen, wenn „dahoam“ vorentscheidend gegen Leipzig verloren wird.

So ähnlich hätte es wieder aussehen können: Impression vom Meister-Corso des BVB am 15. Mai 2011, hier mit (v. li.) Mario Götze, Lucas Barrios und Nuri Sahin. (Foto: Bernd Berke)

Wie es heißt, hat es vor dem entscheidenden Heimspiel gegen Mainz 05 weit über 300.000 Kartenanfragen gegeben. Zwar steht in Dortmund das größte deutsche Stadion, das immerhin knapp über 81.000 Zuschauer fasst, doch hört und liest man von exorbitanten Ticket- und Übernachtungspreisen, die die 1000-Euro-Marke überschreiten.

Für viel Ärger hat im Vorfeld dies gesorgt: Der Fußballsender Sky/Wow mag am Samstag partout keine großen Public Viewing-Ereignisse in Dortmund zulassen und es Kneipen mit Sky-Lizenz nicht einmal erlauben, ihre Bildschirme so zu drehen, dass sie von außen sichtbar sind. Wahrscheinlich ist es (ohne dass sie es zugeben dürften) auch der Stadt und der Polizei so ganz recht, weil dann nicht noch mehr riskante Events stattfinden. Der Sonntag mit einem möglichen Meister-Corso dürfte mit vorab geschätzten 200.000 bis 400.000 Fans zwischen Borsigplatz, Wallring und „Dortmunder U“ schon genug Probleme bereiten. Freilich: Gerade weil der Massenzulauf am Samstag vielleicht noch nicht richtig kanalisiert wird, sondern wahrscheinlich spontan entsteht, ist die Lage keineswegs ungefährlich. Kann und soll man sich beispielsweise mit Kindern in die City trauen?

Übrigens: Manche in Schwarzgelb frohlocken, dass heute Schalke absteigen kann. Andere sagen, sie würden jedenfalls das „Derby“ arg vermissen. Und wenn dann auch noch Bochum… Das wäre fürs Revier ja gar nicht auszudenken. Also bitte, Leute, gebt Euch einen Ruck: Daumendrücken hier wie dort. Und wenn’s nur wegen der Derbys ist.

 




Nicht schön, aber viel besser als früher – Bilder aus der „Eulenkopf“-Siedlung

Frontale Aufnahme auf dem Cover des Fotobandes von Merle Forchmann: „Eulenkopf“-Bewohnerin Rosi, die sich „damals“ so sehr über eine eigene Wohnungsklingel gefreut hat, hier aber eine durchaus abwehrbereite Haltung einzunehmen scheint. (Fotografie: © Merle Forchmann / Cover-Gestaltung: Verlag Kettler, Dortmund)

Das kann man wohl teilnehmende Beobachtung nennen: Rund zwei Jahre lang ist die in Düsseldorf lebende Dokumentar-Fotografin Merle Forchmann immer und immer wieder nach Gießen gefahren – und dort stets zur „Eulenkopf“-Siedlung. Mit der hat es seine spezielle Bewandtnis.

In den frühen 1950er Jahren wurde diese Siedlung in erbärmlicher Schlichtheit so errichtet, dass vormals Wohnungslose zwar ein notdürftiges Dach über dem Kopf hatten, aber ganz bewusst vom Rest der Stadt separiert und damit als „sozial Schwache“ oder gar „Asoziale“ gebrandmarkt wurden. Sie wohnten buchstäblich im Dreck und wurden behandelt wie „Schmuddelkinder“. Desolate soziale Verhältnisse mit häufiger familiärer Gewalt waren in dieser Frühzeit die unausbleibliche Folge. In den Nachkriegsjahren waren ringsum viele US-Soldaten stationiert. Sie haben in der Gegend so manche Kinder gezeugt und sind oft nicht bei ihnen und den Frauen geblieben. Familien mit mehr als fünf Kindern waren hier anfangs die Regel. Da wurde das Elend nicht kleiner.

Im Zuge der Studentenbewegung formierte sich in den frühen 1970er Jahren in Gießen ein Hilfsprojekt, das den „Abgehängten“ beistehen wollte und gründliche Sanierungen (unter Beteiligung der Betroffenen) voranbrachte. Besonders engagierte sich dabei auch der prominente Prof. Horst-Eberhard Richter, der damals die psychosomatische Klinik in Gießen leitete. Merle Forchmann ist seine Enkelin und hatte daher auch ein persönliches Interesse an einer ausgiebigen Spurensuche – etwa 50 Jahre nach Gründung jener studentischen Initiative. Sie konzentriert sich freilich nicht auf Meriten ihres Großvaters, sondern auf die jetzigen Bewohner der Häuser.

Zufrieden mit einem bescheidenen Leben

In dem angemessen schmucklosen Bildband „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ werden nicht lang und breit die Zusammenhänge aufgerollt. Wir erfahren das Nötige, lernen einige Bewohner anhand von Porträts, alltäglichen Szenen und kurzen Selbstaussagen kennen. Skizzenhaft, versteht sich. Da ist zum Beispiel Tamara, die tatsächlich Weltmeisterin im Powerlifting (eine Art Gewichtheben) gewesen ist und dann an Krebs erkrankte. Da ist Rosi, die noch heute von der Zeit schwärmt, als ihre Behausung ein eigenes Klo und eine eigene Klingel bekommen hat. Da ist Adelheid, die schon in fünf verschiedenen Häusern des Blocks gewohnt hat. Da ist Gela, seit 1969 hier, die auch künftig für immer bleiben will. Da ist Udo, der bereits dieses bescheidene Leben als „Luxus“ begreift.

Die Momentaufnahmen wirken vielfach wie pure Zufallsauswahl, sie beruhen aber just auf genauer Langzeitbeobachtung und zunehmend vertrauensvollen Gesprächen. Es sind visuelle Essenzen; Ansichten aus dem nachhaltig verbesserten, aber immer noch alles andere als komfortablen Alltag der Siedlungsbewohner, die übrigens auch einen eigenen Verein für Kraftsport und Fußball gegründet haben. Auch das hat ihnen über missliche Situationen hinweggeholfen.

Die Dinge sprechen ihre eigene Sprache

Es entspricht sicherlich nicht dem gängigen Mittelschichts-Geschmack, doch auch die Dinge, mit denen sie sich hier seit längerer Zeit umgeben, sprechen eine eigene, oft geradezu anrührende Sprache. Es finden sich Spuren gelebten Lebens darin, das beileibe nicht einfach war. Erst recht sind die Gesichter von Mühsal gezeichnet. Sie haben ihre kleine Welt ein wenig erträglicher gestalten können. Nach ihrem Maß. Schön ist das alles immer noch nicht, doch der Flecken ist durchsetzt mit einigen Vorzeichen eines lohnenden Lebens.

Die meisten Leute wohnen schon seit den 1960er Jahren hier bzw. sind hier aufgewachsen und inzwischen alt geworden. Insofern hat Merle Forchmann Bilder einer allmählich verblassenden Lebenswelt eingefangen. Und woher diese Siedlungstreue? Einerseits sind sie wohl geblieben, weil man nur schwer von dort wegkommt, andererseits scheint es einen sozialen Zusammenhalt zu geben, den sie selbst dann noch aufsuchen, wenn ihnen der „Absprung“ gelungen ist. Fast alle Verwandten und viele langjährig befreundete Menschen wohnen ja weiterhin hier. Selbst ein Sohn des Viertels, der es zum Gymnasiallehrer gebracht hat, kommt jederzeit zu Besuch, obwohl seine Partnerin mit all dem wenig anfangen kann.

Es lassen sich hier nicht zuletzt eigene Vorurteile überprüfen. Was hält man spontan vom Anblick dieser Menschen? Ändert man seine Meinung, wenn man ein paar Zeilen über sie liest? Kommen sie einem nicht nach Durchsicht des Bandes schon wesentlich vertrauter vor? Oder bleiben sie dennoch seltsam fremd?

Merle Forchmann: „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ (Hrsg.: Jonny Bauer). Verlag Kettler, Dortmund. 116 Seiten Softcover, Format 18×23 cm, Texte in Deutsch und Englisch. 19 Euro.

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Der Dortmunder Verlag Kettler – eine stille Sensation

Der Verlag Kettler darf als eine der stillen Sensationen von Dortmund gelten. In dieser Stadt werden ansonsten kaum noch Bücher hergestellt, seit etwa grafit (Regionalkrimis etc.) und Harenberg (populäre Lexika usw.) die einst stolzer geblähten Segel gestrichen haben.

Die wenigsten Einheimischen dürften schon von Kettler gehört haben, dabei produziert der Verlag im Schatten des „Dortmunder U“ (und mit eigener Druckerei im nahen Bönen) u. a. Kataloge für erstrangige Institute wie die Bundeskunsthalle (Bonn) oder den „Hamburger Bahnhof“ (Berlin). Mit solchen Publikationen zählt Kettler zu den führenden Kunstverlagen der Republik.

In der Region kooperiert man regelmäßig mit dem Emil-Schumacher-Museum (Hagen), dem NRW-Baukunstarchiv (Dortmund) oder dem Marta in Herford. Auch ein enorm anspruchsvoller, auf Katalog-Qualität versessener Künstler wie Christo vertraute Kettler eine voluminöse Werkübersicht über sich und Jeanne-Claude an. Eine Art Ritterschlag in dieser Branche.

 




Buch der Enttäuschungen – Arnold Stadlers Roman „Irgendwo. Aber am Meer“

Ein Schriftsteller erzählt von seiner edel gerahmten Diskussions-Teilnahme auf Schloss Sayn im Westerwald. Dort hat doch tatsächlich jemand aus dem Publikum gerufen, er sei ein „Alter weißer Mann“ und sondere gestriges Geschwätz ab. Das muss man sich mal vorstellen.

Im Ernst: Der Zwischenruf löst beim Autor schier endlose Reflexionen voller Selbstzweifel aus. Wer will ihn überhaupt noch lesen und hören? Hätte das Publikum lieber Greta Thunberg als ihn erlebt? Ist er denn aus der Zeit gefallen? Tja, das sind Fragen. Und die Leserschaft darf mal wieder an den speziellen Problemen eines beruflich Schreibenden teilnehmen. Da möchte man gern auf Max Goldt zurückkommen, der den herrlichen Vergleich von allzeit gängigen „Künstlerfreundschaften“ mit bislang niemals gewürdigten „Elektriker-Freundschaften“ ersonnen hat.

Arnold Stadler (Jahrgang 1954) legt mit „Irgendwo. Aber am Meer“ ein Buch der Enttäuschungen vor, eine Ich-Beschau des Autors als alternder Mann. Der im Spätherbst des Lebens angelangte Schriftsteller fährt, wie er einige Male betont, einen Dacia Diesel und darf damit wohl (im Urteil der geistlosen Mitwelt, aber auch nach seiner eigenen Befürchtung) als „Loser“ gelten, der nicht allzu „finanzfrisch“ ist, sprich: eher Schulden als Rücklagen angehäuft hat.

Auf seiner Bahn-Heimfahrt von Sayn nach Tuttlingen (immerzu vielsagend kurzgeschlossen mit der dort angesiedelten Erzählung „Kannitverstan“ von Johann Peter Hebel) geht einiges schief. Das platte Land ist halt verkehrstechnisch „abgehängt“. Zu allem Überfluss ist der Handy-Akku leer, desgleichen die Autobatterie, als der Autor am Zielbahnhof einsteigen und losfahren will. Bei derlei Unbill kommen hier ziemlich schnell Todesgedanken auf. Wenn es erst einmal abwärts zu gehen scheint…

Kurz darauf (mit besagtem Dacia) der Aufbruch gen Ithaka – ein Ziel, das der Erzähler noch nie erreicht hat und auch diesmal nicht erreichen wird, eventuell auch gar nicht erreichen will. Man denkt dabei vielleicht an die immer neuen, vergeblichen Anläufe des Sisyphos. Der in Latein und Altgriechisch bewanderte Stadler aber denkt an die Irrfahrten des Odysseus und an die ebenso sprichwörtlichen Pyrrhos-Siege, die sich als verkappte Niederlagen erweisen. Wie denn überhaupt antikes Bildungsgut die Wege säumt.

Freilich wird das Lamento bei der Suche nach einem Ort in der Welt auch mit Selbstironie gewürzt. Das erzählende Ich berichtet, es sei schon öfter „Hallodri“ oder auch „Schwadroneur“ genannt worden, macht sich aber nicht allzu viel daraus. Dieses Ich hat sich in einer doch recht komfortablen Außenseiterrolle jenseits des Tagesgeschreis eingerichtet und sagt sich, dass so viele nicht ihr eigenes Leben führen, sondern eines, wie es erwartet wird. Das schmeckt nach Wahrheit.

Aber nicht nur das Ich ergießt sich in mäandernder Suada, auch missliche Weltzustände kommen hervor, die einen durchaus resignieren lassen können. Auf der Textstrecke flottieren die Assoziationen frank und frei – von tagespolitischen Blitzlichtern und Melina Mercouris nostalgischem Schlager „Ein Schiff wird kommen“ (auch von vielen anderen gesungen, darunter Caterina Valente und Lale Andersen) über den legendären griechischen Milliardär Aristoteles Onassis (nebst Jackie Kennedy und Maria Callas) bis hin zu Sartre und Heidegger, Rudolph Moshammer und John Lennon. Um nur einige Beispiele zu nennen. Eine bunte Mixtur, fürwahr. Trotz solcher Wechselspiele wirkt der Duktus des Romans hin und wieder redundant und zuweilen etwas in sich selbst versponnen. Schon der Titel scheint ja zwischen Unschlüssigkeit und Entschiedenheit zu oszillieren.

Sodann die finale Schiffsfahrt über die Adria nach Triest. Schon zu Beginn war die Rede von einer Reise zum Kilimandscharo. Dieser Roman handelt jedoch ebenso sehr vom Bleiben und Beharren wie vom Unterwegssein und von Veränderung. Und immer wieder vom Allbezwinger Tod. Bereits 1996 war Arnold Stadlers auch hier wieder erwähntes Buch mit dem unvergesslichen Titel erschienen: „Der Tod und ich, wir zwei“.

Nun dieses bilanzierende Zitat gegen Schluss: „Ach! All meine Straßen und Wege und Holzwege. Doch war mein Leben nicht auch so etwas Schönes? Schön, weil es wahr war? Und wahr, weil es schön war trotz allem?“ So werden Resignation und Melancholie von der Abendsonne vergoldet. Irgendwie. Aber am Meer.

Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. Roman. S. Fischer Verlag. 224 Seiten, 24 Euro.

 




Mord als schrecklich groteskes Kinderspiel – Shakespeares „Macbeth“ in Bochum

Wenn’s zum Schwur kommt: „Macbeth“-Szene mit gezückten Messern im Becken – mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Hat dieser Mann, Macbeth heißt er, erst einmal den grundsätzlichen Entschluss gefasst und einmal einen Mord begangen, so tötet es sich hernach furchtbar leicht. Einfach das Messer angesetzt und zugestochen. Dann wird noch demonstrativ eine Portion Theaterblut angerührt und über Mörder wie Leiche gegossen – und fertig. Gedanke und Tat folgen dann immer schneller aufeinander. Es ist fast wie ein Kinderspiel. Oder eben wie Theater.

Intendant Johan Simons hat Shakespeares blutrünstiges Drama „Macbeth“ auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses gebracht. Gar oft ist die Premiere verschoben worden, nahezu gefühlte zwei Jahre lang (hab’s nicht eigens nachgerechnet), gewiss nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Nein, Simons und sein Team haben offenkundig mit diesem kaum auszulotenden, schwerlich auszuschöpfenden Stück gerungen, sie haben es wohl noch und noch von immer wieder anderen Seiten her betrachtet, um eine Form zu finden. Womöglich war es ein Prozess, der zur Entschlackung und zu einer Art Minimalismus geführt hat. Es ist nun, als wäre es ein Konzentrat geworden, das jedoch an manchen Rändern leichthin in Anflüge von Clownerie „ausfranst“ und neben dem Schrecklichen auch das Groteske aufruft. Nun gut, das Publikum will unterhalten und nicht nur entsetzt werden. Trotzdem ist es – alles in allem – eine Inszenierung, die einem nachgeht.

Den Text auf nur drei Figuren verteilt

Die Bühne (Nadja Sofie Eller) ist weitgehend leer, bis auf ein gekacheltes Becken. Eine unwirtliche Welt. Ganz hinten findet sich eine große Bild- und Videowand, die nur von Zeit zu Zeit sichtbar wird. Gespielt wird die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, über der Szenerie läuft Shakespeares genialer englischer Originaltext synchron mit – eine eigentlich willkommene Dienstleistung, auf die man sich jedoch kaum konzentrieren kann, weil die Darstellenden sofort alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Fast wie ein Herz und eine Seele: weitere Dreier-Szene mit (v. li.) Marina Galic, Jens Harzer und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Es sind nur drei, auf die sich die Textmenge aller wesentlichen Figuren verteilt. Anfangs mag das etwas verwirrend sein: Wer ist er oder sie denn jetzt schon wieder? Doch es tritt rasch Gewöhnung ein. Entweder hilft die namentliche Anrede, oder einfache Gesten wie das Auf- und Absetzen der Krone markieren die Person, mit der wir es gerade zu tun haben. Es geht ja auch nicht so sehr um abgrenzbare Individuen, sondern ums große Ganze der Zustände. Bei all dem kommt die Aufführung mit sehr wenigen Zeichen und Symbolen aus. Krone und (schottische) Fahne, das wär’s beinahe schon.

Die Hexen sind eigentlich immer dabei

Die drei multiplen Gestalten gehen aus der anfänglichen Szene mit den drei berühmt-berüchtigten Hexen hervor, die Macbeth jene vieldeutigen Prophezeiungen einflüstern, denen er nach gehabtem Schlachten-Glück die kommende Königswürde entnehmen könnte, die jedoch auf vertrackte Art auch den Nachkommen seines Kampfgenossen Banquo zufallen soll. Höllischer Zwiespalt! Ihn nutzt seine Frau, Lady Macbeth, um dem Manne die Mordlust einzuimpfen, geradezu schmackhaft zu machen. Erst den regierenden König Duncan gemeuchelt, sodann alle anderen, die irgendwie im Wege stehen oder auch nur hinderlich zu sein scheinen. Doch es nützt nichts. Wieder tritt eine rätselhaft doppeldeutige Prophezeiung ein…

Sie müssen natürlich spätestens jetzt genannt werden: Jens Harzer ist zunächst eine der Hexen, fortan Macbeth, Duncan, Malcolm und ein Mörder. Marina Galic ist ebenfalls eine Hexe, aus der abwechselnd Lady Macbeth, Banquo, Macduff, Lady Macduff und deren Sohn hervorgehen. Stefan Hunstein schließlich ist und bleibt „Hexe“, sprich: eines jener Geistwesen, das in den Menschen wütet. Das wiederum bedeutet: Die Hexen sind eigentlich immer dabei, vom Anfang bis zum bitteren Ende. Sie sind in Hirne und Seelen der Handelnden gefahren und weichen nimmermehr. Das Böse und die Unnatur sind nun einmal in der Welt.

Plötzlich die Frage: „Und wenn das schiefgeht?“

Auch sitzen und lauern die Mordgelüste schon in den Menschen, Macbeth kommt schließlich aus einem Krieg, in dem er sich bereits durch diabolische Grausamkeit „ausgezeichnet“ hat. Im trügerischen Frieden schreckt er zu Beginn noch vor Einzelmorden zurück, doch das gibt sich bald. Gewaltsame Gelüste müssen nur noch hervorgekitzelt und mit tätiger, doch eher passiver, geschehen lassender Hexen-Mithilfe ausgeführt werden. So vollführt Stefan Hunstein Mordtaten gleichsam als Pantomime mit. Es gibt etliche Szenen, in denen ausgiebig posiert wird und sich die Darstellung in wortlose „Choreographien“ verlegt – bis an den Rand des Plakativen. Andererseits zeigt sich vielfach, dass das Mörderische auch in der Sprache wurzelt. Gewalt ist nicht zuletzt ein „Sprach-Ding“.

Mordgelüste bis zum Slapstick: Szene mit (v. li.) Jens Harzer, Marina Galic und Stefan Hunstein. (Foto: Armin Smailovic)

Das großartige, durchweg gleichwertig ausbalancierte Schauspiel-Trio hält das Geschehen in der Schwebe oder im steten Wechsel zwischen Schauder und Groteske, punktuell werden auch ästhetische Mittel des Horrorfilms nicht gescheut. Überhaupt bewegt sich die Inszenierung zuweilen ganz stil- und formbewusst an einer bloßen Oberfläche, die allerdings schon genug Schrecken bereithält.

Zwischendurch treten die Drei öfter kurz aus ihren eh schon zersplitterten Rollen heraus und schauen verwundert auf sich selbst. Dann klingt es reichlich naiv und kindlich hilflos, wenn etwa Macbeth auf einmal vor der Untat Bedenken äußert: „Und wenn das schiefgeht?“ Auch gibt es Passagen, in denen Jens Harzer als Macbeth in eine Art Polit-Gelaber oder gefälliges Parlando verfällt, hinter dem die Morde quasi verschwinden sollen. Hat nicht seine Lady gesagt, er solle sich nichts draus machen und kein schlechtes Gewissen haben, sondern seine tyrannische Machtfülle lustvoll genießen? Hat sie ihn nicht auch mit sexueller Gier und Gunst ins irgendwann Unvermeidliche getrieben? Dazu wird zwischendurch auch schon mal eine Platte mit dem brünstigen Stöhn-Song „Je t’aime – moi non plus“ aufgelegt. Sex und Macht – ein weites Feld der Wechselwirkungen.

Ausblick auf eine Welt ohne Menschen

All das könnte schiere Einbildung sein und sich im Inneren eines mörderischen Hirns abspielen – mitsamt dem Geist des ermordeten Banquo, der Macbeth so schauderhaft erscheint. Ist vielleicht alles ein von den Hexen ins Werk gesetztes (oder auch nur amüsiert beobachtetes), blutiges Spiel der Sinnlosigkeit? Sogar die Massenmorde des 20. Jahrhunderts könnten schon gemeint sein, denn wenn einmal die Schranken des Gewissens gefallen sind, dann ist alles möglich. Shakespeare hat denn auch Sätze geschrieben, bei denen man zutiefst erschrickt; Sätze, die bereits mitten ins erkaltete Herz des Nihilismus führen, die manches an Dostojewski, Kafka oder Beckett vorwegnehmen. Das Bochumer Programmheft zitiert derweil Leute wie den Rapper Eminem und den Horror-Autor Stephen King. Das ganze Spektrum soll es sein.

Ins Allgemeine und Apokalyptische greift eine Videoeinspielung gegen Schluss. Wir haben erfahren müssen, dass auch der nächste Herrscher nach dem Tod von Macbeth seinen geköpften Widersacher kannibalisch fressen will. Und immer so weiter. Das Elend der grenzenlosen Gewalt hört nie auf. Selbst der monströse Macbeth war nur ein Beispiel von vielen. Und nun sind auf der Videowand Käfer und Raupen zu sehen. Vermeintlich niederes Getier. Einfach so. Nicht allzu fern liegender Gedanke: Es sind Geschöpfe, die nach dem Ende der Menschheit überleben und auf ihre Art weitermachen werden.

Der Rest ist Schweigen. Und Finsternis.

Riesenbeifall für alle Beteiligten, sodann stehende Ovationen. In Bochum wissen sie halt immer noch, was sie an ihrem Schauspiel haben.

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Die nächsten Vorstellungen: 13. Mai, 2., 11. und 14. Juni.

www.schauspielhausbochum.de

 

 

 




Seele der ganzen Region – Fotoschau über Fußball im Ruhrgebiet (verlängert bis 20. Mai ’24)

Typisch Ruhrgebiet? „Schlechter Platz“, aber unbändige Begeisterung (Essen, März 1970). (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Marga Kingler)

Das kann doch wohl kein Zufall sein: Zwischen 1952 und 1957 erreichte die Steinkohleförderung im Revier ihre Gipfelpunkte. Just in dieser Phase machten Ruhrgebietsvereine die deutsche Fußballmeisterschaft hauptsächlich unter sich aus: 1955 war Rot-Weiß Essen an der Reihe, 1956 und 1957 folgte Borussia Dortmund, 1958 schließlich Schalke 04.

Gemeinsame Sache: Heinrich Theodor Grütter (li.), Leiter des Ruhr Museums, und Manuel Neukirchner, Leiter des Deutschen Fußballmuseums, vor dem Plakat der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

In einer gemeinsamen Ausstellung auf Zeche Zollverein erzählen das dort ansässige Ruhr Museum und das (auch nicht von ungefähr) in Dortmund angesiedelte Deutsche Fußballmuseum die Geschichte(n) des Revierfußballs anhand von 450 prägnanten Fotografien aus etwa 100 Jahren. Die Auswahl war reichlich und dürfte einige Mühe (aber auch Freude) bereitet haben, beherbergt doch das Ruhr Museum unter seinen Millionen Fotografien allein rund 60.000 Fußballmotive – im weiteren Sinne. Denn das Spektrum der Bilder weist über den Fußball hinaus auf den Alltag der Region.

Neben fotografischer Ästhetik geht es vor allem um das Lebensgefühl, das sich im Ruhrgebiet so innig wie kaum irgendwo sonst in Europa mit dem Fußball verknüpft hat. Allenfalls England, bekanntlich das Mutterland dieses Sports, kann da (vorbildlich) mithalten.

Fußballfreunde, Essen, 25. Januar 1967. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Anton Tripp)

In elf Themenbereichen erkundet die vielfältige Schau zumal das oftmals schlichte soziale Umfeld der Fußball-Leidenschaft – bis hin zu in jeder Hinsicht „dreckigen“ Spielen auf Matsch- und Ascheplätzen. Die Fankultur kommt ebenso in Betracht wie Anfänge des Frauenfußballs oder hochartifizielle Aufbereitungen. So ist etwa Andreas Gurskys mittlerweile berühmtes, wandfüllendes Digitalbild der „Gelben Wand“ (Fans auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions) zu sehen.

Schmerzlich spürbar werden die Brüche seit den 1950er Jahren. Um den Ausstellungstitel aufzugreifen: Dem Mythos folgte allmählich die Moderne. In der Nachkriegszeit kamen die Spieler noch längst nicht auf die Idee, sich derart PR-gerecht zu stilisieren wie heute. Auch war es undenkbar, dass ein Verein an die Börse gegangen wäre. Und die Spielergehälter lagen etliche Etagen unter den jetzt so wahnwitzigen Summen.

Heinrich Theodor Grütter, Leiter des Ruhr Museums, hält gleichwohl dafür, dass der Ruhrgebiets-Fußball im Bergbau seinen für lange Zeit fruchtbaren Humus gefunden habe. Die Ausstellung im Vorfeld der EM 2024 finde derweil in schicksalhaften Tagen statt: Wird der BVB doch noch Meister, kann Schalke den Abstieg abwenden, hält sich RW Essen in der Dritten Liga? Fragen über Fragen.

Übervolle Hütte: Zuschauer beim Revierderby Schalke 04 gegen Borussia Dortmund in der Glückauf-Kampfbahn, 5. März 1961. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Herribert Konopka)

Eröffnet wird die Schau am kommenden Sonntag (7. Mai) um 18 Uhr – eben dann spielt der BVB ab 17.30 Uhr abermals eine vorentscheidende Partie gegen Wolfsburg. Drum wird keine Dortmunder Kicker-Prominenz im Ruhr Museum erscheinen, wohl aber Dortmunds Oberbürgermeister Westphal. Er wird im Museum ehemaligen Spielern wie Bernard Dietz (MSV Duisburg), Ingo Anderbrügge (vor allem Schalke) oder Hermann Gerland (Wurzeln beim VfL Bochum) begegnen.

Apropos: Ob die Auswahl der Exponate „Schlagseite“ hin zu Schalke und eher weg vom BVB zeigt, mag das Publikum aus verschiedenen Perspektiven beurteilen. Womöglich haben die Leute vom Dortmunder Fußballmuseum das Schlimmste verhüten können. Frotzelei beiseite! Fakt ist, dass auch etliche andere Vereine vorkommen, darunter solche, die es längst nicht mehr gibt, die aber einst Legenden hervorgebracht haben. Überhaupt vermittelt die Ausstellung das erhebende Gefühl, dass es im Revier – aller Rivalität zum Trotz – jede Menge Gemeinsamkeiten gibt.

Neben den Fotografien sind nur ganz wenige „Reliquien“ zu sehen, so das Originaltrikot des 54er-Weltmeisters Helmut Rahn. Der Essener, der das entscheidende Tor zum deutschen Sieg über das hochfavorisierte Ungarn erzielte, ist im Schatten der Zeche Zollverein aufgewachsen. So schließt sich ein Kreis.

1. Kreisklasse vor Kulisse des Kraftwerks Springorum, 10. Januar 1973. (© Fotoarchiv Ruhr Museum / Foto: Manfred Vollmer)

Ausstellung wird bis zum 20. Mai 2024 verlängert

„Mythos & Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“. 8. Mai 2023 bis 4. Februar 2024. bis 20. Mai 2024. Ruhr Museum in der Kohlenwäsche, Zeche Zollverein, Essen, Gelsenkirchener Straße 181, 45309 Essen. Geöffnet Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 10 €, ermäßigt 7 €. Jugendliche unter 18, Schülerinnen, Schüler und Studierende unter 25 freier Eintritt. Katalog mit über 480 Abb. 29,95 Euro.

Ermäßigung auch bei Vorlage einer Dauerkarte eines Ruhrgebiets-Vereins oder eines Tickets des Deutschen Fußballmuseums. Mit Ticket der Essener Schau wiederum gibt’s 20% Nachlass auf den Tageskassen-Eintritt ins Fußballmuseum.

www.ruhrmuseum.de

www.tickets-ruhrmuseum.de

 




Mehr Offenheit war nie: Nam June Paiks Musik-Momente in Dortmund

Bilder und Töne ringsum, erstmals in Deutschland zu erleben: Nam June Paiks „Sistine Chapel“ (Sixtinische Kapelle) in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Musik gehört in den Konzertsaal oder in den Szene-Schuppen, Kunst ins Museum. Wirklich? Solche Zuweisungen gelten schon längst nicht mehr. Einer, der diese und andere Künste schon früh vermischt hat, dass die Sinnfetzen nur so flogen, war der 1956 aus Korea nach Deutschland gekommene Nam June Paik (1932-2006). Von seiner ärmlichen Ankunft zeugt ein ramponierter Koffer mit allerlei Kram von nunmehr musealer Bedeutung.

Das Museum Ostwall im Dortmunder U widmet Paik eine Retrospektive, wie es lange keine mehr gegeben hat, erst recht nicht zu diesem Thema: Sie nimmt mit rund 100 Arbeiten Paiks musikalische Performance-Aktionen in den Blick – und „ins Gehör“. Die Schau „I Expose the Music“ (Ich stelle die Musik aus) empfängt das Publikum mit visuellen Erlebnissen und herausfordernden Klangcollagen, so dass sich am Ende Dankbarkeit einstellt, wenn man in einen meditativen, minimalistischen Zen-Bereich eintritt – gleichfalls ein Wesenskern des Werkes.

Kein Einfall war zu verwegen

Schon seit den frühen 1960ern hat Nam June Paik von Einfällen schier überbordende, oft geradezu „verrückte“ Aktionen ins Werk gesetzt, denen keine Hochkultur heilig war. Der Dortmunder Katalog enthält eine Chronologie solcher Vorführungen. Legendär etwa Paiks Zusammenarbeit mit der klassisch ausgebildeten Cellistin Charlotte Moorman, die dem Instrument mit seiner Hilfe allerlei Wagnisse abgewann. Mal spielte sie nackt, mal stieg sie zwischendurch in einen Wassertank und agierte triefend weiter, mal strich sie mit dem Bogen über Paiks Rücken oder traktierte ein von ihm konstruiertes Zwitterwesen aus Fernseh-Bildschirmen und Cello. Kein Einfall war zu verwegen. Das merkwürdige TV-Cello ist in Dortmund zu sehen.

Charlotte Moorman und Nam June Paik führen „Human Cello“ während John Cages „26’1.1499 for a String Player“ auf – im Café au Go Go, New York, 4. Oktober 1965 (© Nam June Paik Estate, Photograph by Peter Moore; Peter Moore Photography Archive, Charles Deering McCormick Library of Special Collections, Northwestern University Libraries; © Northwestern University)

Paiks Darbietungen gerieten mitunter zu ausgedehnten Gruppen-Ereignissen. Er arbeitete mit Kunstgrößen wie Joseph Beuys und Wolf Vostell oder mit Avantgarde-Komponisten wie John Cage (innig) und Karlheinz Stockhausen (wohl weniger innig). Später, in seiner New Yorker Zeit, bat Paik auch schon mal Rockstars wie Lou Reed oder David Bowie hinzu. Nach Erfahrungen mit dem gestrengen Stockhausen hat sich Paik von der Musik etwas abgewandt und auf Videokunst konzentriert, deren Pionier er geworden ist.

Es ist nicht leicht, derlei fluide Vorgänge für eine museale Präsentation „festzuhalten“, entziehen sie sich doch in ihrer spontanen Flüchtigkeit dem Zugriff. Fotos und Filmschnipsel aus jener Zeit lassen allerdings den ungezügelten Aufbruchsgeist spüren, der dieser Kunst innewohnt. Lebendige Zeitdokumente sind jene Aufnahmen des freudig überraschten und amüsierten Publikums, das anscheinend zu allen denkbaren Experimenten bereit gewesen ist. Mehr Offenheit war nie. Auch heute noch entlocken einem Relikte von Paiks Aktionskunst häufig ein Lächeln. Selten haben radikale Positionen zugleich einen solch entspannten Charme. So wird Paik in der Ausstellung zitiert: „Ich bin genauso ein Clown wie Goethe oder Beethoven.“ Da darf gefeixt werden.

Dortmund erweist sich als guter Ort, um Energien dieser Kunst nach Kräften zu erwecken, befindet sich doch im Eigenbesitz eine umfangreiche Sammlung zur Fluxus-Kunst, der Nam June Paik zugerechnet wird. Allzeit beweglich, allzeit im Fluss, das sind Signaturen dieser eigentlich richtungslosen „Richtung“.

Nam June Paik: „Schallplatten-Schaschlik“, 1963/1980, Museum Ostwall im Dortmunder U (© Nam June Paik Estate / Foto: Jürgen Spiler)

Dem Museum Ostwall gehört z. B. das „Schallplatten-Schaschlik“, ein Klassiker von Paik. Den luftig gestapelten, wie schwerelos schwebenden Platten lassen sich mit einer Tonkopf-Apparatur Sounds entlocken, ebenso wie den Magnetophonstreifen, die schräg gegenüber an einer Wand kleben, als sollten sie ein Straßennetz nachzeichnen. Paik war auch ein Vorläufer des etliche Jahrzehnte später bei DJs üblichen Scratchens („Kratzens“) auf Tonträgern.

Ausufernd muss man sich jene „Sinfonie für 20 Räume“ (1961) vorstellen, deren detaillierte Anweisungen – in Dortmund nahezu wandfüllend gezeigt – eine ganz ungewohnte Art von „Partitur“ ergeben. Im Laufe der Schau sollen vier Künstler(innen) die bislang niemals zum Klingen gebrachte Sinfonie zwar nicht (ur)aufführen, wohl aber performativ auf die Ideenfülle reagieren.

Nicht nur besagte Sinfonie erweist sich als Konzept, das nicht zwingend umgesetzt werden muss, um zu bestehen. Just diese Eigenschaft sorgt dafür, dass Paiks Arbeiten eine lange Haltbarkeit eigen ist. Sie können immerzu variiert werden, auch mit jeweils neuester Technik.

Mit Rudolf Frieling (gebürtiger Münsteraner, am San Francisco Museum of Modern Art wirkend) wurde einer der besten Kenner des Paikschen Werkkosmos‘ als Gastkurator gewonnen, der substanzielle Erkenntnisse über den Künstler beitragen konnte. Die Dortmunder Kuratorinnen Christina Danick und Stefanie Weißhorn-Ponert standen Frieling zur Seite.

Das Unterfangen kulminiert in einer nicht gar so heiligen Halle: Erstmals in Deutschland wird hier die gewaltige Rauminstallation „Sistine Chapel“ (Sixtinische Kapelle, Premiere 1993 im deutschen Pavillon der Venedig-Biennale) gezeigt. Quasi als Erbe Michelangelos hat sich Paik erkühnt, eine Räumlichkeit rundum zu bespielen, also auch Decken-„Gewölbe“ einzubeziehen. Es ist jedoch keine Malerei, sondern eine wahnwitzig vielfältige, per Zufallsgenerator stets wieder anders gesteuerte Bild- und Ton-Mixtur, die aus vielen elektronischen Rohren „abgefeuert“ wird. Wie hieß es doch so ergriffen bei Gottfried Keller: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält…“

Nam June Paik: „I Expose the Music“. Museum Ostwall im Dortmunder U. Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Noch bis zum 27. August. Geöffnet Di/Mi/Sa/So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Eintritt 9 €, ermäßigt 5 €. Katalog 29,90 Euro.

www.dortmunder-u.de/nam-june-paik

Tel.: 0231 / 50-24723

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Schlechtes Gewissen im Wohlstand – „Geld spielt keine Rolle“ von Anna Mayr

Nach ihrem bitteren Armutsbericht „Die Elenden“ (2020) legt Anna Mayr nun ein Buch über ihren und anderleuts (letztlich doch begrenzten) finanziellen Aufstieg vor: „Geld spielt keine Rolle“.

Der Titel ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Im Gegenteil. Geld spielt immer und überall eine Rolle, so lautet der unumstößliche Befund. Über Geld redet „man“ nicht? Oh, doch! Hier schon. Jedes einzelne Kapitel ist mit einem konkreten Geldbetrag überschrieben: „600 Euro für einen Umzug“. – „200 Euro für Falafel“. – „225 Euro für eine Katzentherapeutin“ – „149 Euro für einen Elektrogrill“. Und so weiter, aus etlichen Lebensbereichen. Das Buch enthält somit (bestürzend) viele und genaue Proben des bundesdeutschen Alltags.

Als Frau, die in ärmlichen Verhältnissen am Ostrand des Ruhrgebiets aufgewachsen ist, „genießt“ Anna Mayr street credibility. Ihre Mitteilungen fußen zuerst auf schmerzlichen Erfahrungen, seither auch auf vielen Lektüren und Gesprächen. Inzwischen geht es ihr finanziell ungleich besser und sie macht sich oft ein schlechtes Gewissen daraus. Immer noch wundert sie sich darüber, welche Dinge sie sich leisten und erlauben kann, doch schwindet das Staunen allmählich. Sie hadert und ringt gleichsam mit sich selbst, ob sie sich diesen Sinneswandel verzeihen kann. Bloße Reflexion und Wohlmeinen reichen ja nicht aus. Irgendwann steht man mit seinem Geld „auf der falschen Seite“.

Nicht Leistung, sondern glückliche Umstände

Schon der rasante Einstieg („Eat The Rich“) enthält steile Behauptungen, die allerdings einiges für sich haben: Erfolgreiche berufliche Laufbahnen und höheres Einkommen hätten gar nichts mit Leistung, sondern allemal mit Glück (sprich: Herkunft, Erbschaften, Beziehungen) zu tun. Die grundsätzliche Ungerechtigkeit hat demnach weitreichende Folgen, auch für den Seelenhaushalt. Zitat: „Je mehr Geld man den Leuten gibt, desto unempathischer werden sie, desto unsozialer verhalten sie sich (…) Reich zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit, schäbig zu sein…“ Wie lautet doch das derzeit medial dauerverwendete Modesätzchen: „Da hat sie einen Punkt.“ Und nicht nur diesen einen. „Geld verdirbt den Charakter“ – haben ja auch schon unsere Großeltern gesagt, sofern sie keine prallen Portemonnaies hatten.

Die Autorin Anna Mayr. (Foto: © Anna Tiessen)

Je nach Betrachtungswinkel ist ein Besuch beim Bundespresseball in Berliner Edelhotel Adlon ein Tief- oder Höhepunkt des Buches. Da lassen sich eben mancherlei Studien zum Gebaren der Wohlhabenden betreiben. Der Autorin wurde dabei reichlich unbehaglich zumute, was sich durchaus nachfühlen lässt. Der uralte Satz, dass Reichtum nicht glücklich mache, findet sich – in entschieden abgewandelter Form – auch bei ihr: „Viele reiche Leute sind nicht besonders glücklich. Weil sie immer denken, dass es noch nicht genug ist.“ Wer sich und das Seine missgünstig vergleicht, kann sich leicht benachteiligt vorkommen. Jeff Bezos, Elon Musk, Bernard Arnault und Konsorten seien einmal weitgehend ausgenommen von solcher Selbstquälerei. Aber wer weiß, ob nicht sogar sie auf die Besitztümer von ihresgleichen schielen. Aber ich schweife ab.

Ganz bewusst ohne finale Moral

Zurück zu irdischen Verhältnissen. Gar viele Phänomene und Situationen kommen einem bekannt vor. Da geht es etwa um (vielfach unsinnigen) Konsum als Trost und „Leistungsnachweis“, um die Gemengelage zwischen dem Kauf eines Brautkleids und den Fallstricken von Eheverträgen, ums komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Zuverdienern, um die feinen Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten… Geld durchdringt eben alles und jedes. Mit mehr Geld nehmen so manche Sorgen und Leiden ab, da lebt es sich in aller Regel gesünder. Ohne genügend Geld wissen viele nicht aus noch ein und sterben folglich früher.

In einem Exkurs verteidigt Anna Mayr geradezu trotzig ihren vor Jahren neu entdeckten Hang zu vegetarischer und veganer Ernährung. Einst hat sie das Recht der weniger Begüterten auf Schnitzel verteidigt, heute hält sie das für einen gesundheitsschädlichen Fehler. Vorschriften will sie freilich niemandem machen. Aber zuraten möchte sie gern.

Sehr deutlich an die finanziellen Grenzen stößt die Autorin – mit den allermeisten anderen Menschen – beim tollkühnen Vorhaben, eine Immobilie in Berlin zu erwerben. Mit normalen Gehältern, selbst im relativen Komfortbereich, geht das einfach nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Ganz bewusst und explizit verweigert Anna Mayr eine allgemein gültige Schlussfolgerung aus all ihren Beobachtungen. Mit unserem Verhältnis zum Geld müssen wir also selbst klarkommen. Doch sie hat dazu ein paar Fährten gelegt. Vertrackt genug: Wer sich dieses Buch kaufen kann, zählt schon mal nicht zu den ganz Bedürftigen. Auch kluge Denkanstöße sind käuflich.

Anna Mayr: „Geld spielt keine Rolle“. Hanser Berlin. 172 Seiten. 22 Euro.

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Nachbemerkung: Als einstiger Redakteur der Westfälischen Rundschau freue ich mich besonders über zwei Leute, die ihre journalistischen Anfänge in Lokalredaktionen dieser Zeitung hatten: Navid Kermani, heute hochgeachteter Publizist und u. a. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seinen Weg in der WR-Lokalredaktion Siegen begonnen. Und just Anna Mayr, jetzt vielzitierte Politik-Redakteurin der „Zeit“, ist aus der WR-Redaktion in Unna hervorgegangen.

 




Nähe, Alltag und Wirrnis – Andreas Maiers Roman „Die Heimat“

1970er Jahre in der hessischen Provinz (und eigentlich nicht nur dort): In der Grundschulklasse sitzen gerade mal zwei „Ausländer“-Kinder, ein Italiener und ein Mädchen aus Bulgarien, das im gnadenlosen Urteil der Mitwelt als „wilde Zigeunerin“ gilt. Wie lange scheint das her zu sein und wie unbegreiflich fern scheint es zu liegen! Andreas Maier muss es in seinem neuen Roman „Die Heimat“ geradezu archäologisch hervorholen. Dann aber kommt es uns doch verdammt bekannt vor.

Es folgen weitere zeittypische Szenarien: bezeichnende Vorkommnisse auf dem Schulhof; eine Schwester Adelheid, die nahezu obszön in die Kreuzigung Jesu vernarrt ist und auf entsprechend drastische Weise katholischen Religionsunterricht erteilt. Das erste italienische Restaurant im Städtchen, die Fernsehserie „Holocaust“ und der bleierne Herbst des RAF-Terrorismus sind andere Wegmarken der 70er, wie sie sich fernab der Metropolen abgezeichnet haben.

Das Puzzle ergibt ein brüchiges Bild

Tatsächlich ergibt sich aus all dem, so diffus es erscheinen mag, ein Umriss dessen, was damals als „Heimat“ nicht wirklich wahrgenommen, sondern schlicht für selbstverständlich gehalten und in seiner Vielschichtigkeit kaum begriffen wurde. Obwohl es doch bereits Irritationen und Erschütterungen gegeben hat. Die Mehrheit wollte sich eben nicht beirren lassen und sich lieber behaglich einrichten im Vorhandenen. Jaja, die Normalität.

Ein kleines Kabinettstück ist Maiers Erinnerung an die Anfänge des Fremdsprachenunterrichts in Englisch und Französisch: In der Tat grotesk, welche Weltausschnitte einem da präsentiert wurden. Wie seinerzeit die Partikel des Daseins im Englischen, so setzt sich auch das brüchige Bild der eigenen Heimat zusammen wie ein immer umfassenderes, aber nicht unbedingt deutlicheres Puzzle (worauf auch das Titelbild des Bandes abhebt, das Elvis Presley als US-Soldaten anno 1959 in Bad Nauheim zeigt), angereichert mit immer anderen Aspekten, so in Zeiten linker Bewusstwerdung eine harsche Ablehnung dessen, was dem herkömmlichen Heimatbegiff entsprach. Aber auch das war nur eine Teilansicht. Heimat sieht oft übersichtlich klein und gemütlich aus, ist aber eine große Verwirrung.

Fortschreibung des Langzeitprojekts

Maier arbeitet sich durch die 80er und 90er Jahre bis in die „Nuller Jahre“ vor. Die deutsch-deutsche Optik kommt hinzu und stellt die eigene Heimat nochmals in einen anderen Kontext, konfrontiert sie mit anderen Fragen. Irgendwann wird das Haus der Oma bezogen, wobei sich eine Art musealer, doch auch alltäglich-lebensnaher Aspekt von Heimat zeigt. Und natürlich drängt sich mit unheimlicher Macht die furchtbare deutsche Vergangenheit, medial zugerichtet, an vielen Stellen hinein, gleichsam in jede Ritze: Hitler, Hitler-Vergleiche, Hitler-Parodien. Das ganze Programm. Hingegen findet sich zu Maiers Verwunderung keine tiefer gehende Erzählung, die von den Opfern handelt, als seien die Juden damals einfach so „verschwunden“. Heimat als pechschwarzes, kaum je „aufgearbeitetes“ Phänomen.

„Die Heimat“ – übrigens dem mittlerweile 90jährigen Filmregisseur Edgar Reitz (famose Serie „Heimat“) gewidmet – ist eine erneute Fortschreibung von Andreas Maiers Langzeitprojekt, mit dem er die Gegend um Bad Nauheim, Friedberg und die Wetterau bis hin nach Frankfurt/Main von vielen Seiten her einkreist und bis ins Einzelne familiärer sowie sonstiger Verzweigungen erkundet. Damit beschert er der Region (und indirekt vielen Regionen) eine stetig anwachsende Chronik aus persönlicher, aber auch gesellschaftlich geweiteter Perspektive; ein Unterfangen, dem man mit nicht nachlassendem Interesse folgen kann.

Universelle Befunde aus der Region

Es ist ein beneidenswert detaillierter Erinnerungs-Fundus, den Maier nach und nach vor uns ausbreitet. Fast möchte es scheinen, als könnte man just in solchen Büchern „heimisch“ werden. Freilich geht Maier mit derlei Anwandlungen durchaus sanft ironisch um, konstruiert er doch als Rahmenhandlung den Bau einer Ortsumgehung, die an Friedberg vorbei führen soll. Auch so eine unscheinbare Pointe.

Hätte es nicht den wunderbaren und leider zu früh verstorbenen Peter Kurzeck gegeben, der sich in benachbarten Bezirken Hessens umgetan und höchst intensiv davon Zeugnis abgelegt hat, so würde man Maiers Projekt vielleicht als beispiellos bezeichnen. So aber gehört es wohl in Zusammenhänge, die letztlich auch den gleichfalls bewunderswerten und ebenfalls zu früh verstorbenen Wilhelm Genazino mit seinen Streifzügen durch Frankfurt geprägt haben. Zusammenhänge, die künstlerischen Eigensinn keineswegs ausschließen. Im Gegenteil. Je genauer sie ihre „Heimat“ auf je besondere Weise angeschaut haben, umso universeller und existenzieller erscheinen ihre Befunde. Ob das auch zum Tragen kommt, wenn es in andere Sprachen übersetzt wird?

Andreas Maier: „Die Heimat“. Roman. Suhrkamp. 245 Seiten, 22 Euro.

Vorherige Romane aus dem Zyklus waren u. a.: „Das Zimmer“ (2010), „Das Haus“ (2011), „Die Straße“ (2013), „Der Ort“ (2015), „Der Kreis“ (2016), „Die Universität“ (2018) und „Die Familie“ (2019).

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P. S.: Da gegen Schluss des Beitrags Wilhelm Genazino erwähnt wird, hier noch ein Hinweis auf eine sehr empfehlenswerte Neuerscheinung aus seinem Nachlass (übrigens kein Rezensionsexemplar, sondern im Buchhandel käuflich erworben):

Wilhelm Genazino: „Der Traum des Beobachters“. Aufzeichnungen 1972-2018. Hanser, 464 Seiten, 34 Euro.

 




Fröhlicher Feminismus der Frühzeit: Stummfilme beim Dortmunder Frauen Film Fest

„Aufräumen“, dass die Bude wackelt: anarchisch-chaotische Szene aus dem französischen Stummfilm „Cunégonde reçoit sa famille“ (1912). (Frauen Film Festival IFFF Dortmund + Köln / Filmmuseum EYE, Amsterdam)

Vor rund 110 bis 120 Jahren sah die Frauenbewegung im Kino noch etwas anders aus. Da war es wohl schon ein gewisses Wagnis, wenn eine Frau – gern gemeinsam mit Freundinnen – den Männern ein Schnippchen schlug. Oft ging’s dabei frisch, fröhlich und frei zu. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die ausgewählten Stummfilme, die beim Internationalen Frauen Film Fest IFFF in Dortmund (diesmal wieder Hauptort) und Köln (Nebenspielstätte) gezeigt werden. Ein paar Beispiele fürs muntere Treiben der historischen „Komplizinnen“, wie sie beim Festival heißen:

Die Herrschaften sind fort, vor allem der reiche Sack von Hausherr, diese Witzfigur. Das geplagte Dienstmädchen Cunégonde bekommt derweil Besuch von hauptsächlich weiblichen Verwandten. Gemeinsam räumen sie jetzt endlich mal „so richtig“ auf in der komfortablen Wohnung. Danach steht alles knietief unter Wasser – und sämtliches Porzellan liegt zerschlagen am Boden. Anarchie! Klassenkampf! Frauenaufstand! („Cunégonde reçoit sa famille“ – Kunigunde empfängt ihre Familie, Frankreich 1912).

Oder so: Vier lebenslustige junge Damen wollen ein Bad im See nehmen, da kommt ein lachhafter Schutzmann angehumpelt, um es ihnen zu verbieten. Sie schubsen ihn kurzerhand ins Wasser. Siehste wohl, haha! („Bain forçé“ – Erzwungenes Bad, Frankreich 1906)

Wahlweise auch so: Junge Frau bekommt Hausarrest von einer grotesken  Gouvernante. Doch mit einigen Verkleidungs-Tricks und indem sie männliche Dienstleute becirct, lotst die Eingesperrte ihre Schulfreundinnen zu sich, mit denen sie sich prächtig amüsiert – freilich immer in Gefahr, entdeckt zu werden. („The Classmate’s Frolic“ – Spaß mit Klassenkameradinnen, USA 1913)

Frauenpower mit männlicher Beihilfe erleidet der beleibte Galan, der einer Postangestellten nachstellt und einfach nicht locker lassen will. Der unangenehme Patron wird schließlich am Schalter so abgefertigt, dass er ein für allemal Ruhe gibt. Wenigstens schon mal bei dieser Frau. („Les Demoiselles de PTT“ – Die Mädchen von der (Postgesellschaft) PTT, Frankreich 1913)

Weitaus rabiater geht es zu, wenn Madame Plumette schlechte Laune hat. Dann haut sie allen Leuten was „vor die Mappe“, tritt gar einen Kerl gnadenlos in den Rinnstein und wirft zwei Diebe aus dem Fenster. Am Ende wird sie jedoch überwältigt. („La fureur de Mme Plumette“ – Die Wut der Madame Plumette, Frankreich 1912)

Technisch geradezu futuristisch mutet schließlich diese Story an: Wissenschaftler experimentiert so intensiv mit Bildtelefon (!), dass er seine Geliebte vernachlässigt. Deren Freundin verkleidet sich als Mann und macht – als vermeintlicher Liebhaber seiner Verlobten – den Erfinder bis zum Wahnsinn eifersüchtig. („Love and Science“ – Liebe und Wissenschaft, Frankreich 1912)

Das mag insgesamt recht harmlos anmuten, doch finden sich in den kurzen Geschichten etliche Ansätze zu weiblicher Widerspenstigkeit und zum Eigensinn. Sie mussten sich „nur noch“ entfalten. Die dazu nötige Energie war bereits vorhanden. Dafür sorgten zumindest die lebendigsten und kreativsten Ururur-Großmütter heutiger Frauen. Eine stolze Tradition, fürwahr. Überdies tauchen in mehreren Filmen am Rande schemenhaft Szenen weiblicher Drangsal und Dienstbarkeit auf, die noch den frohsinnigsten Szenenfolgen einen ernsthaften Rahmen geben. Da wird klar, wogegen es zu rebellieren galt.

Mit solchen Stummfilmen – die erwähnten dauern zwischen zwei und 14 Minuten – verhält es sich darstellerisch allerdings so: Da musste halt kräftig chargiert werden, um zwischen erläuternden Schrifttafeln die Intention vollends deutlich zu machen. Jede mittlere Gewissensnot wird zum wahnwitzig händeringenden Auftritt; wird jemand aus dem Zimmer geschickt, reckt sich der hinaus weisende Arm dermaßen, dass ein heftiger Wink mit dem Zaunpfahl dagegen eine Petitesse ist. Gut, wenn die daraus erwachsende Komik gezielt und freiwillig eingesetzt wird. Dann haben diese dramaturgischen Notwendigkeiten noch heute ihren speziellen Reiz. Interessant wäre es übrigens, auch deutsche Streifen jener Zeit zum Vergleich zu sehen. Vielleicht ein andermal.

Die überwiegend französische Stummfilmauswahl stammt aus dem reichen Fundus des Amsterdamer Filmmuseums EYE. Sie wird unter dem Titel „Komplizinnen“ am Samstag, 22. April, um 18 Uhr im Dortmunder Kino „SweetSixteen“ (Immermannstraße 29) gezeigt. Der „Cunégonde“-Film gehört zur Langen Filmnacht mit 17 Kurzfilmen von 1912 bis 2023 – am Freitag, 21. April (ab 20 Uhr, ebenfalls im „SweetSixteen“).

Das gesamte Festival, dessen Vorläufer (in Dortmund hieß die Chose anfangs „femme totale“) vor nunmehr 40 Jahren Premiere hatten, dauert bis zum 23. April und gliedert sich in zahlreiche Sektionen, weit über die Stummfilme hinaus (Spielfilmwettbewerb, Panorama, Filmlust queer, Programm für Kinder und Jugendliche etc.). Um bei all dem nicht den Überblick zu verlieren, braucht es viele weitere Informationen. Es gibt sie hier:

www.frauenfilmfest.com

 




Raus aus dem ärmlichen Dortmunder Dreck: Jörg Thadeusz‘ Nachkriegs-Roman „Steinhammer“

Vorab eine persönliche Anmerkung, die mit dem vorliegenden Buch zu tun hat: Vor allem die erste Hälfte dieses Romans habe ich mit fliegendem oder angehaltenem Atem gelesen, weil – ich den anfänglichen Haupt-Schauplatz aus frühester Kindheit „kenne“ oder wenigstens genau dort gelebt habe, bis ich sechs Jahre alt war. An den durchgehenden Lärm der Bahnstrecke und an den Güterbahnhof kann ich mich jedenfalls noch erinnern. Da haben wir Kinder einmal Rüben aus Waggons geklaut und es gab „eine Tracht Prügel“. Ein ähnlicher Vorfall aus demselben Jahrzehnt kommt auch im Roman vor…

Gemeint ist die Dortmunder Steinhammerstraße im Schatten der damals noch mächtig aktiven Zeche Germania. Just dort hat der Roman „Steinhammer“ sein Gravitations-Zentrum. Verfasst hat ihn der TV-bekannte, 1968 in Dortmund geborene Moderator und Journalist Jörg Thadeusz. Die Handlung kreist um den nachmals ruhmreichen Künstler Norbert Tadeusz. (Ja, Freunde, T(h)adeusz einmal mit und einmal ohne „h“ ist korrekt). Jörg Thadeusz‘ Vater war ein Cousin des Malers. Ein eher schwach anmutender Anstoß. Doch Jörg T. scheint zum Schreiben außerordentlich motiviert gewesen zu sein, so sehr hat er sich in sein familiäres Thema vertieft.

Kaum Hoffnung auf ein besseres Dasein

„Steinhammer“. Schon das klingt, als ob das Schicksal hier unentwegt mit harten Schlägen niedersause. Und so war es ja auch. Die Gegend ist – wir sind (nach einem Prolog von 1942) zunächst im Jahr 1957 – ungemein dreckig, verrußt, kreischend laut, erbärmlich und ärmlich. Folglich sind die Menschen vielfach verzweifelt und versoffen; halt so, wie sich manche Unberatene in „feineren“ Gegenden noch heute das ganze Revier vorstellen. Wer damals hier lebte, hatte so gut wie keine Chance auf ein besseres Dasein. Allenfalls die Maloche im „Pütt“, im „Loch“, konnte passable Einkünfte bringen – aber um welchen Preis der gesundheitlichen Ruinierung! Ansonsten blieben, wie man hier ausgiebig erfährt, allenfalls viertklassige Arbeitsorte wie eine heimische Nähstube, ein baufälliger Kiosk oder ein dito Spielzeug- und Schreibwarenladen.

Panoptikum der Ruhrgebiets-Typen vom alten Schlage

Dieses desolate Milieu schildert Jörg Thadeusz mit ordentlich aufgetragenem Kolorit, wobei er sich hütet, die (sub)lokale Mundart mit ihren derben Redensarten zu sehr zu strapazieren. Gleichwohl lässt er ein wahres Panoptikum von Ruhrgebiets-Typen der 1950er Jahre auftreten: Jupp, den Onkel und Stiefvater der Hauptperson Edgar (mehr zu ihm folgt gleich), der einen Friseursalon betreibt und meistens sehr übel gelaunt ist, der allzeit säuft und flucht. Ringsum vegetieren Leute wie „Ötte“, wie „der Schäbbige“ oder der „Aschentonnen-Tiger“. Schon jetzt möchte man wetten, dass dieser streckenweise saftige und süffige Roman irgendwann verfilmt werden wird. Ein paar geeignete Darstellerinnen und Darsteller würden einem schon dazu einfallen. Und ein Musikstück wäre geradezu Pflicht: der so herrlich leicht-sinnige, zuversichtliche Schlager „Es liegt was in der Luft“ (1954) mit Mona Baptiste und Bully Buhlan, der in diesem Roman einige Momente der vagen Hoffnung markiert.

Apropos Musik: Es gibt einen grandiosen Song, der mir bei der Lektüre immer wieder eingefallen ist und der ziemlich genau zur smogdichten Atmosphäre der Steinhammer-Kapitel passt, obwohl er aus dem proletarischen England kommt: der alte Animals-Hit „We Gotta Get Out Of This Place“, gesungen von Eric Burdon. Wir müssen hier weg. Egal, was es kostet. Und wenn es das Letzte ist, was wir tun.

Diese notorischen Wutanfälle

Zurück zum Roman und hin zu den jungen Leuten, die in der Steinhammerstraße aufwachsen müssen. Sie wollen sich nicht einfach abfinden, sie wollen wirklich weg: der erwähnte Edgar, damals noch nicht einmal 17, eine kaum fassbare Naturbegabung im Zeichnen und Malen. Aber wie soll die Welt davon erfahren? Sein bester Freund Jürgen, gleichaltrig, Sohn eines ertaubten ehemaligen Deutschlehrers, daher mit Buchwissen und höheren Zielen. Er träumt von einem komfortablen Leben in Amerika, wo angeblich alle Leute über alle Annehmlichkeiten verfügen. Und schließlich Nelly, mit der Edgar eine scheue und doch innige Beziehung hat, immer mal wieder von seinen notorischen Wutanfällen durchkreuzt.

Schicksalsschlag auch hier: Nellys Mutter fällt der geistigen „Umnachtung“ anheim, die damit quasi elternlose Nelly selbst kommt durch autoritäre Fürsprache einer reichen (wegen ihrer Nazi-Anwandlungen verhassten) Oma aus Mülheim/Ruhr nach Hamburg, wo sie für die Edelfirma Montblanc arbeiten darf. Damit ist sie schon mal raus aus dem Ruhrgebiets-Elend. Ihr gut gepolstertes Leben wird wenigstens äußerlich zur Erfolgsgeschichte. Und auch Jürgen wandert mit Freundin tatsächlich in die USA aus, sozusagen stilecht mit Riesendampfer ab Bremerhaven. Aber mit Flüchtlingskoffer.

Vom Kaufhaus bis zur Kunstakademie

Zwischendurch haben Edgar und Jürgen im Kaufhaus Horten gearbeitet, was schon ein erheblicher Aufstieg war. Jürgen verkaufte Kleidung, Edgar lernte Schaufenster dekorieren, durfte aber bald auch größere Kreativ-Projekte anfassen. Ein Abteilungsleiter erkannte seine großen Talente und sorgte dafür, dass er (alias Norbert Tadeusz) zum real existierenden Gustav Deppe an die Dortmunder Werkkunstschule kam – ein weiterer Schritt zu künstlerischen „Weihen“, die er nie und nimmer so genannt hätte.

Hin und wieder ist man versucht, chronologische Details zu bezweifeln. Gewiss: Jörg Thadeusz hat spürbar sorgfältig und in die Tiefe reichend recherchiert, doch gab es 1957 wirklich schon ein Horten-Kaufhaus in Dortmund oder nur einen Vorläufer? Hat man seinerzeit schon „Geh sterben!“ gesagt oder kam der derbe Spruch nicht viel später in Gebrauch? Eigentlich Nebensache, oder? Wir lassen’s mal als offene Fragen stehen und erwähnen keine weiteren dieser Sorte.

Die zweite Hälfte des Romans schildert überwiegend Edgars Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die war auch schon Anfang der 60er Jahre eine Elite-Schmiede, in der sich Edgar abseits der Malerei oft unwohl fühlt – neben manchen Schnöseln aus reichen Elternhäusern. Steinreich statt Steinhammer… Haben wir hier einen Schlüsselroman mit Kurzauftritten von lauter Künstlerpersönlichkeiten der nachfolgenden Jahrzehnte? Nur sehr bedingt. Jörg Thadeusz hat Personal und Gegebenheiten teilweise stark verfremdet und kräftig hinzu erfunden. So kommt Norbert Tadeusz‘ Akademie-Lehrer Joseph Beuys höchstpersönlich nicht vor, jedoch…

Zwiespältige Lebensbilanz

Schließlich ergibt sich noch eine zwiespältige Lebensbilanz im Vorfeld von Edgars 70. Geburtstag, den er in Spanien begeht – übrigens viele Jahre nach einem bitter nötigen Alkoholentzug. Abermals kommt es jetzt zu diesen herzbewegenden Begegnungen zwischen Ankunft, Abschied und Bleiben, die diesen Roman überhaupt auszeichnen und die ahnen lassen, dass im Bann von „Steinhammer“ fast nichts von wohltuend unbezweifelbarer Dauer ist. Fast.

Der Wahrheit die Ehre: Thadeusz ist keiner von den ganz großen deutschsprachigen Schriftstellern, er hat aber ein durchaus achtbares bis beachtliches und lohnendes Buch geschrieben – „well made“, wie man andernorts anerkennend sagt. Ich hab’s „verschlungen“, nicht nur wegen der örtlichen Bezüge.

Jörg Thadeusz: „Steinhammer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 344 Seiten, 23 Euro.

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Lesungen (Auswahl)

Dienstag, 11. April, 20 Uhr: Pfefferberg Theater, Berlin
Mittwoch, 12. April, 19 Uhr: Keuning-Haus, Dortmund
Donnerstag, 13. April, 18 Uhr: Lehmbruck Museum, Duisburg
Samstag, 6. Mai, 20 Uhr: Centralkomitee, Hamburg

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Nachbemerkung: Bildband zur Steinhammerstraße

Allmählich will es mir scheinen, als habe sich pfeilgrad in der Dortmunder Steinhammerstraße das eine oder andere exemplarische Stück westdeutscher Nachkriegsgeschichte abgespielt. Vor rund elf Jahren konnte ich an dieser Stelle einen ebenfalls sehr empfehlenswerten Foto-Bildband besprechen, der auch in jener Straße angesiedelt ist. Hier ein Link zur damaligen Rezension:

https://www.revierpassagen.de/10682/vergehende-zeit-hier-im-revier-zum-beispiel-die-dortmunder-steinhammerstrase/20120727_1521

P. S.: Ich schätze mich glücklich, Norbert Tadeusz wenigstens einmal persönlich erlebt zu haben – bei einem Ausstellungstermin in Bochum. Sogleich ist er mir als ausgesprochen sympathischer und bodenständiger Mensch erschienen. Auch hierzu ein Link:

https://www.revierpassagen.de/1771/norbert-tadeusz-und-der-collagierende-blick/20090827_2231




Ruhrgebiet – Traumgebiet: „Urbane Künste Ruhr“ wollen ab Mai wieder Orte der Region verwandeln

Durch Schaum überfluteter und verwandelter Stadtraum: Stephanie Lüning „Island of Foam“ (Schauminsel), Version XIV, 2021, in Linz/Österreich. Ob es bei der Aktion in Essen-Steele ähnlich zugehen wird? (Foto: © Violetta Walkobinger)

Noch ist alles im Wachsen und Werden, doch es lässt sich schon im Ungefähren darüber reden: Bei einer Online-Pressekonferenz gab es jetzt einen ersten Überblick zu neuen Projekten von „Urbane Künste Ruhr“. Sie befassen sich vom 5. Mai bis zum 25. Juni mehr oder weniger direkt mit dem Generalthema „Schlaf“.

Damit wird die 2019 gestartete und 2021 fortgesetzte Trilogie „Ruhr Ding“ enden, deren erste Ausgaben „Territorien“ und „Klima“ in den Blick genommen haben. Allesamt dehnbare Themenfelder, fürwahr.

„Schlaf“ also. Unter diesem Losungswort sollen sich diverse Orte im Ruhrgebiet als traum- oder auch alptraumnahe Gelände erweisen, wenn nur erst Künstlerinnen und Künstler ihnen beigekommen sind. Manche Stätten haben freilich auch so schon einigermaßen surreale Anmutungen. Wer es gerne in Zahlen hat, bitte sehr: 19 künstlerische „Positionen“ werden an 22 Standorten „sichtbar“, um im modischen Jargon zu bleiben.

Britta Peters, Leiterin von „Urbane Künste Ruhr“, bezeichnet den Schlaf als universelles Thema. In der Tat: Es ist – wie vordem schon Territorien und Klima – im Grunde dermaßen ausufernd, dass es beliebig werden könnte. Allerdings wird der Schlaf sozusagen regional und lebensweltlich verankert, nämlich auf Zeiten, Rhythmen und Schichten der Arbeit bezogen, wie sie im Revier einmal üblich waren und längst im vielfachen Wandel begriffen sind. Peters und ihre Assistenz-Kuratorin Alissa Raissa Danscher haben dabei abermals auf eine mindestens gleichberechtigte, wenn nicht überwiegende Präsenz von Künstlerinnen Wert gelegt. Warum auch nicht?

Verschiedene Zonen des Reviers

Nachdem 2019 vorwiegend die mittlere Schiene des Ruhrgebiets (u. a. mit Dortmund, Bochum, Essen und Oberhausen) den Anfang machte und 2021 der Norden (mit Gelsenkirchen, Recklinghausen, Herten und Haltern) folgte, geht es diesmal vor allem südwärts: nach Mülheim, Witten und Essen-Steele. Wo sind bei all dem Hagen, Hamm oder z. B. die Kreise Unna oder Ennepe-Ruhr geblieben? Nun, das Ruhrgebiet ist wohl doch zu weitläufig, um jede Ecke zu „bespielen“.

Ein Dreh- und Angelpunkt der neuen „Ruhr Ding“-Ausgabe ist Mülheim, wo einst der Filmemacher und Sammler Werner Nekes nachmals ruhmreiche Künstler wie Christoph Schlingensief (Oberhausen) und Helge Schneider (just Mülheim) „entdeckt“ und gefördert hat, woran Britta Peters aus- und nachdrücklich erinnert.

Es mag also einen langjährig wirksamen Geist des Ortes geben, an den sich anknüpfen ließe – mit ausgesprochen internationalem Horizont, was die Biographien der Mitwirkenden angeht. Nun also ein paar Projekt-Beispiele, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind lauter Vorhaben, die sich noch nicht vollends konkretisiert haben:

Projekte in Mülheim/Ruhr

Unter Ägide des preisgekrönten Filmemachers Michel Gondry (geb. 1963 in Versailles) können Leute in der Alten Dreherei zu Mülheim ihre eigenen Filme – drehen. Genre und Gestaltung nach Gusto. Die Resultate erweitern ein bestehendes, bei ähnlichen Aktionen u. a. in New York, Tokyo und Paris entstandenes Archiv um eine Revier-Perspektive.

Katarina Jazbec, Künstlerin und Filmemacherin vom Jahrgang 1991 aus Slowenien, hat sich mit harten Arbeitswelten in einem Hagener Steinbruch und einem Duisburger Stahlwerk befasst. Nik Nowak (geb. 1981 in Mainz, in Berlin lebend) verwandelt einen Übersee-Container unter der Mülheimer Konrad-Adenauer-Brücke in eine Klangskulptur. Viron Erol Vert (geb. 1975, aufgewachsen in Norddeutschland, Istanbul und Athen) will einen typischen Ruhrgebiets-Kiosk mit Farben und Spiegelungen in ein Kunstwerk zwischen Alltag und Traumwelt transferieren.

Projekte in Essen-Steele

„Ruhr Ding“ gastiert auch im Essener Stadtteil Steele, der in den 1960er und 70er Jahren brutal autogerecht umgebaut wurde. Auch hier bezieht sich ein Künstler auf die regionale Kiosk-Kultur: Wojciech Bakowski (geb. 1979 in Posen) entwickelt eine Installation im Inneren einer „Bude“. Ins ehemalige Wertheim-Kaufhaus von Essen-Steele begibt sich unterdessen Nadia Kaabi-Linke (geb. 1978 in Tunis, aufgewachsen dort und in Kiew, lebt in Berlin). Ihre Installation zielt auf optische Unendlichkeits-Effekte. Auch die Fassade des einstigen Kaufhauses wird künstlerisch bearbeitet – von Kameelah Janan Rasheed (geb. 1985 in East Palo Alto). Sie will auf der „Außenhaut“ des Gebäudes die „architektonischen und historischen Schichtungen des Stadtraums“ (Ankündigungstext) freilegen. Gleichfalls in Steele erkundet die polnische Künstlerin Alicja Rogalska Zusammenhänge von Architektur und sozialem Leben – insbesondere aus Frauensicht.

Besonders spektakulär verspricht die – ebenfalls in Essen-Steele angesiedelte – Performance von Stephanie Lüning (geb. 1978 in Schwerin) zu werden. Lüning ist dafür bekannt, öffentliche Plätze mit bunten Schaumbergen zu überfluten – auch für Kinder ein Hauptspaß, wie Aufnahmen früherer Aktionen zeigen.

Projekte in Witten

Dritter Hauptort des Geschehens ist die von anthroposophisch inspirierter Uni und Klinik mitgeprägte Stadt Witten. Auch deshalb erhebt sich hier nach Ansicht der Kuratorinnen die Frage nach der Zukunft des Körpers in der digitalisierten Welt.

Melanie Manchot (geb. 1966 in Witten) hat mit der Filmkamera Frauen bei ihrer nächtlichen Arbeit beobachtet: Pole-Dancerin, Bäckerin, Türsteherin, Reinigungskraft. Schon kurze Probe-Sequenzen lassen einen eindrücklichen Film erwarten, der in der Wittener WerkStadt gezeigt werden werden soll. Zugleich bekommt Melanie Manchot eine Einzelausstellung im Märkischen Museum der Stadt Witten.

Joanna Piotrowska (geb. 1985 in Warschau) bringt eine Körper-Choreographie in Schaufenster-Vitrinen der früheren Wittener Galeria Kaufhof. Nora Turato (geb. 1991 in Zagreb/Kroatien) stattet den idyllischen „Schwesternpark“ in Witten mit einem Klang-Parcours aus. Das Wiener Theaterkollektiv „God’s Entertainment“ versieht derweil den örtlichen Saalbau mit einer großen Raumskulptur in Form eines Oktopus‘ und assoziiert die kantige Form des Gebäudes mit einem Kreuzfahrtschiff.

Zu hoffen wäre, dass sich einige (einstweilen noch etwas nebulöse) Versprechen und Konzepte einlösen und dass sich der etwaige Eindruck verflüchtigt, hier sei eine mehrjährig eingeschworene Gruppe am Werk, die „ihr (Ruhr)-Ding“ nach Belieben macht, ohne gar zu sehr auf breitere Wirksamkeit zu achten. Wir lassen uns gern überraschen.

Urbane Künste Ruhr: „Ruhr Ding: Schlaf“. 5. Mai bis 26. Juni 2023. Ausstellungen und Aktionen im öffentlichen Raum in Mülheim/Ruhr, Essen-Steele, Witten (dazu als nördlicher „Satellit“: Gelsenkirchen-Erle).

Nähere Infos:

www.urbanekuensteruhr.de